Der Mensch, Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft 50 Jahre „Gaudium et spes“ Wirtschaft ist ein wesentliches Element des gesellschaftlichen Lebens, sie hat Macht über Menschen, Völker und die gesamte Welt. Diesem wichtigen Thema widmet sich das Konzil im zweiten Teil der Konstitution Gaudium et spes als einer wichtigen Einzelfrage – nach Kapiteln über Ehe und Familie und zum kulturellen Fortschritt (1. und 2. Kapitel) und vor den Themen über das Leben der politischen Gemeinschaft, und zur Förderung des Friedens und dem Aufbau der Völkergemeinschaft (4. und 5. Kapitel des zweiten Teiles). Damit rückt das Wirtschaftsleben als zentrale Realität der Welt symbolisch in den Mittelpunkt der konkreten Fragen einer Weltordnung, mit der sich das Konzil in seiner Konstitution über „die Kirche in der Welt von heute“ auseinandersetzt. Die Welt um 1960/65 Im Herbst des Jahre 1965 verabschiedet, ist die Konzilskonstitution Gaudium et spes auch auf ihrem geschichtlichen Hintergrund zu sehen. 1960 war das Jahr Afrikas: 18 bis dahin unter französischer, britischer oder belgischer Herrschaft stehende Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit, 1962 folgte Algerien. Wirtschaftswachstum war eine selbstverständliche Forderung: als Voraussetzung nicht nur für ein besseres Leben für alle in Europa, sondern auch für die Entwicklung der neuen Staaten und anderer rückständiger Regionen. Die Einbindung dieser Länder in den Weltmarkt und ihre Industrialisierung sollten Wohlstand schaffen und Armut und Unterentwicklung besiegen. In diesem Zusammenhang stand auch die erste Welthandelskonferenz 1964 (UNCTAD) mit der Gründung der Gruppe der 77 mit dem Ziel, die Position der Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt zu verbessern. Dass dieses Entwicklungsmodell den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen vor allem der europäischen und nordamerikanischen Staaten entsprach, wurde als selbstverständliche Voraussetzung nicht hinterfragt. Grenzen des Wachstums Die Infragestellung dieser optimistischen Sicht von wirtschaftlicher Entwicklung und Wachstum erfolgte wenige Jahre später, zuerst für das Entwicklungskonzept, durch den 1969 veröffentlichten Pearson-Bericht, der die sehr ungleichen Folgen wirtschaftlichen Wachstums aufzeigte und auf die teilweise wachsende Armut verwies. Im Zusammenhang damit ist wohl auch die Studentenbewegung von 1968 zu sehen, die - als Aufstand einer jungen Generation - von Frankreich ausgehend, sich gegen die Regeln einer etablierten Gesellschaft auflehnte. Die zweite, tiefgreifende Infragestellung eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums folgte im Jahr 1972 durch den Club of Rome, der mit der Studie über die „Grenzen des Wachstums“ (The Limits to Growth, Meadows et a.) auf die Begrenztheit natürlicher Ressourcen hinwies, und damit weltweit ein langsames Umdenken auslöste. 1965, als das große Dokument über „die Kirche in der Welt von heute“ von den Konzilsvätern verabschiedet wurde, war das Vertrauen in die wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Hoffnung auf ein Wachstum, das allen Menschen ein besseres Leben ermöglichen würde, weithin ungebrochen. Dies zeigt sich auch im ersten Abschnitt des Kapitels über das Wirtschaftsleben, wo der wirtschaftliche Fortschritt grundsätzlich begrüßt wird. L. Wohlgenannt: 50 Jahre Gaudium et spes – (ksoe, 11.12.2015) - Seite 1 Das Fundament: Menschenwürde und Gemeinwohl „Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft.