Technische Universität Hamburg-Harburg Arbeitsbereich Technikbewertung und Technikgestaltung WP 4 Working Papers zur Modellierung sozialer Organisationsformen in der Sozionik* Künstliche Sozialität? Allgemeine soziologische und sozialphilosophische Reflexionen zur VKI-Forschung Frank Hillebrandt Hamburg, November 1999 * Das Projekt „Modellierung sozialer Organisationsformen in VKI und Soziologie“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Schwerpunktprogramm Nr. 1077 „Sozionik: Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität“ unter der Kennziffer FL 336/1 gefördert Im vorliegenden Text versuche ich, einige wichtige Forschungsergebnisse und Theorieentscheidungen der VKI-Forschung aus der Perspektive der Soziologie zu interpretieren. Der Ausgangspunkt dafür ist das Mikro-Makro-Problem, das nicht nur in der Soziologie eine konstitutive Problemstellung der Forschung ist, sondern auch als grundlegendes Forschungsproblem der VKI identifiziert werden kann. Eine Aussage eines Theoretikers der VKI zu diesem Problem sei deshalb den folgenden Überlegungen vorangestellt: „Mikrotheorien befassen sich mit dem einzelnen Agenten, der Beschreibung seines ‚mentalen Zustandes‘, ausgedrückt durch Begriffe wie ‚Wissen‘, ‚Rationalität, ‚Ansichten‘, ‚Absichten‘, ‚Ziel‘, ‚Entscheidung‘, ‚Verpflichtung‘, ‚Fähigkeit, ... Für ihre formale Beschreibung werden insbesondere Mittel der temporalen/modalen Logik vorgeschlagen. Makrotheorien befassen sich dagegen mit der Organisation der Multi-Agenten-Gesellschaft, auch in Anlehnung an die Organisation der menschlichen Gesellschaft. Dazu gehört der (symbolische) Informationsaustausch und die globale oder dezentrale Steuerung des Systems.“ (Burkhard 1993: 162) Das Mikro-Makro-Problem, wie es von Burkhard hier eingegrenzt wird, ist ein Grundproblem der VKI, da es sich in dieser Forschungsrichtung, anders als in der Soziologie, darauf bezieht, wie aus Agentenarchitekturen (Mikro-Ebene) Agentengemeinschaften bzw. –gesellschaften entstehen können (Makro-Ebene). Folgt man Müller, ist dies das wichtigste Basisproblem der VKI-Forschung. Er differenziert dieses Basisproblem in drei grundlegende Teilprobleme (vgl. Müller 1993: 10f.): • • • Agentendefinitionsproblem: Wie lassen sich „intelligente“ und „autonome“ Agenten modellieren, die zur Sozialität fähig sind, die also mit anderen Agenten interagieren können? Welche Eigenschaften sind den Agenten in diesem Zusammenhang zu implementieren? Hier gibt es unterschiedliche Ansatzebenen; einmal die Frage nach der Art des Agentensystems – Verteiltes Problemlösen oder Multi-Agenten-System -, die darüber entscheidet, wie Agenten modelliert werden, und dann die Frage nach den Eigenschaften der Agenten, die zur Sozialität befähigen. Gesellschaftskonstruktionsproblem: (von Müller auch als Agenten“soziologie“ bezeichnet) Was sind notwendige Bedingungen, die vom Forscher geschaffen werden müssen, um eine Agentengesellschaft aufzubauen? Gesellschaftsanwendbarkeitsproblem: Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsformen sowie den Strukturen der Gesellschaft und Effektivität einer Problemlösung der VKI müssen erkannt und ausgewiesen werden. Frank von Martial listet weitere grundlegende Fragestellungen der VKI auf, die er aus Arbeiten von Gasser extrapoliert (vgl. zum Folgenden Martial 1992: 9). Zunächst stellt sich in der VKI die Frage, wie Probleme formuliert, zerlegt und an eine Gruppe „intelligenter“ Agenten zugewiesen werden müssen, um die Ergebnisse der Handlungen innerhalb der Agentengruppe zu einem Ganzen zusammenzuführen. Dazu muss geklärt werden, wie Agenten zur Kommunikation und Interaktion befähigt werden können, welche Sprache sie also benutzen und welche Protokolle dazu verwendet werden können. Dies setzt gleichsam die Klärung der Frage voraus, über was wie wann kommuniziert werden soll. Der nächste Punkt ist für Martial die 1 Frage, wie ein kohärentes Verhalten der Agenten bezüglich Entscheidungsfindung und Aktionsverhalten sichergestellt werden kann. Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, dass die Auswirkungen lokaler Agentenentscheidungen auf externe Agentenentscheidungen in die Überlegungen einbezogen werden müssen. Offensichtlich benötigen die Agenten zur Interaktion in Multi-Agenten-Systemen (MAS) die Fähigkeit, die Aktionen, Pläne und das Wissen der anderen ihnen fremden Agenten nachzuvollziehen und zum Zwecke der Koordination von Handlungen darüber nachzudenken. Die Frage ist folglich, wie man den Agenten diese „sozialen“ Fähigkeiten implementieren kann. Entstehen widersprüchliche Ansichten und im Konflikt befindliche Absichten zwischen den Agenten, ist es für Martial notwendig, dass diese von den Agenten erkannt und miteinander versöhnt werden. Die Aufgabe besteht nach Martial dann darin, diese Möglichkeit im MAS erwartungssicher und dauerhaft zu institutionalisieren. Als letzte wichtige Grundfragestellung identifiziert er dann, ähnlich wie Müller, noch die ingeneurtechnische Frage, wie praktisch anwendbare VKI-Systeme konstruiert werden können, die als Plattformen technischer Entwicklungsmöglichkeiten dienen. Wie diese Auflistung der Grundfragen der VKI-Forschung verdeutlicht, beziehen sich die Forschungsfragen in erster Linie darauf, wie Agenten modelliert und konstruiert werden müssen – was in der VKI als Mikroebene der Forschung angesehen wird -, damit sie in einem sozialen Multi-Agenten-System miteinander kommunizieren und interagieren können – was in der VKI als Makroebene der Forschung angesehen wird.1 Darüber hinaus ist die Ausrichtung der VKI ganz ohne Zweifel auf die Frage nach der praktischen Anwendbarkeit der künstlichen Sozialität zur Lösung von Problemen in der menschlichen Gesellschaft fokussiert. Um sich ein soziologisch inspiriertes Bild von der VKI unter Berücksichtigung des MikroMakro-Problems zu machen, scheint es daher notwendig zu sein, zunächst die Frage nach den Agentenarchitekturen zu beleuchten und soziologisch zu kommentieren (1). Nur diese Auseinandersetzung schafft eine tragfähige Grundlage dafür, auf die Formen organisierter künstlicher Sozialität einzugehen, die sich aus der Interaktion bzw. Kommunikation zwischen unterschiedlichen künstlichen Agenten ergeben (2).2 1 Michael Florian sieht das Problem etwas anders: Er behauptet, die VKI habe ein Problem der mangelnden Vermittlung zwischen autonomen Agenten und autonomen Gesellschaftsmodellen, und leitet dieses Argument daraus ab, dass Müller das Agentenarchitekturproblem vom Gesellschaftskonstitutionsproblem unterscheidet (vgl. Florian 1998a: 307). Dagegen möchte ich betonen, dass die VKI-Forschung die Organisation von überindividuellen Sozialformen immer an die Fähigkeiten und Eigenschaften der Einzelagenten zurückbindet und deshalb den emergenten Charakter des Sozialen vernachlässigt, indem sie den Eindruck erweckt, alle Sozialität sei ein Produkt der Handlungsdispositionen von Agenten. Gestützt wird diese Interpretation durch eine Aussage Müllers: „Andererseits, und dies ist der populäre Zugang, starten die Untersuchungen [der VKI; F.H.] bei den Einheiten, die zusammenarbeiten sollen. Die Frage ist dann, wie muß ein Agent ... prinzipiell aussehen, welche Fähigkeiten muß er haben, damit eine Menge solcher Agenten gemeinsam ein Problem lösen können [richtig müsste es „kann“ heißen; F.H.].“ (Müller 1993: 10) Die Unterscheidung der beiden Gesichtspunkte – Agent und Gesellschaft der Agenten - durch Müller geschieht meines Erachtens nur, um die unterschiedlichen Forschungsfragen der VKI zu identifizieren. 2 Der Leser sei gewarnt. Alle Überlegungen, die ich hier präsentiere, sind im Wesentlichen soziologisch geprägt und beobachten die VKI daher in erster Linie aus einer externen Perspektive. Dies hat ausschließlich damit zu tun, dass ein Soziologe kaum in die inneren Denkstrukturen eines fremden Faches eindringen kann. 2 1. Agenten in der VKI und das Problem ihrer Architektur Die Frage, was ein Agent ist, wird in der VKI-Forschung relativ eindeutig beantwortet. Eine viel zitierte Definition des Begriffs Agent ist die folgende: „Ein Agent ist eine Einheit, von der man sagen kann, dass sie ihre Umwelt über Sensoren wahrnimmt und sie mit Hilfe von Effektoren beeinflußt.“ (Russel/Norvik, zit. n. Schillo 1999: 9) Agenten als softwaretechnische Einheiten werden immer in Relation zu ihren äußeren Umweltfaktoren bestimmt. Sie sind nicht ausschließlich selbstbezüglich definiert. SoftwareProgramme müssen deshalb bestimmte Eigenschaften erfüllen, um als Agenten gelten zu können. Sie müssen vor allem handlungsfähig sein und sich in ihrem Handeln an den Handlungsweisen anderer Agenten orientieren können. Eine softwaretechnische Repräsentanz hat nur dann basale Handlungsfähigkeit und ist mithin nur dann als Agent anzusehen, wenn sie mindestens zwei Eigenschaften erfüllt: Ein Agent benötigt die Verfügung über ein bestimmtes Verhaltensrepertoire, das nur von ihm selbst aktiviert werden kann. Darüber hinaus wird ein Agent Veränderungen in seiner Umwelt wahrnehmen und als Information verarbeiten können müssen. Zu diesen Veränderungen in seiner Umwelt zählen insbesondere Veränderungen der Verhaltensweisen anderer Agenten. Eine diese Aspekte in sich bündelnde Definition des Begriffs Agent ist die folgende Aussage von Michael Huhns und Munindar Singh: „Agents are active, presistent (software) components that perceive, reason, act, communicate.“ (Huhns/Singh 1998: 1) Diesen Grundeigenschaften und –fähigkeiten von Agenten werden häufig noch andere wie „being autonomous, goal directed, reactive, or decaratively programmed“ (ebd.) hinzugefügt, wobei man sich in der Auswahl dieser Eigenschaften und Fähigkeiten in erster Linie an den Anforderungen des Einsatzes von softwaretechnischen Repräsentationen orientiert (vgl. ebd.). Der Bezug auf ein Multi-Agenten-System etwa zwingt zur Implementierung von Fähigkeiten, die eine Interaktion zwischen Agenten erst wahrscheinlich werden lassen. „The characteristics of agents are fundamentally tied to not only their intrinsic properties, wich are defined for an agent by itself, but also their extrinsic properties, which are defined for an agent in context with other agents.“ (Ebd.: 2) Ein Multi-Agenten-System (MAS) besteht erst dann, wenn mehrere dieser so definierten Agenten in einem vom Forscher festgelegten Rahmen miteinander interagieren. Gerhard Weiß definiert MAS daher wie folgt: „Generally, according to the prototypical point of view, a multi-agent system is considered as a system that consists of several agents that are capable of mutual and environmental interaction and that typically differ from each other in their knowledge and their sensory, motor and cognitive skills. The interests in these systems bases on the fact that many real-world problems can be better models by using several interacting agents instead of a single agent.“ (Weiß 1995: 28) Das Zusammenbringen mehrerer „intelligenter“ Agenten in einem System geschieht dabei, wie aus der Definition von Weiß hervorgeht, um Probleme effektiver lösen zu können, da die Lösung von Problemen unter Umständen unterschiedliche Spezialisierungen voraussetzt, die nicht alle von einem Agenten bedient werden können. Dieser Ausgangspunkt der VKI, dass 3 Probleme effektiver in sozialen Gruppen von Agenten gelöst werden können als von einem „Agenten“, führt die VKI dazu, Probleme in Teilprobleme zu zerlegen, deren Lösung an unterschiedliche Agenten delegiert wird. Dieses Vorgehen ist ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit einer Grundannahme Soziologie, dass soziale Gruppen Probleme effektiver lösen können als ein einzelner Akteur. Der Gemeinsame Bezugspunkt von Soziologie und VKI ist in diesem Sinne das Entstehen der Sozialität aus der Wechselbeziehung zwischen „intelligenten“ Agenten (vgl. Rammert 1998: 114) Für die Soziologie interessant sind die Schlussfolgerungen, die einige VKI-Forscher aus dieser Einsicht gewinnen: „Der impliziten Organisation von Agenten durch ihre Kommunikationsstruktur steht die explizite Organisation der Gesellschaft durch die Festlegung von Rollen gegenüber. Den Agenten wird durch Einflußnahme auf die Entscheidungsstrukturen und die Einschränkung ihrer Aktionsmöglichkeiten a priori eine Rolle in der Gesellschaft zugedacht.