29 Expositionstraining (Konfrontationstraining)

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Expositionstraining (Konfrontationstraining)
29 Expositionstraining (Konfrontationstraining)
Iver Hand
29.1 Prolog: am Wasserrand
am Nordseestrand
Zwei Väter wollen ihre kleinen Söhne zu Nordseefans machen. Vater A greift seinen widerstrebend-ängstlichen
Kleinen, trägt ihn ins tiefere Wasser und taucht ihn
schließlich mehrfach dort ein. Der Sohn droht an Panikschreien zu ersticken, der Vater verlässt frustriert mit
ihm das Wasser. Vater B streichelt seinen Sohn, geht
selbst wenige Meter ins Wasser, bespritzt sich damit,
spielt darin und winkt lachend dem Sohn. Dieser kommt
zögerlich ins Wasser, spritzt den Vater nass und läuft in
seine Arme. Bald spielen beide vergnügt im flachen Wasser.
Merke
H
(Reiz-)Reaktions-Exposition
Exposition zur Reaktionsprovokation:
● Flooding (Reizüberflutung): in sensu (Implosion nach
Stampfl) oder in vivo, mit Induktion intensiver Emotionen (z. B. nach Marks 1978 [16]), aber ohne klare Anleitung, wie dann die Emotionen genutzt bzw. verarbeitet
werden sollen.
● Exposition-Reaktions-Management (ERM; Hand 1993
[9]), mit dem Hauptziel der Induktion intensiver Emotionen und mit klaren Anleitungen zu deren Nutzung
und Bewältigung (Details in Kap. 29.4.1 und 29.4.2).
Merke
H
Alle Formen der Exposition werden in der deutschsprachigen Literatur auch häufiger als Konfrontation bezeichnet.
Exposition ist nicht gleich Exposition!
29.2 Benennung und Ziele der
Technik
29.2.1 Benennung der Technik
Exposition beinhaltet, gefürchtete und gemiedene Situationen, Personen, Gefühle oder Gedanken wieder aufzusuchen oder zuzulassen, um deren Bewältigung zu erlernen. Sie ist seit Jahrhunderten kulturübergreifend in
vielen Varianten bekannt (s. Marks 1978 [16]). Mehrere
Varianten der Exposition gehören auch zu den ältesten,
am besten untersuchten und wirksamsten Techniken der
Verhaltenstherapie.
Im Hinblick auf das theoretische Grundkonzept, die
Zielsetzung und die Vorgehensweisen werden die folgenden wesentlichen Varianten unterschieden.
Reizexposition
29
164
Exposition mit Reaktionsverhinderung (ERV, ERP [Exposure Response Prevention]):
● Systematische Desensibilisierung: in sensu oder in vivo,
gestuft, mit Vermeidung intensiver Emotionen (z. B.
nach Wolpe 1958 [19]).
● „Verhaltensexperimente“, die in den 1980er- und
1990er-Jahren in der „Oxforder Schule“ der kognitiven
Verhaltenstherapie entwickelt wurden (Bennet-Levy et
al. 2004 [2]). Diese Vorgehensweise entspricht weitestgehend der Exposition mit Reaktionsverhinderung, die
kognitive Vorbereitung ist ein hinsichtlich seiner Relevanz umstrittener Zusatzfaktor.
29.2.2 Ziele und Vorgehensweisen
der eingesetzten Techniken
▶ Systematische Desensibilisierung nach Wolpe. Sie basiert auf dem Konzept der „reziproken Hemmung“ der
Angst durch induzierte, „konkurrierende“ bzw. inkompatible Emotionen – in erster Linie Entspannung, aber
auch Aggression, sexuelle Erregung oder Humor (Aggression oder Humor sind in der Bevölkerung oft spontan genutzte Angstbewältigungstechniken). In der Praxis durchgeführtes Entspannungstraining soll dem Betroffenen ermöglichen, in vivo in kleinen Schritten, entlang einer vorher durchgeführten Hierarchisierung der angstauslösenden Situationen, mit der Erwartungshaltung in diese hineinzugehen: „Ich kann erfolgreich Angst vermeiden.“ Für
dieses Vorgehen gibt es bei allen Angst- und Zwangsstörungen mit starken Angst- oder Panikattacken keine Indikation mehr, da Angstbewältigung so nicht gelernt wird.
