Operative Behandlungsmöglichkeiten des Halswirbeltraumas

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DIE ÜBERSICHT
Andreas Weidner
Operative
Behandlungsmöglichkeiten
des Halswirbeltraumas
ZUSAMMENFASSUNG
Stichwörter: Halswirbelsäule, Rückenmark,
Verletzungen, Dekompression, Stabilisierung
Bei Verletzungen der Halswirbelsäule muß die Röntgenaufnahme nach Zeichen einer Instabilität analysiert werden.
Knöcherne Verletzungen sind leichter zu erkennen als die
Verletzungen von Bandscheibe, Bändern und Gelenkkapseln, die nur indirekt nachweisbar sind, aber für die Stabilität
der Wirbelsäule eine große Bedeutung haben. Die instabile
Wirbelsäule verliert ihre Schutzfunktion für das Rückenmark. Um sekundäre Schäden für das Nervensystem zu ver-
meiden, muß die Halswirbelsäule immobilisiert und eine Luxation reponiert werden. Die Klassifikation der Halswirbelsäulenverletzung nach dem Ergebnis der bildgebenden Diagnostik und
dem Unfallmechanismus ist zur Beurteilung der Stabilität
hilfreich. Die Indikation zur Operation besteht bei einer
Kompression des Nervensystems. Für die instabilen Verletzungen wird die Indikation zur Stabilisierung angegeben.
Die ventralen und dorsalen Operationsverfahren werden für
die obere und untere Halswirbelsäule dargestellt.
Key words: Cervical spine injury, spinal cord injury,
spinal fracture, decompression surgical, internal fixation
X-rays of cervical spine injuries must be examined very carefully for instability. Injuries to the bony elements are easier
to detect than injuries affecting the ligaments, discs, and joint
capsules, though these structures are often more important
with regard to spinal stability. The unstable cervical spine is
no longer able to protect the spinal cord and nerve roots
against mechanical stresses. Immobilization of the cervical
spine after trauma as well as reposition of dislocations or luxations are important to avoid further
damage to neural tissue. The classification of cervical spine
trauma is based on both the radiographic findings and the
mechanisms of trauma and gives information about cervical
spine stability. The indication for surgery is spinal cord compression. Indications and techniques for ventral and dorsal
osteosynthesis are described separately for the upper and
lower cervical spine.
Z
ur Behandlung von Verletzungen des Rückenmarks
und der Wirbelsäule ist die
enge Zusammenarbeit der operativen Fächer Neurochirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie notwendig,
um das Rückenmark zu dekomprimieren und die Wirbelsäule zu stabilisieren.
Diagnostik
Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen müssen nicht nur nach Frakturen
abgesucht werden, sondern auch nach
den indirekten Zeichen einer ligamentären Verletzung: Im seitlichen
Röntgenbild (Abbildungen 4a und
6a) muß die gedachte Verbindungslinie sowohl der Vorder- als auch der
Rückflächen aller Wirbelkörper harmonisch verlaufen. Ebenso darf es
dorsal keinen Sprung in der spinolaminären Linie (Übergänge zwischen Wirbelbögen und Dornfortsätzen) geben. Im ap-Bild wird die Ausrichtung der Dornfortsätze insbesondere im Bereich des zervikothoraka-
SUMMARY
len Übergangs beurteilt. Röntgenaufnahmen ohne pathologischen Befund
schließen eine disko-ligamentäre Verletzung nicht aus, daher müssen seitliche Funktionsaufnahmen angefertigt
werden. Bei bewußtlosen Patienten
und dem Verdacht auf eine Instabilität muß ein Arzt diese Untersuchung manuell geführt vornehmen.
Beim wachen Patienten maskieren
Muskelverspannungen die Instabilität, daher sollten diese Aufnahmen
gegebenenfalls ein bis zwei Wochen
nach dem Unfall wiederholt werden.
Bei neurologischen Ausfällen (siehe
Beitrag Jörg und Menger [12]) oder
bei pathologischem Röntgenbefund
muß der Wirbelkanal mit der Computertomographie (CT) näher untersucht werden (Abbildungen 4b und
c). Zur Notfalldiagnostik ist die Magnetresonanz-Untersuchung (MRT)
bei traumatisierten Patienten aufAbteilung für Wirbelsäulenchirurgie des
St.-Elisabeth-Hospitals (Leitende Ärzte: Prof.