“ (Müller 1993: 13f.) Les Gasser formuliert es einfacher: „DAI systems [Multi-Agenten-Systeme; F.H.], as they involve multiple agents, are social in character.“ (Gasser 1997: 391) Fähigkeiten und Eigenschaften eines solchen Systems lassen sich nach Gasser nicht auf einen der beteiligten Agenten reduzieren. Sie sind per se sozial in dem Sinne, dass sie nur in einem sozialen System interagierender Agenten entstehen können. Sie sind ein Produkt der Sozialität des Multi-Agenten-Systems. Man kann also davon ausgehen, dass sich im Multi-AgentenSystem Problemlösungskompetenzen entwickeln, die ein einzelner Agent nicht erzeugen könnte (vgl. ebd.). Bevor jedoch auf diesen Aspekt der Sozialität von MAS eingegangen werden kann, ist es notwendig, die wichtigsten Agentenarchitekturen, die in der VKI modelliert und verwendet werden, voneinander zu unterscheiden, da die Sozialität des MAS in der VKI an die Agenten zurück gebunden ist, indem die Sozialität als Produkt des Interagierens von Agenten mit divergierenden Fähigkeiten gefasst wird. Die Unterscheidung zwischen reflektierten, oder besser deliberativen Agenten und reaktiven Agenten ist in diesem Zusammenhang zentral. Martial (1992) definiert diese beiden Agententypen wie folgt: „Reflektierte [deliberative; F.H.] Agenten verwenden Wissen und explizite Darstellungen über ihre Umwelt. Sie besitzen Absichten und können über ihre Pläne und Handlungen nachdenken. Reflektierte Agenten interagieren mit ihrer Umwelt über explizite symbolische Sprachen.“ (Martial 1992: 7) Reaktive Agenten verwenden dagegen „keine expliziten Darstellungen zur Abspeicherung von Informationen und reagieren lediglich auf Umgebungseinflüsse. Reaktive Agenten kommunizieren nicht explizit. Sie interagieren lediglich über Stimuli mit ihrer Umwelt.“ (Ebd.)3 Nach dieser Grundeinteilung der beiden unterschiedlichen Möglichkeiten, Agenten zu modellieren, werden die Eigenschaften und das Vermögen von Agenten weiter differenziert. Insbesondere die entsprechenden Architekturen im Kontext von MAS werden im Weiteren genauer 3 In der VKI wird betont, dass Agenten über beide Eigenschaften verfügen sollen, da es Situationen gibt, in denen sich Agenten lediglich auf reaktive Fähigkeiten verlassen können müssen, während in anderen Situationen nur ein reflektives, deliberatives Vorgehen angemessen ist. Es müsste definiert werden, welche Situation welches Verhalten erforderlich macht. 4 verfolgt. Dieses soziale System von autonomen Agenten muss qua definitionem weitere Eigenschaften von Agenten voraussetzen. MAS beschäftigen sich nämlich nach Gasser „mit der Koordination intelligenten Verhaltens einer Anzahl von autonomen, intelligenten Agenten“, also mit der Aufgabe, „wie sie ihr Wissen, ihre Ziele, Fähigkeiten und Pläne vereint einsetzen können, um Probleme zu lösen.“ (Gasser zit. n. Schillo 1999: 8) Da für die VKI die Existenz und Interaktion mehrerer Agenten ein fundamentaler Aspekt ist, müssen hier Agenten entworfen werden, die tatsächlich interagieren können, die also nicht nur auf Reize aus der Umwelt immer in gleicher Weise reagieren, wie es in relativ einfachen Szenarien des verteilten Problemlösens vorgesehen ist. Gleichsam wird jedoch auch im Kontext von MAS davon ausgegangen, dass alle Agenten in ihren Ressourcen und Möglichkeiten beschränkt sind, dies aber in unterschiedlicher Weise. Darauf wird unten noch zurückzukommen sein. Die Grundfrage der Agentenarchitektur für MAS ist: Welche Voraussetzungen und Eigenschaften werden den Agenten mitgegeben, bzw. können nach dem gegenwärtigen Stand der Technikentwicklung Agenten implementiert werden? Die wichtigsten Aspekte von Eigenschaften der Agenten, die als unhintergehbare Voraussetzung für die Modellierung verteilter Agentensysteme beschrieben werden, sind dabei Autonomie, soziale Fähigkeiten, Reaktivität und Pro-Aktivität. Diese Agenteneigenschaften werden als schwach bezeichnet (week notion of agency). Eine starke Agenteneigenschaft liegt dann vor, wenn folgende Eigenschaften zu den genannten hinzukommen: Wissen, Glauben, Intention und Verpflichtung. Diese von Wooldridge und Jennings entwickelten, aus der Mentalität des Menschen abgeleiteten Eigenschaften werden nicht selten durch Eigenschaften wie Rationalität, Mobilität, Introspektion, Wahrhaftigkeit und Benevolenz ergänzt. Darüber hinaus unterstellen einige Autoren, dass diese Eigenschaften sich in künstlichen Agenten nur dann einstellen können, wenn diese über die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen, verfügen. Diese Autoren argumentieren, „daß ohne das Wissen über sich selbst die übrigen Punkte nur schwer zu realisieren sind und dieses damit in das Repertoire eines Agenten aufgenommen werden müßte“ (Schillo 1999: 9). Wichtig scheint hier zu sein, dass für die VKI eine Interaktion zwischen verschiedenen künstlichen Agenten nur dann möglich ist, wenn diese Agenten bestimmte Eigenschaften mitbringen. Je komplexer und offener die Problemlösungsszenarien sind, desto komplexer und autonomer müssen dabei die beteiligten Agenten modelliert werden. Für den Informatiker stellt sich hier die Frage, ob all diese Eigenschaften und Fähigkeiten tatsächlich softwaretechnisch realisierbar sind, ob es tatsächlich technisch möglich ist, Agenten mit einem derartig komplexen Fähigkeitenrepertoire auszustatten. Darüber hinaus wird angeführt, dass sich die Zahl der sinnvoll miteinander interagierenden Agenten äquivalent zur Komplexität der einzelnen Agentenarchitekturen verringert. Das Dilemma ist, dass nur komplexe Agentenarchitekturen überhaupt zur Sozialität fähig sind. Multi-Agenten-Systeme bestehen daher in der Regel aus wenigen Agenten. Komplexe Belief Desire Intention-Architekturen (BDI-Agenten) verfügen z.B. über eine eigene Wissensrepräsentation und sind dadurch als autonome Agenten zur Sozialität fähig (vgl. 5 zum Folgenden Schillo 1999: 10f.). Sie erkennen Fakten, die von ihnen geglaubt werden. Der Agent ist zu einer Annahme des momentanen Zustandes der Welt fähig und kann ihre voraussichtliche Veränderung einschätzen (belief). Der Agent entwickelt aus sich selbst heraus Wünsche, indem er sich Zustände konstruieren kann, die er für anstrebenswert hält (desire). Darüber hinaus verfolgen BDI-Agenten Absichten, indem sie sich Ziele auswählen, die sie erreichen wollen. Nach Jürgen Müller sind, wie Schillo (vgl. 1999: 10) behauptet, die Vorbilder für solche Agentenarchitekturen menschliche Akteure (vgl. auch Sundermeyer 1993: 26) Aus einer nicht technisch orientierten Perspektive kann an dieser Stelle gefragt werden, ob es anthropologisch festlegbare Eigenschaften des Menschen als Agenten gibt, die ganz bestimmte Formen der Sozialität ermöglichen bzw. erforderlich machen. Die Soziologie kennt in diesem Kontext wichtige Grundeigenschaften des Menschen, der als „Agent“ handelt. Diese Eigenschaften, die sich zu einem komplexen anthropologischen System verdichten lassen, können etwa aus einer Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie gewonnen werden. Philosophische Anthropologie – ein kurzer Exkurs4 Die philosophische Anthropologie versucht nicht nur, die reale und vollständige Existenz des Menschen zu begreifen, indem sie seine Stellung und Beziehung zur gesamten Welt untersucht, sondern macht gleichsam eine weitere Ebene der Reflexion des Menschen besonders anschaulich. Diese Reflexionsebene bezieht sich darauf, dass der Mensch sich selbst zum Problem wird, da er sich im Kontakt mit der Welt nicht zuletzt auch selbst als Objekt der Beschreibung setzen muss. Er ist im Kontext seiner Lebensführung gezwungen, sich selbst im Kontakt mit der Welt als Problem zu definieren. Der Ausgangspunkt der philosophischen Anthropologie ist die These, „daß zu keiner Zeit in der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart“ (Scheler 1976: 11). In diesem Zusammenhang wird als Problem erkannt, dass der Mensch sich als „exzentrisch organisiertes Wesen“ (Plessner 1981: 383) zu dem, was er ist, erst machen muss (vgl. hierzu auch Plessner 1983: 190ff.). Thema der philosophischen Anthropologie ist genau die Beschreibung der eigentümlichen, exzentrischen „Stellung des Menschen im Kosmos“ (Scheler), die ihn dazu zwingt, sich selbst als Aktzentrum und Person zu entwerfen, sich also selbst zum Objekt seiner Beobachtung zu machen. Der Mensch ist in diesem Zusammenhang mehr als das am besten entwickelte Tier. Er ist nämlich mit einem Prinzip ausgestattet, das ihn über alle Tiere stellt, ohne dass er selbst noch als Tier angesehen werden kann. „Das, was den Menschen allein zum ‚Menschen‘ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens ..., sondern es ist eine allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip“ (Scheler 1976: 31). Dieses Prinzip nennt Scheler 4 Die philosophische Anthropologie soll hier nur als Beispiel dienen. Andere Forschungsrichtungen wie etwa die Entwicklungspsychologie oder die Psychoanalyse beschäftigen sich auch damit, Eigenschaften des Menschen ahistorisch bestimmen zu wollen. Ich kann hier nur ein Beispiel anführen, um mein späteres Argument, dass sich das Wesen des Menschen nicht bestimmen lässt, vorzubereiten. 6 „Geist“ als existenzielle Entbundenheit vom Organischen. „Das Aktzentrum aber, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als 'Person', im scharfen Unterschied zu allen funktionellen Lebenszentren, die nach innen betrachtet auch ‚seelische‘ Zentren heißen.“ (Ebd.: 32) Der Mensch hat durch das Prinzip des Geistes Welt. Er ist nicht allein abhängig von Umweltreizen und Instinktimpulsen, sondern ist fähig zu einem sachlichen Umgang mit der Welt. „Nur ein solches Wesen ist Träger des Geistes, dessen prinzipieller Verkehr mit der Wirklichkeit außerhalb seiner wie mit sich selber sich im Verhältnis zum Tiere mit Einschluß seiner Intelligenz dynamisch geradezu umgekehrt hat.“ (Ebd.) Nur der Geist kann nach Scheler den Akt der Entwirklichung vollziehen, der notwendig ist, um Mensch sein zu können. „Der Mensch ist das X, daß sich in unbegrenztem Maße ‚weltoffen‘ verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.“ (Ebd.: 33) Der Mensch wird über den Begriff des Geistes außerhalb der Welt positioniert. Weil nur er zu reflexiven Bewusstseinsprozessen fähig ist, verwandelt er seine unspezifische Umwelt in Welt, indem er sie selbst gestaltet und formt. Die strukturelle Notwendigkeit des Weltentwurfs ist es, die den Menschen als Menschen erscheinen lässt. Das Prinzip des Geistes ermöglicht nämlich nicht nur eine Reflexion der dem Menschen äußeren (Um)Welt, sondern auch und entscheidend eine im Bewusstsein verortete Reflexion der eigenen Stellung zur Welt. In der philosophischen Anthropologie verweist das Leben des Menschen, also seine zeitlich begrenzte Existenz, auf die Notwendigkeit, sich selbst als Objekt seiner Beschreibung zu setzen und damit zu vergegenständlichen: „Der Mensch allein - sofern er Person ist - vermag sich über sich - als Lebewesen emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen.“ (Ebd.: 38) Der Mensch ist nicht Zentrum der objektiven Dinge, sondern Zentrum seiner eigenen Reflexivität, da er in „exzentrischer Positionalität“ (Plessner) zu sich und der Welt steht: „Es [das lebendige Ding] bleibt zwar wesentlich im Hier-Jetzt gebunden, es erlebt auch ohne den Blick auf sich, hingenommen von den Objekten des Umfeldes und den Reaktionen des eigenen Seins, aber es vermag sich von sich zu distanzieren, zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen. Dann ist es diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit, und so ist es Mensch.