Typisches, reichverziertes Zeltkino der Jahrhundertwende. AUS >;DER WÜÄZBI'I Die Pioniere der Wandertheater Die eigentliche, künstlerische Wiege der einheimischen Filmprodukdoch das tion steht am Uebergang vom Stummfilm zum Tonfilm schweizerische Kinogewerbe, das sich am 15. Januar 1915 im <;Verband kinematographischen Gewerbe>; zusammender Interessenten im geschlossen hatte, gehörte praktisch seit den ersten Tagen der neuen Erfindung zu den Pionieren einer neuen Kunstform : des cTheaters des kleinen Mannes». ortsgebundene Jahre bevor der Film in festen Vorführsälen eine Heimstätte fand, führte er in den Wanderkinos, in den Zelttheatern eine volkstümliche Existenz. Der Rummelplatz, die «Chilbi» mit ihrem Karussell, dem Gruselpanoptikum, dem Duft des türkischen Honigs und dem unverwechselbaren Klang der Drehorgel sie wurde auch bei uns zum Ort der ersten Begegnung mit der Wunderwelt der «lebenden Wenige Monate, Bilder». nachdem die Gebrüder Auguste und Louis Lumiere am 22. März 1895 im Untergeschoß des «Grand Cafe» am Boulevard des Capucines in Paris ihren kurz zuvor zum Patent angemeldeten «Cinematographe» einem breiteren Publikum vorgeführt hatten, bemächtigten sich in ganz Europa geschäftstüchtige Jahrmarktsmanager der neuen und erregenden Attraktion. Bereits 1895 veranstaltete ein gewisser Lorenz Schweizer in Alsenhörn (bei Kaiserslautern) die ersten Kinovorstellungen. Schweizer bes a als Partner des Schaustellers Leilich die ersten «Wanderkinematoß graphen». Leilichs Söhne, Philipp und Heinrieh, verzichteten endgültig auf die väterliche «piece de resistance», ein zugkräftiges anatomisches Wandermuseum, und wandten sich ausschließlich dem Film und seiner Auswertung zu. Die Gebrüder Leilich, bald als größte Wanderkinobesitzer der Welt bekannt, gastierten auf allen wichtigen Messen und Jahrmärkten Mitteleuropas und beehrten des öftern auch das Zürcher Albisgütli mit ihrem Besuch. Einige Jahre vor dem Zcltkinematographen war bereits ein Guckkasten für «lebende Bilder», der sogenannte Kinetoskop, bekannt geworden, der zumeist in einer bescheidenen Ecke des großen Attraktionszeltes seinen Platz gefunden hatte. Im Kinetoskop wurden kurze, oft nur wenige Meter lange Filmstreifen gezeigt, die eine Breite bis zu 5 Zentimetern aufwiesen. Brandschäden durch Verschulden rauchender Besucher oder Filmrisse waren beim Kinetoskop an der Tagesordnung, und man weiß, daß der geplagte Leilich mit Unterstützung des Chemischen Institutes der Universität Zürich seinen Filmkitt selbst zusammenbrauen mußte. Die Normung des Kinofilmes durch Edison schuf wenig später die Grundlage für die richtige Großprojektion, und auch die Vorfühnnaschinen verbesserten sich rasch in ihrer Qualität. Philipp Leilich war ein ständiger Besucher des Pariser Filmpioniers Charles I'atliü, in dessen Gesellschaft er Reisen nach London unternahm, um die neuesten Edison-Apparate zu erwerben. Da der Kauf einer Lumiere-Apparatur bereits damals auf 2000 Fr. zu stehen kam und die Filmstreifen selbst, mangels eines Verleihsystems, noch vom Kinobesitzer persönlich erstanden werden mußten >;- 100 Filmstreifen mit einer durchschnittlichen Länge von 18 bis 25 Metern , fand sich bald ein kosteten die ansehnliche Summe von 4000 Fr. findiger Zürcher Techniker, namens Zulauf, der brauchbare Vorführmaschinen für den erstaunlichen Betrag von 450 Fr. herstellte. Es dürfte den wenigsten Filmfreunden bekannt sein,' daß die Schweiz übrigens in den Personen von Vater und Sohn Ganz eigentliche Pioniere der Kinotechnik besitzt. Johann Ganz, der Gründer der Zürcher Fach» D^S F. .MG E W E R B E IN firma Ganz & Co., widmete sich um 1880 vor allem dem Ausbau einer großen Diapositivsammlung, stellte später einen speziell für