13 Bezugsprobleme und Sprachspiele der Soziologie 1 Inhalt In diesem Kapitel wird überlegt, was soziologische Aussagen von alltäglichen Meinungen über die Gesellschaft unterscheidet (1.1). Um dies besser beurteilen zu können, wird zunächst geprüft, ob sich soziologische Aussagen dadurch auszeichnen, dass sie substantielle Vorstellungen dazu entwickeln, was Gesellschaft ausmacht. Dies wird am Beispiel der fiktiven Diagnose der »Pannengesellschaft« durchgespielt (1.2.1). Daraufhin werden einige Kriterien eingeführt, die helfen sollen, soziologische Vorstellungskraft zu beurteilen. Oft werden diese Beurteilungskriterien als die Eigenschaften angesehen, die soziologische Aussagen als wissenschaftliche Aussagen zu erfüllen haben (1.2.2). Abschließend wird erörtert, auf welche Weise dieser Anspruch auf wissenschaftliche Aussagen eingelöst werden kann. Dabei erweist es sich als ein Problem, dass auch (und gerade) gesellschaftswissenschaftliche Aussagen Teil eines soziologischen Sprachspiels sind, dessen Angemessenheit zunächst zu begründen wäre (1.2.3). Wann ist eine Aussage soziologisch? So wie Menschen immer mal wieder über das Wetter reden, so denken sie bisweilen auch über die Gesellschaft nach, in der sie leben. Zudem werden wir heute in den Medien ständig über das informiert, was sich in der Welt – also eben auch in der Gesellschaft oder in den Gesellschaften – so abspielt. Es ist fraglich, ob damit schon so etwas wie eine rudimentäre (erste, noch nicht voll ausgebildete) Form von Soziologie vorliegt. In der Sprache eines gegenwärtig sehr einflussreichen Ansatzes, der Systemtheorie von Niklas Luhmann, liegt Gesellschaft immer dann vor, wenn Kommunikation stattfindet. Soziologie könnte in einer anfänglichen Form also immer dann vorliegen, wenn die Gesellschaft sich mit ihren Kommunikationen auf sich selbst, auf Gesellschaft bezieht. CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 1.1 14 1 Inflationärer Begriff der Soziologie? Zwei Ansprüche Drei Aufgaben 1.2 BEZUGSPROBLEME UND SPRACHSPIELE Womöglich ist dieser Begriff von Soziologie aber zu weit gefasst. Manche Wissenschaftler würden vermutlich sagen: er wäre inflationär. Eine Inflation ist gegeben, wenn etwas überbewertet wird. Wenn jede Meldung über Meinungen zu irgendwelchen Vorgängen in der Gesellschaft – über die Beliebtheit italienischer Kochrezepte, des Frauenfußballs oder über den Rückgang des Theaterbesuchs – bereits als soziologische Beschreibung aufgefasst werden könnte, würden wir Alltagsurteile überbewerten. Wenn aber das bloße Haben von Meinungen über die Gesellschaft noch keine Soziologie sein soll, dann muss es Gründe für eine eingeschränkte Verwendung dieses Begriffs geben. Die Vertreter der Soziologie erheben in der Regel zwei Ansprüche. Von Soziologie soll nur dann geredet werden, 1. wenn die Beschreibung eines sozialen Sachverhalts auf einem substantiellen Verständnis von Gesellschaft gegründet ist und 2. wenn die Beschreibung mit einem wissenschaftlichen Geltungsanspruch verbunden ist. Ein substantielles Verständnis von der Gesellschaft kann man einer Beschreibung dann zusprechen, wenn sie Antworten auf die Fragen nach dem Aufbau, den Ursachen und den Entwicklungen des Zusammenlebens formuliert. Aber die Behauptung, Antworten zu geben, reicht alleine nicht. Derjenige, der für die Antworten eintritt, muss sich auch auf die wissenschaftliche Beweisbarkeit verpflichten lassen. Wer Soziologie betreiben will, hat in der Regel drei Aufgaben zu erledigen; sie oder er muss erstens Begriffe der Soziologie einführen, zweitens diese Begriff an ein substantielles Verständnis von der Gesellschaft knüpfen und dies drittens mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vertreten. Die erste Aufgabe besteht