“ (Plessner 1981: 363; Hervorh. F.H.) Die philosophische Anthropologie bestimmt das Wesen des Menschen nicht nur über seine Position zur Welt, sondern gleichsam über seine Position zu sich selbst. Die festgestellte Notwendigkeit, sich selbst zu entwerfen, erscheint als conditio humana. Am Ende dieses Selbstentwurfs steht eine Art Identität, die das Ergebnis eines selbstreflexiven Prozesses der Selbstidentifikation eines Bewusstseins ist. Arnold Gehlen radikalisiert die philosophische Anthropologie, indem er den Menschen als Mängelwesen beschreibt, das durch seine natürlichen Ausstattungen allein nicht lebensfähig ist. Die durch diese Mangelhaftigkeit notwendig werdende Weltoffenheit des Menschen erscheint in diesem Sinne als Problem: „Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der ‚unzweckmäßigen‘ Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv nahegebrachter Bedeutungsverteilung gegenüber, sondern eine Welt - richtig negativ ausgedrückt: ein 7 Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur, das erst in 'Vorsicht' und 'Vorsehung' durchgearbeitet, d.h. erfahren werden muß. Schon hier liegt eine Aufgabe physischer und lebenswichtiger Dringlichkeit: aus eigenen Mitteln und eigenständig muß der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.“ (Gehlen 1962: 36) Gesellschaftliche Strukturen, die Gehlen als Institutionen bezeichnet, werden als Ergänzungen oder Verlängerungen der konstitutiven lebenserhaltenden Funktionen des biologischen Lebewesens Mensch beschrieben. Institutionen sind für Gehlen alle Strukturen, die zu gewohnheitsmäßigem Handeln führen. Mit dem Begriff werden demnach nicht nur Großorganisationen, sondern auch interaktionsnahe Strukturen wie Riten, Reziprozität und Arbeitsteilung, die ein bestimmtes Handeln erzwingen, bezeichnet. Das Soziale, das sich in Institutionen manifestiert, wird dabei als funktional für das Überleben des Menschen angesehen. Der Mensch erscheint in dieser Sichtweise als „Mängelwesen“, das durch Instinktarmut und ein besonderes Weltverhältnis charakterisiert werden kann. Um diese These zu untermauern, grenzt Gehlen die drei wichtigsten Wesensmerkmale des Menschen bekanntlich so ein: Zunächst sind erstens im aufrechten Gang, im dadurch freien Blickfeld und im freien Gebrauch der Hände die wichtigsten Voraussetzungen der Menschwerdung zu sehen. Darüber hinaus ist zweitens der Mensch im Vergleich zum Tier ein instinktarmes und instinktunsicheres Wesen. Er ist in diesem Sinne ein Mängelwesen. Die vom Menschen erstrebte Sicherheit des Handelns und der Daseinsführung erlangt er nur über die von ihm selbst geschaffenen Institutionen und die Geltung von Normen und Werten. Charakteristisch für ein dermaßen instinktverunsichertes Wesen ist drittens, dass es zwischen Handlungsantrieb (Reiz) und Handlung eine Kluft (Hiatus) gibt, eine auch moralischethisch gesteuerte Unterbrechung und Handlungshemmung durch Reflexion (vgl. etwa Gehlen 1973: 96). Der Mensch steht aufgrund seiner biologischen Ausstattung vor der Aufgabe, die Mittel seiner Existenz durch aktives Handeln und zweckdienliche Umgestaltung der ihm äußeren Welt selbst zu schaffen. Nur so kann er überleben. Der Mensch ist darüber hinaus in seinen affektiven und kognitiven Funktionen nicht auf starre Instinktschemata festgelegt. Seine Antriebe sind demnach kontingent. Sie können aufgrund unterschiedlicher Anlässe sehr unterschiedlich geformt werden, während die tierischen Antriebe fast ausschließlich im Reiz-Reaktionsschema funktionieren. Im Gegensatz zum Verhalten des Tieres steht vor dem Handeln des Menschen zunächst Reflexion, zu der ihn der Hiatus zwischen Handlungsantrieb und Handeln zwingt. Des weiteren ist die Welt des Menschen offen. Sie kann nicht ausschließlich als eine nützliche und zweckdienliche Umwelt wahrgenommen werden, die nur unter dem Gesichtspunkt des reinen Überlebens Relevanz besitzt. Das Wesen des Menschen zeichnet sich vielmehr durch Weltoffenheit aus. Das heißt für Gehlen: Der Mensch „entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnittsmilieu“ (Gehlen 1962: 35). Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Folgen dieser natürlichen Ausstattung des Menschen: „Die ungemeine Reiz- und Eindrucksoffenheit gegenüber Wahrnehmungen, die keine angeborene Signalfunktion haben, stellt zweifellos eine erhebliche Belastung dar, die in sehr besonderen Akten bewältigt werden muß.“ (Ebd., Hervorh. F.H.) 8 Die sozialen Institutionen, also so etwas wie die Strukturen des Sozialen, erfüllen genau die Funktion der Entlastung des Mängelwesens Mensch, da sie die „sehr besonderen Akte“ zur Minderung der „erheblichen Belastung“ und Verunsicherung des Menschen als konstitutive Bedingungen des menschlichen Lebens ursächlich erst ermöglichen: „Alle Institutionen der Arbeit, der Herrschaft, der Familie usw. haben heute wie stets einen direkten Erfüllungswert für menschliche Bedürfnisse.“ (Gehlen 1964: 18, Hervorh. F.H.) Um eine Gesellschaft zu stabilisieren, muss sie demnach auf dauernde Institutionen gebracht werden, „und das bedeutet eine Selektion der Verhaltensweisen und Situationen, untrennbar von ihrer Vereinseitigung“ (ebd.: 20). Allen Institutionen wohnt für Gehlen somit eine „wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation und von dauernden Improvisationen fallweise zu vertretener Entschlüsse“ (ebd.: 43) inne. Diese Entlastungsfunktion der Institutionen bezeichnet er als eine der „großartigsten Kultureigenschaften“ (ebd.), da über sie die Gesellschaft stabilisiert werde. Der gesamten Institutionenlehre Gehlens liegt somit die aus anthropologischen Denkfiguren gewonnene Entlastungsthese zugrunde. Der Mensch braucht aufgrund seines Wesens zur Entlastung seiner durch die ihm eigene Weltoffenheit verursachten Verunsicherung eine „Innenstabilisierung“ (ebd.: 42) durch Institutionen. *** Angenommen, man würde dieser philosophisch-anthropologischen Sichtweise des Menschen, die ja nicht ganz unplausibel zu sein scheint, in der VKI-Forschung folgen und daraus schließen, Agenten müssten exakt nach dem Menschenbild der philosophischen Anthropologie modelliert werden, dann stieße man auf unlösbare und meines Erachtens unnötige Probleme. Der reflexive Weltbezug, der von der philosophischen Anthropologie als die conditio humana mit allen Konsequenzen für die theoretische Bestimmung des Sozialen und Gesellschaftlichen definiert wird, lässt sich beispielsweise gegenwärtig softwaretechnisch nicht modellieren. Wenn er sich dann irgendwann modellieren ließe, würde dies um den Preis einer Reduktion der interagierenden Agenten auf eine sehr geringe Anzahl geschehen müssen. Die Behauptung einiger VKI-Forscher, menschliche Agenten könnten als Vorbilder für die Architektur künstlicher Agenten dienen, die impliziert, Agenten modellieren zu können, die dem Menschen auch nur annähernd gleichen, ist daher sehr gewagt und scheint mir darüber hinaus unnötig zu sein. Zu beachten ist nämlich, dass es in der VKI zwei extreme Sichtweisen von Agenten gibt: Die eine beschreibt Agenten analog zum menschlichen Akteur als autonome Wesen mit Gefühlen, Emotionen und kognitiven Repräsentationen. Diese Sichtweise verbietet es letztlich, Agenten softwaretechnisch zu modellieren, da dies ein unrealistisches Unterfangen wäre. Die andere Sichtweise beschreibt Agenten wie Automaten, die sich strikt nach dem richten, was der Forscher dem Agenten aufträgt, ohne jedes Vermögen zur Reflexion oder Entscheidungsfreiheit. Beide Sichtweisen sind Verkürzungen, wie Huhns und Singh (vgl. 1998: 1) richtig feststellen. Offenbar kommt es in der VKI darauf an, Agenten zu entwerfen, die dem Anspruch, Formen von Sozialität im Computer zu erzeugen, gerecht werden können, ohne dabei den Anspruch zu verfolgen, diese Sozialformen seien mit der realen Sozialität 9 auch nur vergleichbar. Betrachtet man in diesem Zusammenhang, dass allen Multi-AgentenSystemen der VKI die Annahme zu Grunde liegt, eine künstliche Sozialität könne nur in Verbindung mit den Fähigkeiten und Eigenschaften der beteiligten, künstlich erzeugten Agenten gedacht werden, wie es analog dazu die philosophische Anthropologie Gehlens für die menschliche Gesellschaft annimmt, werden die Grenzen der Vergleichbarkeit nicht nur mit der theoretisch unerreichbaren realen Sozialität, sondern auch mit den Modellen der Sozialität, wie sie in der Soziologie präferiert werden, sehr schnell deutlich. Mit ihren agentenzentrierten Grundannahmen gerät die VKI nämlich in einem deutlichen Gegensatz zur neueren Soziologie. Hier nimmt man nicht zuletzt auch aufgrund der Verkürzungen anthropologischer Konzepte der Sozialität immer deutlicher davon Abstand, Sozialität und Gesellschaft anthropologisch, also mit ausschließlichem Bezug auf den menschlichen Akteur, zu bestimmen. Begründet wird diese Distanz zum anthropologischen Paradigma mit der Annahme, dass das Wesen des Menschen, sprich des menschlichen Agenten, sich nicht ahistorisch festlegen lässt, wie es dagegen noch Plessner, Scheler und Gehlen behauptet haben. In der soziologischen Forschung wird seit den 80er Jahren vermehrt davon ausgegangen, dass alle Eigenschaften des Menschen soziale Zuschreibungen sind, die also nicht durch eine wissenschaftliche Erforschung des Menschen als wahre Eigenschaften des Menschen gefunden werden können. Solche Zuschreibungen ergeben sich aus der Struktur der Gesellschaft, die dem Menschen bestimmte Eigenschaften abverlangt. Sie variieren daher mit der Variation der Gesellschaftsstruktur. Diese konstruktivistische Richtung der Soziologie problematisiert, ob Sozialität überhaupt den Eigenschaften der Menschen zugeschrieben werden kann, indem man die Formen der Sozialität aus diesen Eigenschaften ableitet. Sozialität wird in der Soziologie heute mehr denn je als Realität sui generis beschrieben, die nur aus sich selbst heraus verstanden werden kann.5 Emergenz ist der Begriff, der diesem Sachverhalt gerecht zu werden versucht, jedoch immer dann in die Lücke springt, wenn man mit anderen Begriffen nicht mehr weiter zu kommen scheint. An diesem Punkt stößt man auf das Problem der Anschlussfähigkeit einer genuin soziologischen Sichtweise an die Theorievorgaben der VKI, die sich Sozialität immer in Verbindung mit Agenten vorstellen. Werner Rammert (1998: 110) vermittelt zwischen VKI und Soziologie, wenn er zum Emergenzproblem sagt: „Emergenzphänomene treten nicht nur als Strukturen von objektiven Beziehungen unter Agenten auf, die sich ihrer individuellen Ziele und Fähigkeiten nicht bewußt sind – dieser Typ entspräche am ehesten der Durkheimschen Auffassung -, sondern eben auch als Emergenz des Bewußtseins über diese präkognitiven Bedingungen, das bei den Agenten durch lernen entsteht. [...] Institutionen entstehen nicht nur aus gleichsam blinder Emergenz, sondern sie können, wenn sie in ihrer Funktion erkannt und anerkannt werden, von denen, die sie für ihre eigenen Zwecke nutzen, durch ihr Handeln reproduziert 5 Beispielhaft formuliert etwa Luhmann folgende Grundlage der soziologischen Theorie: „Soziales läßt sich nie ganz auf individuelles Bewußtsein reduzieren; weder geht es ganz in ein Bewußtsein hinein, noch läßt es sich als Addition der Bewußtseinsinhalte verschiedener Individuen fassen und erst recht nicht als Reduktion der Bewußtseinsinhalte auf Konsens. Die Erfahrung des Sozialen und mehr noch die praktische Betätigung in sozialen Sinnzusammenhängen gehen immer von dieser Nichtreduzierbarkeit aus.“ (Luhmann 1984: 594) 10 werden. Institutionen sind also weder nur äußeres Resultat, in die Mitglieder mittels Regeln hineinsozialisiert werden, noch nur freies Produkt von Verhandlungen zwischen Mitgliedern, die ihre Interessen verfolgen.