▶ Graduierte In-vivo-Exposition. Sie wird mit variabel
kombinierten Anteilen aus systematischer Desensibilisierung und Flooding am häufigsten, aber mit sehr unterschiedlichem „Tempo“ praktiziert. Die Patienten sollen sich
sukzessive erst mit den weniger und schließlich mit den
am stärksten angstauslösenden Reizen in vivo konfrontieren, wodurch Habituation mit kontinuierlich abnehmender
emotionaler Reaktion erreicht werden soll. Therapeutenbegleitung findet bei der In-vivo-Umsetzung meist nicht
statt, wird in einigen Lehrbüchern leider (!) auch nicht
empfohlen (z. B. Hoffmann u. Hofman 2008 [12], S. 6).
▶ Exposition-Reaktions-Management. Hierbei wird der
Schwerpunkt, wie beim Flooding, auf die Provokation
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29.3 Voraussetzungen und Indikationen
möglichst intensiver Emotionen (Angst, Depression, Aggression, Schuldgefühle) gelegt. Dazu werden initial meist
die realen externen oder induzierte interozeptive (z. B.
Herzjagen, Schwindelgefühle) oder aber emotional hoch
besetzte Erinnerungsbilder genutzt. Dann wird Individuum- und Emotions-spezifisch deren Bewältigung angeleitet (Kap. 29.4.1 und 29.4.2).
29.3 Voraussetzungen und
Indikationen
29.3.1 Voraussetzungen beim
Patienten
▶ Eingehende medizinische Diagnostik. Sie ist erforderlich, um körperliche Ursachen für das Auftreten von
schweren Angstzuständen, Panikattacken, Herzjagen
oder Schwindelgefühl auszuschließen.
▶ Klärung der Komorbidität mit anderen psychischen
Störungen. Eine Hierarchisierung dieser Störungen (z. B.
Depression bei Agoraphobie: deren Mitursache oder Folge? Eheprobleme bei Zwangsstörungen: Ursache oder
Folge?) ist unbedingt erforderlich, da sich daraus weitgehende Konsequenzen sowohl für die Indikation zur Exposition als auch für den Gesamtbehandlungsplan ergeben (Hand 2008 [10]).
▶ Aufbau einer hinreichenden Veränderungsmotivation. Je nach seiner Persönlichkeit und der Patient-Therapeut-Beziehung ergeben sich unterschiedliche Notwendigkeiten bezüglich der Intensität der Therapie und der
initialen Therapeutenbegleitung. Beispiel: In der ersten
Studie zu Gruppenexposition in vivo [6] wurden die Patienten gebeten, vor Beginn der Therapie eigenständig einen In-vivo-Test so weit wie möglich durchzuführen. Der
Test beinhaltete über einen Zeitraum von 1,5–2 Stunden:
Längerer Fußweg in einer belebten Straße, Bus- und UBahn-Fahrten, kleine Einkäufe. Die Patienten zeigten extrem unterschiedliche Reaktionen: Einerseits nach wenigen Metern Fußmarsch Rückkehr in die Klinik und Verweigerung weiterer Übungen, andererseits Ableistung
des vollen Testprogrammes. Letztere Patienten reagierten
wiederum unterschiedlich: Einige gaben an, sich von der
Wirksamkeit der Methode überzeugt zu haben und sie
ohne weitere Therapie selbst anwenden zu können; andere betonten (mit unterschiedlichen Begründungen), die
Therapie „selbstverständlich“ noch zu benötigen.
▶ Humorfähigkeit. Eine trotz allen Leidens noch vorhandene „Humorfähigkeit“ (good sense of humor) ist äußerst hilfreich für den erfolgreichen Ablauf einer Exposition, besonders auch bei Durchführung mit einer symptomhomogenen Gruppe (Beispiele u. a. in Hand et al.
1974 [6]).
29.3.2 Voraussetzungen beim
Therapeuten
▶ Fachliche Kompetenz. Die fachlichen Voraussetzungen des Therapeuten ergeben sich im Wesentlichen aus
dem im vorausgegangenen Kapitel Gesagten. Allerdings
scheint die Bereitschaft, therapeutenbegleitete Expositionen bei Angst- und Zwangsstörungen durchzuführen, bei
niedergelassenen Verhaltenstherapeuten gering zu sein.
Dies hat vermutlich mehrere Gründe: keine adäquate
Aus- bzw. Weiterbildung; fehlende Bereitschaft, die 50Minuten-Taktung des psychotherapeutischen Tagesablaufs durch mehrstündige Expositionen zu „stören“;
fehlende Finanzierung von An- und Abfahrtswegen des
Therapeuten durch die Krankenversicherung.
