Bezugsprobleme und Sprachspiele der Soziologie 1

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Bezugsprobleme und Sprachspiele
der Soziologie
1
Inhalt
In diesem Kapitel wird überlegt, was soziologische Aussagen von alltäglichen Meinungen über die Gesellschaft unterscheidet (1.1). Um dies besser beurteilen zu können, wird zunächst geprüft, ob sich soziologische
Aussagen dadurch auszeichnen, dass sie substantielle Vorstellungen
dazu entwickeln, was Gesellschaft ausmacht. Dies wird am Beispiel der
fiktiven Diagnose der »Pannengesellschaft« durchgespielt (1.2.1). Daraufhin werden einige Kriterien eingeführt, die helfen sollen, soziologische
Vorstellungskraft zu beurteilen. Oft werden diese Beurteilungskriterien
als die Eigenschaften angesehen, die soziologische Aussagen als wissenschaftliche Aussagen zu erfüllen haben (1.2.2). Abschließend wird erörtert, auf welche Weise dieser Anspruch auf wissenschaftliche Aussagen
eingelöst werden kann. Dabei erweist es sich als ein Problem, dass auch
(und gerade) gesellschaftswissenschaftliche Aussagen Teil eines soziologischen Sprachspiels sind, dessen Angemessenheit zunächst zu begründen wäre (1.2.3).
Wann ist eine Aussage soziologisch?
So wie Menschen immer mal wieder über das Wetter reden, so denken
sie bisweilen auch über die Gesellschaft nach, in der sie leben. Zudem
werden wir heute in den Medien ständig über das informiert, was sich
in der Welt – also eben auch in der Gesellschaft oder in den Gesellschaften – so abspielt.
Es ist fraglich, ob damit schon so etwas wie eine rudimentäre (erste,
noch nicht voll ausgebildete) Form von Soziologie vorliegt. In der Sprache eines gegenwärtig sehr einflussreichen Ansatzes, der Systemtheorie
von Niklas Luhmann, liegt Gesellschaft immer dann vor, wenn Kommunikation stattfindet. Soziologie könnte in einer anfänglichen Form
also immer dann vorliegen, wenn die Gesellschaft sich mit ihren Kommunikationen auf sich selbst, auf Gesellschaft bezieht.
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Inflationärer Begriff
der Soziologie?
Zwei Ansprüche
Drei Aufgaben
1.2
BEZUGSPROBLEME
UND
SPRACHSPIELE
Womöglich ist dieser Begriff von Soziologie aber zu weit gefasst.
Manche Wissenschaftler würden vermutlich sagen: er wäre inflationär.
Eine Inflation ist gegeben, wenn etwas überbewertet wird. Wenn jede
Meldung über Meinungen zu irgendwelchen Vorgängen in der Gesellschaft – über die Beliebtheit italienischer Kochrezepte, des Frauenfußballs oder über den Rückgang des Theaterbesuchs – bereits als soziologische Beschreibung aufgefasst werden könnte, würden wir Alltagsurteile
überbewerten.
Wenn aber das bloße Haben von Meinungen über die Gesellschaft
noch keine Soziologie sein soll, dann muss es Gründe für eine eingeschränkte Verwendung dieses Begriffs geben. Die Vertreter der Soziologie erheben in der Regel zwei Ansprüche. Von Soziologie soll nur dann
geredet werden,
1. wenn die Beschreibung eines sozialen Sachverhalts auf einem substantiellen Verständnis von Gesellschaft gegründet ist und
2. wenn die Beschreibung mit einem wissenschaftlichen Geltungsanspruch verbunden ist.
Ein substantielles Verständnis von der Gesellschaft kann man einer Beschreibung dann zusprechen, wenn sie Antworten auf die Fragen nach
dem Aufbau, den Ursachen und den Entwicklungen des Zusammenlebens formuliert. Aber die Behauptung, Antworten zu geben, reicht alleine nicht. Derjenige, der für die Antworten eintritt, muss sich auch auf
die wissenschaftliche Beweisbarkeit verpflichten lassen.
Wer Soziologie betreiben will, hat in der Regel drei Aufgaben zu erledigen; sie oder er muss erstens Begriffe der Soziologie einführen, zweitens
diese Begriff an ein substantielles Verständnis von der Gesellschaft
knüpfen und dies drittens mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
vertreten. Die erste Aufgabe besteht in der Einführung eines soziologischen Sprachspiels, die zweite in der Entfaltung soziologischer Vorstellungskraft und die dritte in der Ausbildung eines soziologischen Urteilsvermögens.
