RingvorlesungzureuropäischenTheatergeschichte: DasTheaterderitalienischenRenaissance (Gissenwehrer) Ablöse der mittelalterlichen göttlichen Weltordnung ‐ Diesseitsinteresse. Mensch als neuer Mittelpunkt: Humanismus. Gelehrte, Forscher, Entdecker. Umbruch in den Naturwissenschaften.KulturellePraktikenamantikenIdealorientiert. 1. DasVorfeldderRenaissance Dante Boccaccio Petrarca EtwasLebens‐vs.‐Produktionszeit‐versetzteFreskenvonAndreadelCastagno,um1450. DanteAlighieri(1265‐1321) Mittelalterlich bedingter Wissens‐ und Kunstmensch, mit gesteigertem Interesse an antiken Denk‐ und ästhetischen Ausdrucksformen. Ladivina commedia als Horrortrip durch Hölle und Fegefeuer ins Paradies. Durch seinen Lehrer Brunetto Latini Kontakt undAuseinandersetzungmitantikenGeistesgrößen(Vergil,Cicero,Aristoteles,Seneca). AntikebeginntverstärktalsReferenzrahmen,andererseitsalsZentrumeinerkreativen Auseinandersetzung mit der Gegenwart etabliert zu werden. Bedeutender Zuträger Francesco Petrarca (1304‐1374), Gelehrter, Schriftsteller, Diplomat. Vertritt die KontinuitätvonderantikenklassischenKulturbiszumChristentum(alsVollendung). Giovanni Boccaccio (1313‐1375), Gelehrter, Schriftsteller, u.a. Il Decamerone ‐ Zehn‐ Tage‐Werk. Novellensammlung in italienischer Umgangssprache, „menschliche Komödie“. Giotto di Bondone (1266‐1337). Maler, Vorwegnahme des Renaissance‐Stils der Natürlichkeit und Bewegtheit, gegenüber dem Formalismus der mittelalterlichen Kirchengemälde ‐ Puppen in prächtigem Ambiente. Reduktion des vorwiegend dekorativenHintergrundes,DetailgestaltungdesMenschen,AbbildungderGefühlswelt, „Realismus“. Vgl. Freskenzyklus der Leggenda Francescana im unteren Teil der Oberkirche der Basilika di San Francesco, Assisi. 1 DerHeiligeFranziskusentsagtdemväterlichen Erbe.(KunstundGeschichteAssisi.Florenz2009) DerHeiligeFranziskusunddersterbende RitterCelano. 2. Theatrale Übergangsphänomene, mit antikem Erbe Trionfi. Seit Mitte des 15. Jhd. Triumpfzüge mit allegorischen Karren, dazwischen Tanzgruppen,Musikanten,RezitationundPantomime.Christlicheundvermehrtantike Themen und Figuren. Malergrößen als Ausstatter, Dekorationen entlang der Prozessionswege. Dynastische und (kirchlich‐) jahreszeitliche Gründe, Stadt‐PR, Kriegswerbung,auchinFormvonPferdeballetten,Karneval,Ringelrennen… Pesellino,TriumphvonAmor,CastitasundMors,1450.Brauttruhe. Sacre rappresentationi. „Heilige Aufführungen“ mit Motiven aus der Bibel, sowie prunkvollausgestatteteMärtyrer‐undHeiligenlegenden.Wertekonflikt,didaktisch. Florenz.Abb:Rapp.diS.Agata;delGiudiziodiSalomone;diS.GiovanniBattista. 2 3. DramatischeVorbilderausderRömischenAntike „Buchjäger“ durchstöbern Klosterbibliotheken auf der (Auftrags‐) Suche nach AbschriftenantikerWerke.Vgl.StephenGreenblatt:TheSwerve.HowtheWorldBecame Modern. (DieWende), über den Florentiner Humanisten Poggio Bracciolini und dessen WiederentdeckungdeslukrezschenLehrgedichtsDererumnaturaimJahr1417. NikolausvonKuesfindet1427inSt.Gallen12weitereDramenvonPlautus,nunsind20 Stücke bekannt. 