“ Trotz dieser Relativierung des soziologischen Emergenzbegriffs, die den sozialen Akteur wieder stärker in die soziologischen Überlegungen einbezieht, stößt man an dieser Stelle auf ein Adäquanz-Problem der VKI. Ich sehe dieses Problem wie folgt: Die klassische KI hatte große Schwierigkeiten mit der Geistmetapher. Sie scheiterte mit dem Versuch, Geist adäquat künstlich zu modellieren. Auch die Frage nach der Intelligenz ist in der klassischen KI sehr umstritten. Fraglich ist nämlich, ob künstliche Intelligenz tatsächlich jemals mit menschlicher Intelligenz verglichen werden kann, oder ob es nicht vielmehr darum geht, künstliche Agenten zu modellieren, die Probleme auf ihre Weise bearbeiten können und gleichsam Kompetenzen erwerben bzw. zugeschrieben bekommen, die sie dazu bringen, auch komplexe Probleme tatsächlich bearbeiten und zielgerichtet lösen zu können. Auch die Intelligenzforschung versagt damit, Intelligenz tatsächlich feststellen zu können. Das AdäquanzProblem stellt sich auch in der Psychologie, die lediglich Muster identifizieren kann, die von Menschen bei bestimmten Problemkonstellationen regelmäßig angewendet werden und die in Relation zu anderen Lösungswegen effektiver sind. Der Stand der Forschung in der KI ist in diesem Zusammenhang bisher, dass künstliche Agenten eine Problemlösungskompetenz besitzen, die mit der von Insekten vergleichbar ist. Könnte man die KI, angesichts der Probleme mit der Modellierung von Intelligenz, nicht vom Intelligenzparadigma auf ein Problemlösungsparadigma umstellen? Das Adäquanz-Problem würde dann in ein Performanz-Problem übersetzt, das sich deutlich besser handhaben lässt. Ganz ähnliche Probleme wie mit der adäquaten Modellierung von künstlicher Intelligenz ergeben sich, wenn man das Adäquanz-Problem auf die Sozialität überträgt. Zu diesem Problem lässt sich folgende These formulieren: Soziologie und VKI sind beide nicht in der Lage, Sozialität adäquat abzubilden. Sie können jeweils nur Modelle entwickeln und konstruieren. Diese Modelle haben bereits dadurch ihre Berechtigung, dass sie zu unterschiedlichen Zwecken erstellt werden. Soziologie modelliert Sozialität, um soziale Problemlagen und Zusammenhänge besser verstehbar zu machen, um also soziologische „Aufklärung“ zu betreiben, oder um das Soziale mit Hilfe von Hypothesenbildung, die aus Theorien des Sozialen abgeleitet wird, empirisch besser beobachten zu können. VKI modelliert Sozialität, um effektivere Problemlösungen möglich zu machen, die sich in der Praxis anwenden lassen. So entsteht eine breite Kluft zwischen VKI und Soziologie, die sich meines Erachtens nicht so leicht überwinden lässt. Ein wichtiger Berührungspunkt scheint jedoch zu sein, dass beide Wissenschaften davon ausgehen können, dass Wissen ein soziales Konstrukt ist, das keinen Anspruch darauf erheben kann, die Realität adäquat abzubilden. Die Soziologie liefert Techniken, wie Wissen über die Sozialität systematisiert und angewendet werden kann. Die VKI liefert Techniken, wie man Agenten mit bestimmbaren Eigenschaften in einem sozialen Umfeld, das vom Forscher definiert wird, verorten kann, um bestimmte Problemlösungen künstlich zu erzeugen. Dieser Aspekt ist ein ingeneurtechnischer, weil es bei Problemlösungen in der VKI immer um 11 die Untersuchung und Bereitstellung effektiver Hilfsmittel für die kooperative Erledigung komplexer Tätigkeiten geht.6 Vor allem aus diesem Grund wird in der VKI versucht, komplexe Agentengemeinschaften bzw. –gesellschaften zu modellieren, die aus einer künstlichen Sozialität heraus Probleme besser lösen können als einzelne künstlich intelligente „Agenten“. Nimmt man diese Position zur Ausgangsbasis einer soziologischen Betrachtung künstlicher Sozialität, vermeidet man es, die VKI mit Ansprüchen zu konfrontieren, die sie nicht einlösen kann. 2. Agentengemeinschaften, Agentengesellschaften Wie bereits gesagt, ist ein wichtiger Impuls der VKI-Forschung, künstliche Sozialität zu erzeugen, um sozial intelligentes Problemlösen im Computer zu ermöglichen. Die VKI beschäftigt sich daher nicht nur damit, wie Agenten zu modellieren sind, welche Eigenschaften den Agenten eines Multi-Agenten-Systems mitgegeben werden, sondern auch mit der Frage, wie sich die unterschiedlichen Agenten organisieren, wie sie also zu einem System zusammenwachsen, das mehr ist als die Summe der Agenten. Dies wird in der Literatur als die „quasisoziologische“ Problemstellung der VKI bezeichnet, weil hier „quasi-soziologische Prozesse“ (Schillo 1999: 7) analysiert werden, wobei mit dem Letzteren quasi-soziale Prozessen gemeint sind. Im Zusammenhang mit der Modellierung und Konstruktion sozialer Systeme geht es entscheidend darum, das soziale Umfeld der Agenten, das aus anderen Agenten, aber auch aus bestimmten Strukturen besteht, zu modellieren. Der Ausgangspunkt dafür ist in der VKI jedoch der Agent, der als sozialer Agent mit den dazu notwendigen Eigenschaften modelliert wird, was offenbar der KI-Tradition entstammt, die sich vor allem mit der Konstruktion von einzelnen „intelligenten“ Kunstwesen beschäftigt. Von der Architektur eines Agenten, der zur Sozialität fähig ist, verspricht man sich in der VKI die Möglichkeit, Multi-Agenten-Systeme zu entwickeln, in denen die entsprechend programmierten Agenten durch ihr Handeln miteinander in Beziehung treten und auf diese Weise ein „soziales“ System konstituieren. Das Spektrum zur Modellierung solcher Agentengemeinschaften und Agentengesellschaften umfasst in der VKI den Raum zwischen den beiden Polen „verteilte Problemlösungssysteme“ (VPS) und „Multiagenten-Systeme“ (MAS). VPS bezieht sich auf ein fest begrenztes Problem, dass mit Hilfe von unterschiedlichen Agenten, die dieses Problem kennen und lösen wollen, bearbeitet wird. Eine Differenzierung des Problems in unterschiedliche Teilaufgaben ermöglicht es, Agenten zu entwerfen, die sich auf ein spezifisches, zuvor definiertes Teilproblem beziehen und dadurch zur Lösung des Gesamtproblems beitragen. Die Agenten besitzen nur das Wissen, das sie zur Lösung des vom Forscher für sie bestimmten und definierten Einzelproblems im Kontext des Gesamtproblems 6 „Die weitaus größte Zahl der Arbeiten zur VKI befaßt sich mit eher praktischen Problemen.“ (Burkhard 1993: 161) 12 benötigen. Sie können ihr Verhalten nicht ändern und sind unfähig, Erfahrungen mit ihrem Verhalten zur Modifikation ihrer Verhaltensweisen zu benutzen. Verteiltes Problemlösen kann trotz der damit verbundenen, relativ unterkomplexen Vorstellung des Sozialen mit der klassischen Arbeitsteilungslehre des Soziologen Emile Durkheim verglichen werden (vgl. etwa Durkheim 1992: 82ff.): Durkheim beschreibt die moderne Gesellschaft als arbeitsteilige Gesellschaft, in der unterschiedliche Aufgaben von unterschiedlichen Personengruppen erledigt werden, damit die Gesellschaft als Ganzes zusammengehalten wird. Das Ziel dieser Arbeitsteilung wird von Durkheim darin gesehen, die soziale Ordnung der Gesellschaft zu stabilisieren und dadurch Chaos, Anomie und Bürgerkrieg von der Gesellschaft abzuwenden. Organische Solidarität, die als vorbewusste Kooperation der Personengruppen gefasst werden kann, hält die Gesellschaft zusammen, weil alle Personengruppen mit ihren spezifischen Arbeitsleistungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen und dies jeweils von den anderen Personengruppen auch erwarten. Die Einzelnen unterwerfen ihre Wünsche und ihren Willen dieser organischen Solidarität, weil sie wissen, dass die anderen mit ihren Tätigkeiten ebenso wie sie selbst zum Aufrechterhalten der sozialen Ordnung beitragen. Durkheim beschreibt das Ordnungsproblem der Gesellschaft folglich nicht mehr wie Hobbes, der die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung durch die Konstitution eines repressiven und alle Macht in sich bündelnden Staates als gewährleistet ansieht. Durkheim definiert dafür weitere Bedingungen, die sich aus der Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft ergeben. In MAS sind die Agenten ganz im Gegensatz zu den „Agenten“ des VPS autonom auch in der Wahl dessen, was sie zur Lösung eines Problems beitragen wollen, wie es auch in der Soziologie spätestens seit Durkheim für die menschliche Gesellschaft gesehen wird.7 Autonomie meint im Kontext der VKI mit Bezug zu Castelfranchi, dass Agenten ihre Handlungen selbst kontrollieren und über interne Eigenschaften verfügen, die sie dazu befähigen, ohne direkte Intervention von Menschen oder anderen Agenten zu handeln (vgl. exemplarisch für viele Textstellen Gerber et al. 1999: 5). Autonome Agenten sind nicht vollständig determiniert. Ihr interner Zustand ist ausschließlich durch Grundeigenschaften vorbestimmt, die nicht zwangsläufig ein ganz bestimmtes Handeln hervorbringen (state autonomy). Das Handeln des Agenten wird vor allem durch die internen Eigenschaften des Agenten bestimmt. Bestimmte Handlungsoptionen werden somit nicht von außen an den Agenten heran getragen (action autonomy). Der autonome Agent hat darüber hinaus eigene computertechnische „Meinungen“ und Ansichten über sich selbst und soll in Zukunft zudem ein Gespür und einen sinnvollen Umgang mit computertechnisch erzeugtem Raum und mit computertechnisch erzeugter Zeit besitzen (computational autonomy). Dieser Zeit- und Raumaspekt scheint jedoch bisher noch nicht programmierbar zu sein.8 Wichtig ist, dass all diese Eigenschaften von autonomen Agenten nicht substanziell, sondern formal bestimmt werden, so dass bestimmte inhaltliche 7 Bereits Marx wusste: Der Arbeitsvertrag macht aus Leibeigenen Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft „frei“ auf dem Markt anbieten. 8 Vgl. zu diesen drei Aspekten der Autonomie von Agenten exemplarisch Gerber et al. 1999: 5 13 Spezifikationen erst im Verlauf der Interaktion innerhalb eines Multi-Agentensystemes entstehen können. Welche dies genau sind, hängt von der Art der Konstruktion des Systems ab. Setzt man des Weiteren voraus, dass autonome Agenten schon vor dem Auftauchen eines Problems existieren können, wird die Interaktion der Agenten ungleich komplizierter als in VPS. Im MAS geht es um die Koordination des „intelligenten“ Verhaltens von autonomen Agenten, die nicht nur nach festgelegten Aufgaben interagieren, sondern zielgerichtetes Verhalten, Pro-Aktivität, eigene Repräsentationen ihrer Umwelt und Kommunikationsfähigkeit dazu nutzen, sinnvoll problemorientiert miteinander zu interagieren. Sie müssen mit Hilfe von Interaktion unter Umständen erst herausfinden, was das Problem ist und wie es gelöst werden kann. MAS sind folglich Systeme, die sich in nicht unerherheblichem Maße aus sich selbst heraus organisieren, die also Strukturen bilden, die vor der Programmierung des Systems nicht festgelegt wurden. Derartige Systeme, die ergebnisoffen konzipiert werden, zeichnen sich unter anderem durch nebenläufige asynchrone Operationen, dezentrale Steuerung, Verzicht auf globale Konsistenz des Wissens der Agenten und eingeschränkte Kommunikationsbeziehungen der Agenten aus (vgl. Burkhard 1993: 163). Offenbar wird den Agenten keine feste, substanzielle Handlungsdisposition zugeschrieben, die sich auf das Erreichen eines ganz bestimmten universell vorgegebenen Ziels bezieht, weil kein gemeinsames Ziel aller Agenten festgelegt wird, so dass eine heterogene Agentengemeinde entsteht, in der von den einzelnen autonomen Agenten sehr unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Auch dadurch, dass die Agenten alle füreinander erreichbar sind, erscheint das Handeln in dieser Agentengemeinde als komplexes System von Austausch-, Konkurrenz- und Kooperationshandlungen, die sich nicht zwangsläufig auf ein gemeinsames Ziel beziehen müssen. Gleichwohl bleibt es auch in derartigen Multi-Agentensystemen notwendig, das übergeordnete Ziel des Systems von außen zu definieren, also quasi an das System heran zu tragen, da sonst der Problembezug der gesamten Architektur des Softwareprogramms nicht hinreichend bestimmt ist. Man kann nicht darauf warten, dass die Agenten via Interaktion ein Problem erkennen und dieses lösen wollen. Eine soziologisch und sozialphilosophisch naheliegende Frage ist in diesem Zusammenhang, ob aus einer zunächst angenommenen basalen Anarchie der Agentengemeinde soziale Strukturen entstehen, die sich dauerhaft reproduzieren. Michael Schillo und Petra Funk (vgl. 1998) haben in einer neuen Untersuchung gezeigt, dass sich spontane Gruppenbildungen in künstlichen „Agenten-Gesellschaften“ ereignen können, wenn man die Agentenarchitekturen entsprechend modifiziert. Ausgangspunkt für diese Neuorientierung ist das Gefangenendilemma. Diese Versuchsanordnung verzichtet auf eine Kooperationsannahme, da schon das klassische Gefangenendilemma „eine Formalisierung des Konflikts zweier Individuen zwischen gegenseitiger Unterstützung (Kooperation) oder egoistischer Nutzung von Vorteilen (Verrat) zur Verfügung“ (Schillo 1999: 47; Hervorh. F.H.) stellt. Am Beispiel der von ihnen vorgenommenen Abwandlung des „iterated prisoner’s dilemma“ zeigen Schillo und Funk, dass die Architektur von relativ autonomen „Egoisten“ und „Altruisten“, die gegenseitig nicht von der Einstellung der anderen wissen, im Verlauf mehrerer