SchulProjektionsapparat, das Pinaskop (Bilderzeiger), zwecke bestimmten her und lernte um 1895 den regsamen Erfinder Dr. J. H. Smith kennen, Trockenplattenfabrik betrieb. Es war denn auch der in Wollishofen eine Smith, der, unabhängig von Lumiere, Edison oder Messter, nach eigenen Plänen, in Gemeinschaft mit dem gohn von Johann Ganz, einen Aufnahmeapparat für Kinobilder entwickelte, der unter Verwendung ebenfalls der Bildprojektion dienstbar des Ganzschen Pinaskopes gemacht werden konnte und das beachtliche Fassungsvermögen von 65 Metern Rohfilm aufwies. Mit dieser Kino-Aufnahmekamera von 1897 fuhren Smith und Emil Ganz nach London, um dort die große Prozession der Königin Viktoria auf einem Riesenstreifen von nahezu 1000 Metern zu verewigen. Die Schweizerische Landesausteilung, die 1896 in Genf eröffnet wurde, erfreute sich im Lumiere-Apparat von Louis Preis» einer besonderen Sehenswürdigkeit. Preiss, dessen Sohn Gustav später bei Messter hinter der Kamera stand, machte auch erste eigene Versuche mit dem Tonfilm, indem er einen Phonographen des Systems Edison mit seiner Projektionsmaschine synchron koppelte. Kurze «Tonfilme» gesungene Sketches und Couplets vervon 7 bis 9 Metern Länge liehen in jenen Jahren den Zelttheatern von Preiss einen zusätzlichen Brandgefahr allem wachsende vor und das die machte Reiz. Doch Etablierung Dauerinteresse städtischer Bevölkerungskreise bald die fester Lichtspielhäuser notwendig. Das Zeltkino wird seßhaft Erfindung Hatten die Gebrüder Leilich und Louis Preiss die neue vor allem unter dem Gesichtspunkt der Jahrmarktssensation ambulant Kinogewerbe betrieben, so erwuchs dem schweizerischen in der Person von Georg Hipleh-Walt ein eigentlicher, erster Nestor. Kinopionier mit Leib und Seele, richtete Hipleh-Walt sein Augenmerk nicht nur mit großem Eifer auf jede Möglichkeit von Filmvorführungen, sondern er wurde, als Auftraggeber von Aktualitätsschauen (frühe Dokumentärstreifen über Fastnachts- und Sechseläutenumzüge, die sich unseres Wissens zu Teilen im erst kürzlich wiederentdeckten Archiv des filmfreudigen Paten Joie in- Basel noch erhalten haben), bereits um 1900 Eigenprodukzum ersten Filmproduzenten der Schweiz. Diese Art der tion erwies sich jedoch durch die Unerfahrenheit der einheimischen Operateure und durch die teure Verarbeitung des Negativmaterials im SpielAusland bald als zu unrentabel. Deshalb mußten zusätzliche filme in Frankreich und Deutschland erworben werden. In Zürich hatte seit 1897 der rührige Unternehmer Jean Speck in vorgeführt. seinem Panoptikum am Unteren Mühlesteg lebende Bilder (dem heutigen Neben Speck richtete Hipleh-Walt im «Zürcherhof» Limmatquai Füssli-Annoncen), eines am Geschäftsslti der Firma Orell Ausgesprochen der ersten ständigen Kinotheater der Limmatstadt ein. günstig gegenüber dem damaligen Hotel Bellevue gelegen, galt das geräumigen «ZOrcherhof-Theater» mit seinen 120 Plätzen und dem Vestibül als sehr vornehm. In unmittelbarer Nachbarschaft der volkstümlichen Bierhalle Wolf am unteren Limmatquai entstand ein Lichtspielhaus, dessen Operateur im Schaufenster Platz in nehmen hatte. erging es Diese Tatsache mag heute vorsintflutlich anmuten, doch jenem Kurbelmann wohl noch besser ab seinen Kollegen, die ihre Neue Zürcher Zeitung vom 28.10.1961 »D E SCHWEIZ Arbeit in einer Art Käfig, welcher an der Decke des Saales befestigt war, ausführen mußten. Man kann sich ohne allzu großen Phantasieaufwand vorstellen, welche Belastung die fast ununterbrochene Vorführung von Hand, die oft von 14 bis 23 Uhr dauerte, bedeutete. Die seltsamen Vorführkabinen wurden mittels einer Falltreppe bezwungen, die bei einem Brandausbruch kaum eine Chance für die Rettung offen ließ. Erst ein Kinobrand in