in der Einführung eines soziologischen Sprachspiels, die zweite in der Entfaltung soziologischer Vorstellungskraft und die dritte in der Ausbildung eines soziologischen Urteilsvermögens. Vorstellungskraft – Urteilsvermögen – Sprachspiele Die Redeweise von der soziologischen Vorstellungskraft stammt von dem US-amerikanischen Soziologen Charles Wright Mills. Hier wird dieser Begriff in einer offenen und alltagssprachlichen Weise benutzt. Es soll mit ihm ausgedrückt werden, dass wir über soziologische Beobachtungen neue Perspektiven auf das Geschehen in unserer Gesellschaft gewinnen. Anhand eines Beispiels soll ein erster Begriff von Soziologie eingeführt werden. CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 15 VORSTELLUNGSKRAFT – URTEILSVERMÖGEN – SPRACHSPIELE Hintergrund The Sociological Imagination C. Wright Mills bezeichnet »Sociological Imagination« – bzw. »soziologische Vorstellungskraft« – in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1959 zugleich als Versprechen und als Aufgabe: »That, in brief, is why it is by means of the sociological imagination that men now hope to grasp what is going on in the world, and to understand what is happening in themselves as minute points of intersections of biography and history within society.« (Mills 1959, S. 7) Die Aufgabe der Soziologie soll es also sein, die genauen Schnittpunkte von individueller Biographie und geschichtlicher Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft zu bestimmen, um darüber zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Ein Beispiel für soziologische Vorstellungskraft Blicken wir zurück auf das Jahr 2010. Mit etwas soziologischer Vorstellungskraft könnten wir eine Reihe von Ereignissen in Zusammenhang bringen. Das Jahr begann damit, dass in der Nacht vom 31.12.2009 auf den 1.1.2010 auf einmal die EC-Karten vieler Menschen in Deutschland nicht mehr funktionierten. Einige Wochen später ging in vielen norddeutschen Gemeinden aufgrund des lang anhaltenden Frostes das »qualitativ hochwertige Streusalz A« aus, sodass die Vertreter kommunaler Verwaltungen ihre Bürger sogar davor warnten, das Haus zu verlassen und die Straßen zu betreten, da aufgrund des Streusalzmangels nicht mehr für ihre Sicherheit gesorgt werden könne. Aber nicht nur in Deutschland, auch international wurde Denkwürdiges vermeldet. So führte ein Tippfehler am Computer fast zu einem Börsencrash und die Experten von BP und der US-amerikanischen Regierung waren monatelang damit beschäftigt, ein Leck in einer Bohrinsel zu stopfen. Im Sommer wurden bei der Love Parade in Duisburg 21 Menschen in einer Panik totgetrampelt, weil die vorgesehenen Zugangswege zum Eventgelände für die große Zahl der Teilnehmer nicht ausreichten. In Russland entstanden aufgrund von hohen Temperaturen und Unachtsamkeiten wie weggeworfenen Flaschen oder Zigarettenstummeln Waldbrände. Diese konnten wochenlang nicht gebändigt werden, weil nicht genügend Löschflugzeuge zur Verfügung standen und internationale Hilfsangebote anfangs ausgeschlagen wurden. Die Liste dieser »Pannen« ist nicht vollständig – es ließen sich etliche hinzufügen, etwa die Unfähigkeit von Experten, die Risiken von Vul- 1.2.1 Beispiele CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 16 1 Fiktive Diagnose: Pannengesellschaft Kontingente Handlungskoordination BEZUGSPROBLEME UND SPRACHSPIELE kanasche für den Flugverkehr einzuschätzen, oder die Überhitzung von ICEs aufgrund zu niedrig ausgelegter Höchsttemperaturen. Mit etwas soziologischer Vorstellungskraft könnten wir also die These von der »Pannengesellschaft« entwickeln, wobei diese Pannen für die Betroffenen mehr oder weniger glimpflich ausgegangen sind. Mit der Rede von einer Pannengesellschaft lassen sich zwar