Spielrunden zu spontanen Gruppenbil14 dungen führt, indem sich die Agenten mit anderen Agenten zusammenfinden, um das Spiel für sich selbst erfolgreicher zu gestalten (vgl. Schillo/Funk 1998: Abschnitt 1.4.2).9 Ein solches Ergebnis einer künstlichen Anordnung von Sozialität, das nicht zuletzt auch dadurch zustande kommt, dass die in der VKI weit verbreitete Annahme, Agenten würden immer kooperieren10, dem Experiment nicht a priori vorangestellt wird, erinnert an die soziologische Denkfigur der Sozialgenese: Der Ausgangspunkt der Soziologie kann mit Hilfe dieser Denkfigur darin gesehen werden, dass das Soziale zunächst einmal ein unstrukturiertes Geschehen ist, dass sich erst im Laufe der Evolution strukturiert und bei geänderten Bedingungen dann wieder dem sozialen Wandel unterlegen ist.11 Der Bezug des Sozialen zu den Agenten muss dann nicht mehr mit Hilfe der These Gehlens hergestellt werden, dass die sozialen Strukturen das Mängelwesen Mensch lediglich entlasten. Die sozialgenetische Perspektive der Soziologie fokussiert vielmehr, dass das motivierte Einzelhandeln der Agenten unter bestimmten und identifizierbaren Umständen soziale Effekte zeitigt. Dies ist etwa bei Elias und Bourdieu formuliert. Betrachtet man Multi-Agenten-Systeme, die aus relativ autonomen und deliberativen Agenten bestehen und gleichsam relativ ergebnisoffen konstruiert sind, nicht so sehr unter einem sozialexperimentellen, sondern eher unter einem ingineurtechnischen Gesichtspunkt, schließt sich die Frage nach dem Sinn solcher Szenarien an. Die Vor- und Nachteile derartiger MAS werden deshalb in der VKI-Literatur im Vergleich mit VPS vielfach beschrieben (vgl. als Überblick Martial 1992: 7f.). Michael Schillo (vgl. 1999: 18) fasst die wichtigsten Vorteile von MAS im Vergleich mit VPS wie folgt zusammen: Das Konzept der „Multi Agenten Systeme [steht] im Einklang mit der Einsicht aus Bereichen der Psychologie, der KI und der Soziologie, daß Intelligenz und Interaktion tiefgehend und unausweichlich miteinander verwoben sind: Multi-Agenten Systeme integrieren diesen Gedanken in zweierlei Weise: Zum einen erlaubt die Interaktivität das Verhalten des Gesamtsystems intelligenter erscheinen zu lassen als die Summe seiner Teile. Zum anderen erlaubt ihre Intelligenz es den Agenten, die Interaktion effizienter zu gestalten. Außerdem trägt das Studium der Multi-Agenten Systeme zu unserem Verständnis natürlicher ‚Multi-Agenten Systeme‘, wie z.B. Kolonien von Insekten und menschlichen Teams im allgemeinen bei. Insbesondere hilft die Forschung beim Verstehen komplexer sozialer Phänomene wie kollektiver Intelligenz und emergentem Verhalten. Empirische Untersuchungen in diesem Bereich werden möglich, da die Leistung heutiger Rechner es möglich macht, Multi-Agenten Systeme für solche Studien stabil zu realisieren ...“ 12 9 Für Schillo ist dieses Experiment auch Anlass, die Frage nach der Möglichkeit von Vertrauen zwischen künstlichen Agenten neu zu stellen (vgl. Schillo 1999: 47). „The essential feature of the [prisoner`s dilemma] is that there is no possibility for ‚rational‘ behaviour in it, unless the conditions for mutual trust exists.“ (Deutsch zit. n. ebd.) Hier zeigt sich, dass die Architektur von Agenten in der VKI immer komplexer wird, indem komplexe, von der Soziologie als Grundlagen menschlichen Handelns angesehene Eigenschaften wie Vertrauen inzwischen nicht mehr ein unüberbrückbares Hindernis darstellen, wenn sie softwaretechnisch erzeugt werden sollen. BDIAgenten etwa werden daher mit immer mehr Fähigkeiten versehen, indem z.B. belief mit trust angereichert wird, weil es die Technik inzwischen erlaubt. Diese technischen Möglichkeiten gilt es offensiv und kreativ zu nutzen, um VKI und Sozionik voranzutreiben. 10 Darauf komme ich gleich zurück. 11 „Die Gesamtheit der Interaktionen bildet ... eine Art basale Anarchie, bildet qua Eigenstabilität von Interaktion und qua Aufhörzwang der Interaktion das Spielmaterial für gesellschaftliche Evolution.“ (Luhmann 1984: 575f.) 12 Einen belehrenden Kommentar kann ich mir als Soziologe hier nicht verkneifen: Der Weg von Insektenkolonien zu menschlichen Teams ist ein sehr weiter. Ob der Vergleichspunkt für MAS die Sozialität von Insekten oder menschlichen Akteuren ist, scheint daher nicht unerheblich zu sein. Dieses Problem macht deutlich, dass 15 Das Abwägen der Vor- und Nachteile geschieht in der Regel nicht im Sinne Schillos, der die sozialexperimentellen Komponenten von MAS besonders betont. Sie geschieht häufiger nach Effizienzgesichtspunkten im Hinblick auf die Problemlösungskompetenz der Systeme (vgl. Sundermeyer 1993: 26). Dabei wird berücksichtigt, dass Problemkonstellationen, deren Struktur eine effektive Lösung mit Hilfe von verteilten Problemlösungssystemen erlauben, die Konzeption von Multi-Agenten-Systemen nicht erforderlich machen. Schillo (ebd.: 18f.) sagt entsprechend zu den Nachteilen von MAS: „Trotz der oben genannten Vorteile und Eigenschaften sind Multi-Agenten Systeme in einer Reihe von Fällen keine optimalen Problemlöser. Um Problemlösen zu verteilen müssen ... einige Voraussetzungen erfüllt sein.“ Die Einschränkung der Kommunikation „ist sehr wichtig. Zwar können mehrere Agenten vermutlich dann besonders gut zusammenarbeiten, wenn sie unbegrenzt viel kommunizieren können, aber wenn der Aufwand für Kommunikation zu hoch wird, ist die unverteilte Planung einfacher. Außerdem muß ein Problem überhaupt zerlegbar sein. Das Verteilen eines Problems hat nur dann Sinn, wenn das Problem ohne allzu großen Aufwand in interaktionsarme Teilprobleme zerlegbar ist. Andernfalls ist der Aufwand für die Abstimmung untereinander zu hoch. Eine zentrale Kontrolle gibt es bei Multi-Agenten Systemen, im Gegensatz zum verteilten Problemlösen, nicht. Desweiteren müssen die Agenten ein angemessenes Bild der Fähigkeiten der anderen Problemlöser haben. Wenn die Agenten nichts voneinander wissen ist auch die Verteilung sinnlos, da dann keine Zusammenarbeit zustande kommt.“ MAS scheint nur dann notwendig zu sein, wenn die zu lösenden Probleme ein komplexes „Sozialverhalten“ der Agenten notwendig werden lassen. Da jedoch die Architektur derartiger Agenten, wie bereits deutlich wurde, sehr aufwendig ist, muss abgewogen werden, ob die Modellierung eines solchen Systems dem Problem, das durch das System bearbeitet und gelöst werden soll, angemessen ist. Die am DFKI entwickelten Speditionsszenarien zeichnen sich dadurch aus, dass sie als MultiAgenten-Systeme modelliert sind, die sich auf komplexe Probleme (fleet-scheduling-problem, vehicle-routing-problem, pick-up-and-delivery-problem) innerhalb der Transportdomäne beziehen (vgl. Florian 1998: 24f.). Gleichsam werden in ihnen Aspekte des verteilten Problemlösens nicht außer Acht gelassen. Allgemein kann gesagt werden, dass in allen MultiAgenten-Systemen der DFKI unterschiedliche Agentenarchitekturen miteinander interagieren, d.h. in Multi-Agenten-Systemen herrscht keine Gleichheit der Agenten, ihnen werden vielmehr sehr unterschiedliche Fähigkeiten implementiert, die davon abhängen, welche Aufgabe ein bestimmter Agent zu erfüllen hat. Ein weiterer wichtiger Aspekt der MAS, die im DFKI entwickelt werden, ist die Kooperationsannahme, die den Szenarien als Grundlage dient, indem den Agenten eine grundsätzliche Bereitschaft zur Kooperation zugeschrieben wird. Der Kooperationsgedanke ist in der VKI auf die Frage fokussiert, wer was wann tut (vgl. Schier und Fischer 1996: 9). Es geht also darum, welche Agenten in welcher Weise mit anderen, unter Umständen von ihnen verschiedenen Agenten in Interaktion treten. Mit der Definition dieser Aspekte werden die Organisationsprinzipien des Multi-Agenten-Systems festgelegt, die die Analogiemetaphorik in der VKI nur wenig Sinn macht. Vielleicht wäre es besser, einfach davon auszugehen, dass MAS soziale Systeme sind, deren Sozialität aber nicht mit der Sozialität unter menschlichen Akteuren zu vergleichen ist. Soziologen können dann auch diese spezifische Form der künstlichen Sozialität untersuchen, ohne dass sie sich dabei herab gesetzt fühlen müssen. 16 daher entscheidend vom Kooperationsgedanken geprägt sind. Kooperation geschieht in MAS zum einen in einer vertikalen Dimension zwischen gleichwertigen Agenten, die nebeneinander operieren und gemeinsam am Erreichen eines Ziels arbeiten (vgl. ebd.: 10). Zum anderen geschieht die Kooperation auf einer hierarchischen Dimension zwischen ungleich modellierten Master- und Slave-Agenten, indem davon ausgegangen wird, dass die Anweisungen der übergeordneten Master-Agenten von den untergeordneten Slave-Agenten ohne Reibungsverlust bedingungslos erfüllt werden (vgl. ebd.: 9). Diese Kooperationsformen werden dann weiter differenziert, so dass unterschiedliche Organisationsprinzipien von MAS wie zentralisierte Multiagentenplanung oder dezentrale Problemlösungen entstehen. Vertikale und horizontale Kooperation sind daher die wichtigsten Organisationsprinzipien der MAS, die vom DFKI verwendet werden (vgl. etwa Schier u. Fischer 1996: 9-11). Kooperation wird gar als die Bedingung für die Konstitution von Gesellschaft schlechthin beschrieben, wie Florian (vgl. 1998a: 309f.) nachweist. Diese Sichtweise begründet sich nicht, wie man als Laie zunächst annehmen könnte, damit, dass konfliktfähige Agenten derzeit noch nicht modelliert werden können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass vielmehr auch die Agenten in MAS nicht zwangsläufig kooperieren müssen, sondern miteinander in Konkurrenz treten können, wenn die Bedingungen für Konkurrenzverhalten – etwa Knappheit der materiellen Ressourcen, Knappheit der Einflussmöglichkeiten, Knappheit der Anerkennung – entsprechend vorausgesetzt und die Agenten mit entsprechenden Fähigkeiten und Eigenschaften ausgestattet werden (vgl. Martial 1992: 8). Am Beispiel des offen gespielten Gefangenendilemmas wird deutlich, dass künstliche Agenten tatsächlich in konfliktiösen Beziehungen zueinander stehen können, indem sie sich zum Beispiel gegenseitig verraten und daher nicht nur miteinander kooperieren (vgl. hierzu etwa Schillo 1999: 47ff.). Softwaretechnisch ist es, wie das Beispiel des Gefangenendilemmas verdeutlicht, kurz gesagt nicht unmöglich, konfliktfähige Agenten zu modellieren. Dennoch wird in den DFKI-Szenarien das Kooperationsmodell bevorzugt. Die Begründung dafür liegt auf einer anderen Ebene als der softwaretechnischen. Man verspricht sich von wesentlich kooperativen Agentensystemen, die aus benevolenten Agenten bestehen, effektive und anwendungsfreundliche Problemlösungsszenarien, die in der Praxis und hier vor allem von der Wirtschaft nachgefragt werden. Die Kooperationsannahme ist also offenbar ausschließlich dem Effizienzgedanken geschuldet, da sie Nützlichkeitsgesichtspunkten der Multi-Agenten-Systeme entspringt, die zu ganz bestimmten Zwecken – etwa zur Entlastung von Dispositionshandlungen in Transportunternehmen – modelliert werden. Nur kooperationsfähige Agenten können demnach ein Problem wirklich effektiv lösen. Zu fragen wäre, ob letztere Annahme wirklich haltbar ist, oder ob nicht vielmehr Problemlösungen durch Konflikte über den besten Lösungsweg effektiver gestaltet werden können, vor allem dann, wenn bestimmte Teilprobleme vor dem Einsetzen des Spiels noch nicht bekannt sind, also innerhalb eines umfassenden Problemzusammenhangs erst noch gefunden werden müssen, damit eine Lösung des Gesamtproblems voranschreiten 17 kann. Möglicherweise ist es gerade nicht die Kooperationsbereitschaft, die in allen Situationen zur effizientesten Lösung führt. Ein weiterer Aspekt im Kontext der Kooperationsannahme ist, dass, wie Martial (1992: 8) richtig sagt, „Kooperation und Koordination ... komplexe und bisher wenig verstandene Phänomene“ sind. In soziologischer Perspektive ist nämlich zu fragen, wie Kooperation und Koordination wahrscheinlich werden, wie sich diese Formen der Sozialität, die es zweifellos gibt, aus der Emergenz des Sozialen heraus bilden. Darüber hinaus wäre mit Michael Florian (vgl. 1998: 32ff.) zu problematisieren, ob die Gutwilligkeit (Benevolenz) der sozialen Agenten oder der soziale Konsens auf der Basis normativer Integration