2S_ND1212 Xeomin-Fin_PD2 12.12.12 16:22 Seite 20 Dystonie und Spastik Aktuelle therapeutische Herausforderungen BoNT/A bei Dystonie und Spastik Botulinumneurotoxine (BoNT) haben die Therapie von Krankheitsbildern wie Dystonien und Spastik revolutioniert. Aktuelle Probleme bestehen u. a. in einer nicht ausreichend langen oder starken Wirkung und inflexiblen Injektionsintervallen, die zu mangelnder Therapiezufriedenheit und Behandlungsabbrüchen führen können, sowie im Antikörper-vermittelten sekundären Therapieversagen. Auf einem Treffen des Arbeitskreises Botulinumtoxin e.V.* wurden die wichtigsten Untersuchungsresultate zur Rolle der Fremdproteine in BoNT/ Typ-A-Präparaten präsentiert. In diesem Zusammenhang schildern Experten nun die gegenwärtigen Herausforderungen in der Therapie von Patienten mit Dystonie und Spastik nach Schlaganfall. Herr Dr. Wohlfarth, Sie haben die Funktionen der Fremdproteine in verschiedenen BoNT-Präparaten untersucht. Warum? Wohlfarth: Im Verlauf der Behandlung mit BoNT/A treten selten unerwünschte Wirkungen auf, die jedoch zumeist gering, vorübergehend und dosisabhängig sind. In der Literatur finden sich aber Berichte über einen Wirkungsverlust nach initialem Ansprechen bei 1 bis 32% der Patienten. Für dieses sekundäre Therapieversagen können Änderungen der Symptomatik, genetische Faktoren, fehlerhafter Umgang mit dem Präparat, falsche Dosierungen oder Applikation in falsche Muskeln eine Rolle spielen, insbesondere aber die Bildung von neutralisierenden Antikörpern (nAK) gegen Bestandteile der injizierten Präparate. Was fördert die Entstehung von nAK? Wohlfarth: Vor allem die injizierte Dosis, die Injektionsfrequenz und Fremdproteine wie die Komplexproteine (Hämagglutinine und Nicht-Hämagglutinine). Unsere Untersuchung zeigt nun, dass Letztere weder einen stabilisierenden noch einen protektiven Effekt auf die Bioverfügbarkeit des Neurotoxins bei der Rekonstitution des Präparates und keinen therapeutischen Effekt haben. Sie können als Verunreinigungen betrachtet werden. Bei Einsatz eines komplexproteinfreien BoNT/A-Präparates (Incobotulinumto1 IncobotulinumtoxinA: Xeomin® 2 OnabotulinumtoxinA: Botox® 3 AbobotulinumtoxinA: Dysport® 20 Neuro-Depesche 12 / 2012 xin1) könnte die Fremdproteinbelastung signifikant reduziert werden. Aufgrund der geringeren Antigenität könnte dies im klinischen Alltag möglicherweise hinsichtlich der maximalen Dosen und der Flexibilisierung der Injektionsintervalle von Vorteil sein. Immerhin hat sich bisher bei keinem de novo mit diesem Präparat behandelten Patienten ein AK-vermitteltes sekundäres Therapieversagen eingestellt. Herr Prof. Hefter, worin sehen Sie heute besondere Herausforderungen in der Behandlung von Dystonie-Patienten mit BoNT? Herr Prof. Wissel, wie sehen Sie die Situation bei Spastik-Patienten? tienten. BoNT-Präparate sind in Deutschland nur zur Behandlung der Spastizität der oberen Extremität zugelassen und erstattungsfähig. Bei Hemispastizität kann es dann schwierig werden, gerade für die niedergelassenen Kollegen. Wir sind derzeit in der Phase, dass die Therapie in die Routineversorgung übergeht. Hier spielt die mangelnde Honorierung – bis heute gibt es bspw. keine EBM-Ziffer – naturgemäß eine größere Rolle. Studien zufolge** bricht etwa ein Drittel der Patienten die BoNT-Therapie ab. Teilen Sie diese Erfahrung, und was sind ggf. die Gründe dafür? Hefter: Es gibt für ein Abbrechen der Therapie krankheits- bzw. patientenspezifische und zentrums- bzw. behandlerspezifische Gründe. Bei Dystonien wie z. B. dem Schreibkrampf lassen sich oft keine positiven Effekte ohne Nebenwirkungen erzielen, und wir beobachten relativ viele Therapieabbrüche. Aber auch bei zervikalen Dystonien bricht ein beträchtlicher Prozentsatz ab, besonders Menschen mit einer schwer behandelbaren AntecollisKomponente. Gerade in BoNT-Ambulanzen wechseln die Behandler häufig; dies verhindert ein Vertrauensverhältnis. Priv.