einige Ereignisse in Zusammenhang bringen, aber was ist an diesem Schlagwort soziologisch? Die Antwort lautet zunächst: Mit den genannten Pannenbeispielen wird die Vorstellungskraft für einen substantiellen Aspekt der Gesellschaft geschärft – die Bedeutung gelingender oder misslingender Handlungsverkettungen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Gesellschaft besteht nämlich darin, dass das Handeln der Menschen miteinander auf vielfältige Weise verbunden ist, wobei diese Verkettungen den Menschen in den meisten Fällen gar nicht bewusst sind. Zwar können Zugangswege zu einer Großveranstaltung schnell verstopft sein. Aber wer denkt schon daran, wenn sie oder er zu einem Konzert oder Fußballspiel losgeht? Er oder sie überlegt vielleicht, welche Zugaben am Ende gespielt werden oder ob sich die Siegesserie des Lieblingsvereins fortsetzen wird. Aber mit Gedränge rechnet keiner. Grundsätzlich handelt es sich bei den genannten Pannen um Probleme der Handlungskoordination, die bereits in den kleinen sozialen Welten zweier Akteure auftreten. Schon zwei Fahrradfahrer, die sich auf einem schmalen Waldweg entgegenkommen, können einander geschickt ausweichen oder schlicht zusammenstoßen. Hintergrund Doppelte Kontingenz – die Koordination des Sozialen In jedem Aufeinandertreffen von Menschen zeigt sich ein Problem, das von einigen Soziologen als das »Urproblem« der Gesellschaft angesehen wird: die doppelte Kontingenz. Das Fremdwort Kontingenz bedeutet Bedingtheit und Unsicherheit. Erstens ist das Handeln bereits bei zwei aufeinandertreffenden Akteuren durch den jeweiligen anderen bedingt. Weicht z. B. auf einem schmalen Gehweg ein Fußgänger aus seiner Sicht nach rechts aus, muss sich der andere aus seiner Perspektive ebenfalls rechts halten. Der jeweils nächste Schritt hängt davon ab, was der andere tut. Aber wer macht den ersten Schritt? Und in welche Richtung? Das ist der zweite Aspekt der Unsicherheit. Mache ich selbst den ersten Schritt und laufe damit Gefahr, dass in dem Moment mein Gegenüber genau die Wahl trifft, mit der ich nicht gerechnet habe? Eine Lösung dieses Problems könnte das Zurückgreifen auf Konventionen, auf Übereinkünfte sein. In Kontinentaleuropa haben wir gelernt, dass man sich CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 17 VORSTELLUNGSKRAFT – URTEILSVERMÖGEN – SPRACHSPIELE immer rechts halten soll. Aber was, wenn die entgegenkommende Person aus England stammt? Und wie können wir erklären, dass es überhaupt zu einer ersten Übereinkunft gekommen ist? Wie dem auch sei: Doppelte Kontingenz meint die beiderseitige (daher: doppelte) Abhängigkeit der aufeinandertreffenden Akteure voneinander, die daraus entstehende beiderseitige Unsicherheit und die damit verbundenen Koordinationsprobleme. Wenn in Ballungszentren tagtäglich Millionen zur Arbeit wollen, kommt die Gesellschaft nicht ohne Planung und Vorbereitung bei der Koordination des gleichzeitigen Handelns so vieler Menschen aus. Fragen Sie sich selbst: Wie viele Brände können gleichzeitig in einer Region entstehen, wenn jeder vierte Besucher eines waldreichen Naherholungsgebietes in einem heißen Sommer leere Flaschen einfach liegen lässt? Ab welcher Menge transportierter Einwegfeuerzeuge hat ein Lastkraftwagen die Explosionskraft einer Sprengbombe und ist daher ein Gefahrentransport? Mit der These von der Pannengesellschaft haben wir also unsere Vorstellungskraft für ein substantielles Problem der Gesellschaft entfalten können: das der doppelten Kontingenz und der damit verbundenen Koordination von Handlungsverflechtungen. Soziologisches Urteilsvermögen – der Anspruch auf Wissenschaft Nun stellen sich aber weitere Fragen und in ihnen zeigt sich zweitens der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit: Handelt es sich bei den genannten Beispielen wirklich immer um Pannen? Wie lassen sich »Pannen« genau bestimmen und zweifelsfrei identifizieren? Sind die »Pannen« in jüngster Zeit gestiegen, und wenn ja, warum? Kann unsere Gesellschaft – im Unterschied zu früheren – der Koordination von Handlungsketten nicht mehr in gleicher Weise gerecht werden? Und wenn ja: Welche Umstände haben dazu geführt, dass das so ist? Weshalb müssen die genannten Fragen zur These der »Pannengesellschaft« beantwortet werden, wenn mit ihr der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbunden wird? Weil wissenschaftliche Aussagen präzise und nachvollziehbar formuliert, verallgemeinerbar und nachprüfbar sein und Erklärungen enthalten sollen. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit besteht also aus mindestens fünf Maßstäben. 1. Präzision: Um von einer Pannengesellschaft – oder von anderen gesellschaftlichen Phänomenen – sprechen zu können, müssen anhand von Begriffen Sachverhalte genau bestimmt bzw. sprachlich festge- 1.2.2 Fünf Kriterien der Wissenschaftlichkeit CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 18 1 2. 3. 4. 5. BEZUGSPROBLEME UND SPRACHSPIELE legt werden, und zwar so, dass sie von anderen Personen, die diese Sachverhalte untersuchen wollen, auf gleiche Weise nachvollzogen werden könnten. Allgemeinheit: Die Wissenschaft strebt nach allgemeinen Aussagen. Nicht jede einzelne Begebenheit ist von Belang. Wenn jede Einzelheit wichtig wäre, würde die Wissenschaft nur verdoppeln, was schon vorhanden ist. Es geht um eine Reduzierung des Wissens auf relevante, aufschlussreiche Erkenntnisse. Dazu eignen sich Verallgemeinerungen. Nicht alle möglichen einzelnen Umstände, die mit Pannen zu tun haben, wären daher für die These der Pannengesellschaft bedeutsam, sondern nur die Eigenschaften, über die sich sagen lässt: »Für alle Pannen gilt:. . .« Kausalität: Wenn in der Wissenschaft von Erklärung die Rede ist, dann ist damit die Zurückführung von Sachverhalten in der Welt auf Kausalgesetze gemeint. Sachverhalte, wie Zustände oder Ereignisse, werden darüber erklärt, dass man ein Gesetz findet, das den zu erklärenden Sachverhalt als Wirkung einer Ursache beschreibbar macht. Eine Panne P wäre dann Wirkung einer zu findenden Ursache X oder formal: Für alle X und P gilt: wenn X, dann P. Bewährung: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist. Diese schöne Regel ist deshalb keine wissenschaftliche Aussage, weil sie unwiderlegbar ist. Damit hat sie für uns keinerlei Informationswert. Aus dem Krähen des Hahnes lassen sich hinsichtlich des Wetters keine Schlüsse ziehen, die wir nicht schon kennen würden. Denn, dass sich das Wetter ändern kann oder nicht, ist rein logisch wahr. Eine Aussage wie: »Wenn die Finanzlage einer Gesellschaft schlecht ist, mehren sich in ihr die Pannen!«, wäre dagegen sinnvoll nachprüfbar, weil sie durch gegenteilige Fakten widerlegbar ist. Wir könnten auf den Fall stoßen, dass eine Gesellschaft über wenig finanzielle Mittel verfügt, diese jedoch sehr umsichtig investiert und dadurch Pannen besser verhindert als eine Gesellschaft, die zwar über mehr finanzielle Mittel verfügt, diese aber relativ planlos – z. B. für teure Beraterfirmen – ausgibt. Einfachheit (»Ockham’s Razor«): Wissenschaftliche Aussagen sollten einfache Erklärungsmodelle anstreben. Das bedeutet vor allem, dass sie auf überflüssige Zusatzannahmen verzichten. Je sparsamer das Modell, auf das Sachverhalte der Welt reduziert werden können, desto effizienter und desto höher ist der Informationswert wissenschaftlicher Denkgebäude. CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 19 VORSTELLUNGSKRAFT – URTEILSVERMÖGEN – SPRACHSPIELE Sprachspiele und Bezugsprobleme