“ (63.1) An diesem Grundsatz wird jede gerechte Wirtschaft zu messen sein, auch unter den neuen, großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Wirtschaft, wirtschaftlicher Fortschritt wird von Menschen gemacht und muss im Dienst der menschlichen Gemeinschaft stehen. Dies wird gleich zu Beginn des ersten Abschnitts des Kapitels deutlich: „Die heutige Wirtschaft (ist) geprägt durch die wachsende Herrschaft des Menschen über die Natur, durch die steigende Dichte und Gewichtigkeit der Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeit der einzelnen, der Gruppen und der Völker“ …. Dazu haben Fortschritte in der Produktionstechnik wie auch im Austausch von Gütern und Dienstleistungen „die Wirtschaft in den Stand gesetzt, die gestiegenen Bedürfnisse der Menschheitsfamilie besser zu befriedigen.“ (63.2) Doch dieser Fortschritt kommt keineswegs allen Menschen zugute, stellt das Konzil fest. Einerseits werden Menschen in den reicheren Ländern vom wirtschaftlichen Denken „geradezu versklavt“, andererseits werden die sozial Schwachen ausgegrenzt und müssen oft unter menschen-unwürdigen Bedingungen leben. Auch die internationale Entwicklung gibt Anlass zur Sorge: „Zwischen den wirtschaftlich fortgeschrittenen Völkern und anderen bildet sich ein ständig sich verschärfender Gegensatz heraus, der sogar den Weltfrieden gefährden kann.“ (63.4) Wirtschaft als Dienst Die fundamentale Zweckbestimmung der Wirtschaft liegt im „Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt“ (64). Dies gilt für alle Menschen und die ganze Welt. „Alle wirtschaftliche Tätigkeit ist – nach den ihr eigenen Verfahrensweisen und Gesetzmäßigkeiten – immer im Rahmen der sittlichen Ordnung so auszuüben, dass das verwirklicht wird, was Gott mit dem Menschen vorhat“ (64). Ob mit dem ehrlichen gewissenhaften Wirtschaften, gewissermaßen „nach den Grundsätzen eines ordentlichen Kaufmanns“, die Unterschiede zwischen Arm und Reich verringert, das Wachstum von Ungleichheit eingebremst werden kann, ist eine offene Frage, die hier nicht erörtert wird. In den darauffolgenden Abschnitten werden zwar Anstrengungen eingefordert, um die übergroßen und weiter zunehmenden Ungleichheiten abzubauen. Doch wie dies geschehen soll, dazu gibt es wohl einzelne Anregungen, aber keine konkrete Problemlösung. Vorrang der Arbeit Im Mittelpunkt allen Wirtschaftens steht die Arbeit: „Die „menschliche Arbeit hat den Vorrang vor allen anderen Faktoren des wirtschaftlichen Lebens, denn diese sind nur werkzeuglicher Art“ (67.1). Anders ausgedrückt: nur die Arbeit kann das, was die Erde bietet, mit Hilfe der Werkzeuge, die andere vor uns geschaffen haben, in das verwandeln, was Menschen zum Leben brauchen. Für die einzelnen bedeutet Arbeit in erster Linie die Sicherung des Lebensunterhalts, gleichzeitig leistet er/sie den je eigenen Beitrag zur Gestaltung der Welt und der Gesellschaft. Aufgrund dieser zentralen Bedeutung der Arbeit für das menschliche Leben, für die Familien und die Gesellschaft fordert das Konzil ein „Recht auf Arbeit“ (67.2). Dass es sich dabei nicht um einen konkreten Rechtsanspruch handeln kann, ist aus dem Zusammenhang zu erkennen. Die Abschnitte 67 und 68 argumentieren auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung und der Fragestellungen in Europa, und insbesondere in Deutschland und Frankreich, zur Zeit ihrer Entstehung. Es geht um Fortschritt und höheren Lebensstandard möglichst für alle, und eine möglichst gute gesellschaftliche Ordnung. L. Wohlgenannt: 50 Jahre Gaudium et spes – (ksoe, 11.12.2015) - Seite 2 Es sind Forderungen an eine hochentwickelte Industriegesellschaft, wobei die Gefahren der technischen Entwicklung, eines damit vielleicht verbundenen Verlustes von Arbeitsplätzen, langsam in den Blick kommen. In diesem Zusammenhang wird es zu einer Aufgabe der politischen Gemeinschaft, dafür zu sorgen, dass alle, die Erwerbsarbeit brauchen, auch eine Arbeitsmöglichkeit finden können. Recht auf Arbeit – für die ganze