▶ Verhaltenstherapeutische Qualifikation. Ist denn für
die Durchführung von Expositionsübungen eine verhaltenstherapeutische Qualifikation erforderlich? Die Psychotherapie-Richtlinien erlauben Therapeuten aller drei
zugelassenen Richtungen, Techniken aus den jeweils anderen und weiteren psychotherapeutischen Schulen in
ihren Behandlungsplan einzubauen. Auch bezüglich der
Exposition darf also jeder Therapeut für sich entscheiden,
ob er sie auch verantwortlich (z. B. mithilfe eines detaillierten Therapeuten- und/oder Patientenmanuals) anbieten kann. Nur die Varianten der systematischen Desensibilisierung sind problemlos, da sie entweder wirken oder
wirkungslos bleiben, aber nicht schädigen. Das Exposition-Reaktions-Management sollte aber auf keinen Fall
ohne spezifische Weiterbildung eingesetzt werden.
Schon Freud und Ferenczi hatten übrigens bei ihren
Analysen mit Angst- oder Zwangspatienten relativ früh
im Behandlungsverlauf auf die Notwendigkeit von Selbstexpositionen nachdrücklich hingewiesen!
▶ Aspekte im Klinikbetrieb. Sollten psychodynamisch
orientierte Kliniken Verhaltenstherapeuten zur rein technischen Durchführung von Expositionen beschäftigen?
Ein qualifizierter Verhaltenstherapeut sollte sich dazu
nicht einstellen lassen, da er immer die Gesamtperson
mit all ihren Störungen und Problemen und nicht ein
Symptom behandelt.
29.3.3 Differenzielle Indikation
Merke
H
Die Hauptindikationsbereiche der Exposition sind Phobien,
Panikstörung, posttraumatische Belastungsstörung,
Zwangsstörungen, Essstörungen und – gelegentlich –
chronische Schmerzstörungen. Bei Depressionen, Suchterkrankungen und „Entzugssymptomatik“ werden die
Methoden heute seltener genutzt.
29
165
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Expositionstraining (Konfrontationstraining)
▶ Klassische systematische Desensibilisierung in sensu.
Diese Technik ist in der Verhaltenstherapie – vom Forschungsstand her gesehen – heute nicht mehr indiziert,
wenngleich sie immer noch häufig angewendet wird.
▶ Gestufte In-vivo-Exposition. Mit oder ohne Therapeuten, mit oder ohne Selbsthilfemanual, ist diese Technik in
der Verhaltenstherapie die häufigste Anwendungsform –
leider meist ohne Selbsthilfemanual und ohne Therapeutenbegleitung!
▶ Exposition-Reaktions-Management. Wann
immer
Ängste, Panikattacken oder andere intensive Emotionen
auftreten, sollten die betroffenen Patienten für eine der
Flooding-Varianten, möglichst Exposition-Reaktions-Management, motiviert werden. Nur wiederholte Erfolgserlebnisse in der Emotionsbewältigung schützen vor
Rückfällen, wenn später, was meist der Fall ist, erneut Panikattacken oder andere massiv belastende Emotionen
auftreten. Der entscheidende Wirkfaktor ist hier die Exposition zu den Reaktionen mit Reaktionsmanagement.
Bei der reinen Panikstörung gibt es ohnehin oft keine situativen Auslöser – im subjektiven Erleben kommt die Panikattacke dann „wie aus heiterem Himmel. Der Therapeut muss bezüglich der am meisten gefürchteten Symptome des Schwindels, Herzjagens und subjektiver Atemnot (oft durch Hyperventilation ausgelöst) Techniken für
eine interozeptive Exposition (Treppen steigen, Drehstuhl)
einsetzen.
29
166
▶ Intensität von Expositionssitzungen. Die wünschenswerte und die praktizierte Intensität von Expositionssitzungen vor allem bei Angst- und Zwangserkrankungen
werden auch unter Verhaltenstherapeuten unterschiedlich gesehen. Einige Arbeitsgruppen bevorzugen eindeutig eine initial intensive Vorgehensweise. Eine 3-mal wöchentliche, ganztägige Gruppenexposition bei Panikstörung mit Agoraphobie hat sich als äußerst wirksam erwiesen (z. B. Fiegenbaum 1988 [3], Hand et al. 1974 [6],
1986 [8]). Auch bei sozialer Phobie ist eine therapeutenbegleitete In-vivo-Exposition in der Gruppe besonders
wirksam, wenn sie zumindest wöchentlich mehrfach
durchgeführt wird. Bei sozialer Phobie ist dieses Vorgehen auch gut kombinierbar mit Gruppensitzungen in
der Praxis. In der Richtlinien-Verhaltenstherapie wird
diese Vorgehensweise kaum gewählt. In der Einzelpraxis
kommen diese Gruppen auch deshalb selten zur Anwendung, da es dort oftmals zu lange dauert, bis genug Patienten für eine symptomhomogene Gruppe zusammenkommen. Therapeutenbegleitete Sitzungen finden auch
bei Einzeltherapie allenfalls 1- bis 3-mal über 1- bis 3stündige Sitzungen innerhalb von 3 Wochen statt. Das
verlängert die Therapie für viele Patienten und macht sie
keineswegs angenehmer!