Dr. med. Andreas Weidner, Dr. med. HansWerner Schumacher, Dr. med. Mario Wähler
und S. T. Chin), Ibbenbüren
wendig und nicht überall rund um die
Uhr verfügbar. Veränderungen im
Rückenmark (Hämatomyelie) lassen
sich aber nur durch diese Untersuchung nachweisen.
Dekompression
Die Ansichten über den Zeitpunkt der Dekompression sind in
der Literatur uneinheitlich. In einer
randomisierten prospektiven Studie
konnten Vaccaro et al. (18) keine
besseren
Behandlungsergebnisse
durch eine frühe Dekompression innerhalb der ersten 72 Stunden erreichen. Möglicherweise läßt sich der
neurologische Befund wie bei der
Ödembehandlung nur durch einen
Behandlungsbeginn innerhalb der
ersten acht Stunden nach dem Unfall
günstig beeinflussen (3). Diese Aussage ist aber nicht wissenschaftlich
belegbar und rechtfertigt daher keine
übereilten Entscheidungen zur Operation. Im Vordergrund haben die
Vermeidung von Sekundärschäden
durch Immobilisation und eine subti-
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 28–29, 13. Juli 1998 (37) A-1785
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le Diagnostik zu stehen. Der operative Zugang richtet sich nach dem Ort
der Kompression: Bandscheibengewebe oder Knochenfragmente, die
von ventral auf das Rückenmark
drücken, werden von ventral entfernt; Gelenk- oder Bogenfrakturen
werden dagegen von dorsal reponiert
als Bolus gegeben. Kann die BolusInjektion innerhalb der ersten drei
Stunden nach dem Unfall erfolgen,
sind 24 Stunden Dauerinfusion mit
5,4 Milligramm Methylprednisolon
pro Kilogramm Körpergewicht ausreichend. Bei der Gabe zwischen der
dritten und achten Stunde nach dem
a
stung leisten können, und dorsal
muß der Bandapparat intakt sein,
um einer Zugbeanspruchung zu widerstehen. Verletzungen des Knochens haben eine bessere Chance,
stabil auszuheilen, als die der Bänder.
In den knöchernen Bruchspalt können Gefäße einsprossen, über wel-
b
Abbildung 2: a: Dens-Fraktur (Typ II nach Anderson). b: Ventrale Schraubenosteosynthese. Die kanulierte
Schraube wurde über einen Kirschner-Draht eingedreht.
Unfall sind Infusionen über 48 Stunden notwendig. Ein späterer Behandlungsbeginn mit Methylprednisolon
bessert die neurologischen Störungen nicht mehr (4).
Stabilisation
Abbildung 1: Halo-Weste zur Immobilisation bei einem 18jährigen Patienten mit einer Fraktur des
zweiten Halswirbels. Die Behandlung in der Halo-Weste erfolgte ambulant, die Schrauben wurden zweimal wöchentlich nachgezogen.
und stabilisiert. Bei Schußverletzungen ist es nicht bewiesen, daß durch
das Entfernen von Detritus oder
durch den Duraverschluß das Infektionsrisiko gemindert wird (11). Die
Spaltung des geschwollenen Rückenmarks, die Entlastung eines intramedullären Hämatoms oder auch nur
die Laminektomie mit einer Duraplastik haben keinen Erfolg gebracht
(6).
Ein Einfluß auf das Ödem ist nur
durch die Gabe von Methylprednisolon nachgewiesen. Allerdings muß
die Behandlung so früh wie möglich
beginnen (am besten sofort am Unfallort): Innerhalb von 15 Minuten
werden 30 Milligram Methylprednisolon pro Kilogramm Körpergewicht
Eine Wirbelsäule ist nur dann
stabil, wenn sich bei aufrechter Körperhaltung keine Kyphose entwickeln kann. Die Wirbelkörper
müssen – ohne sich zu verformen –
Widerstand gegen eine axiale Bela-
a
che knochenbildende Zellen in den
Spalt gelangen und ihn durchbauen.