Welt? „Recht auf Arbeit“ ist eine Herausforderung, die heute nicht nur in den Ländern Europas von höchster Aktualität ist. Langfristig steigende Arbeitslosenzahlen stellen die Frage, wie Arbeit für alle möglich werden könnte. Gewerkschaften setzen sich für eine gerechte Verteilung von Erwerbsarbeit ein, etwa durch allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit. Hunderte Millionen von Menschen, vor allem in den wachsenden Mega-Städten der Länder des Südens, können von einem sicheren Arbeitsplatz und einer Entlohnung, die zum Leben reicht, nur träumen. Dazu kommen Hunderttausende, die in diese Städte ziehen, auf der Suche nach einem Lebensunterhalt, den sie dort, wo sie geboren sind, nicht finden können. Diesen Fragen konnte und musste sich das Konzil vor einem halben Jahrhundert nicht stellen! Der gerechte Lohn Die Arbeit ist so zu entlohnen, „dass dem Arbeiter die Mittel zur Verfügung stehen, um sein und der Seinen materielles, soziales, kulturelles und spirituelles Dasein angemessen zu gestalten – gemäß der Funktion und Leistungsfähigkeit des einzelnen, der Lage des Unternehmens und unter Rücksicht auf das Gemeinwohl“ (67.2). Auch in dieser Definition des gerechten Lohnes spiegelt sich nicht nur die Arbeitswelt der Mitte der 1960-er Jahre in Europa, sondern auch gesellschaftliche Vorstellungen über Familie und Zusammenleben, wie sie die damalige europäische Gesellschaft prägten, und die hier nicht hinterfragt werden. „Der ganze Vollzug werteschaffender Arbeit ist daher auf die Bedürfnisse der menschlichen Person und ihrer Lebensverhältnisse auszurichten, insbesondere auf die Bedürfnisse des häuslichen Lebens, dies namentlich bei den Familienmüttern, …“ (67.3). Überdies sollte der arbeitende Mensch die Möglichkeit haben zur Weiterentwicklung seiner Anlagen und zur Entfaltung seiner Person. Frauen zwischen Familie und Erwerbsarbeit Wenn heute ein Einkommen in unseren Ländern oft nicht ausreicht, eine Familie zu ernähren, und es mehr und mehr als selbstverständlich gilt, dass Frauen erwerbstätig sind, Mütter ihren Beitrag zum Familieneinkommen leisten müssen, stellt sich auch die Frage nach dem gerechten Lohn neu. Dass die Arbeitsorganisation „insbesondere auf die Bedürfnisse häuslichen Lebens, dies namentlich bei den Familienmüttern…“ (67.3) ausgerichtet sein soll, löst dieses Problem nicht. Die Forderung des Familienlohnes (für den Familienvater und Ernährer) lässt die unbezahlte Arbeit in den Familien, in der Pflege von Kindern, Kranken und alten Menschen, die in der Regel von Frauen erwartet und geleistet wird, völlig aus dem Blick. Wenn im Kapitel über Wirtschaft von „ Arbeit" die Rede ist, steht meist der „Arbeitsplatz“, die unselbständige Arbeit im Focus. Doch gleich, in welcher Form und in welchem Wirtschaftsbereich sie geschieht: als Arbeit gilt im Kapitel über die Wirtschaft nur eine Tätigkeit, die Einkommen bringt, finanziell honoriert wird. Der Beitrag der unbezahlten, aber absolut lebensnotwendigen Arbeit in den Familien und anderen gesellschaftlichen Bereichen bleibt unsichtbar, obwohl sie das Fundament jeder Gesellschaft ist und erst die Voraussetzungen schafft für alles gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben. Freie Zeit Alle, die sich mit Kraft und Verantwortungsbewusstsein ihrer Arbeit widmen, „ sollten auch über „ausreichende Ruhezeiten und Muße verfügen für das Leben mit ihren Familien, für ihr kulturelles, gesellschaftliches und religiöses Leben“ (67.3). Eine Forderung, die heute noch um vieles aktueller ist als vor 50 Jahren. Arbeitsflexibilität und gleitende Arbeitszeiten, die Forderung nach Sonntagsöffnung für den Handel, Zunahme von 24-Stunden-Diensten bringen nicht nur Ruhezeiten einzelner unter Druck; durch