FACHTHEMEN MEDIEN-BERICHTERSTATTUNG Akupunktur bei Sehschwäche? „Akupunktur hilft Kindern bei Sehschwäche“, so überschreibt ein bekanntes norddeutsches Nachrichtenmagazin in seiner Online-Ausgabe vom 14.12.2010 einen Beitrag, der die Akupunktur als mögliche alternative Behandlungsmethode vorstellt. [1] Dieser Online-Artikel bezieht sich auf eine Studie aus Hongkong, die im Dezember 2010 in dem Journal „Archives of Ophthalmology“ veröffentlicht worden ist. [2] Bei 16 von 43 Kindern, die in dieser Studie über einen Zeitraum von 25 Wochen mit Akupunktur behandelt worden sind, konnte durch Akupunktur die Amblyopie überwunden werden. „Bei Erwachsenen und Kindern ab sechs Jahren betrachtet man bestkorrigierte Visuswerte von 0,8 oder weniger (Einzelsehzeichen) als subnormal und das betreffende Auge als amblyop. Besonders Visus-Seitendifferenzen von mehr als einer dekadisch logarithmischen Stufe zwischen beiden Augen sind amblyopieverdächtig. [3] Die Studie von Zhao beschränkt sich auf anisometropiebedingte Amblyopien; die gravierenderen Schielund Deprivationsametropien waren nicht Gegenstand der Untersuchungen. Die Studie 88 Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren unterzogen sich 25 Wochen lang einer Amblyopie-Behandlung. Bei 45 Kindern wurde pro Tag zwei Stunden lang das bessere Auge abgedeckt; 43 Kinder wurden fünfmal pro Woche auf der Grundlage der traditionellen chinesischen Medizin akupunktiert. Das sphärische Äquivalent beider Augen unterschied sich zu Beginn der Studie in der Akupunkturgruppe um 1,2 dpt und in der Vergleichsgruppe mit Abdecken der Augen um 1,8 dpt. Die Hälfte aller behandelten Kinder (je 22 in beiden Studiengruppen) hatte eine Hyperopie von mehr als 4 dpt auf dem schwächeren Auge. Die Nadeln wurden an fünf Akupunkten gesetzt: unilateral an GV20 (baihui) am Kopf und LI4 (hegu) an der Hand, bilateral an EX-HN5 (tai-yang) an den Schläfen, BL2 (cuanzhu) am medialen Ende der Augenbrauen und BL59 (fuyang) nahe der Achillessehne. Zusätzlich mussten alle 88 Kinder eine Stunde lang intensives Sehen in der Nähe ausführen. Die Sehschärfe wurde mit elektronischen Tafeln (ETDRS) gemessen; der Reihenvisus, der aus der Sicht von BVA und DOG [3] ein wichtiges diagnostisches Kriterium einer Amblyopie ist, wurde nicht bestimmt. Ergebnisse Durch die Akupunktur wurde innerhalb von 25 Wochen eine Verbesserung der Sehschärfe um etwa 2,3 Visusstufen erzielt. Bei 16 der mit Akupunktur und zwölf der konventionell behandelten Kinder wurde aus Sicht der Autoren die Amblyopie nach Studienende überwunden. Als Kriterium für eine erfolgreiche Behandlung der Amblyopie galt eine Sehschärfe von mehr als 0,8 oder eine Visusdifferenz zwischen beiden Augen von weniger als zwei Visusstufen. Kritik Ein wesentlicher Schwachpunkt der Studie ist in der Bestimmung der Sehschärfe zu sehen. Es wurden zu jedem Untersuchungstermin zwei Messungen der Sehschärfe vorgenommen, von denen der jeweils bessere Wert in die Bewertung der Studienergebnisse einging. Eine wissenschaftliche Studie stellt höhere Ansprüche an die Bestimmung der Sehschärfe als es für die Visusbestimmung im Rahmen einer Refraktionsbestimmung erforderlich ist. „Der ‚wahre’ Visus ist der Mittelwert einer Gauss-Verteilungskurve vieler Einzelmessungen. Der Wert ist umso unsicherer, je weniger Messungen vorgenommen werden.“ [4] Inwieweit Lerneffekte die Studienergebnisse beeinflusst haben, lässt sich aus der Studie nicht entnehmen. Zu Beginn der Studie wurde bei allen Kindern eine Refraktionsbestimmung unter Zykloplegie (einprozentiges Cyclopentolat) vorgenommen; auf der Basis dieser Untersuchungen wurden neue Brillenkorrektionen vorgenommen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Verbesserungen des Sehens in einem erheblichen Maße allein durch die optimale optische Korrektion erfolgte. Cotter et al. konnten im Jahr 2006 in einer Studie zeigen, dass bei einer AnisometropieAmblyopie in 77 Prozent aller Fälle durch die optimale optische Korrektion eine Verbesserung der Sehschärfe von mindestens zwei Visusstufen erzielt werden konnte und dass bei einem Drittel aller Kinder die Amblyopie innerhalb weniger Monate „geheilt“ werden konnte. [5] Auch die Autoren der vorliegenden Studie stellten fest, dass „ein Teil des beobachteten Behandlungsergebnisses auf die fortgesetzte optische Korrektion zurückzuführen ist.“ [2] Keine Wunder Die Akupunktur findet immer größeren Zuspruch; Wunder kann aber auch sie nicht erbringen. Inwieweit der „Behandlungserfolg“ der vorliegenden Studie durch die Akupunktur zu erklären ist, lässt sich nicht ausmachen, da eine Kontrollgruppe, bei der eine Scheinakupunktur durchgeführt wurde, fehlt. Die Überschrift „Akupunktur hilft Kindern mit Sehschwäche“ lässt sich in dieser allgemeinen Formulierung nicht aufrecht erhalten; Schlussfolgerungen auf Schiel- und Deprivationsamblyopie lassen sich aus der Studie nicht herleiten. n Dr. Andreas Berke, Köln Literatur 1. www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/ 0,1518,734398,00html vom 14.12.2010 2. Zhao J, Lam DSC, Chen LJ et al. Randomized Controlled Trial of Patching vs Acupuncture for Anisometropic Amblyopia in Children Aged 7 to 12 Years. Arch Ophthalmol 2010; 128: 1510 -1570 3. Berufsverband der Augenärzte, Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft. Leitlinie 26a Amblyopie. http://www.dog.org/wp-content/ uploads/2009/09/LL-26-Amblyopie-EndversionSept-2010.pdf vom 20.12.2010 4. Haase W, Rassow B. Sehschärfe, in Kaufmann H. (Hrg). Strabismus, Enke-Verlag Stuttgart 1995, 85 – 116 5. Cotter SA, Edwards AR, Wallace DK et al. Treatment of anisometropic amblyopia in children with refractive correction. Ophthalmology 2006; 113: 895 – 903 DOZ 02 | 2011 65