Voraussetzung ist, daß die einsprossenden Gefäße nicht durch Bewegung der Bruchflächen gegeneinander zerstört werden.
Aus diesem Grund muß durch
äußere oder innere Ruhigstellung
die Frakturheilung unterstützt werden. Verletzungen der Bänder und
Gelenkkapseln heilen dagegen meist
nur narbig und somit weniger widerstandsfähig aus. Die operative Stabilisation der Wirbelsäule erleichtert bei Querschnittsverletzten die
b
Abbildung 3: Pseudarthrose nach Densfraktur. Verschraubung der Gelenke von erstem mit zweitem Halswirbel
von dorsal. Zur Verstärkung ist ein Knochenblock zwischen Atlasbogen und Dornfortsatz des zweiten Halswirbels eingefalzt und mit einem Titan-Kabel gesichert. b: Die Schrauben blockieren insbesondere die Rotation
zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel.
A-1786 (38) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 28–29, 13. Juli 1998
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Pflege und Rehabilitation. Bei Patienten, die mobilisiert werden können, entfällt die für den Patienten
lästige äußere Fixation der Halswirbelsäule.
Jede instabile Verletzung läßt
sich durch eine MRT-kompatible
Halo-Weste (Abbildung 1) ruhigstel-
überwacht werden. Komplikationen
sind selten: Schraubenlockerungen
und Entzündungen der Eintrittsstelle
zwingen zu einem Versetzen der
Schrauben. Intrakranielle Abszesse
oder Hämatome sind beschrieben.
Kontraindikation ist eine Schädelfraktur.
b
Frakturen des
ersten Halswirbels
Der Nachweis der Frakturlinien
gelingt am besten durch die CTUntersuchung. Die Stabilität wird
durch die antero-posteriore Zielaufnahme des kranio-spinalen Übergangs überprüft: Wenn
die Summe der Abstände
zwischen dem Dens und
der jeweils inneren Begrenzung der Massa lateralis mehr als sieben Millimeter beträgt, ist die
Fraktur instabil. Stabile
Atlasfrakturen werden
mit einer festen Zervikalstütze für sechs bis acht
Wochen behandelt. Instabile Frakturen benötigen
eine rigidere Immobilisation durch eine HaloWeste für 10 bis 14 Wochen. Eine Operationsindikation besteht bei diesen Verletzungen nur in
Ausnahmefällen.
Frakturen des
zweiten Halswirbels
a
Abbildung 4: a: Röntgenbild eines 28jährigen Patienten nach
Badeunfall: Fraktur des zweiten und dritten Halswirbels sowie
Gelenkfrakturen mit Subluxation von viertem gegenüber fünftem Halswirbel. b: CT: Fraktur beider Pedikel des zweiten Halswirbels. c: CT: Gelenkfrakturen und Luxation von dem viertem
gegenüber dem fünften Halswirbel.
len, und damit sind Sekundärschäden
zu vermeiden. Die Technik ist einfach und sollte von jedem beherrscht
werden, der Verletzungen der Halswirbelsäule behandelt: Fronto-lateral 1 cm oberhalb der Augenbrauen
sowie temporal 1 cm hinter dem
äußeren Gehörgang und etwa 1 cm
oberhalb der Ohrmuschel wird ein
Ring mit vier Schrauben am Schädel
fixiert. Ein Drehmoment-Schraubendreher verhindert, daß die Schraubenspitze die tabula interna des
Schädels perforiert. Entweder wird
über einen Bügel die Halswirbelsäule
extendiert oder Stäbe verbinden den
Ring mit einer Kunststoff-Weste. Die
weitere Behandlung kann ambulant
c
Wegen der unterschiedlichen
funktionellen Bedeutung werden die
Operationsindikationen für die obere
und die untere Halswirbelsäule getrennt dargestellt (2, 8, 10, 15, 16).
Obere Halswirbelsäule
Die ersten drei Halswirbel bilden
eine funktionelle Einheit und haben
große Bedeutung für die Kopfbewegungen. Wegen der relativen Weite
des Wirbelkanals sind Verletzungen
des Rückenmarks und somit neurologische Ausfälle nicht so häufig wie
an der mittleren/unteren Halswirbelsäule.