innerhalb eines sozialen Systems tatsächlich der Motor des Sozialen ist. In diesem Zusammenhang ist die folgende Annahme aus der soziologischen Forschung zu berücksichtigen: Wenn alle sozialen Handlungen in der Form einer logischen und rationalen Kooperation ablaufen, kann es auch zum Stillstand kommen, da die sozialen Möglichkeiten dann redundant sind. Insbesondere eine offene Problemsituation verlangt nach Konkurrenz. Nebenläufige Problemlösungsversuche sind hier von großer Bedeutung, da keine feste Lösung vorgegeben werden kann. In dieser Sicht führen Macht- und Konkurrenzkämpfe dazu, dass die Praxis der Agenten kontinuiert, dass also Probleme weiterhin entstehen und gelöst werden. Nicht konfliktfreier Konsens, sondern ständig vorhandener Dissens, der Konflikte verursacht, kann demnach als Motor des Sozialen angesehen werden. Am Beispiel des am weitesten entwickelten Multi-Agentensystems der DFKI, dem TeleTruck-Modell, das sich wie seine Vorlaufmodelle auf die Kooperationsannahme stützt, können diese soziologisch inspirierten Zweifel an dieser Kooperationsannahme im weiteren Verlauf der Argumentation verdeutlicht werden.13 Bevor dies jedoch geschieht, ist es zunächst notwendig, auf das Holonkonzept genauer einzugehen, das dem TeleTruck-Modell zugrunde liegt.14 Ein wichtiges Problem der VKI, das die Rezeption des Holonmodells durch die Forscher des DFKI inspiriert haben dürfte, ist, dass in MAS nur wenige, höchstens 12-16 Agenten miteinander interagieren können. Zur Entwicklung eines Szenarios für künstliche Gesellschaftssimulationen benötigt man daher eine Lösung, die bestimmte Teile der Gesellschaft selbst wiederum als Agenten fassen kann. Das Holonmodell bietet sich an, Multi-Agentensysteme, in denen nur eine relativ geringe Anzahl von Agenten vorgesehen ist, die deshalb nur auf einer niedrigen gesellschaftlichen Aggregationsebene – nämlich der Interaktionsebene – operieren können, auf eine höhere Ebene des Sozialen zu transformieren. Im holonistischen Modell 13 Ich verzichte auf eine ausführliche Beschreibung der Versuchsanordnungen von „MARS“ und „MAS-MARS“, da diese Modelle inzwischen durch „Tele-Truck“ modifiziert und optimiert wurden (vgl. Bürckner et al. 1997: 8). Daher werde ich die folgende Argumentation vor allem auf dieses Szenarium zuspitzen. Vgl. für eine kompakte Beschreibung der einzelnen Modelle Florian 1998: 24f. 14 Koestlers Konzept einer holonistischen Organisation, das als Vorbild für den holonischen Ansatz in der VKI dient, ist am Organismusmodell orientiert (vgl. Gerber et al. 1999: 3). Ganz ähnlich argumentiert bekanntlich die strukturfunktionalistische Soziologie a la Parsons im Hinblick auf das Gesellschaftssystem. Durkheim spricht analog, wie bereits gesagt, von organischer Solidarität. Der holonische Ansatz hat somit in der Soziologie eine lange Tradition, die so alt ist wie die Soziologie. 18 werden einzelne Organisationen (möglicherweise gar einzelne Felder im Sinne Bourdieus), als einzelnen Agenten übergeordnete Super-Agenten konzipiert, die wiederum miteinander interagieren. Ein Holonsystem zerfällt „bei näherer Betrachtung in selbstähnliche Strukturen“ (Fischer 1998: 33), weil es aus mehreren, vergleichbaren Holonen besteht. „A holonic agent of a well-defined software architecture may join several other holonic agents to form a super-holon; this group of agents now acts as if it were a single holonic agent with the same software architecture.“ (Gerber et al. 1999: 7) Diese Super-Agenten, also einzelne Holonen, bestehen wiederum aus Einzelagenten, die jedoch ihre Autonomie ganz oder teilweise zugunsten der Ziele des Holons aufgeben. „A holonic multi-agent paradigm is proposed , where agents give up parts of their autonomy and merge into a ‚super-agent‘ (a holon), that acts – when seen from the outside – just as a single agent again.“ (Gerber et al. 1999: 1) Dabei grenzen die Autoren drei verschiedene Formen von Holonen ein: • • • Bund der Agenten (vgl. ebd.: 13) – Hier herrscht eine hohe Autonomie der Einzelagenten, was das Problem mit sich bringt, den Zusammenschluss dieser Agenten zu einem Holon nicht mehr als eigenständigen Agenten begreifen zu können. Verschmelzung der Agenten zu einem Agenten (vgl. ebd.: 14) – Hier herrscht vollständiger Autonomieverlust der Einzelagenten, was nur wenig Sinn macht, da man dann die Einzelagenten völlig vernachlässigen kann. Moderate Gruppe von Agenten (vgl. ebd.: 15) (moderated group of agents) – Hier herrscht eine teilweise Aufgabe der Autonomie der Einzelagenten. Dieses Modell wird von den Autoren bevorzugt, da es als Synthese der beiden anderen Modelle angesehen wird. Betrachtet man es als sinnvoll, Holonen in dieser Weise als Super-Agenten zu beschreiben, die aus Sub-Agenten bestehen, muss die entscheidende Frage beantwortet werden, mit welchen Eigenschaften Super-Agenten sowie Sub-Agenten ausgestattet werden müssen, um ein stabiles und anwendungsorientiertes Szenarium zu entwickeln. Zur allgemeinen Definition der Eigenschaften eines Agenten in Holonsystemen wird im Research Report von Gerber, Siekmann und Vierke (1999: 4) das Akteurkonzept des strukturfunktionalistischen Soziologen Parsons herangezogen: „The sociologist Parsons takes an actor to be an agent who has goals. In his definition, an agent is an individual who shows behavior. Behavior is the ability to change the state of the world. The world is differentiated into the agent and its environment. The environment, as it is perceived by the agent, defines the situation, the agent is in. A goal is a certain state of the world. To act means to behave in such a way as to achieve a goal. In general, an agent can choose from a set of actions. About of he has expectations how they will change the world. The actor selects a specific action from his options according to his goals, the means of his disposal and his situation. Additionally, agents can use a common language in order to communicate with other actors.“ Diese soziologische Erkenntnis, die von Parsons als Grundlage für sein handlungstheoretisches und zugleich gesellschaftstheoretisch anwendbares Konzept des AGIL-Schemas formuliert wird, wird als wichtige Grundlage des holonistischen Ansatzes der VKI-MAS verwendet, indem die bereits oben erläuterten allgemeinen Eigenschaften von Agenten, die in MAS inter19 agieren, wie Autonomie und Pro-Aktivität in neuer Form konzipiert werden. Diese Umformulierung der basalen Kriterien für das Agieren von Agenten in MAS geschieht im Sinne des holonischen Modells (vgl. zum Folgenden ebd.: 24f.) Autonomie wird in diesem Kontext so verstanden, dass Holonen durch Agenten repräsentiert werden, die autonome Entscheidungen darüber treffen, wie sie an einem umfassenden holonischen Zusammenhang partizipieren. Die Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln erscheint in diesem Sinne als Kollektiveigenschaft eines Holons, das ein Ziel innerhalb des umfassenden Holonsystems anstrebt. Zudem entstehen in den einzelnen Holonen „increased group capabillities“, die ein einzelnes Sub-Holon als Bestandteil des Super-Holons nicht ausbilden könnte. Alle Agenten, Sub-Holonen sowie Super-Holonen, besitzen eine explizite Repräsentation ihrer Umwelt und beziehen sich in ihren Handlungen auf die Agenten“gesellschaft“ (agent society), die sie als ihre Umwelt begreifen. Sie richten dem entsprechend ihre Handlungen und Zielformulierungen an den Strukturen des Gesamtsystems aus, die sich aus der umfassenden Problemdefinition für das gesamte Holonsystem ergeben. Aufgrund der Dynamik des Systems und seiner Orientierung an die Echtzeit werden alle Agenten mit einer basalen Rationalität ausgestattet, die sie zu logischem Handeln zwingt. Darüber hinaus sind alle Agenten in der Lage, miteinander zu kommunizieren. Dies macht es erforderlich, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Die Kommunikationswege, über die diese Sprache benutzt wird, sind von oben nach unten konzipiert. Dies geschieht deshalb, weil das gesamte Holonsystem hierarchisch angeordnet wird. Dieses so konstruierte Modell einer Agenten“gesellschaft“ weist deutliche Analogien zur strukturfunktionalistischen Gesellschaftstheorie auf, die entscheidend von Talcott Parsons geprägt worden ist, der, wie oben gezeigt, zur Entwicklung des Holonkonzepts in der VKI Pate gestanden hat. Ich gehe deshalb in einem kurzen Exkurs auf Parsons‘ Gesellschaftstheorie ein, um daraus soziologische Argumente zur Kommentierung des holonischen Ansatzes in der VKI zu entwickeln. Exkurs zu Parsons‘ Gesellschaftstheorie15 Der Ausgangspunkt der Gesellschaftstheorie Parsons‘ ist es, soziale Ordnung als System zu begreifen. Die Leitvorstellung der dabei konstruierten Systemtheorie der Gesellschaft ist, dass jede soziale Ordnung, also auch die Ordnung des Gesellschaftssystems, auf einem durch geteilte Normen und Werte begründetem Fundament ruht (vgl. Schimank 1996: 117).16 Parsons will 15 Nicht selten wird dem Gesellschaftsmodell Parsons‘ das Etikett „holonisch“ zugeschrieben und dies geschieht nicht zu Unrecht, wie zu zeigen sein wird. Die Vergleichbarkeit mit dem holonischen Ansatz in der VKI ist dadurch angezeigt. 16 Parsons bezieht sich hier auf Durkheims Begriff der organischen Solidarität. Bekanntlich setzt sich Parsons bereits in seinem ersten Hauptwerk „The Structure of Social Action“ ausführlich mit Durkheim auseinander (vgl. als Zusammenfassung Parsons 1968: 460ff.). Das Konzept des Persönlichkeitssystems geht über Durkheim hinaus und wird von Parsons vor allem im Anschluss an die Freudsche Psychoanalyse entwickelt (vgl. hierzu ausführlich Parsons 1979: 99ff.). 20 dabei, wie Hans Joas (vgl. 1992: 29) richtig feststellt, nie die Existenz sozialer Ordnung erklären, sondern setzt die Existenz sozialer Ordnung vielmehr als Erfahrungstatsache voraus, indem er sie als Ausgangspunkt seiner Theorie konstruiert. Diese Grundvorstellung lässt sich nur vor dem Hintergrund einer universellen Handlungstheorie verstehen, aus der Parsons die Gesellschaftstheorie deduktiv ableitet. Der Systembegriff wird handlungstheoretisch fundiert. Der systematische Ausgangspunkt einer Systemtheorie der Gesellschaft ist demnach die Analyse des sozialen Handelns. In diesem Kontext entwickelt Parsons ein ausgefeiltes Konzept des Persönlichkeitssystems, das neben dem sozialen System als Zusammenhang der Interaktionsbeziehungen zwischen mehreren Handelnden, dem kulturellen System als Zusammenhang der generellen Werte, Normen und Symbole, die den Handelnden Orientierungen bereitstellen, und dem biologischen Organismus (organisches System) als eine der vier Komponenten zum Erhalt der sozialen Ordnung begriffen wird. Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaftssystem stellt sich innerhalb dieses begrifflichen Rahmens als eine Frage nach dem Verhältnis von kulturellem / sozialem System auf der einen Seite und Persönlichkeitssystem / Organismus auf der anderen Seite. Das Verhältnis dieser beiden Pole zueinander löst Parsons bekanntlich mit Hilfe seines als analytisches Instrument eingeführten AGIL-Schemas auf. Jedes Handeln entsteht danach in Bezugnahme auf alle vier Funktionen des AGIL-Schemas, da die Dimensionen des AGIL-Schemas als allem Handeln zugrundeliegende Rahmenbedingungen angesehen werden (vgl. Kiss 1990: 59; Schimank 1996: 96f.). Das AGIL-Schema fasst bekanntlich die für alle Systeme konstitutiven Funktionen zusammen: Adaptation (A), goal attainment (G), integration (I) und latent pattern maintenace (L) müssen danach von allen Systemen funktional erfüllt werden, damit sich die Systeme dauerhaft reproduzieren können. Diese Option gilt dabei für das Gesellschaftssystem ebenso wie für interaktionsnahe Handlungssysteme.17 Das erste funktionale Erfordernis zur dauerhaften Reproduktion von Handlungssystemen ist die adaptation. Dieser Begriff, der sich nur bedingt mit Anpassung übersetzen lässt, meint den Bezug des sozialen Handlungssystems zu seiner biologischen und physikalischen Umwelt. Nur wenn sich das soziale Handlungssystem diesen konstitutiven Voraussetzungen anzupassen vermag, wird es sich reproduzieren. Ist diese Anpassung gestört, kommt es zum sozialen Wandel, oder das System hört auf zu existieren. Adaptation gelingt aber nur in Verbindung mit latent pattern maintenances. Diese sind eng mit dem kulturellen System verbunden, da die Kultur die latenten Hintergrundgewissheiten des Handelns bereitstellt. Als funktionales Erfordernis der sozialen Reproduktion müssen dem Handeln der Menschen über das kulturelle System generalisierte sinnhafte Orientierungen in Gestalt von Werten und Normen und daran anknüpfenden Deutungsmustern zur Verfügung gestellt werden, damit die Handelnden bestimmten Zielen folgen (goal 17 Vgl. zur Herleitung des AGIL-Schemas etwa Parsons 1976: 85ff. und in gesellschaftstheoretischer Perspektive ebd.: 121ff. Die deutsche Übersetzung der Begriffe des AGIL-Schemas ist bis heute uneinheitlich. Ich verwende daher, und weil die Begriffe sich nur bedingt ins Deutsche übertragen lassen, im folgenden die englischen Orginalbegriffe. Die sinnvollste Übersetzung ist m.E. die folgende: A (adaptation) = Anpassung, G (goal attainment) = Zielerreichung, I (integration) = Integration und L (latent pattern maintenance) = Strukturerhaltung und Spannungsbewältigung. 