-Doz. Dr. Kai Wohlfarth, Klinik für Neurologie, BG-Kliniken Bergmannstrost, Halle Hefter: Hinsichtlich des langfristigen Therapieerfolges der BoNT-Therapie bei Dystonien gibt es nur wenige gute Untersuchungen. Da die Initialisierung einer derartigen Therapie Zeit erfordert und personelle Kapazität bindet, muss eine adäquate Vergütung erfolgen. Dies ist bisher nicht der Fall, so dass die Behandlung in vielen Praxen nicht durchgeführt wird. Eine angemessene Vergütung des Aufwandes würde die Versorgung der Dystonie-Patienten wohl schlagartig bessern. Wissel: Der Facharzt bietet heute eigentlich eine gute Therapie, aber es besteht insbesondere im ambulanten Setting ein Problem des Zugangs der Pa- Wissel: Schlaganfall-Patienten brechen meiner Erfahrung nach nicht so häufig ab. Hier ruht die Therapie manchmal, wenn durch die ersten Behandlungen ein positives Plateau erreicht wurde, sich die Situation stabilisiert hat. Wenn kein weiteres konkretes Therapieziel mehr avisiert werden kann, ist auch keine weitere Behandlung indiziert. Erst bei einer Verschlechterung wird häufig erneut eine Therapie angefragt. Und diese Patienten sehe ich eigentlich sehr regelmäßig. Unter welchen Umständen sind die Patienten mit der BoNT-Therapie zufrieden? Könnte die Anwendung komplexproteinfreier Präparate dazu beitragen? Hefter: Patienten sind zufrieden mit der Therapie, wenn ihre Symptome deutlich und langanhaltend reduziert werden. 2S_ND1212 Xeomin-Fin_PD2 12.12.12 16:22 Seite 21 Dystonie und Spastik Dies ist aber nicht bei allen Behandelten der Fall. Mit dem komplexproteinfreien BoNT hat der Behandler ein wirksames Toxin in der Hand, das zusätzlich sehr gering antigen ist. Ob dieses so speziell eingesetzt werden kann, dass eine größere Patientenzufriedenheit erzielt werden kann als mit den übrigen Präparaten, hängt nicht zuletzt von der Therapiestrategie des Behandlers ab. Dosen außerhalb der zuge- müssen wir für eine adäquate Behandlassenen Dosierung not- lung sorgen. Generell ist weiterhin nicht wendig sein. Hierzu haben empfohlen, die Dreimonatsintervalle zu sich Experten*** geäußert: unterschreiten, wenngleich dies nur auf Wenn man in einen Muskel retrospektiv gewonnenen Studiendaten nicht mehr als 125 Units beruht. Es gibt keine prospektiven Daten, AbobotulinumtoxinA3 bzw. die eine erhöhte nAK-Inzidenz bei kürze50 Units Incobotulinumto- ren Intervallen belegen, vor allem wenn xinA oder Onabotulinumto- ein komplexproteinfreies Präparat verxinA an eine Stelle spritzt wendet wird. Ein medizinfremdes Arguund die Dosis adäquat auf ment gegen kürzere Intervalle sind natüralle Zielmuskeln verteilt, lich die höheren Kosten. bestehen keine Bedenken, Gesamtdosen bis zu 1500 Kommt es vor, dass Sie Ihre Patienten, bzw. 600 Units einzusetzen. die bislang ein BoNT-Präparat erhalten, Prof. Dr. Dr. Harald Es existieren zudem Stu- auf ein anderes, z. B. komplexproteinHefter, Neurologische Wissel: Die Therapiezudien, die zeigen, dass auch freies Präparat, umstellen? Klinik, Heinrich-Heinefriedenheit hat immer auch bei der Gabe von insgeUniversität Düsseldorf samt 800 Units Incobotulimit der Zieldefinition zu Hefter: Wir versuchen, die Botulinumtun. Wenn der Patient die numtoxinA keine vermehr- toxin-Therapie möglichst standardisiert vollständige Wiederherstellung einer ak- ten Nebenwirkungen zu befürchten sind. durchzuführen. Dazu zählt auch, dass wir tiven Funktion – „ich kann wieder gehen normalerweise das Präparat nicht wechwie früher, ich kann meinen Arm wieder Reinjizieren Sie in Ihrem Behandlungs- seln. Entwickelt ein Patient aber ein parproblemlos