Die am meisten verbreitete Einteilung der
Dens-Frakturen ist die
von Anderson (1). Beim
Typ I verläuft die Bruchlinie schräg durch den oberen Teil des Dens. Bei
dem Typ II trennt der
Bruchspalt den Dens von
dem Wirbelkörper. Beim
Typ III strahlt die Bruchlinie von dem
unteren Drittel des Dens in den Körper des zweiten Halswirbels ein.
Dens-Frakturen Typ I sind mit einer Zervikalstütze für ein bis zwei
Wochen ausreichend versorgt. DensFrakturen Typ II sind instabil. Die Behandlung richtet sich nach der Verschiebung der Fragmente. Bei einem
Abstand der Fragmente von unter
sechs Millimetern ist eine Halo-Weste
für zwölf Wochen angezeigt. Läßt sich
der Abstand nicht verringern, ist die
ventrale Dens-Verschraubung die
Methode der Wahl. Bei Patienten
über 60 Jahre sollte die Verschraubung bevorzugt werden, da das Pseudarthrose-Risiko bei der konservativen
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Therapie etwa dreimal so hoch ist.
Dens-Frakturen Typ III heilen mit geringer Pseudarthroserate aus und
müssen selten operiert werden. Die
Halo-Weste sollte 10 bis 12 Wochen
getragen werden (9).
Bei Pseudarthrosen nach konservativer Therapie oder bei übersehener Dens-Fraktur ist die ventrale Verschraubung nicht sinnvoll, da die
knöcherne Durchbauung nicht gewährleistet ist. Diese Verletzungen
müssen von dorsal stabilisiert werden
(transartikuläre Verschraubung des
ersten mit dem zweiten Halswirbel).
Frakturen der pars interarticularis und der Bogenwurzel (Abbildung
4a) des zweiten Halswirbels ohne
größere Verschiebung der Fragmente
werden konservativ mit einer HaloWeste für 10 bis 12 Wochen versorgt.
Als Alternative steht die dorsale Verschraubung durch den Bruchspalt zur
Verfügung. Bei zusätzlicher Verletzung der Bandscheibe zwischen zweitem und drittem Halswirbel oder der
Gelenkkapseln ist die ventrale Plattenosteosynthese die Methode der
Wahl (9).
Verletzungen der kraniospinalen Bandverbindung
Durch verbesserte Bergungsund Transportmöglichkeiten überleben immer mehr Patienten diese Verletzung. Besonders betroffen sind
Kinder: Bei Beschleunigungsverletzungen kann der noch nicht voll entwickelte Bandapparat des Kindes den
relativ großen Kopf nicht halten. Eine
Halo-Extension muß röntgenologisch
kontrolliert werden, um eine zu starke
Distraktion zu vermeiden. Wenn die
Verletzten die ersten 48 Stunden
überleben, bleiben bei einem Viertel
der Patienten keine und bei einem
weiteren Viertel nur geringe neurologische Ausfälle zurück (17). Nach Stabilisierung der vitalen Funktionen ist
die Versteifung des Hinterhauptes mit
der Halswirbelsäule angezeigt.