21 attainment), die zumindest nicht im Gegensatz zur geordneten Reproduktion des Gesellschaftssystems stehen. Nur so passen sich auch die Menschen über das Persönlichkeitssystem den Bedingungen des sozialen Systems an (integration). Nach Parsons sind im Anschluss an Freuds Psychoanalyse die „wesentlichen Züge der Persönlichkeitsstruktur ... durch Sozialisation von den sozialen Systemen und der Kultur abgeleitet“ (Parsons 1979: 103). Die einzelne Persönlichkeit wird jedoch „durch ihre Beziehungen zu ihrem eigenen Organismus und durch die Einzigartigkeit ihrer Lebensführung ein unabhängiges System“ (ebd.), so dass sie nicht als bloßes „Epiphänomen der Gesellschaftsstruktur“ (ebd.) angesehen werden kann. Adaptation meint aber, dies ist für Parsons entscheidender als die Eigentümlichkeit einzelner Persönlichkeiten, neben der Anpassung des sozialen Systems an die psychischen und biologischen Bedingungen aus seiner Umwelt auch die Anpassung des Persönlichkeitssystems, womit dann die Gesamtheit der Persönlichkeiten bezeichnet wird, an die sozialen Strukturen (integration). Ohne diese durch generalisierte Werte und Normen bewirkte Anpassung des Persönlichkeitssystems kann sich das Handlungssystem in Parsons Sicht nicht dauerhaft reproduzieren. Wenn das Handlungssystem seinen psychischen und biologischen Voraussetzungen nicht mehr gerecht wird, beginnt sich das System ebenso aufzulösen bzw. zu wandeln, als wenn das Persönlichkeitssystem sich den Werten und Normen eines Handlungssystems nicht mehr hinreichend anschließt. „Abweichendes Verhalten“18 kann zwar in gewissem Maße absorbiert werden. Wird das abweichende Verhalten jedoch zur Regel, ändern sich entweder langsam die sozialen Strukturen und damit auch das Normen- und Wertesystem, oder es kommt zu anomischen Zuständen wie Bürgerkrieg oder soziales Chaos.19 Schimank fasst den hier aufgezeigten handlungstheoretischen Argumentationszusammenhang, der für die Gesellschaftstheorie Parsons grundlegend ist, treffend so zusammen: „Handlungszusammenhänge vermögen sich dann und nur dann dauerhaft zu reproduzieren, wenn erstens die körperlichen Bedürfnisse der involvierten Handelnden sowie zweitens deren motivationalen Antriebe befriedigt werden und dies drittens sozialen Koordinationserfordernissen sowie viertens übergreifenden kulturellen Orientierungsmustern gerecht wird.“ (Schimank 1996: 97) Eine spezifische Struktur des Persönlichkeitssystems ist dabei nicht nur notwendige Bedingung für die Integration von Handlungssystemen, sondern auch für die Integration der Gesellschaft. Die Persönlichkeit der einzelnen muss in ganz bestimmter Weise strukturiert sein, damit die moderne Gesellschaft sich geordnet reproduzieren kann. Parsons fasst über das AGIL-Schema die gesellschaftliche Integration als Ergebnis eines Zusammenwirkens horizontaler und vertikaler 18 Zum Begriff des „deviant behavior“ vgl. exemplarisch Parsons 1966: 249ff. Ein beispielhafte Aussage Parsons zu diesem für seine Theorie zentralen Themenkomplex ist die folgende: „First a social system cannot be so structured as to be radically incompatible with the conditions of functioning of its component individual actors as biological organisms and as personalities, or of the relatively stable integration of a cultural system. Secondly, in turn the social system, on both fronts, depends on the requisite minimum of 'support' from each of the other system. It must, that is, have a sufficient proportion of its component actors adequately motivated to act in accordance with the requirements of its role system, positively in the fullfillment of expectations and negatively in abstention from too much distruptive, i.e., deviant, behavior.“ (Parsons 1966: 27) Wir erinnern uns an Durkheim, der diesen Zusammenhang mit ähnlicher Ausrichtung aber anderen Begriffen schon 50 Jahre vor Parsons formuliert hatte. 19 22 Mechanismen. Als horizontale Mechanismen erscheinen die double interchanges zwischen den analytischen Subsystemen Wirtschaft (adaptation), Politik (goal attainment), gesellschaftliche Gemeinschaft (integration) und dem Treuhandsystem (latent pattern maintenance). Auf der Ebene des Gesellschaftssystems bilden sich über soziokulturelle Evolution diese Subsysteme zur Erfüllung der durch das AGIL-Schema herausgearbeiteten Funktionen, die den Erhalt der Reproduktion des Handlungssystems sowie des Gesellschaftssystems sicherstellen. Die vertikalen Mechanismen der gesellschaftlichen Integration bezeichnen die kybernetische Kontrollhierarchie der Funktionserfordernisse. Demnach werden die ermöglichenden Kräfte, die den Spielraum für Handlungsmöglichkeiten erhöhen, durch das Wirtschaftssystem über die Bereitstellung von Bedürfnisbefriedigungen (adaptation) sowie durch die Politik über das Bereitstellen von Zielorientierungen (goal attainment) ermöglicht. Diese Kräfte werden aber dann, wenn die Integration insbesondere der modernen Gesellschaft gelingen soll, durch die ordnenden Kräfte der gesellschaftlichen Gemeinschaft, die die Gesellschaft vor Konflikten schützt, sowie der Werte, Normen und Symbole des Treuhandsystems, die dauerhafte Orientierungen bereitstellen, also die Handlungsmöglichkeiten einschränken, mehr und mehr überlagert, da das Gesellschaftssystem in erster Linie danach strebt, sich geordnet zu reproduzieren. Trotzdem müssen die Funktionen adaptation und goal attainment zunächst erfüllt sein, damit es zu dieser integrativen Leistung der Funktionen integration und latent pattern maintenance kommen kann. Nach und nach spielt sich somit eine Ordnung ein, die Neues, Kreatives oder auch Nichtvorhersehbares nicht mehr benötigt, weil die Ordnung reibungslos funktioniert, indem die vier Funktionen zum Erhalt der Ordnung optimal bedient werden und durch double interchanges miteinander in Beziehung stehen (vgl. Parsons 1976: 121ff.; Schimank 1996: 113ff.). In diesem Konzept sozialer Ordnung kommt es also vor allem auf die Integration der Gesellschaft an. Die dazu notwendige funktionale Formung des Persönlichkeitssystems geschieht über die Internalisierung von allgemein gültigen Werten und Normen, die dem einzelnen durch das Treuhandsystem bereitgestellt werden. Die L-Funktion, die durch das Treuhandsystem bedient wird, steht somit insbesondere in der modernen Gesellschaft an der Spitze der kybernetischen Hierarchie. Die Werte, Normen und Symbole sind das, was den Zusammenhalt, die Integration der Gesellschaft letztlich bewirken. Soziale Kontrolle, Sozialisation und Erziehung produzieren im gesellschaftlichen Treuhandsystem (latent pattern maintenance) die für die Integration der Gesellschaft notwendige Verinnerlichung der Werte, Normen und Symbole in das Persönlichkeitssystem. In der aus dem Gesagten abgeleiteten Sozialisationstheorie Parsons‘ geht es folglich um die Frage, wie eine auf Individuen beruhende soziale Ordnung möglich ist. Die nur scheinbar plausible Lösung dieses grundlegenden Problems gelingt, indem angenommen wird, soziale Ordnung sei nur durch Sozialisation der Individuen im Hinblick auf kulturelle Werte und Normen möglich. Seit Durkheim ist dies ein herrschender Topos soziologischer Theorie, der die Integration des Individuums in die Gesellschaft als notwendige Bedingung zur geordneten Reproduktion der Gesellschaft ansieht. Die Frage nach gesellschaftlicher Integration wird über eine Theorie der Sozialisation von der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen 23 Teilen zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft verlagert (vgl. Gilgenmann 1986: 94). Die Sozialisationstheorie erscheint dann als Grundlage einer Theorie des Gesellschaftssystems. Als Lösung des Problems der theoretischen Erreichbarkeit der Differenz von Mensch und Gesellschaft wird ein Wertekonsens vorgestellt, „der auf zunehmende Differenzierung durch zunehmende Generalisierung reagiert“ (Luhmann 1997: 27). Dieser Wertekonsens ist für Parsons nicht nur unerlässliche Vorbedingung für die Bildung sozialer Handlungssysteme, sondern auch für die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Zweifel am Wertekonsens werden über die Sozialisationstheorie abgearbeitet, indem hier theoretisch davon ausgegangen wird, dass die Sozialisation für die Internalisierung der für den Erhalt der sozialen Ordnung notwendigen Werte, Normen und Symbole sorgt. Der einzelne ist nach Parsons also gezwungen, seine eigenen Wünsche und Ziele dem gesellschaftlich hervorgebrachten Wertekonsens unterzuordnen.20 Konflikt, Dissens, Kontingenz und andere Phänomene, die sich nicht mit dem Konsensbegriff fassen lassen, werden kurzerhand marginalisiert. An die Stelle der Beobachtung von Konflikten tritt die These einer durch Sozialisation ermöglichten Zwangsintegration des Einzelnen in die modernen gesellschaftlichen Strukturen, die als ein funktionales Erfordernis der modernen Gesellschaftsstruktur begriffen wird. Diese von Parsons mit einem komplexen Begriffsapparat entwickelte, inzwischen als klassisch zu bezeichnende Sozialisationstheorie wird aber sehr schnell mit dem Problem der kontingenten Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der sozialen Akteure konfrontiert, ohne dieses Problem wirklich lösen zu können. Der Einzelne, der sozialisiert wird, lernt nämlich nicht nur die für das Gesellschaftssystem funktionalen Rollenmuster zu bewältigen, sondern entwickelt zudem die Fähigkeit, sich selbst von sozialen und funktionalen Anforderungen, die die Gesellschaftsstruktur ihm abverlangt, zu unterscheiden, wie beispielhaft bereits G.H. Mead gezeigt hat. Nach Mead doppelt der Einzelne sich in „I“ und „me“, also in eine personale und eine soziale Identität. Der Einzelne ist demnach in der Lage und gezwungen, mit sich selbst zu kommunizieren und als Individuum jene Ganzheit zu werden, die er im fragmentarischen, sprunghaften Verlauf seines eigenen Vorstellungslebens zunächst gar nicht ist (vgl. Luhmann 1989: 152). Die Parsons‘sche Integrationsthese, die direkt an Durkheims Solidaritätskonzept anschließt, kann diesen kontingenten Selbstbeschreibungen nicht wirklich begegnen. Sie greift daher, so die inzwischen einhellige Kritik der soziologischen Fachöffentlichkeit, zu kurz, um das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft und mithin die Konstitutionsprinzipien der modernen Gesellschaft angemessen plausibel zu machen. *** Ähnlichkeiten des Parsonsschen Gesellschaftsmodells zum holonischen Konzept der VKI sind kaum zu übersehen. Die wichtigsten Vergleichspunkte können mit etwas Phantasie wie folgt katalogisiert werden: 20 Luhmann kommentiert dieses Modell zu Recht so: „Parsons selbst war es offenbar nie in den Sinn gekommen, daß die L-Funktion an der Spitze der kybernetischen Hierarchie vom Teufel besetzt sein könnte; und wenn Marxisten dies unterstellen, dann halten sie sich eben damit für verpflichtet, dagegen zu sein.