einsetzen“ – erwartet, ist die alltag auch vor Ablauf des empfohlenen tielles Therapieversagen, d. h. eine systeEnttäuschung geradezu vorprogram- Intervalls? Welche Patienmatische Verschlechterung miert. Es kann auch dazu führen, dass die ten können davon profitieüber ein halbes Jahr trotz Therapie abgebrochen wird. Wenn der ren? Dosisanpassung, stellen Patient aber realistische Erwartungen hat wir um. In den letzten Jahund diese erreicht werden, kann sich Theren ist das aus den zuvor Hefter: Generell empfehrapiezufriedenheit einstellen. len wir, das Reinjektionsinerläuterten Gründen zutervall möglichst konstant nehmend ein komplexprozu halten, doch bei mindes teinfreies Präparat. Setzen Sie auch höhere als die zugelassenen BoNT/A-Dosen ein? Falls ja, bei tens 20% der Patienten stellen wir damit eine unzureiWissel: Bei Patienten mit welchen Patienten? chende Wirkdauer fest. Bedarf an höheren BoNTwürden Dosierungen bietet ein PräHefter: Weil hohe Dosen und kürzere Wahrscheinlich parat, das sich – bei EinhalIntervalle Risikofaktoren für die Entwick- diese Patienten von kürzetung aller Empfehlungen – lung von AK sind, tendieren wir zuneh- ren Intervallen profitieren, mend dazu, bei Patienten, die hohe allerdings liegt bisher keine auch in höherer Dosis zuDosen benötigen und nur eine kurze systematische Studie zur verlässig und sicher sowie Wirkdauer berichten, Incobotulinum- Verkürzung der Reinjektimit kürzeren InjektionsinProf. Dr. Jörg Wissel, tervallen applizieren lässt, toxinA einzusetzen. Wissenschaftliche onsintervalle mit gleichzeiNeurologische RehabiBasis dafür ist eine Untersuchung zum tiger Kontrolle der Inzidenz ohne das Risiko für Nebenlitation,Vivantes KliniVerlauf von nAK, die unter der Behand- von nAK vor. wirkungen oder eine Antikum Spandau, Berlin lung mit komplexproteinhaltigen Präpakörperbildung zu erhöhen, natürlich Vorteile. Das sehe raten entstanden waren. Deren Titer sanWissel: In Einzelfällen ken unter kontinuierlicher Behandlung können kürzere Injektionsintervalle ge- ich sowohl bei Patienten mit Spastizität mit – teils hohen Dosen – von Incobotuli- wählt werden. Die Kostenträger geben nach Schlaganfällen als auch bei PatiennumtoxinA über vier Jahre systematisch. immer kürzere stationäre Reha-Phasen ten mit Dystonien. vor. So kann man sich vorstellen, dass es Wissel: Höhere Dosen kommen ins Fälle gibt, bei denen eine zweite Behand- * Mitgliederversammlung des Arbeitskreises Botulinum-Toxin (AkBoNT) e.V. am 27. SepSpiel, wenn sehr viele Muskeln einer Ex- lung bereits nach acht oder zehn Wochen tember 2012 im Rahmen des 86. Jahrtestreftremität mit ausgeprägter Spastik behan- erfolgt. Im Falle des Schlaganfalls pas- fens der Deutschen Gesellschaft für Neurolodelt werden müssen, also Schulter, Ober- siert es gelegentlich, dass die Patienten gie e.V. (DGN) in Hamburg arm, Ellenbogen, Unterarm, Handgelenk früher ein Nachlassen der Wirkung be- ** z. B. nach Haussermann P et al., Longterm follow-up of cervical dystonia patients und Faust. Da kann eine Dosis von z. B. klagen und nach einer erneuten Behand- treated with botulinum toxin A. Mov Disord 400 Units IncobotulinumtoxinA oder lung fragen. Im ambulanten Bereich gibt 2004; 19(3): 303-308 OnabotulinumtoxinA2 nicht ausreichend es solche Situationen auch, aber eher bei *** Wissel J et al., Botulinum-Neurotoxin in sein. Auch wenn bei einer Hemispastik den Dystonien, beispielsweise wenn die der Behandlung der Spastizität im Erwachsenenalter. Ein interdisziplinärer deutscher 10die obere und untere Extremität in einer Patienten höhere Dosen z. B. wegen einer Punkte-Konsensus 2010. Der Nervenarzt Sitzung behandelt werden sollen, können Kopfhalteschwäche nicht vertragen. Hier 2011; 82(4): 481-495 Neuro-Depesche 12 / 2012 21