einer Fachwissenschaft Allerdings weisen die fünf Maßstäbe ein Problem auf. Alle genannten Operationen bleiben letztlich sprachabhängig. Aber welche Sprache legen wir zugrunde? Gibt es eine erste, grundlegende Wissenschaftssprache, auf die alle Aussagen aufbauen müssen? Hier setzt ein Problem an, das für die Soziologie von besonderer Bedeutung ist. Was soll die Wissenschaftssprache, die Fachsprache der Soziologie sein? Zwei Kriterien wurden bereits eingeführt. Die soziologische Beschreibung soll erstens einen substantiellen Begriff von Gesellschaft einführen. Zweitens sollte sich die Soziologie als Wissenschaft an allgemeinen Kriterien der Formulierung wissenschaftlicher Aussagen – Präzision, Allgemeinheit, Kausalität, Bewährung an Erfahrungen, Einfachheit – orientieren. Dabei stoßen wir aber auf die Schwierigkeit, dass beide Ansprüche – die Formulierung eines substantiellen Gesellschaftsbegriffs sowie die Einhaltung der genannten Maßstäbe für wissenschaftliche Aussagen – innerhalb einer konkreten Sprache formuliert werden und von dieser abhängig sind. Die Sprache existiert schon als eine praktisch verwendete Sprache, bevor eine Wissenschaft Kriterien, die ein wissenschaftliches Aussagesystem begründen sollen, innerhalb und mithilfe dieser Sprache formuliert. Die Sprache in ihrer praktischen Verwendung innerhalb einer Gesellschaft wird hier im Anschluss an den Philosophen Ludwig Wittgenstein als Sprachspiel bezeichnet. Für Wittgenstein sind Sätze einzelne Züge einer Sprachpraxis, die sich innerhalb einer Lebensform – einer Gesellschaft – etabliert haben. Die Geltung der Sätze ist demnach erstens abhängig von (oder relativ zu) den Sprachspielen, die wiederum zweitens in den gesellschaftlich etablierten Lebensformen eingebettet sind. Insofern ist die Erfüllung der im vorigen Abschnitt genannten Maßstäbe abhängig von bzw. relativ zu den Sprachspielen, innerhalb derer sie formuliert wurden. Nur innerhalb dieser Sprachspiele kann eine Definition als präzise gelten oder eine Erklärung als schlüssig. Innerhalb der Sprachspiele gilt eine Beobachtungsaussage, die zur Prüfung eines allgemeinen Gesetzes herangezogen wird, als bestätigt. Wie aber würde die gleiche Beobachtung in einem anderen Sprachspiel formuliert werden? Denken Sie an die Kosmologie. Im mittelalterlichen Weltbild und dem damit verbundenen Sprachspiel galt die Aussage »Die Erde ist eine Scheibe« als wahrer Satz. Im Sprachspiel des kopernikanischen Weltbilds lässt sich die gleiche Aussage nicht mehr widerspruchsfrei formulieren. Aber wie lässt sich die Angemessenheit von Sprachspielen beurteilen? Wenn Wittgensteins Annahme zutrifft, dass sich Sprachspiele innerhalb von gesellschaftli- 1.2.3 Sprachabhängigkeit Sprachspiel Geltung eines Satzes ≠ Gültigkeit eines Sprachspiels CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 20 1 BEZUGSPROBLEME UND SPRACHSPIELE chen Lebensformen etablieren, dann können wir über die Gültigkeit einer Sprache nicht auf die gleiche Weise entscheiden wie über die Geltung eines Satzes, der als Grundlage für eine Definition oder zur Aussage eines allgemeinen Gesetzes verwendet werden soll. Mit der Entwicklung von soziologischen Begriffen und Redeweisen tragen wir zur Veränderung der Sprachspiele bei. Die soziologische Fachsprache kann somit als ein Teil oder als Teilmenge der gesellschaftlich etablierten Sprachspiele angesehen werden. Insofern führt die Soziologie mit jedem Begriff und Begriffsfeld, das in ihr etabliert wird, den Sprachspielen der Gesellschaft neue Teilstücke hinzu. Der Sinn dieser neuen Teile besteht in der Entdeckung neuer Fragen, neuer Bezugsprobleme. Definition Bezugsproblem Als Bezugsprobleme werden die Fragen und Problemstellungen verstanden, die eine Wissenschaft