Luzern, der dem Operateur das Leben kostete, rief die Feuerpolizei mit verschärften Vorschriften auf den Plan und verbesserte so langsam die unhaltbaren Zustände. Während Jean Speck in Zürich an der Waisenhausstraße (beim heutigen «Orient») ein Kino eröffnete und ein alter Pferdestall an der Mühlegasse zum heutigen Cinema Radium umgebaut wurde, schuf Architekt Schwegler um die Jahrhundertwende das Central-Theater an der Weinbergstraße, das kurz nachher in ein erstes Zürcher Großkino umgewandelt werden sollte. Ursprünglich als Ort der leichten Muse gee Logenplätze, die den dacht, verfügte dos Central-Theater über richtig Studenten vorbehalten blieben. Zahlreiche Kommilitonen beteiligten sich oft recht munter an den Erklärungen des hauseigenen Kommentators, und da auch der witzige Operateur Willy Thiele persönlich zahlreiche Bonmots zum besten gab, sollen einzelne Vorstellungen in eigentliche Tonfilmveranstaltungen ausgeurtet sein. Die Großtheater legten bereits sehr früh starkes Gewicht auf eine würdige Umrahmung der Projektionen und nahmen aus diesem Grunde Geräuschemacher nnd Musiker in ihre Dienste. Mit der Zunahme des auch der beliebte Kommentator allmählich d Theaterkomforts verschwan gedruckte Inhaltsaus dem vertrauten Bild, und immer öfter halfen zusammenfassungen mit, das große schöne Schweigen auch dem einfachen Besucher ganz verständlich zu machen. Gleich Hipleh-Walt und Speck in Zürich wirkten auch Ingenieur Robert Rosenthal (mit seinem später eingegangenen Fata-Morgana-Kino an der Freiestraße) in Basel und Wilhelm Leuzinger (mit einem ersten, ambulanten 30-Rappen-Saalkino) in Rapperswil als Pioniere. Vom Verleih, der Reklame und der leidigen Zensur Georg Hipleh-Walt hatte, mehr der Not denn dem eigenen Antrieb gehorchend, erstmals eine eigentliche Verleihtätigkeit in der Schweiz ausgeübt Die im Ausland eingekauften Spielfilme stellten für das einmal in sämtlichen Filialtheatern abgespielt brachUnternehmen liegendes Kapital dar. So schritt man zwecks besserer KopienamortiAbgabe ausgewerteter Filme an Kollegen. Die wachsende sation zu einer Länge und der immer größere Kostenaufwand der Filme veranlaßten andererseits die großen Filmfabriken, wie Gaumont und Pnthc in Paris, Messter in Berlin oder die Nordisk in Kopenhagen, ihre eigenen Streifen auch mietweise ins Ausland abzugeben. Die Lichtbühne AG, welche das Zürcher Central-Theater in ein Kino umgewandelt hatte, kaufte erstmals ganze Programme aus verschiedenen Lindern ein nnd vermietete die Kopien nach einer ersten Zirkulation in den eigenen Lichtspielhäusern an eine weitere Kundschaft Bis dahin hatte auch dieses Unternehmen alle Filme käuflich, nnd zwar erst nach der Fertigstellung, erwerben müssen. Filmabschlüsse auf Voranzeige hin, du sogenannte «Blind-» nnd «Blockbuchen», war in jenen Pioniertagen so gut wie unbekannt. Allerdings nahm die Lichtbfihne AG bald Insofern eine Sonderstellung ein, als sie für unser Land die sogenannten VerleihVorwochen erwirken konnte. Diese Sonderstellung führte dazu, daß Wanderkinematograph von W. Leuzinger )(Rappcrswü um 1915. unsere Kinotheater die deutschen Filme zwei Wochen vor ihrer Uraufführung im Herstellungslande selbst spielen konnten. In ähnlicher Weise wurde die vorzeitige Terminierung der beliebten Monumentalfilme der Firma Cines, Roma, und der Asta Nielsen-Filme von Urban Gad möglich. Als der Erste Weltkrieg ausbrach und die Filialen der großen ausländischen Produktionsfirmen unser Land mit vielen .minderwertigen oder tendenziösen Propagandastreifen überfluteten, setzten einmal molir Bestrebungen zur systematischen Eigenproduktion von Schweizer Filmen ein. Die Liegenschaft zum Schweizerhof an der Zollikerstraße verwandelte sich unter der Leitung