die Relativierung des arbeitsfreien Sonntags geht auch der gesamtgesellschaftliche Rhythmus nach und nach verloren, zum Schaden der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. L. Wohlgenannt: 50 Jahre Gaudium et spes – (ksoe, 11.12.2015) - Seite 3 Menschengerechtes Wirtschaften „In den wirtschaftlichen Unternehmen stehen Personen miteinander im Verbund, d.h. freie, selbstverantwortliche, nach Gottes Bild geschaffene Menschen“ (68.1). Damit wird nicht nur die Rangordnung bestätigt: “Arbeit vor Kapital“, sondern noch einmal der Mensch in den Mittelpunkt gestellt. Die menschliche Arbeit hat Vorrang vor den anderen Produktionsfaktoren. Die Definition des Unternehmens als Verbund von Personen war damals überraschend (vgl. Nell-Breuning 1977) und führt folgerichtig zu Themen wie Mitbestimmung und zum Recht auf Gründung von Organisationen (z.B. Gewerkschaften). Darin spiegelt sich die Arbeitswelt der europäischen Industriestaaten, deren Wirtschaft noch wesentlich national geprägt ist; ohne allzu viele internationale Verflechtungen. Tarifverhandlungen, Lohnabschlüsse und Vereinbarungen folgen bestimmten Regeln, deren Hintergrund einschließlich der handelnden Personen bekannt ist. In den Großkonzernen des 21. Jahrhunderts werden Verhandlungen und Beschlüsse oft von internationalen Managern nach global ausgerichteten Strategien gesteuert. Die Möglichkeiten von Einflussnahme und Mitbestimmung nicht nur der Einzelnen, sondern auch von Gewerkschaften und Interessenvertretungen werden beschränkt, damit ergeben sich völlig neue Herausforderungen für die Wahrung der Würde der arbeitenden Menschen. Arbeitsuchende aus anderen Ländern Die Gerechtigkeit verlangt, „die für den wirtschaftlichen Fortschritt unerlässliche Mobilität so zu regeln, dass das Leben der einzelnen und der Familien nicht ungesichert oder gefährdet wird“ (66.2). Arbeiter aus anderen Ländern, die ja mit ihrer Arbeit zum Wohlstand des Gastlandes beitragen, dürfen in Bezug auf Lohn und Arbeitsbedingungen nicht diskriminiert werden. Möglichkeiten zum Familiennachzug, Wohngelegenheit und Förderung ihrer Integration sollten gegeben sein. „Soweit wie möglich sollte man jedoch in ihren Heimatländern selbst Arbeitsgelegenheit schaffen“ (66.2). Denn einerseits ginge es darum, verfügbare Mittel und Möglichkeiten in den Dienst des Gemeinwohls im eigenen Land zu stellen, gleichzeitig gibt es aber auch ein persönliches Recht auszuwandern (vgl.65.3). Die Erde gehört allen „Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt“ (69.1). Dieser Grundsatz ist auch bestimmend für das Eigentum, das nie ausschließlich sein kann, sondern so gebraucht werden muss, dass es dem Gemeinwohl dient. Dazu gehört auch die Bereitschaft, denen zu helfen, die in Not sind. Hilfe soll vor allem auch Hilfe zur Selbsthilfe sein, nicht nur zwischen Personen. Damit Völker sich entwickeln können, brauchen sie Unterstützung von den reicheren Nationen. Die Einrichtungen des modernen Sozialstaats, Vorsorge und Sicherung, aber auch Familienunterstützung und Bildungswesen werden von den Konzilsvätern als eine Form der Verwirklichung der Gemeinwidmung der Güter betrachtet – eine Sichtweise, die in den aktuellen Auseinandersetzungen um die Finanzierbarkeit der sozialen Netze inspirieren könnte. Allerdings sollen diese Sicherheiten die Bürger nicht davon abhalten, ihre Pflichten zu erfüllen! (69.2) Investitionen müssen vor allem auf die Schaffung von Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten zielen, und das nicht nur für die aktuellen Bedürfnisse, sondern auch für künftige Generationen. Dazu sind auch die „dringenden Bedürfnisse der wirtschaftlich weniger fortgeschrittenen Völker und Länder“ im Auge zu behalten (70). „Privateigentum und ein