Vorstellungskraft – Urteilsvermögen – Sprachspiele
Die Redeweise von der soziologischen Vorstellungskraft stammt von
dem US-amerikanischen Soziologen Charles Wright Mills. Hier wird dieser Begriff in einer offenen und alltagssprachlichen Weise benutzt. Es
soll mit ihm ausgedrückt werden, dass wir über soziologische Beobachtungen neue Perspektiven auf das Geschehen in unserer Gesellschaft gewinnen. Anhand eines Beispiels soll ein erster Begriff von Soziologie eingeführt werden.
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VORSTELLUNGSKRAFT – URTEILSVERMÖGEN – SPRACHSPIELE
Hintergrund
The Sociological Imagination
C. Wright Mills bezeichnet »Sociological Imagination« – bzw. »soziologische Vorstellungskraft« – in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr
1959 zugleich als Versprechen und als Aufgabe: »That, in brief, is why it
is by means of the sociological imagination that men now hope to grasp
what is going on in the world, and to understand what is happening in
themselves as minute points of intersections of biography and history within
society.« (Mills 1959, S. 7) Die Aufgabe der Soziologie soll es also sein, die
genauen Schnittpunkte von individueller Biographie und geschichtlicher Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft zu bestimmen, um darüber zu verstehen, was in der Welt vor sich geht.
Ein Beispiel für soziologische Vorstellungskraft
Blicken wir zurück auf das Jahr 2010. Mit etwas soziologischer Vorstellungskraft könnten wir eine Reihe von Ereignissen in Zusammenhang
bringen. Das Jahr begann damit, dass in der Nacht vom 31.12.2009 auf
den 1.1.2010 auf einmal die EC-Karten vieler Menschen in Deutschland
nicht mehr funktionierten. Einige Wochen später ging in vielen norddeutschen Gemeinden aufgrund des lang anhaltenden Frostes das »qualitativ hochwertige Streusalz A« aus, sodass die Vertreter kommunaler
Verwaltungen ihre Bürger sogar davor warnten, das Haus zu verlassen
und die Straßen zu betreten, da aufgrund des Streusalzmangels nicht
mehr für ihre Sicherheit gesorgt werden könne. Aber nicht nur in
Deutschland, auch international wurde Denkwürdiges vermeldet. So
führte ein Tippfehler am Computer fast zu einem Börsencrash und die
Experten von BP und der US-amerikanischen Regierung waren monatelang damit beschäftigt, ein Leck in einer Bohrinsel zu stopfen. Im
Sommer wurden bei der Love Parade in Duisburg 21 Menschen in einer
Panik totgetrampelt, weil die vorgesehenen Zugangswege zum Eventgelände für die große Zahl der Teilnehmer nicht ausreichten. In Russland
entstanden aufgrund von hohen Temperaturen und Unachtsamkeiten
wie weggeworfenen Flaschen oder Zigarettenstummeln Waldbrände.
Diese konnten wochenlang nicht gebändigt werden, weil nicht genügend Löschflugzeuge zur Verfügung standen und internationale Hilfsangebote anfangs ausgeschlagen wurden.
Die Liste dieser »Pannen« ist nicht vollständig – es ließen sich etliche
hinzufügen, etwa die Unfähigkeit von Experten, die Risiken von Vul-
1.2.1
Beispiele
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Fiktive Diagnose:
Pannengesellschaft
Kontingente
Handlungskoordination
BEZUGSPROBLEME
UND
SPRACHSPIELE
kanasche für den Flugverkehr einzuschätzen, oder die Überhitzung von
ICEs aufgrund zu niedrig ausgelegter Höchsttemperaturen.