1433 wird der Terenzkommentar von Aelius Donatus (Römischer Grammatiker und Rhetoriker des 4. Jhd), mit Verweisen auf die Aufführungspraxis, entdeckt. Erstdrucke: Terenz 1470; Plautus 1472; Seneca (1474). Zahlreiche Neuauflagen, u.a. Terenz,mitIllustrationen.Lyon1493/Straßburg1496. ZunehmendbreiteKenntnisderdramatischenSpielvorlagen‐ verstärktÜberlegungenhinsichtlichderAufführungspraxis. Anfangsphantastisch‐visionär,dannfundierteAnnäherunganantikenTheaterbau, BühnenformundSpielpraxisinoffensichtlicherZeitperspektive. TérencedesDucs,1400. Vorstellung,derAutorCalliopiusliestim Haus/Zeltscena,darstellendejoculatoresin derOrchestradestheatrum. PopulusromanialsZuschauer. Terenz,Lyon1493. IdeedesTheaters,mitDarstellernund MusikanteninderOrchestra,edlesPublikum sitztoberhalbderStufen. Vorlage:Italienreise,Theaterruinen? 3 C.Cesariano,Ansicht,SchnittundGrundrisseines römischenTheaters.1521(Vitruv‐Rez.) Terenz,Straßburg1496. „Gotisches“Theater‐StöcklmitBordell. Durchbruch durch die Entdeckung des architekturhistorischen und ‐ theoretischen Werkes De architectura libri decem (30. v.Chr.) von Vitruv. Erstdruck 1486. Erste illustriertePublikation1511. Leon Battista Alberti veröffentlicht 1585 De re aedificatoria - die erste Theorie der Baukunst, Vitruv-Rezeption. Vitruv,GrundrissdesTheatrumlatinum,De architectura,V,vi,1ff(Rose/Fensterbusch) Pochat1990.242. 4 „Badezellenbühne“ (Ludwig E. Schmidt). Namentliche Bezeichnung der „Häuser“ (Zellen), einheitliche Säulen/Pilaster rhythmisieren die Fassade, durchgehendes Gebälk. Holzschnittillustrationen: Konvention oder aus der Erfahrung alsZuschauerinItalienentstanden?ImzeitlichenZusammenhangmöglich,Italienreisen vonDruckernnachgewiesen. Terenz,Adelphi,Lyon1493. Terenz,Eunuchus,Straßburg1496. 4. HumanistenprobierenTheater PomponiusLaetus(1428‐1498).Ab1465ProfessorfürRhetorikundlateinische Sprache,UniversitätRom;„Brotkorb“derKirchefürSympathisantenmitdem Heidentum.LeiterderRömischenAkademie.„TiefesBekenntniszurantiken GeisteshaltungundLebensform“(M.Dietrich).RömischeLebensführung. Inden80erJahren,bes.1483/4,eventuellbereitsinden70erJahrenStudententheater. 11/2MeterhoheBühne,mitTuchabhängung(1.Phase);spätereScenapicturata wahrscheinlichperspektivischbemaltoderbereitsSchmuckbühnemitProspekten(2. Phase). 5. TheaterimVatikan Giovannide‘Medici(1475‐1521).2.SohndesFlorentinerLorenzodesErlauchtenund ClariceOrsini.7‐jährigFirmungundTonsur,erstePründe.13‐jährigKardinal,für3Jahre keineäußerenZeichenundkeinSitzimKollegium,1492Kardinalsinsignien. 11.3.1513PapstLeoX(38) 15.3.Priesterweihe 17.3.Bischofsweihe 19.3.EinzuginLateran, Festzug,Triumpfbögen. Stärker als jeder Vorgänger weltliche Repräsentation‐ durch theatrale Mittel ‐ seinerkirchlichenMacht. „LasstunsdasPapsttum,genießen,daGott Raffael1518/19.Uffizien. esunsverliehenhat!