Bei allen Expositionsvarianten sollten zusätzlich möglichst 3-mal wöchentlich Selbstanwendungen (mit spezi-
fischem Selbsthilfemanual) durch den Patienten über 1 –
2 Stunden erfolgen, um langfristig stabile Therapieeffekte
zu sichern.
▶ Therapeutenmanuale. Inzwischen gibt es für die Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen etliche Therapeutenmanuale, wobei inhaltlich wenig Unterschiede
zwischen den Klassischen („Alten“) und den Neueren
(z. B. Lang et al. 2012 [13], Hoffmann u. Hofman 2008
[12]) bestehen. Auch in diesen Manualen wird die Rolle
der Therapeutenbegleitung unterschiedlich bewertet. Es
sollte immer bedacht werden, dass auch die Manuale,
trotz ihrer zum Teil sehr hohen Strukturiertheit, Raum
lassen müssen für individuelle Variationen: Achse-1- und
Achse-2-Diagnosen subsumieren in Bezug auf andere,
therapierelevante Variablen recht heterogene Patienten,
und Therapeuten mit der gleichen Ausbildung bleiben im
Interaktionsverhalten und in den therapeutischen Vorlieben unterschiedlich.
▶ Schwierige Indikationen. Umstritten ist die Indikation
für Exposition bei Patienten mit psychotischen Episoden
in der Vorgeschichte oder mit chronisch-rezidivierenden
Psychosen. Das zum Beispiel bei Schizophrenien oft indizierte Training der sozialen Kompetenz und das Angstbewältigungstraining (im psychosefreien Intervall) können aber in der Regel risikoarm durchgeführt werden,
wenn im Sinne der systematischen Desensibilisierung auf
geringe Emotionalisierung bei sorgfältiger Beachtung von
Frühwarnsymptomen geachtet wird.
Eine ethisch schwierige Entscheidungssituation stellt
sich, wenn Patientinnen und Patienten während der
Schwangerschaft oder nach einem Herzinfarkt aufgrund
einer schweren Angst- oder Panikstörung Hilfe wünschen. Könnten Flooding oder ERM-Sitzungen möglicherweise eine Frühgeburt oder einen Herzinfarkt auslösen?
Andererseits erleben diese Patienten aber ohnehin in ihrem Alltagsleben mehr oder weniger häufig Panikattacken, die ja dann das gleiche Risiko – so es denn gegeben ist – beinhalten! Die Entscheidung kann der Therapeut nur zusammen mit dem Patienten und dessen behandelndem Facharzt treffen.
▶ Graduierte Exposition mit Selbsthilfemanual. Eine
besondere, schulenübergreifende Indikation hat die graduierte Exposition mit einem Selbsthilfemanual für Agoraphobiker und deren Angehörige (Mathews et al. 2004
[17]). Für chronisch schwerer gestörte Agoraphobiker ist
sie oft akzeptabler und wirksamer als die therapeutenbegleitete Exposition bzw. Exposition-Reaktions-Management in der Gruppe (Hand et al. 1986 [8]). Diese Patienten schätzen die „Stressfreiheit“ und die volle Eigenkontrolle über die Übungen und Übungsziele. Sie wollen
mitunter nur lernen, sich an ihrem Wohnort wieder relativ angstfrei und ohne Hilfe Dritter bewegen zu können.
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29.4 Beschreibung des Vorgehens
▶ Entspannungs- oder Achtsamkeitstraining. Ein zusätzliches Training macht – zumindest für die Anwendung von Exposition-Reaktions-Management – keinen
Sinn. Nützlich kann es sein, wenn von der Gesamtkonstitution des Patienten eine Indikation vorliegt.
▶ Internetbasierte Verhaltenstherapiemodule. Neuere
Entwicklungen sind die internetbasierten Verhaltenstherapiemodule vor allem bei Angst- und Zwangsstörungen
mit Expositionsanleitungen. Oft beinhalten sie vorgeschaltete
psychopathologisch-verhaltensanalytische
Diagnostik und regelmäßige E-Mail- oder Telefonkontakte mit den anbietenden Therapeuten.
▶ Therapeutenbegleitete virtuelle Exposition. Die Methode wird seit einigen Jahren bei einigen Angststörungen eingesetzt. Dabei ist sorgfältig zu überprüfen, ob diese sowohl hinsichtlich der Effekte als auch der Wirtschaftlichkeit tatsächlich einer In-vivo-Exposition vorzuziehen sind.