Mit etwas soziologischer Vorstellungskraft könnten wir also die
These von der »Pannengesellschaft« entwickeln, wobei diese Pannen für
die Betroffenen mehr oder weniger glimpflich ausgegangen sind. Mit
der Rede von einer Pannengesellschaft lassen sich zwar einige Ereignisse
in Zusammenhang bringen, aber was ist an diesem Schlagwort soziologisch? Die Antwort lautet zunächst: Mit den genannten Pannenbeispielen wird die Vorstellungskraft für einen substantiellen Aspekt der
Gesellschaft geschärft – die Bedeutung gelingender oder misslingender
Handlungsverkettungen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Gesellschaft besteht nämlich darin, dass das Handeln der Menschen miteinander auf vielfältige Weise verbunden ist, wobei diese Verkettungen den
Menschen in den meisten Fällen gar nicht bewusst sind. Zwar können
Zugangswege zu einer Großveranstaltung schnell verstopft sein. Aber
wer denkt schon daran, wenn sie oder er zu einem Konzert oder Fußballspiel losgeht? Er oder sie überlegt vielleicht, welche Zugaben am
Ende gespielt werden oder ob sich die Siegesserie des Lieblingsvereins
fortsetzen wird. Aber mit Gedränge rechnet keiner.
Grundsätzlich handelt es sich bei den genannten Pannen um Probleme der Handlungskoordination, die bereits in den kleinen sozialen
Welten zweier Akteure auftreten. Schon zwei Fahrradfahrer, die sich auf
einem schmalen Waldweg entgegenkommen, können einander geschickt ausweichen oder schlicht zusammenstoßen.
Hintergrund
Doppelte Kontingenz – die Koordination des Sozialen
In jedem Aufeinandertreffen von Menschen zeigt sich ein Problem, das
von einigen Soziologen als das »Urproblem« der Gesellschaft angesehen
wird: die doppelte Kontingenz. Das Fremdwort Kontingenz bedeutet Bedingtheit und Unsicherheit. Erstens ist das Handeln bereits bei zwei aufeinandertreffenden Akteuren durch den jeweiligen anderen bedingt.
Weicht z. B. auf einem schmalen Gehweg ein Fußgänger aus seiner Sicht
nach rechts aus, muss sich der andere aus seiner Perspektive ebenfalls
rechts halten. Der jeweils nächste Schritt hängt davon ab, was der andere tut. Aber wer macht den ersten Schritt? Und in welche Richtung?
Das ist der zweite Aspekt der Unsicherheit. Mache ich selbst den ersten
Schritt und laufe damit Gefahr, dass in dem Moment mein Gegenüber
genau die Wahl trifft, mit der ich nicht gerechnet habe? Eine Lösung
dieses Problems könnte das Zurückgreifen auf Konventionen, auf Übereinkünfte sein. In Kontinentaleuropa haben wir gelernt, dass man sich
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VORSTELLUNGSKRAFT – URTEILSVERMÖGEN – SPRACHSPIELE
immer rechts halten soll. Aber was, wenn die entgegenkommende Person aus England stammt? Und wie können wir erklären, dass es überhaupt zu einer ersten Übereinkunft gekommen ist?
Wie dem auch sei: Doppelte Kontingenz meint die beiderseitige (daher:
doppelte) Abhängigkeit der aufeinandertreffenden Akteure voneinander, die daraus entstehende beiderseitige Unsicherheit und die damit
verbundenen Koordinationsprobleme.
Wenn in Ballungszentren tagtäglich Millionen zur Arbeit wollen, kommt
die Gesellschaft nicht ohne Planung und Vorbereitung bei der Koordination des gleichzeitigen Handelns so vieler Menschen aus. Fragen Sie sich
selbst: Wie viele Brände können gleichzeitig in einer Region entstehen,
wenn jeder vierte Besucher eines waldreichen Naherholungsgebietes in
einem heißen Sommer leere Flaschen einfach liegen lässt? Ab welcher
Menge transportierter Einwegfeuerzeuge hat ein Lastkraftwagen die Explosionskraft einer Sprengbombe und ist daher ein Gefahrentransport?
Mit der These von der Pannengesellschaft haben wir also unsere Vorstellungskraft für ein substantielles Problem der Gesellschaft entfalten
können: das der doppelten Kontingenz und der damit verbundenen Koordination von Handlungsverflechtungen.
Soziologisches Urteilsvermögen – der Anspruch auf Wissenschaft
Nun stellen sich aber weitere Fragen und in ihnen zeigt sich zweitens
der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit: Handelt es sich bei den genannten Beispielen wirklich immer um Pannen? Wie lassen sich »Pannen« genau bestimmen und zweifelsfrei identifizieren? Sind die »Pannen« in
jüngster Zeit gestiegen, und wenn ja, warum? Kann unsere Gesellschaft –
im Unterschied zu früheren – der Koordination von Handlungsketten
nicht mehr in gleicher Weise gerecht werden? Und wenn ja: Welche
Umstände haben dazu geführt, dass das so ist?