Operationsverfahren an der
oberen Halswirbelsäule
Bei einer ventralen Dens-Verschraubung wird nach querer Hautinzision in Höhe des fünften Halswirbels unter Durchleuchtung in beiden
Ebenen eine 4,5-Millimeter-Schraube
von der vorderen Basis des zweiten
Halswirbels in den Dens durch den
Bruchspalt gedreht (Abbildung 2). Eine weitere Schraube verbessert die
Stabilität nicht (14). Der Vorteil dieses Verfahrens ist, daß die Beweglichkeit zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel erhalten bleibt. Kontraindikationen sind Frakturen, die
von kranio-dorsal nach kaudal-ven-
wirbels als Verfahren anwendbar (Abbildung 5). Von dorsal wird in der Mitte des kaudalen Gelenkfortsatzes des
zweiten Halswirbels eine Schraube 20
Grad medial konvergierend durch
den Bruchspalt gedreht. Sowohl die
dorsale transartikuläre Verschraubung als auch die direkte Verschraubung des Bruchspalts sind durch die
computerassistierten Navigationsverfahren sicherer geworden. Durch die
Tabelle 1
Klassifikation von Verletzungen der Halswirbelsäule*)
Typ
Gruppe
Typ A
Verletzung durch Kompression
der Wirbelkörper
A1 Impaktionsbrüche
A2 Spaltbrüche
A3 Berstungsbrüche
Typ B
Verletzung durch Distraktion
der vorderen und/oder
hinteren Wirbelsäule
B1 Verletzung der Gelenke
B2 Verletzung der Wirbelbögen und der
dorsalen Bänder
(Flexion-Distraktion)
B 3 Ventrale Zerreißung durch die
Bandscheibe
(Hyperextension-Distraktion)
Typ C
Verletzung durch Rotation
der vorderen und der hinteren
Wirbelsäule
C1 Typ A mit Rotationsverletzung
C2 Typ B mit Rotationsverletzung
C3 Rotations-/Scherbrüche
*) in Anlehnung an Magerl et al. (1994) und Müller und Muhr (1997)
tral verlaufen, da bei Kompression
der Fragmente durch die Schraube eine Verschiebung auftreten würde.
Bei einer dorsalen Verschraubung der Gelenke des ersten und
zweiten Halswirbels (Abbildung 3)
wird beidseits vom Unterrand des
kaudalen Gelenkfortsatzes des zweiten Halswirbels nach Reposition ein
sagittaler Schraubenkanal gebohrt.
Zusätzlich wird ein Knochenblock aus
dem Becken zwischen Atlasbogen
und Dornfortsatz des zweiten Halswirbels eingefalzt und mit einem
Titan-Kabel gesichert. Schraubenlockerung oder -brüche mit Pseudarthrosen treten in etwa zehn Prozent
auf. Ein Nachteil ist, daß die Rotation
des Kopfes eingeschränkt wird. Kontraindikation ist ein abnormer Verlauf
der A. vertebralis.
Bei verschobenen Frakturen in
der pars interarticularis und der Bogenwurzel ist die direkte Verschraubung von Frakturen des zweiten Hals-
A-1788 (40) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 28–29, 13. Juli 1998
exakte Operationsplanung und die intraoperative Navigation läßt sich das
Risiko einer Fehllage der Schraube
deutlich vermindern.
Die dorsale Versteifung von Hinterhaupt mit oberer Halswirbelsäule
schränkt die Beweglichkeit des Kopfes sehr ein. Hinterhaupt und obere
Halswirbelsäule werden durch Platten oder ein Platten-Stab-System stabilisiert, das an dem Hinterhaupt und
an den Gelenkfortsätzen der Halswirbelsäule mit Schrauben fixiert wird.
Auch Stäbe, die mit dem Hinterhaupt
und den Halswirbelbögen verdrahtet
werden, stabilisieren den kraniospinalen Übergang.
Mittlere und untere
Halswirbelsäule
Frische Luxationen sollten sofort
extendiert und reponiert werden, dazu muß eine Halo-Extension mit fünf
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Kilogramm Zug angelegt werden. Der
Zug wird bis zu maximal einem Drittel des Körpergewichtes gesteigert.
Eine zusätzliche Kompression des
Rückenmarks durch Bandscheibengewebe von ventral sollte vorher
durch eine CT- oder MRT-Untersuchung ausgeschlossen sein (7). Luxationen ab zweiter Woche nach dem
Unfall können nur operativ reponiert
werden (19). Jede instabile Fraktur
Typ A entsteht durch axiale
Kompression mit und ohne Flexion
und verletzt vorwiegend den Wirbelkörper. Die Höhe des Wirbelkörpers
ist reduziert, das hintere Längsband
intakt. Eine Versetzung des Wirbelkörpers in der sagittalen Ebene besteht nicht. Impaktions-, Spalt- und
Berstungsbrüche bilden je eine eigene
Gruppe (A 1, A 2 und A 3). Durch eine Halo-Extension läßt sich die Fehl-
turen oder Luxationen die dorsale
Entlastung und Stabilisation angezeigt ist.