29.4 Beschreibung des
Vorgehens
29.4.1 Schwerpunkte der Techniken
Hier wird vor allem das Vorgehen bei Exposition-Reaktions-Management dargestellt, da es am breitesten anwendbar ist, sehr flexibel gehandhabt werden kann und
– im Gegensatz zu Exposition mit Reaktionsverhinderung
– keine zusätzlichen Techniken, etwa aus dem Achtsamkeitstraining, benötigt.
ERM hat folgende mögliche Funktionen:
● Observation (Mikroanalyse des Symptomverhaltens im
Sinne diagnostischer Exposition)
● Extinktion bzw. Löschung (als Folge einer Habituation)
● Exploration (erweiterte biografische Analyse, einschließlich Bewusstwerdung von früheren traumatischen Erlebnissen, unter hoher emotionaler Erregung:
„Turboanalyse“)
● Modifikation (des eigenen Umganges mit den auftretenden Emotionen; diese können am Beginn als Angst auftreten, dann jedoch gerade bei Zwangskranken in Depression, Aggression oder Schuldgefühle umschlagen)
Die einzelnen Schritte bei ERM sind:
Induktion möglichst intensiver Emotionen, häufig initial
durch Exposition zu externen oder internen Reizsituationen, die dann zu entsprechenden emotional-physiologisch-kognitiven Reaktionen führen
● Konzentration auf das Hier-und-Jetzt: Unterbindung sowohl beruhigender als auch beunruhigender Antizipationen (oftmals in Therapeutenbegleitung lautes Verbalisieren der Selbstsprache des Patienten sinnvoll)
●
●
●
●
●
Patient in der Rolle des Beobachters und Protokollanten
seiner Umgebung und der eigenen Reaktionen (der inneren Realität und der äußeren Realität)
Motivation zur erweiterten Selbstexploration unter hoher emotionaler Erregung: dabei einerseits Erweiterung der bereits in der Verhaltensanalyse durchgeführten Mikroanalyse des Symptomverhaltens und andererseits Erweiterung der biografischen Analysen durch Bewusstwerdung bisher kognitiv nicht zugänglicher Erinnerungen
Als Resultat: Neubewertung von Situation und eigener
Reaktion. „Kognitive Umstrukturierung“ als Konsequenz
von – nicht als Voraussetzung für (!) – neuen emotionalen und physiologischen Erfahrungen unter protrahierter, emotionalisierter Exposition
Generalisierung des aus der Bewältigung der „Primärsymptomatik“ Erlernten auf andere negativ empfundene
Emotionen (s. o.) in multiplen Distresssituationen
Die Inhalte dieser Vorgehensweise wurden bereits in den
1970er-Jahren entwickelt (Hand et al. 1974 [6]) und haben Parallelen etwa zum Focusing nach Gendlin, zu dem
Emotionstraining in der DBT oder zu Achtsamkeitsübungen aus dem Buddhismus. Bei der Entwicklung wurde auf
keines dieser Verfahren Rückgriff genommen. Sie resultierte aus gemeinsamem Erfahrungslernen („common
sense“) von Patienten und Therapeuten!
Der extreme Gegenpol zum Exposition-Reaktions-Management ist im Sinne der systematischen Desensibilisierung die sehr graduierte, manualangeleitete In-vivoSelbstexposition beispielsweise bei Agoraphobie (z. B.
Mathews et al. 2004 [17], S. 6).
29.4.2 Exposition-ReaktionsManagement in vivo
Die Umsetzung dieser inhaltlichen Schritte wird am Beispiel der Blut-, Verletzungs-, Katastrophen-Phobie (BVKPhobie) als Exposition-Reaktions-Management in vivo
dargestellt (Details in Hand u. Schröder 1989 [7]).
▶ Symptomatik. Der Student der Medizin in der Vorklinik leidet seit etwa 15 Jahren unter einer BVK-Phobie.
Aus gesundheitlichen Gründen musste bei ihm jedes Jahr
mindestens eine Blutentnahme erfolgen. Nahezu immer
kam es dabei zu Ohnmachten – vor, während oder bis zu
5 Minuten nach der Blutentnahme. Die Beobachtung
einer Blutabnahme bei anderen hatte den gleichen Effekt.
Eine zweijährige Behandlung mit systematischer Desensibilisierung in sensu konnte bei nachfolgenden Blutentnahmen Ohnmachten nicht verhindern.
Der Patient wollte seinen Berufswunsch aber noch
nicht aufgeben. In der Kardiologie war deshalb bereits die
Implantation eines Herzschrittmachers erwogen worden.