des Filmkaufmanns Josef Lang (des späteren Sekretärs des Schweizerischen Lichtspieltheater-Verbandes) in ein behelfsmäßiges Atelier. Das Wagnis endete mit einer großen kommerziellen Katastrophe. Ueber die Unternehmen jener ausländischen Produzenten, die bis zur Gründung der Praesens-Film im Jahre 1924 einen importierten Schweizer Filmstil zu kreieren versuchten, möge sich heute ein milder Mantel des allgemeinen Vergessens ausbreiten. Wer die Zürcher Tageszeitungen der Jahre 1900 bis 1920 durchstöbert, wird selten genug auf Zeugnisse einer gesunden Kinoreklame stoßen. Es schien, als sollte mit Absicht der intellektuelle Zuschauer nach Möglichkeit vom dunklen Kinoraum ferngehalten werden. Die marktschreierischen Anpreisungen der Kinobranche richteten sich in den heroischen Zeiten des Kintopp ausgesprochen an ein geistig anspruchsloses Massenpublikum. Als bereits das Insertionswesen auch im Filmgewerbe Eingang gefunden hatte, verzichtete man noch nicht auf den Ausrufer vor dem Eingang und den Programmverteiler auf der Straße. Noch vor wenigen Jahren beschäftigte in Zürich das inzwischen verschwundene Olympia-Cinema an der Pelikanstraße diesen letzten unter den beliebten Reklamemännern, die eifrig bunte Handzettel den Passanten in die Hand drückten. Die Filmtitel wurden, bei ausländischen Werken, meist willkürlich verdeutscht, und einer englischen oder nordischen Diva als «Kellnerin vom Niederdorf» zu begegnen war nicht ausgeschlossen. Die Reklame überschlug sich in jenen heroischen Jahren und führte oftmals zu einer eigentlichen Schmutzkonkurrenz, da einzelne Theaterbesitzer auf eine Eintrittskarte gleich zwei Eintritte gewähren wollten. Man versuchte auch, die eher konservativen Zürcher Bürger mit den Methoden des amerikanischen Zirkuskönigs Barnum für das Lichtspiel zu begeistern und führte riesige Plakatwagen, ja Specks ^Panoptikum» auf der Gloous-Inscl am unteren Mühlestcg. selbst das Modell eines Flugzeuges durch die Straßen der Stadt. Der Staat interessierte sich vorerst eher sekundär für die neue Jahrmarktssensation. Als die Schausteller «lebende Bilder» einer weiteren Oeffentlichkeit zugänglich machten, stützte man sich beim Eingreifen der Rechtsordnung jeweils auf die gültige polizeiliche Generalklausel. Eine dem Film angemessene Spezialregelung bestand allerdings in Zürich seit dem Erlaß vom 15. April 1909. Die behördliche Begutachtung von Filmen, die ja im Prinzip bei uns in die Kompetenz der Kantone fällt, erfreute sich schon früher keiner großen Beliebtheit. Wenngleich die intellektuellen Kreise in der Schweiz dem neuen Massenmedium lange Zeit eher verständnislos gegenüberstanden, setzten sich doch zahlreiche führende Köpfe unseres Landes, wie der Dichter Carl Spitteler (mit einem ausführlichen Beitrag im «Luzerner Tagblatt» im Jahre 1916) und Bundesrat Dr. HSberlin (in seiner Rede vor dem Nationalrat am 9. Dezember 1921), für eine liberale Handhabung der Zensur und die Filmmündigkeit des erwachsenen Menschen ein. Indem gerade solche geistige Führer immer wieder ein Bekenntnis zu den positiven Eigenschaften des verachteten Kinematographen ablegten, wurde das Kino über seine ursprüngliche Funktion eines «Theaters des kleinen Mannes» hinaus in die neue Sphäre der salonfähigen und geja der Kulturmanifestation emporgehoben. hobenen Unterhaltung So vertritt ein verantwortungsbewußtes Kinogewerbe heute das Kunst, medium unseres Jahrhunderts das seinen Platz unter den 'Musen zu Recht einnimmt. aanspeter H Manz (Wir rerwelun »uf dl* Quellen «H. Korger, Du lebende Bild. Bülaeh, 1040», und «Filmklub/Clniclub Nummer 13: Sondernummer zum Schweber Film».). Das Zürcher «Central-Theater» an der Weinlergstraßo um 1900. Neue Zürcher Zeitung vom 28.10.1961