dadurch erzeugt, dass sie über Begriffe und Begriffsverwendungen Aspekte der Welt – hier der gesellschaftlichen Welt – erfasst, die bisher unentdeckt geblieben sind. Ob diese Entdeckungen ernst genommen werden, hängt davon ab, ob sie sich innerhalb der gesellschaftlichen Sprachspiele bewähren. Substantiell entwickelt die Soziologie anhand solcher neuen Begriffsverwendungen Vorstellungskraft für unentdeckte Phänomene der Gesellschaft. Anhand der Entwicklung von Beurteilungskriterien bildet sie ein Vermögen aus, die neuen Begriffsverwendungen und Entdeckungen zu überprüfen. Letztlich bleibt aber die Soziologie darauf angewiesen, die Gesellschaft im Rahmen ihrer Sprachspiele von den neuen Begriffsverwendungen und den damit verbundenen Entdeckungen zu überzeugen. 1.3 Zusammenfassung Wir waren mit der Zielsetzung gestartet, soziologische Vorstellungskraft zu wecken und soziologisches Urteilsvermögen zu stärken. Indem wir uns bemühen, die Schnittstellen zwischen individuellen und sozialgeschichtlichen Prozessen genau auszubuchstabieren, gelangen wir zu soziologischer Vorstellungskraft, zu einem substantiellen Verständnis, wie Gesellschaft »abläuft«. CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 21 ZUSAMMENFASSUNG Vorstellungskraft allein reicht aber nicht. Mit ihrer Hilfe sind wir zwar in der Lage, uns vorzustellen, wie die Welt sein könnte, aber wir müssen unsere Vorstellungen von der Welt strenger beurteilen; wir müssen sie überprüfen. Daher benötigen wir allgemeine Beurteilungsmaßstäbe, anhand derer wir die Beschreibungen (unsere Vorstellungen von) der Gesellschaft einzuschätzen vermögen. Wir haben gefordert, dass Aussagen über die Gesellschaft präzise, nachvollziehbar, verallgemeinerungsfähig, kausal-analytisch, empirisch überprüfbar und im Hinblick auf ihre Voraussetzungen sparsam formuliert werden sollten. Die Überprüfung eines Begriffes oder einer Aussage hängt jedoch von den Regeln seiner bzw. ihrer Verwendung in der Sprache ab, von der Praxis des Sprechens innerhalb eines Sprachspiels. Damit haben wir festgestellt, dass die Beschreibungen der Gesellschaft von den Bedingungen der Gesellschaft, in der die Beschreibungen angefertigt werden, abhängen. Sozialwissenschaftliche Beschreibungen sind somit nicht universell, gesellschaftsunabhängig, in einer reinen Form von Wissenschaft denkbar. Sozialwissenschaftliche Beschreibungen sind immer relativ zu den Bedingungen der Gesellschaft, innerhalb derer die Beschreibungen angefertigt und kommuniziert werden. Karl Mannheim hat dies als »Seinsgebundenheit des Denkens« bzw. als die »Standortabhängigkeit des Wissens und Wissenschaften« charakterisiert. Wir stoßen letztlich auf eine spiralförmige Zirkularität der Beschreibung und ihrer Begründbarkeit. Dieser Umstand lässt eine Pluralität sozialwissenschaftlicher Ansätze sinnvoll erscheinen und ebenso den Wettbewerb um die Angemessenheit der soziologischen Beschreibung im Hinblick auf das damit verbundene Verständnis von der sozialen Welt. In diesem Sinne ist Soziologie eine Multioptionswissenschaft. Sie liefert mögliche Beschreibungsweisen der Gesellschaft, die innerhalb einer Gesellschaft um das Urteil ringen, als tragfähiges oder angemessenes Verständnis zu gelten. Aber dieser Wettbewerb ist schwer entscheidbar – hängt er doch von der Beurteilung der Frage ab, anhand welcher Verfahren der Gesellschaft wir die Entscheidung ableiten sollen, welches Verständnis als tragfähig oder gar am tragfähigsten gilt. Aufgrund welcher Indizien oder Verfahren aber ließe sich diese »Geltung« zweifelsfrei bestimmen? Standortabhängigkeit soziologischer Aussagen Multioptionswissenschaft CORSTEN, Grundfragen der Soziologie ISBN 978-3-8252-3494-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011