29
167
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Expositionstraining (Konfrontationstraining)
A
RR/HF
180
8
160
7
140
6
120
5
100
4
80
3
60
2
40
1
20
Vortest
1. Sitzung
RR
RR
HF
A
A
5
10
15
20
25
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
Zeit (min)
Abb. 29.1 Verhalten von Angst (A), Blutdruck (RR) und Herzfrequenz (HF) bei Vortest und 1. Therapiesitzung (█: Dauer der
Blutentnahme).
29
168
▶ Vordiagnostik. Medizinische und psychiatrische Differenzialdiagnostik, biografische Analyse und Mikroanalyse
des Symptomverhaltens ergaben keine Kontraindikation
für den Versuch einer voraussichtlich distressreichen ersten ERM-in-vivo-Diagnostiksitzung.
und Blutdruck erheblich anstiegen, um dann plötzlich
und drastisch abzufallen (▶ Abb. 29.1, Vortest). Der Patient ergänzte noch, dass er in einer Art Traum das Auslöseerlebnis seiner BVK-Phobie im Alter von 7 Jahren
wiedererlebt habe!
▶ Diagnostische Exposition in vivo. Es wurde eine hausärztliche Praxis simuliert. Ein Arzt entnahm eine Blutprobe und verließ dann den Raum. Der Therapeut (der Autor)
war anwesend, ebenso eine Krankenschwester, die Blutdruck und Herzfrequenz in kurzen Abständen festhielt
und laut mitteilte. Der Patient verbalisierte in kurzen Abständen Angst-Selbstratings. Parallel dazu wurde ein EKG
abgeleitet.
Der Patient wurde kurz nach der Blutabnahme ohnmächtig, aschfahl, mit minimaler Atmung. Nach dem Aufwachen meinte er, es sei „wie immer“ gewesen. Im EKG
zeigte sich ein Herzstillstand von etwa 20 Sekunden
(▶ Abb. 29.2, EKG). Der Rat eines Kardiologen wurde eingeholt, der Patient informiert.
Die geplante nachfolgende therapeutische Blutentnahme wollte er weiter mitmachen. Die erneute Mikroanalyse des Symptomverhaltens ergab erstmals, dass der Patient
einen eigenen Beitrag zum Eintritt der Ohnmacht geleistet hatte: Anfangs habe er massiv versucht, gegen die erwartete Ohnmacht anzukämpfen. Dann sei sein Zustand
immer unerträglicher geworden. Er habe sich nur noch
nach dem Eintritt der Ohnmacht gesehnt, aus der Erfahrung, dass es ihm nach dem Wiederaufwachen wesentlich besser gehen würde. Es war nicht genau klärbar, wie
der Patient den physiologischen Umstieg (von Abwehrkampf zum „Totstellreflex“?) einleiten konnte. Die Angaben korrelierten aber damit, dass anfangs Herzfrequenz
▶ Therapiedurchführung. Der Patient wurde gebeten,
dem Therapeuten die Ereignisse um ihn herum, in seinem
Körper sowie seine emotionale und kognitive Befindlichkeit laut und fortlaufend zu schildern. Er sollte weder Beschwerden verharmlosen noch die Hoffnung äußern, dass
sie rasch zurückgehen würden. Insbesondere sollte er
sich keine Ohnmacht herbeiwünschen. Die erste Blutentnahme erfolgte in kleinen Schritten, mit Vor- und Nachbereitung über einen Zeitraum von insgesamt etwa einer
Stunde, wobei die eigentliche Blutentnahme sich über 5
Minuten erstreckte. In einer für Patient und Therapeut
äußerst anstrengenden Sitzung musste der Patient immer
wieder aufgefordert werden, entsprechend den Instruktionen vorzugehen, zu verbalisieren und in der Rolle des
Beobachters seiner selbst zu verbleiben und nicht in die
des Leidenden zu verfallen. So gelang es erstmals in
15 Jahren, eine Blutentnahme ohne Ohnmacht durchzuführen (▶ Abb. 29.1). Dem Patienten erschien das Ergebnis fast wie ein Wunder und bereitwilligst stimmte er
zu, wenige Tage später bis zu 5 Blutentnahmen hintereinander zu akzeptieren. ▶ Abb. 29.1 und ▶ Abb. 29.2 zeigen die Verläufe der Parameter Blutdruck (RR), Herzfrequenz (PM) und subjektives Angsterleben (A). In der
zweiten Therapiesitzung habituierte die Physiologie relativ rasch, während das Angsterleben und/oder die zugehörigen Kognitionen stark schwankend, etwas zeitverzögert abnahmen.
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29.5 Zu Beachtendes, mögliche Komplikationen
Abb. 29.2 EKG.