“ 5 13/14.9.1513 Theaterfest anlässlich der Verleihung des Röm. Patriziat‐Rechts an Bruder Giuliano (34), folglich Kapitän der päpstlichen Truppen, und den Neffen Lorenzo (21), Kapitän von Florenz, „bescheidene kriegerische und moralische Eigenschaften“. „Giuliano waren auch die Schattenseiten seiner Familie eigen: verschwenderische Freigiebigkeit, unangemessene Prachtliebe, große Vergnügungssucht und sittliche Ungebundenheit.AusschweifungenhattenseinenansichschwachenKörpererschöpft“. Schwindsucht.(LudwigFreiherrvonPastor,GeschichtederPäpste,1923) Temporärer Holzbau 38x32x18, 31 Meter Bühnenprunkwand im Stil eines Triumpfbogens, goldgeschmückte Pilaster, Fries, Bilder: Römer und Etrusker(=Florenz). Zeremonien, u.a. Urkundenübergabe, Schau‐Essen, Allegorisch‐Pantomimisches. Plautus Poenulus, Tanz. Römische Edelleute als prächtig kostümierte Schauspieler. Spielleiter: Tommaso Inghirami, spielte1486diePhaedra‐RolleunterP.Laetus. IsometrischeRekonstruktionnachCruciani. 6 RömischerKarneval1520/21(nachPastor.419f) 7 6. Theater der Fürstenhöfe. Commedia erudita (Gelehrtentheater) Tizian:LodovicoAriosto.1510. Raffael:Bibbiena.1516. DiTito:Machiavelli. 2.Hälfte16.Jhd. Lodovico Ariosto (1474 -1533). Vater war Kapitän der Zitadelle von Ferrara, der junge Lodovico könnte daher das legendäre Theaterfest in dieser Stadt am 25./26.1.1486, unter Fürst Ercole I d’Este, miterlebt haben: In ital. Sprache: Plautus Menaechmi (Die Zwillinge), Amphitrio und Terenz Andria, Intermezzi-Kampf/Tanzspiele. Szene mit 5 Häuser mit Zinnen, Fenster, Türen; prächtiges Schiff fährt vor. 10.000 Zuschauer. Hauptwerk Orlando Furioso. Com. erudita: La Cassaria (Kästchenkomödie) 1508, I Suppositi (Die Unterschobenen) 1509, Il Negromante 1520. I Suppositi: Teile des Prologs, Beschreibung einer Vorstellung für Papst Leo X (nach Pastor);Thematik ….. 8 Bernardo Dovizio Bibbiena (1470‐1520). Kardinal, literarisch versierter und kunstverständiger, eigentlich weltlicher Lebemann, der „auch gröbere Genüsse nicht verschmähte“ (Pastor). Calandria (vor 1513), im Unterschied zur Vorlage von Plautus Menaechmi unterschiedlich geschlechtliche Zwillinge, mit extremen, auch explizit sexuellenVerwechslungspotential.Aussperrszene Niccolò Machiavelli (1469‐1527). Florentiner Staatssekretär, Historiker, Diplomat, einflussreicherStaatstheoretikerIlPrincipe(StrategienvonMachtgewinnund‐erhalt). Mandragola(ca1518). Kennzeichen der Commedia erudita: Antike Vorbilder, stereotype Figuren, zentrale Objekte/Requisiten (Goldkästchen, Alraunwurzel ..), Identitätswechsel (Verkleidungen, Verwechslungen),DramaturgievonGrundkonflikten(Herrschaft‐Diener,Jung‐Alt..), AutonomesUnterhaltungstheater.Starkkörperlichgewalttätigunderotischaufgeladene Sprache. 1515 erste italienische Verstragödie von Gian Giorgio Trissino (1478‐1550). Sofonisba. 9 7. Commediadell’arte ImUnterschiedzurCommediaeruditaalsLiebhabertheaterimVatikan,anFürstenhöfen und Universitäten ‐ spektakuläre Darbietungen von Berufsschauspielern. Familienstrukturen/Truppen,Fahrende,auchSchauspielerinnen. Ursprungsthesen: Antike (Atellanenspiel; Masken, Typen), Karneval, Brauchtum (Wilde Jagd), Jahrmarkt (Giullari, Buffoni, Ciarlatani), Universitäre Redewettbewerbe, Commediaerudita… Spielpraxis: Canovacchio (Ablauf), Scenari, Lazzi (Standard‐Gags: pantomimische Scherze ‐ „Mücke verkochen, essen“; Wortkaskaden/verdrehungen, Taschenspielertricks Improvisation! Masken/Typen Zanni(Diener):ArlecchinoBrighellaPulcinella Vecchi(Alten):PantaloneDottoreCapitano(Angeber) Innamorati(Liebenden) HieronymusFrancken,DieCompagniadelComiciGelosibeieinerAufführunginParis.ca.1590. Arlecchino,Servitorediduepadroni alTeatroGrassi. GiovanniBattistaTiepolo, PulcinellaundAkrobaten.1797. 