Weshalb müssen die genannten Fragen zur These der »Pannengesellschaft« beantwortet werden, wenn mit ihr der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbunden wird? Weil wissenschaftliche Aussagen präzise
und nachvollziehbar formuliert, verallgemeinerbar und nachprüfbar
sein und Erklärungen enthalten sollen. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit besteht also aus mindestens fünf Maßstäben.
1. Präzision: Um von einer Pannengesellschaft – oder von anderen gesellschaftlichen Phänomenen – sprechen zu können, müssen anhand
von Begriffen Sachverhalte genau bestimmt bzw. sprachlich festge-
1.2.2
Fünf Kriterien der
Wissenschaftlichkeit
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BEZUGSPROBLEME
UND
SPRACHSPIELE
legt werden, und zwar so, dass sie von anderen Personen, die diese
Sachverhalte untersuchen wollen, auf gleiche Weise nachvollzogen
werden könnten.
Allgemeinheit: Die Wissenschaft strebt nach allgemeinen Aussagen.
Nicht jede einzelne Begebenheit ist von Belang. Wenn jede Einzelheit
wichtig wäre, würde die Wissenschaft nur verdoppeln, was schon
vorhanden ist. Es geht um eine Reduzierung des Wissens auf relevante, aufschlussreiche Erkenntnisse. Dazu eignen sich Verallgemeinerungen. Nicht alle möglichen einzelnen Umstände, die mit Pannen
zu tun haben, wären daher für die These der Pannengesellschaft bedeutsam, sondern nur die Eigenschaften, über die sich sagen lässt:
»Für alle Pannen gilt:. . .«
Kausalität: Wenn in der Wissenschaft von Erklärung die Rede ist, dann
ist damit die Zurückführung von Sachverhalten in der Welt auf Kausalgesetze gemeint. Sachverhalte, wie Zustände oder Ereignisse, werden darüber erklärt, dass man ein Gesetz findet, das den zu erklärenden Sachverhalt als Wirkung einer Ursache beschreibbar macht. Eine
Panne P wäre dann Wirkung einer zu findenden Ursache X oder formal: Für alle X und P gilt: wenn X, dann P.
Bewährung: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter
oder es bleibt, wie es ist. Diese schöne Regel ist deshalb keine wissenschaftliche Aussage, weil sie unwiderlegbar ist. Damit hat sie für uns
keinerlei Informationswert. Aus dem Krähen des Hahnes lassen sich
hinsichtlich des Wetters keine Schlüsse ziehen, die wir nicht schon
kennen würden. Denn, dass sich das Wetter ändern kann oder nicht,
ist rein logisch wahr.
Eine Aussage wie: »Wenn die Finanzlage einer Gesellschaft schlecht
ist, mehren sich in ihr die Pannen!«, wäre dagegen sinnvoll nachprüfbar, weil sie durch gegenteilige Fakten widerlegbar ist. Wir könnten
auf den Fall stoßen, dass eine Gesellschaft über wenig finanzielle Mittel verfügt, diese jedoch sehr umsichtig investiert und dadurch Pannen besser verhindert als eine Gesellschaft, die zwar über mehr finanzielle Mittel verfügt, diese aber relativ planlos – z. B. für teure
Beraterfirmen – ausgibt.
Einfachheit (»Ockham’s Razor«): Wissenschaftliche Aussagen sollten
einfache Erklärungsmodelle anstreben. Das bedeutet vor allem, dass
sie auf überflüssige Zusatzannahmen verzichten. Je sparsamer das
Modell, auf das Sachverhalte der Welt reduziert werden können,
desto effizienter und desto höher ist der Informationswert wissenschaftlicher Denkgebäude.