A RR/HF
180
8 160
2. Sitzung
1
3. Sitzung
2
3
4
5
Nachtest
1
2
5
5
RR
7 140
6 120
5 100
4
80
3
60
2
40
1
20
HF
A
5
10
15
20
25
5
10
5
10
5
5
10
5
10
Zeit (min)
Abb. 29.3 Verhalten von Angst (A), Blutdruck (RR) und Herzfrequenz (HF) bei 2. und 3. Therapiesitzung sowie Nachtest (█: Dauer der
Blutentnahme).
Die erreichte Stabilisierung blieb in den Nachuntersuchungen erhalten. Der ehemalige BVK-Patient ist jetzt
als Arzt tätig.
Diese Vorgehensweise kann auf alle mit starken Ängsten oder Panik einhergehenden Störungen – sowohl in vivo als auch in sensu – übertragen werden.
29.4.3 Exposition-ReaktionsManagement in sensu
Die In-sensu-Anwendung bei einer mit Todesängsten einhergehenden Phobie vor dem Verschlucken und Ersticken
und mit häufigen Pavor-nocturnus-Anfällen („Nachtschreck“) zeigte, wie unter hoher emotionaler Erregung
traumatisierende Erfahrungen aus der biografischen Entwicklung nach und nach durch Expositionen wieder bewusst und nachverarbeitet wurden. Die Patientin war bei
Therapieende völlig frei von den ursprünglichen Beschwerden. Zum Follow-up waren nach Angaben des
Ehemannes auch die vorher mehrfach wöchentlichen An-
fälle von Pavor nocturnus (als Indikator einer vorher in
der Amygdala tief verankerten Angstbereitschaft) fast
völlig verschwunden (detaillierte Beschreibung und Diskussion der Vorgehensweise einschließlich theoretischer
Überlegungen in Wieben u. Hand 2004 [18]).
Diese Vorgehensweise ist auch bei posttraumatischen
Belastungsstörungen sehr gut anwendbar (z. B. Foa et al.
2007 [5], Maerker 2009 [14]).
29.5 Zu Beachtendes, mögliche
Komplikationen
29
Die häufigsten Fehler bei der Umsetzung von Expositionsübungen sind:
▶ Unzureichende Erfassung der Gesamtproblematik.
Die Gesamtproblematik des Patienten einschließlich der
intrapsychischen und der interaktionellen (z. B. „sekundärer Krankheitsgewinn“) Funktionalitäten des Symp-
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Expositionstraining (Konfrontationstraining)
tomverhaltens werden unzureichend erfasst (Darstellung
der Komplikationen durch intrapsychische oder interaktionelle Funktionalitäten des Symptomverhaltens detailliert und mit Lösungsschritten an etlichen Fallbeispielen aus dem Bereich von Angst- und Zwangserkrankungen s. Hand 2008 [10]).
▶ Keine oder falsche Hierarchisierung von („komorbiden“) Symptomen und Problemen. Damit ist auch keine
begründete Ableitung einer Strategie des Gesamtbehandlungsplans möglich.
▶ Üben von Wegen ohne klares Ziel. Dies wird zur Quälerei und Zeitverschwendung, wenn initial unklar bleibt,
weshalb der Patient selbst das in der Exposition Mögliche
lernen möchte. Der Weg ist nicht das Ziel bei diesen Therapien!
▶ Reaktionen der Angehörigen. Kritische bis aggressive
Reaktionen Angehöriger bei rasch sehr erfolgreicher Exposition nach vorher chronischem Krankheitsverlauf. Unvorbereitete Angehörige, die ihr Leben vorher weitgehend
auf die Krankheit des Patienten ausrichten mussten, fühlen sich nachträglich missbraucht: „Wenn die Therapie so
leicht war, kann die Krankheit doch nicht so schwer gewesen sein“ (Beispiele in Hand 2008 [10]).
▶ Verschiedene Therapieziele. Vorschnelle Annahme des
Therapeuten, dass sein Patient die Therapieziele des Therapeuten auch für seine eigenen hält. Besonderes Risiko:
Der Therapeut stellt seine Erfolgsbilanz vor den Veränderungswunsch des Patienten.
▶ Reiz-(Stimulus-) ohne hinreichende Reaktionsexposition. Bei Agoraphobikern zum Beispiel die Vorgabe, UBahn-Fahrten beim ersten Mal über eine, dann drei und
dann immer mehr Stationen durchzuführen statt der Instruktion, so lange in einer U-Bahn zu bleiben, bis die
Angst ihren Kulminationspunkt erreicht hat und deutlich
wieder abgefallen ist. Steigt der Patient noch auf der Höhe
seiner Panik aus, tritt eine negative Verstärkung seiner
Phobie ein. Alleinige Stimulusexposition macht allenfalls
Sinn bei Phobien ohne Panikattacken.