Bei Typ-C-Verletzungen sind die
vordere und die hintere Säule durch
eine Rotationsbewegung verletzt.
Zusätzliche Verletzungen der Wirbelkörper werden zu der Gruppe C 1
zusammengefaßt, Verletzungen nach
Typ B werden bei zusätzlichem Rotationstrauma als Gruppe C 2 klassifiziert. Als Sondergruppe werden Rotations/Scherbrüche (C
3) angesehen. Die Verletzungen nach Typ C werden wie die
Typ-B-Verletzungen operativ
versorgt, häufig ist sowohl eine
ventrale als auch dorsale Stabilisierung notwendig.
Operationsverfahren
der mittleren/unteren
Halswirbelsäule
a
läßt sich durch einen Halo ruhigstellen, bis optimale Operationsbedingungen geschaffen sind. Der „drohende Querschnitt“ ist wissenschaftlich
nicht definiert und rechtfertigt allein
keine Operation.
Magerl et al. (13) haben eine
Klassifikation für Verletzungen der
Brust- und Lendenwirbelsäule erarbeitet, die von Müller und Muhr (15)
auf die Halswirbel übertragen wurde
und in Tabelle 1 zusammengestellt ist.
Grundsätzlich wird unterschieden, ob
die Verletzung den vorderen Anteil
der Wirbelsäule (Wirbelkörper und
Bandscheibe) oder den hinteren Bereich der Wirbelsäule (Gelenke und
Bandapparate) betrifft und ob der
Unfall durch Kompression (Typ A),
Distraktion (Typ B) oder Rotation
(Typ C) entstanden ist.
Der Zugang zur Wirbelsäule erfolgt bei einer ventralen interkorporellen Osteosynthese
zwischen Halsschlagader und
Speiseröhre (Abbildung 6). Die
b
Bandscheibe wird mit FaßzanAbbildung 5: a: Seitliches Röntgenbild nach offener Reposi- gen ausgeräumt. Knochenfragtion der Luxation (siehe Abbildung 4) durch dorsale Platten- mente und Bandscheibengeweosteosynthese von dem zweiten bis zu dem fünften Hals- be werden aus dem Wirbelkanal
wirbel. b: Dorsale Plattenosteosynthese von dem zweiten zu entfernt. Ein Operationsmikrodem fünften Halswirbel. Die Schrauben konvergieren im skop ist in dieser Phase hilfreich.
zweiten Halswirbel nach medial, in die Gelenke des dritten Die Stabilisierung erfolgt in Lorbis fünften Halswirbels müssen sie nach lateral divergie- dosestellung. Ein Beckenkammspan wird als Bandscheibenrend eingebracht werden.
und Wirbelkörperersatz unter
stellung (Kyphose) korrigieren. Acht geringer Distraktion eingefügt. Eine
bis zwölf Wochen muß eine Halo- Titan-Platte sichert die Lage des KnoWeste getragen werden. Ein Korrek- chenspans. Sie wird mit je zwei
turverlust tritt aber in 10 bis 15 Pro- Schrauben rotationsstabil an die Wirzent auf, so daß bei Berstungsbrüchen belkörper fixiert. Diese Technik wur(A 3) eine interkorporelle Platten- de insbesondere von Caspar (5) zu einem Standardverfahren in der Wirbelosteosynthese zu erwägen ist.
Für Typ B ist charakteristisch die säulenchirurgie entwickelt. Komplikatranversale Zerreißung durch Dis- tionen sind Pseudarthrosen. Verlettraktion entweder der hinteren oder zungen der Speiseröhre oder des N.
zusätzlich auch der vorderen Säule. laryngeus recurrens sind bei übersichtBei Typ-B-Verletzungen besteht die licher Präparation sehr selten. KontraGefahr einer Dislokation in der sagit- indikation ist eine ausgeprägte Osteotalen Ebene mit Schädigung des porose. In diesem Fall muß auf eine
Rückenmarks und/oder der Spinal- dorsale Technik ausgewichen oder
nerven. Diese Verletzungen werden diese zusätzlich angewandt werden.