10 8. Bühnenraumgestaltung 8.1 Winkelrahmen: Im rechten Winkel paarweise aufgestellte Holzrahmen, mit perspektivischbemaltenLeinwändenbespannt.Hintergrundprospekt. Sebastiano Serlio (1475‐1554), Architekt und Architekturtheoretiker Sette libri dell'architettura(1545),SecondoLibrodePerspectiva:3Bühnentypen. scenatragica scenacomica SeitenansichtundGrundrisseinerBühne. ‐scenasatirica 8.2Periakten/telari‐dreiseitigeDrehkörper.GiacomoBarozzidaVignola(1507‐1573) Antonio da Sangallo, Entwurf einerBühnemitPeriakten 11 8.3Schiebekulissen,mitWageninSchlitzenunterderBühne(sog.Freifahrten),diemit SeilenundFlaschenzugverbunden,undindieKulisseneingestelltwaren;perfektioniert durchGiacomoTorelli(1608‐1678),Maler,ArchitektundBühnenbildner. 12 9. Theaterbau Andrea Palladio (1508‐1580). Teatro Olimpico in Vicenza. Fertiggestellt durch VincenzoScamozzi:EinbauvonKulissengassen.1585EröffnungmitÖdipus. Basilica VillaRotonda Scenaefrons(Bühnenprunkwand)25x15m.FigurenvonOlymp.Akademiemitgliedern. 13 VincenzoScamozzi(1548‐1616).TeatroOlimpicoinSabbioneta(EineSaison1590/91). VespasianoGonzagasIdealstadt,das„NeueRom“. IdealerSichtpunktausderLoggia, umgebenvonberühmtenRömernu. OlympischenGöttern Haupteingang.„DieRuinenlehrenuns, wieRomeinstgewesenist“ 14 EtwasmissglückteRekonstruktionderursprünglichenWinkelrahmenbühne. GiovanniBattistaAleotti(1546‐1636).TeatroFarneseinParma. HölzernesSaaltheaterinFest‐undTurniertradition.Waffensaalim1.StockdesPilotta‐ Palastes,vonHerzogRanuccioIFarneseinAuftraggegeben.1617fertiggestellt,1628i.R. einerHochzeiterstmalsbespielt. Raum: 87x32 m, 22 m hoch; 12 m Arkatur, urspr. mit Statuen. U‐förmige Zuschauerränge für 3000 ‐ 5000 Personen. „Arena“ mit Wasser befüllbar ‐ Schiffschlachten. Beleuchtung durch 4 Silberleuchter mit 2 m Durchmesser für je 300 Kerzen,weitere1000KerzenimRaumverteilt. Bühnenöffnung: Proszeniumsbühne 12 m breit, 40 m tief; Kulissenbühne mit ansteigendemBühnenboden. Modell:Urspr.marmoriert 15 Bombenschäden1944 Literatur Albrecht,Siegfried,Grötz,Susanneu.a.:Teatro.EineReisezudenoberitalienischenTheaterndes 16.‐19.Jahrhunderts,Marburg1991. Beyer,Andreas:AndreaPalladio–TeatroOlimpico,Frankfurt/M.1987.(Fischer‐tb3937). Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. 1. Band, Stuttgart1993,S.405‐475. Mehnert,Henning:Commediadell’arte,Stuttgart2003(Reclam17639) Pochat,Götz:TheaterundbildendeKunstimMittelalterundinderRenaissanceinItalien,Graz, 1990. Strong,Roy:FestederRenaissance1450‐1650,Würzburg1991. Zielske,Harald:„DieAnfängedesRenaissance‐TheatersinItalien“,in:PropyläenGeschichteder Literatur,3.Band,Berlin1984,S.121‐130. 16