29
▶ Kognitive Vermeidung bei alleiniger oder therapeutenbegleiteter Exposition. Auch bei Letzterer ist diese
häufig, sofern die Patienten auf hohem Angstniveau nicht
kontinuierlich ihre Selbstsprache dem Therapeuten gegenüber laut offenbaren.
▶ Heimliche Selbstmedikation (Tranquilizer oder Alkohol) am Beginn des Übungstages. Mit diesem emotionalen Vermeidungsverhalten werden Flooding- und ERMÜbungen blockiert. Eine vorgeschaltete Antidepressivamedikation kann aber sinnvoll sein, wenn vor Behandlungsbeginn eine starke Depression vorliegt, die adäquate
170
kognitive und motorische Aktivierung des Patienten für
die Übungen stark beeinträchtigt.
▶ Dramatisierung einer „Flucht“ des Patienten aus
einer Übungssituation durch den Therapeuten. Das fördert Versagensängste beim Patienten und stört erheblich
die Patient-Therapeut-Vertrauensbeziehung. Rigide Anwendung lerntheoretischer Prinzipien (hier strenger Hinweis, dass der Patient soeben seine Phobie verstärkt habe) ist bei gelegentlichem Auftreten solcher kurzen Meidungsmanöver destabilisierend. Eine verständnisvolle Reaktion mit Ermunterung, die gemiedene Situation vielleicht gleich wieder oder spätestens am nächsten Tage
aufzusuchen, ist in der Regel erfolgreich. Ein Festhalten
von Patienten in Übungssituationen gegen deren Willen
als absolut kontraindiziert (wurde früher leider in einer
bestimmten Einrichtung öfter praktiziert).
▶ Auftreten massiver Alpträume nach besonders erfolgreicher Exposition. Agoraphobiker berichten mitunter, dass sie nach solchen Übungen nachts träumen,
dass der Übungstag nochmals durchlebt wird, aber mit
einer Aneinanderreihung von Katastrophen. Der Therapeut kann hier durch entspannte Reaktion und Erläuterung der Zusammenhänge die Motivation wieder aufbauen, weitere Übungen gleich anschließend durchzuführen.
Die Patienten starten den nächsten Übungstag dann depressiv und voller Angst und sind wenige Stunden später,
nach erneutem Erfolgserlebnis, vor Freude geradezu hypomanisch. Auch Verhaltenstherapeuten sollten bei entsprechenden Patienten nach emotional intensiven Therapien also das Traumerleben der Patienten erfragen und
berücksichtigen.
Mitunter führt die nächtliche Nachverarbeitung sehr
emotionalisierter Expositionen auch zu einer Teilaktivierung des Gedächtnisses für frühere, belastende oder traumatische Erlebnisse: In einer unserer frühen Therapien
empfand eine Agoraphobikerin nach dem ersten Übungstag unter anderem in U-Bahnen (mit Steckenbleiben im
Tunnel!) am nächsten Morgen ein starkes Lähmungsgefühl in den Extremitäten. In der sofort erfolgenden
Nachbesprechung konnte sie zu weiteren Expositionen in
Therapeutenbegleitung motiviert werden, und als die UBahn erneut im Tunnel stecken blieb, konnte diese körperliche Erinnerung durch die kognitive ergänzt werden:
ein Verschüttungserlebnis im Zweiten Weltkrieg. Dieses
konnte dann durch Exposition-Reaktions-Management in
sensu adäquat nachverarbeitet werden, mit völligem Abklingen der agoraphobischen Reaktion in der U-Bahn in
der nachfolgenden In-vivo-Sitzung.
▶ Nicht wahrgenommener Therapiemisserfolg. Beim
Training der sozialen Kompetenz mit Exposition in vivo
kann pseudoassertives Verhalten antrainiert werden,
ohne dass parallel die Selbstsicherheit adäquat erhöht
wird. Dann lernt der weiterhin unsichere Patient nur,
| 25.07.13 - 10:58
29.5 Zu Beachtendes, mögliche Komplikationen
durch „Verhaltenstricks“ im Umgang mit anderen möglichst dominant zu bleiben, um sich zu schützen. Das
wirkt auf Gesprächspartner bald entweder abstoßend
oder weckt Aggressionen. Dieser völlige Therapiemisserfolg wird bei Therapieende oft weder vom Patienten
noch vom Therapeuten wahrgenommen.
Diese Fehlerquellen sind durch adäquate Vorbereitung
der Exposition weitgehend vermeidbar bzw. in der Nachbereitung zu korrigieren.
[8]
[9]
[10]
[11]
Literatur
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