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VORSTELLUNGSKRAFT – URTEILSVERMÖGEN – SPRACHSPIELE
Sprachspiele und Bezugsprobleme einer Fachwissenschaft
Allerdings weisen die fünf Maßstäbe ein Problem auf. Alle genannten
Operationen bleiben letztlich sprachabhängig. Aber welche Sprache legen wir zugrunde? Gibt es eine erste, grundlegende Wissenschaftssprache, auf die alle Aussagen aufbauen müssen? Hier setzt ein Problem an,
das für die Soziologie von besonderer Bedeutung ist. Was soll die Wissenschaftssprache, die Fachsprache der Soziologie sein?
Zwei Kriterien wurden bereits eingeführt. Die soziologische Beschreibung soll erstens einen substantiellen Begriff von Gesellschaft einführen. Zweitens sollte sich die Soziologie als Wissenschaft an allgemeinen
Kriterien der Formulierung wissenschaftlicher Aussagen – Präzision,
Allgemeinheit, Kausalität, Bewährung an Erfahrungen, Einfachheit –
orientieren. Dabei stoßen wir aber auf die Schwierigkeit, dass beide
Ansprüche – die Formulierung eines substantiellen Gesellschaftsbegriffs
sowie die Einhaltung der genannten Maßstäbe für wissenschaftliche
Aussagen – innerhalb einer konkreten Sprache formuliert werden und
von dieser abhängig sind. Die Sprache existiert schon als eine praktisch
verwendete Sprache, bevor eine Wissenschaft Kriterien, die ein wissenschaftliches Aussagesystem begründen sollen, innerhalb und mithilfe
dieser Sprache formuliert.
Die Sprache in ihrer praktischen Verwendung innerhalb einer Gesellschaft wird hier im Anschluss an den Philosophen Ludwig Wittgenstein
als Sprachspiel bezeichnet. Für Wittgenstein sind Sätze einzelne Züge einer
Sprachpraxis, die sich innerhalb einer Lebensform – einer Gesellschaft –
etabliert haben. Die Geltung der Sätze ist demnach erstens abhängig von
(oder relativ zu) den Sprachspielen, die wiederum zweitens in den gesellschaftlich etablierten Lebensformen eingebettet sind.
Insofern ist die Erfüllung der im vorigen Abschnitt genannten Maßstäbe abhängig von bzw. relativ zu den Sprachspielen, innerhalb derer
sie formuliert wurden. Nur innerhalb dieser Sprachspiele kann eine Definition als präzise gelten oder eine Erklärung als schlüssig. Innerhalb
der Sprachspiele gilt eine Beobachtungsaussage, die zur Prüfung eines
allgemeinen Gesetzes herangezogen wird, als bestätigt. Wie aber würde
die gleiche Beobachtung in einem anderen Sprachspiel formuliert werden? Denken Sie an die Kosmologie. Im mittelalterlichen Weltbild und
dem damit verbundenen Sprachspiel galt die Aussage »Die Erde ist eine
Scheibe« als wahrer Satz.
Im Sprachspiel des kopernikanischen Weltbilds lässt sich die gleiche
Aussage nicht mehr widerspruchsfrei formulieren. Aber wie lässt sich
die Angemessenheit von Sprachspielen beurteilen? Wenn Wittgensteins
Annahme zutrifft, dass sich Sprachspiele innerhalb von gesellschaftli-
1.2.3
Sprachabhängigkeit
Sprachspiel
Geltung eines Satzes
≠ Gültigkeit eines
Sprachspiels
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BEZUGSPROBLEME
UND
SPRACHSPIELE
chen Lebensformen etablieren, dann können wir über die Gültigkeit einer Sprache nicht auf die gleiche Weise entscheiden wie über die Geltung eines Satzes, der als Grundlage für eine Definition oder zur Aussage
eines allgemeinen Gesetzes verwendet werden soll.
Mit der Entwicklung von soziologischen Begriffen und Redeweisen
tragen wir zur Veränderung der Sprachspiele bei. Die soziologische Fachsprache kann somit als ein Teil oder als Teilmenge der gesellschaftlich
etablierten Sprachspiele angesehen werden. Insofern führt die Soziologie mit jedem Begriff und Begriffsfeld, das in ihr etabliert wird, den
Sprachspielen der Gesellschaft neue Teilstücke hinzu. Der Sinn dieser
neuen Teile besteht in der Entdeckung neuer Fragen, neuer Bezugsprobleme.