Die paraspinale Muskulatur wird
in der Regel operativ versorgt. Bei
ventraler Kompression des Rücken- bei einer dorsalen Osteosynthese bis
marks ist ein ventraler Zugang zu zur lateralen Begrenzung der Gelenwählen, während bei Kompression ke abpräpariert (Abbildung 5). Nach
der Spinalnerven durch Gelenkfrak- der Reposition und/oder DekompresDeutsches Ärzteblatt 95, Heft 28–29, 13. Juli 1998 (41) A-1789
M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
sion der Spinalnerven werden Platten
auf beiden Seiten über die Gelenke
gelegt und mit Schrauben fixiert. Der
Winkel der Schraubenachse zur Gelenkaußenfläche beträgt 30° nach la-
lockerungen müssen dagegen nicht
unbedingt revidiert werden.
Eine isometrische Krankengymnastik zur Stärkung der Halsmuskulatur sollte ab zweiter Woche mit ange-
b
und in seltenen Fällen raumfordernd
wirken. Bei sekundärer Verschlechterung ist daher eine Operation in Erwägung zu ziehen. Eine Drainage der
Syrinx allein ist nicht ausreichend. Mikrochirurgisch müssen intradurale Narben gelöst werden,
um die Zirkulation im Liquorraum wiederherzustellen. Eine Duraplastik ist in
Höhe der Verletzung notwendig.
Bei übersehenen ligamentären Verletzungen oder
bei fehlerhafter Stabilisierung entwickelt sich eine Kyphose und später eine Myelopathie.
Eine Dekompression und
Achsenkorrektur ist dann notwendig. Der Kyphosescheitel
muß durch eine Spondylektomie (Wirbelkörperentfernung) beseitigt werden. Eine
interkorporelle Plattenosteosynthese stabilisiert die Wirbelsäule.
Rehabilitation
a
Abbildung 6: a: Luxationsfraktur vierter und fünfter Halswirbel,
zusätzlich ventrale Rückenmarkskompression durch Bandscheibengewebe. b: Befund nach Dekompression des Rückenmarks
von ventral. Ersatz der Bandscheibe durch einen Beckenkammspan. Eine Titanplatte nach Caspar (5) stabilisiert das Bewegungssegment. c: Lage der Titan-Platte in der antero-posterioren
Projektion.
teral und 20° nach kranial. Bei dieser
Bohrerrichtung ist eine Verletzung
von Spinalnerven oder A. vertebralis
nicht zu befürchten, zumal man einen
Bohrer mit einer Tiefenbegrenzung
(14 bis 16 mm) verwenden sollte.
Behandlung nach
Osteosynthesen
Röntgenaufnahmen werden unmittelbar postoperativ, nach sechs Tagen, nach sechs Wochen und nach
sechs Monaten angefertigt. Bei einer
ventralen Platten- oder Schraubenlockerung muß das Implantat entfernt werden. Dorsale Schrauben-
c
legter Zervikalstütze erfolgen. Eine
Zervikalstütze wird für sechs bis acht
Wochen getragen und für die Körperpflege abgenommen. Die Abschulung
der Zervikalstütze kann schrittweise
erfolgen. Nach vier Wochen wird die
Zervikalstütze vormittags und nachmittags für eine Stunde entfernt, und
dieser Zeitraum wird dann wöchentlich um eine Stunde gesteigert.
Behandlung von
Spätfolgen
Höhlen im Rückenmark (Syrinx)
können nach Verletzungen durch Untergang von Nervengewebe entstehen
A-1790 (42) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 28–29, 13. Juli 1998
Operationen stellen einen wichtigen Behandlungsschritt dar. Die sich unmittelbar an die Operation anschließende
neurologische
Frührehabilitation ist aber
der unverzichtbare Schritt für
die Genesung und leider zumeist der Engpaß in der Behandlungskette, da wertvolle
Zeit für die Rehabilitation bei
der Suche nach einem geeigneten Behandlungsplatz vergeht.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-1785–1790
[Heft 28-29]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de)
erhältlich ist.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med.
Andreas Weidner
Lengericher Landstraße 19b
49078 Osnabrück
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