gewisses Maß an Verfügungsmacht über äußere Güter vermitteln den unbedingt nötigen Raum für eigenverantwortliche Gestaltung des persönlichen Lebens jedes einzelnen und seiner Familie“ (71.2). Eigentum bedeutet Freiheit zur Übernahme von Aufgaben und Verantwortung. Eigentum gibt es in vielerlei Gestalt, auch in Rechtsansprüchen gegenüber der Gesellschaft, des Sozialstaats, oder in Form von immateriellen Eigentum, wie etwa berufliche Fähigkeiten. L. Wohlgenannt: 50 Jahre Gaudium et spes – (ksoe, 11.12.2015) - Seite 4 „Das Recht auf Privateigentum schließt aber die Rechtmäßigkeit von Gemeineigentum in verschiedenen Formen nicht aus“ (71.4). In diesem Zusammenhang wird auf die Situation des Landbesitzes in unterentwickelten Ländern verwiesen, deren Verstaatlichung zugunsten der armen Bevölkerung und zur Reformierung ungerechter Arbeitsverhältnisse gerechtfertigt ist. Heute, im 21. Jhd., sehen sich indes Entwicklungsländer und ihre Bevölkerung oft damit konfrontiert, dass fremde Finanzmächte oder Staaten sich große Flächen Land aneignen, um sie für ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu nutzen. Der einheimischen Bevölkerung bleibt die Flucht in die überfüllten Städte. Gerechtigkeit und Liebe Das Kapitel über das Wirtschaftsleben des Konzilsdokumentes Gaudium et spes endet mit einer Einladung und einer Zusicherung. „Wer als Christ am heutigen sozialökonomischen Fortschritt mitwirkt und dabei für Gerechtigkeit und Liebe einritt, der möge überzeugt sein, er könne viel beitragen zum Wohl der Menschheit und zum Frieden auf dieser Welt (72.1). 50 Jahre danach: Menschliche Arbeit in einer globalen Wirtschaft Ein Vergleich des Kapitels über da Wirtschaftsleben in Gaudium et spes mit der heutigen Situation zeigt vor allem die immensen Veränderungen, die unsere Welt in diesem halben Jahrhundert erfahren hat. Das Stichwort für diese Veränderungen heißt „Globalisierung“, und betrifft die meisten Dimensionen unserer Zeit und unseres Lebens. Im 2. Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends wird die Wirtschaft dominiert von wenigen weltweit agierenden Großkonzernen, die Macht haben über einen großen Teil des Welt-Wirtschaftsprodukts, über Banken, über die Produktion von Waren, Dienstleistungen und Information. Während in den 1960-er Jahren die nationale Wirtschaft dominierte, neben großen Industriebetrieben mittlere und kleine Unternehmen in den verschiedenen Wirtschaftssektoren ihren Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisteten, wächst heute die Macht der international agierenden Firmengeflechte, die ihre Politik nach weltweiten Maßstäben ausrichten. Die Realwirtschaft ist darüber hinaus dem Auf- und Ab der Finanzmärkte und deren spekulationsgetrieben Kursänderungen unterworfen, die den Wert von Unternehmen stärker beeinflussen als der reale wirtschaftliche Erfolg. Die internationalen Finanzmärkte entziehen sich jeder Kontrolle, mit Hilfe einiger Rating-Agenturen bestimmen sie über den Wert von Unternehmen und die Kreditwürdigkeit von Staaten. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch die zunehmende Integration der Weltwirtschaft auf Basis des fortschreitenden technologischen Wandels, der durch Veränderungen im Wissenssystem ständig beschleunigt wird. Durch die Globalisierung entsteht für die reale Wirtschaft ein ständiger Anpassungs- und Konkurrenzdruck. Dazu kommt die Erfahrung einer gewissen Ohnmacht, weil sich diese Prozesse weithin auch dem Einfluss der Politik entziehen. Die Arbeitswelt, deren gerechte und menschenwürdige Ordnung den Konzilsvätern ein besonders Anliegen war, ist heute in Europa nicht nur mit hoher und steigender Arbeitslosigkeit, sondern auch mit fundamentalen Veränderungen konfrontiert. An die Stelle