“ (Luhmann 1997: 1130) 24 • Ganz ähnlich wie Parsons geht auch das holonische Konztept der VKI von einer sozialen Ordnung aus, die als gedankliches Konstrukt den weiteren Überlegungen als Vorausset- • zung vorangestellt wird. Die Idee, dass autonome Agenten Teile ihrer Autonomie zugunsten des Gesamtsystems aufgeben, ähnelt dem Sozialisationskonzept Parsons‘, das davon ausgeht, dass die sozialen Akteure über eine Steurung des Sozialisationsprozesses in einer Weise geformt werden müssen, die der Aufrechterhaltung der kybernetischen Kontrollhierarchie dient. Am Ende müssen alle sozialen Akteure das wollen, was sie zur Aufrechterhaltung der sozialen Ord- • nung wollen sollen, indem sie bestimmte Rollen in der Gesellschaft erfüllen. Die grundsätzliche Zielorientierung allen Handelns, die Parsons als Grundbedingung für alle sozialen Systeme beschreibt, wird in leicht abgewandelter Form auch im holonischen Konzept der VKI für die einzelnen Agenten vertreten. • Die Grundannahme, das gesamte Gesellschaftssystem sei hierarchisch strukturiert, die Parsons über das Theorem der hierarchischen Kontrollhierarchie entwickelt, ähnelt den • Hierarchievorstellungen des holonischen Ansatzes in der VKI. Parsons teilt die Gesellschaft als das Supersystem in Subsysteme – Wirtschaft, Kultur (Treuhandsystem), soziales System der Gemeinschaft (Familie, Erziehung) und Politik – auf. Mit etwas Phantasie ließe sich diese Aufteilung mit Hilfe der Begriffe Superholon und Subholon reformulieren, da auch die Subsysteme bei Parsons in gewisser Weise agieren, indem sie jeweils eine Funktion zum Erhalt des Gesellschaftssystems erfüllen – Wirtschaft adaptation, Kultur- bzw. Treuhandsystem latent pattern maintenance, Politik goal attainment und gesellschaftliche Gemeinschaft bzw. Erziehung/Familie integration. Das Handeln der einzelnen sozialen Akteure erscheint in Parsons‘ Gesellschaftstheorie wesentlich als funktional zum Erhalt der gegebenen Gesellschaftsstruktur. Auch die SubAgenten des Superholons erfüllen in ihren Handlungen eine Funktion zur Lösung des übergreifenden Problems, dass das Superholon lösen soll. Die Idee, das übergeordnete Holon werde durch die übergreifende Problemdefinition des Forschers zusammengehalten, weist deutliche Analogien zur Vorstellung Parsons auf, die soziale Ordnung des Gesellschaftssystems werde wesentlich durch die Bereitstellung von allgemein gültigen Werten und Normen gewährleistet.21 • • Mit diesen Analogien werden jedoch nicht nur die Stärken des holonischen Ansatzes der VKI deutlich, sondern gleichsam auch dessen Schwächen. Wie bereits gesagt, ist Parsons‘ Gesellschaftsmodell in der soziologischen Fachöffentlichkeit einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden, die sich vor allem auf die Unbeweglichkeit des strukturfunktionalistischen Ansatzes bezieht. Die Kontingenz des Sozialen lässt sich demnach mit dieser Gesellschaftstheorie nur schwer abbilden, weil alles soziale Handeln der Integration einer sozialen Ordnung dient, deren Existenz lediglich spekulativ vorausgesetzt wird. Insbesondere Niklas Luhmann vertritt im Anschluss an Parsons die Auffassung, soziale Ordnung könne der Gesell21 Möglicherweise können diesen Punkten noch weitere hinzugefügt werden. 25 schaftstheorie nicht als Erfahrungstatsache vorangestellt werden, da sich Strukturen erst als Ergebnis der Sozialität bilden und nicht umgekehrt (vgl. etwa Luhmann 1997: 27f.). Darüber hinaus ist kritisiert worden, dass Parsons die Organisation der Gesellschaft zu einfach als Zusammenspiel ihrer einzelnen Komponenten begreift, die alle dem Ziel des Erhalts der sozialen Ordnung dienen und deshalb nicht Dissens (Konflikt), sondern Konsens (Kooperation) anstreben. Daraus schließt Parsons im Kontext seines deduktiven Ansatzes, dass die Gesellschaft wesentlich durch Konsens zusammengehalten wird. Ein ganz ähnliches Argument findet sich in den holonischen Konzepten der VKI: Die einzelnen Holonen werden benevolent konzipiert, indem ihnen eine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft implementiert wird. Das holonische Konzept ist demnach nur dann plausibel, wenn man annimmt, dass die Agenten des Superholonen, also in letzter Konsequenz der „Agentengesellschaft“, tatsächlich immer im Sinne des Systems agieren, indem sie sich in ihren Aktionen rational und logisch auf die Lösung des für das System definierten Problems beziehen und dabei mit den anderen Holonen kooperieren. Betrachtet man in diesem Zusammenhang TeleTruck als wichtigstes Anwendungsszenarium, das mit einem holonischen Konzept modelliert wird, müssen aus soziologischer Sicht einige kritische Fragen gestellt werden. Tele-Truck ist als ein holonisches „Fuhrpark-Management-System“ konzipiert, „dessen Leitidee darin besteht, dass die Transportagenten holonic agents darstellen, die sich – jeweils flexibel rekombinierbar – aus Sub-Agenten zusammensetzen, die jene vier grundlegenden physikalischen Bedingungen repräsentieren, die für die Planung und Ausführung der Transportaufträge von entscheidender Bedeutung sind: Laderaum, Art des Fahrgestells, Motorkomponente und Fahrtzeit der Lkw-Fahrer“ (Florian 1998: 25).22 Wie dem gesamten Holon-Ansatz in der VKI liegt auch dem Tele-Truck-Modell eine Kooperationsannahme zugrunde, die besagt, dass alle Teile des Systems a priori kooperieren, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Darüber hinaus agieren die Holonen immer rational und logisch. Sie kennen keine intuitiven Handlungsanreize und richten ihr Handeln immer nach rationalen Gesichtspunkten aus. Auch Fehler können sie letztlich nicht machen. Eine Nebenläufigkeit des Problemlösens ist nicht vorgesehen. Wie Michael Florian (vgl. ebd.: 28ff.) richtig sagt, sind diese Vorabannahmen des Tele-Truck-Modells zu einseitig einem betriebswirtschaftlich inspirierten Organisationsmodell geschuldet, dass in der soziologischen Forschung seit geraumer Zeit als Verkürzung angesehen wird. Der allen MAS zugrundeliegende Effizienzgedanke führt hier dazu, Effizienz zu einfach mit betriebswirtschaftlicher Rationalität gleichzusetzen. „Die Planung und Disposition von Transportabläufen wird von herkömmlichen Optimierungsverfahren des Operation Research als ein rein logisches Problem konstruiert, dessen Lösung mathematisch modellierbar und informationstechnisch algorithmisierbar ist - unter Ausblendung all jener praktischen Bewertungskriterien, die sich nicht ohne weiteres der formalen Logik betriebswirtschaftlicher Kostenrechnung unterordnen lassen.“ (Ebd.: 22 Vgl. zur Beschreibung der Modellierung von TeleTruck aus der Perspektive der VKI auch Fischer 1998 passim; Bürckert et al. 1997 passim und Gerber et al. 1999: 34ff. 26 28f.) Beachtet man diesen Punkt und nimmt ihn ernst, wird es zur Weiterentwicklung des holonischen Ansatzes, der ohne Zweifel eine Weiterentwicklung der Möglichkeiten ist, MultiAgenten-Systeme auch für höhere Aggregationsebenen der Sozialität zu modellieren, darauf ankommen, die Systeme zum einen ergebnisoffener zu konzipieren und zum anderen beweglicher zu gestalten, so dass Dissens und Konflikt nicht mehr als störend marginalisiert werden, sondern vielmehr als wichtige Aspekte jeder Sozialität in das System so integriert werden, dass die Problemlösungen kreativer und dadurch effektiver werden. Dabei wird die ingeneurtechnische Frage, ob sich die Systeme in der Praxis bewähren, erst dann zu beantworten sein, wenn ergebnisoffene Systeme eingesetzt worden sind und dadurch Vergleichsgesichtspunkte entstehen. In sozialexperimenteller Perspektive ist es per se eine Herausforderung, ergebnisoffene MAS zu modellieren, die nicht mehr nur aus höchstens 16 Einzelagenten bestehen, sondern Organisationsformen darstellen, die eine sehr komplexe Sozialität ausweisen, weil sie nicht mehr nur auf der Interaktionsebene angesiedelt sind. Literatur Bürckert, Hans-Jürgen, Klaus Fischer und Gero Vierke 1997: Tele Truck: A Holonic Fleet Management System, TM-97-03, Saarbrücken. Burkhard, Hans-Dieter 1993: Theoretische Grundlagen (in) der Verteilten Künstlichen Intelligenz, in: Müller, H.J. (Hg.): Verteilte Künstliche Intelligenz, Mannheim, S. 157ff. Durkheim, Emile 1992: Über soziale Arbeitsteilung. Studie zur Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/M. Fischer, Klaus 1998: Tele Truck: Ein Online-Dispositionssystem für Speditionen, in: it+ti – Informationstechnik und Technische Informatik, 40, S. 30-33. Florian, Michael 1998: Multiagentensysteme für die kooperative Transportdisposition, RR1, Hamburg. Florian, Michael 1998a: Die Agentengesellschaft als sozialer Raum, in: Malsch, Thomas (Hg.): Sozionik, Berlin, S. 297-344. Gasser, Les 1997: Social Konceptions of Knowledge and Action: DAI Foundations and Open Systems Semantics, in: Huhns, Michael und Munindar Singh (Hg.): Readings in Agents, San Francisco., Cal., S. 389-404. Gehlen, Arnold 1962: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Siebte Auflage, Frankfurt/M./Bonn. Gehlen, Arnold 1964: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, zweite, neu bearbeitete Auflage, Frankfurt/M./Bonn. Gehlen, Arnold 1973: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt/M. Gerber, Christian, Jörg Siekmann und Gero Vierke 1999: Holonic Multi-Agent Systems, RR-9903, Saarbrücken. 27 Gilgenmann, Klaus 1986: Sozialisation als Evolution psychischer Systeme. Ein Beitrag zur systemtheoretischen Rekonstruktion von Sozialisationstheorie, in: Unverferth, Hans-Jürgen (Hg.): System und Selbstproduktion. Zur Erschließung eines neuen Paradigmas in den Sozialwissenschaften, Frankfurt/M./Bern/New York, S. 91-165. Huhns, Michael N. und Munindar Singh 1997: Agents and Multiagent Systems: Themes, Approaches, and Challenges, in: dies (Hg.): Readings in Agents, San Francisco, Cal., S. 1-24. Imhof, Peter 1999: Experimentelle Theoriebildung – Zur Methodik der Sozialsimulation, Manuskript, Hamburg. Joas, Hans 1992: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. Kiss, Gábor 1990: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, 2., neu bearbeitete Auflage, Stuttgart. Luhmann, Niklas 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. Luhmann, Niklas 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. Martial, Frank v. 1992: Einführung in die Verteilte KI, in: KI-Künstliche Intelligenz, 1/92, S. 6-11. Müller, Jürgen 1993: Einführung, in: ders. (Hg.): Verteilte Künstliche Intelligenz. Methoden und Anwendungen, Mannheim, S. 9-21. Müller, Hans Jörg und T. Wittig 1993: Anwendung von Multi-Agenten-Systemen, in: Müller, Jürgen (Hg.): Verteilte Künstliche Intelligenz, Mannheim, S. 267ff. Müller, Jörg P. und Markus Pischel 1993: InteRRaP: eine Architektur zur Modellierung Flexibler Agenten, in: Müller, Jürgen (Hg.): Verteilte Künstliche Intelligenz, Mannheim, S. 45ff. Parsons, Talcott 1966: The Social System, New York. Parsons, Talcott 1967: Sociological Theory and Modern Society, New York. Parsons, Talcott 1968: The Structure of Social Aktion, New York. Parsons, Talcott 1976: Zur Theorie sozialer Systeme, herausgegeben von Stefan Jensen, Opladen. Parsons, Talcott 1979: Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt/M. Plessner, Helmuth 1981: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt/M. Plessner, Helmuth 1983: Die Frage nach der Conditio humana, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Frankfurt/M, S. 136-217. Rammert, Werner 1998: Giddens und die Gesellschaft der Heinzelmännchen. Zur Soziologie technischer Agenten und Systeme Verteilter Künstlicher Intelligenz, in: Malsch, Thomas (Hg.): Sozionik. Soziologische Ansichten über künstliche Sozialität, Berlin, S. 91-128. Scheler, Max 1976: Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Späte Schriften, Bern, S. 7-71. Schier, Darius und Klaus Fischer 1996: Ein Multiagentenansatz zum Lösen von FleetScheduling Problemen, Saarbrücken 28 Schillo, Michael 1999: Vertrauen und Betrug in Multi-Agenten-Systemen. Erweiterung des Vertrauensmodells von Castelfranchi und Falcone um eine Kommunikationskomponente, Diplomarbeit, Saarbrücken. Schillo, Michael und Petra Funk 1998: Spontane Gruppenbildung in künstlichen Gesellschaften, DFKI-TM-98-08, Saarbrücken. Schimank, Uwe 1996: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen. Sundermeyer, K. 1993: Modellierung von Agentensystemen, in: Müller, Jürgen (Hg.): Verteilte Künstliche Intelligenz, Mannheim, S. 22ff. Weiß, Gerhard 1995: Distributed Machine Learning, Sankt Augustin. 29