Definition
Bezugsproblem
Als Bezugsprobleme werden die Fragen und Problemstellungen verstanden, die eine Wissenschaft dadurch erzeugt, dass sie über Begriffe und
Begriffsverwendungen Aspekte der Welt – hier der gesellschaftlichen
Welt – erfasst, die bisher unentdeckt geblieben sind. Ob diese Entdeckungen ernst genommen werden, hängt davon ab, ob sie sich innerhalb der gesellschaftlichen Sprachspiele bewähren.
Substantiell entwickelt die Soziologie anhand solcher neuen Begriffsverwendungen Vorstellungskraft für unentdeckte Phänomene der Gesellschaft. Anhand der Entwicklung von Beurteilungskriterien bildet sie
ein Vermögen aus, die neuen Begriffsverwendungen und Entdeckungen
zu überprüfen. Letztlich bleibt aber die Soziologie darauf angewiesen,
die Gesellschaft im Rahmen ihrer Sprachspiele von den neuen Begriffsverwendungen und den damit verbundenen Entdeckungen zu überzeugen.
1.3
Zusammenfassung
Wir waren mit der Zielsetzung gestartet, soziologische Vorstellungskraft
zu wecken und soziologisches Urteilsvermögen zu stärken. Indem wir
uns bemühen, die Schnittstellen zwischen individuellen und sozialgeschichtlichen Prozessen genau auszubuchstabieren, gelangen wir zu
soziologischer Vorstellungskraft, zu einem substantiellen Verständnis,
wie Gesellschaft »abläuft«.
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ZUSAMMENFASSUNG
Vorstellungskraft allein reicht aber nicht. Mit ihrer Hilfe sind wir
zwar in der Lage, uns vorzustellen, wie die Welt sein könnte, aber wir
müssen unsere Vorstellungen von der Welt strenger beurteilen; wir
müssen sie überprüfen. Daher benötigen wir allgemeine Beurteilungsmaßstäbe, anhand derer wir die Beschreibungen (unsere Vorstellungen
von) der Gesellschaft einzuschätzen vermögen. Wir haben gefordert,
dass Aussagen über die Gesellschaft präzise, nachvollziehbar, verallgemeinerungsfähig, kausal-analytisch, empirisch überprüfbar und im
Hinblick auf ihre Voraussetzungen sparsam formuliert werden sollten.
Die Überprüfung eines Begriffes oder einer Aussage hängt jedoch
von den Regeln seiner bzw. ihrer Verwendung in der Sprache ab, von
der Praxis des Sprechens innerhalb eines Sprachspiels. Damit haben wir
festgestellt, dass die Beschreibungen der Gesellschaft von den Bedingungen der Gesellschaft, in der die Beschreibungen angefertigt werden, abhängen. Sozialwissenschaftliche Beschreibungen sind somit nicht universell, gesellschaftsunabhängig, in einer reinen Form von Wissenschaft
denkbar. Sozialwissenschaftliche Beschreibungen sind immer relativ zu
den Bedingungen der Gesellschaft, innerhalb derer die Beschreibungen
angefertigt und kommuniziert werden. Karl Mannheim hat dies als
»Seinsgebundenheit des Denkens« bzw. als die »Standortabhängigkeit
des Wissens und Wissenschaften« charakterisiert.
Wir stoßen letztlich auf eine spiralförmige Zirkularität der Beschreibung und ihrer Begründbarkeit. Dieser Umstand lässt eine Pluralität sozialwissenschaftlicher Ansätze sinnvoll erscheinen und ebenso den Wettbewerb um die Angemessenheit der soziologischen Beschreibung im
Hinblick auf das damit verbundene Verständnis von der sozialen Welt.
In diesem Sinne ist Soziologie eine Multioptionswissenschaft. Sie liefert mögliche Beschreibungsweisen der Gesellschaft, die innerhalb einer
Gesellschaft um das Urteil ringen, als tragfähiges oder angemessenes
Verständnis zu gelten. Aber dieser Wettbewerb ist schwer entscheidbar –
hängt er doch von der Beurteilung der Frage ab, anhand welcher Verfahren der Gesellschaft wir die Entscheidung ableiten sollen, welches Verständnis als tragfähig oder gar am tragfähigsten gilt. Aufgrund welcher
Indizien oder Verfahren aber ließe sich diese »Geltung« zweifelsfrei bestimmen?
Standortabhängigkeit
soziologischer Aussagen
Multioptionswissenschaft
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