dauerhafter Vollzeitbeschäftigung treten Teilzeit- und befristete Arbeitsverhältnisse, Mini-Jobs, schlecht bezahlte Praktika und neue Selbständigkeit. Den wachsenden Bedarf im Pflegebereich decken Frauen, die zur 24-Stunden-Pflege oft aus weit entfernten Ländern anreisen und mit atypischer Beschäftigung oder als selbständig Beschäftigte unter prekären Bedingungen alte und kranke Menschen pflegen. Dazu kommt die Zahl junger Menschen, die lange Zeit – manchmal auf Dauer, keinen Zugang in ein normales Arbeitsleben finden und unter prekären Bedingungen leben. Infragestellung gesellschaftlicher und sozialstaatlicher Einrichtungen Da die Beschäftigten wegen ihres niedrigen oder fehlenden Einkommens kaum Steuern und nur geringe oder gar keine Beiträge zu den Sozialversicherungen leisten, kommt auch der Sozialstaat unter Druck. Es muss gespart werden bei Pensionen, Arbeitslosen und verschiedenen Beihilfen. Regelungen und Kontrollen werden strenger, einzelne Leistungen gestrichen. L. Wohlgenannt: 50 Jahre Gaudium et spes – (ksoe, 11.12.2015) - Seite 5 Damit werden jene Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die die Konzilsväter vor 50 Jahren als „nicht gering zu schätzende Daseinssicherung“ zum Eigentum zählten, infrage gestellt. Jener „Sozialstaat“, den wir zumindest in europäischen Ländern seit Jahrzehnten aufgebaut haben, wird als unfinanzierbar oder „soziale Hängematte“ kritisiert. Wenn jedoch diese gesellschaftlichen Güter, zusammen mit sozialen Rechten und gesellschaftlichen Einrichtungen und Diensten in Frage gestellt und nach und nach eingeschränkt werden, gehen wesentliche Teile dessen verloren, was gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein gutes Zusammenleben in unseren Ländern ermöglicht. Arbeit – Zentrum jeden Wirtschaftens – Menschenrecht Aus gutem Grund haben die Konzilsväter die menschliche Arbeit in den Mittelpunkt ihres Wirtschaftskapitels gestellt. Arbeit ist notwendig, damit Menschen leben können. Pflanzen müssen geerntet werden, um als Nahrung zu dienen. Selbst hochentwickelte Industrieroboter werden von Menschen erfunden, konstruiert, weiterentwickelt, gewartet und letztlich entsorgt. Virtuelle Netze werden von Menschen erstellt und für ihre Zwecke genutzt. Menschliche Arbeit ist Voraussetzung und Mittel, um die Güter der Erde für den menschlichen Bedarf nutzbar zu machen. Gleichzeitig haben alle Menschen das Recht, durch ihre Arbeit von den Gütern der Erde zu leben. Arbeit ist das wichtigste Verteilungsinstrument für Einkommen, Sicherheit und Lebenschancen. Doch die sich mehr und mehr globalisierende, immer stärker vernetzte und von immer weniger großen Konzernen gesteuert Weltwirtschaft bietet wenig Raum für eine Ordnung, die allen Menschen Zugang zu Arbeit und Einkommen sichert. Daher die Herausforderung: welche neuen Formen von Wirtschaft, welche weltweiten Veränderungen braucht es, damit alle Menschen dieser Welt von ihrer Arbeit leben können, in Würde und in einer gerechten Ordnung? – Eine Frage, die auch Papst Franziskus bewegt und die er in seiner Enzyklika Laudato si‘ aufgreift (128 – 130), mit der Zuversicht, dass weltweit an verschiedenen Orten und unter unterschiedlichen Bedingungen neue Wege der Wirtschaft und neue Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden können. Lieselotte Wohlgenannt, ksoe (Katholische Sozialakademie Österreichs) Dezember 2015 Alle Zitate zu Gaudium et spes aus: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente mit einer Einführung von Oswald von Nell-Breuning SJ herausgegeben vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands 5. erweiterte Auflage (1982) Köln ISBN-13: 978-3-7666-0897-0 (9. Auflage) L. Wohlgenannt: 50 Jahre Gaudium et spes – (ksoe, 11.12.2015) - Seite 6