Irmengard Jehle DIE PILGERFAHRT ALS RELIGIÖSES GRUNDBEDÜRFNIS „Was um Himmels willen hat mich eigentlich dazu getrieben, mich auf diese Pilgerreise zu begeben? Ich könnte jetzt zu Haus auf meinem Lieblingssofa liegen. Stattdessen beginnt hier und heute meine persönliche Pilgerreise auf dem Jakobsweg…“ Soweit der Entertainer und Kabarettist Hape Kerkeling zu Beginn seines 6-wöchigen Fußmarsches auf dem Camino nach Santiago de Compostella. Was bringt Menschen dazu, sich auf diesen weiten, strapaziösen Weg zu machen? - Ist es Abenteuerlust und Neugier nach dem Unbekannten? - der Wunsch, wenigstens zeitweise auszusteigen und alles hinter sich zu lassen? - Herausfinden, was mir gut tut? - einfach eine schöne Zeit haben? - historische Fakten und kunstgeschichtliches Interesse? - eine dingliche, materielle Vorstellung von Heiligkeit? - die Überzeugung, Gott an bestimmten Orten näher zu sein? - de Wunsch, sein ganz persönliches Verhältnis zu Gott zu klären – ohne institutionelle Vermittlung einer Kirche oder deren Vertreter? Was fasziniert die Menschen am Pilgern? Ist Pilgern typisch katholisch, muslimisch, hinduistisch oder buddhistisch? Ist es nicht eher etwas Pseudoreligiöses, wie bei den Scharen von Menschen, die zu den Gräbern von Elvis Presley oder Lady Di pilgern oder in die modernen Einkaufstempel oder Fußballstadien? Hat das überhaupt etwas mit Gott zu tun? „Nicht das ist lobenswert, in Jerusalem gewesen zu sein, sondern in Jerusalem auf rechte Weise gelebt zu haben. … Es herrscht ein solches Getümmel von Leuten beiderlei Geschlechts, dass du hier alles das ertragen musst, was du anderwärts wenigstens teilweise vermeiden konntest.“ So kritisierte Hieronymus schon vor 1.600 Jahren die Pilgerfahrt nach Jerusalem – nicht gerade eine Ermutigung. Ist der Rummel an diesen Orten, der Kitsch und Kommerz dem wahren Glauben nicht eher hinderlich? Warum halten dennoch praktisch alle Religionen an den Pilgerfahrten fest? Auch innerhalb der katholischen Kirche – die mit Abstand die meisten Pilger zu verzeichnen hat – gibt es Anfragen, ob diese Frömmigkeitsform nicht ein überholtes Relikt der Vergangenheit ist. Andererseits haben neue Praktiken innerhalb der Kirchen durchaus Ähnlichkeit mit den klassischen Pilgerfahrten: Kirchentage, Papstbesuche, Weltjugendtage. Während die Kirchen immer leerer werden und die Gemeinden über rückläufiges Engagement klagen, melden die großen und kleinen Pilgerorte weltweit Zuwachsraten; die Wallfahrtskirchen werden immer voller und der klassische Jakobusweg ist für manche buchstäblich schon fast zu überlaufen. Was bewirkt also diese Anziehungskraft, dieses neu erwachte Interesse am Pilgern? Die Grundmotive, sich auf eine Pilgerfahrt zu begeben, haben sich im Laufe der Geschichte kaum verändert, wenn sich auch die Gewichtungen teilweise verlagert haben: Der Wunsch nach lebenslanger Pilgerschaft ist heute eher selten, wenn auch noch nicht ganz ausgestorben. Die Pilgerzeit ist auf einige Tage, Wochen oder Monate beschränkt. Für den mittelalterlichen Pilger waren die Zeiten der Wallfahrt Festtage und Höhepunkte des Jahres, wenn nicht sogar seines Lebens. Im Folgenden sollen die wichtigsten Motive und Hintergründe heutiger Pilgerschaft dargestellt werden. Bei den einzelnen Beweggründen vermischen sich zumeist Religiöses und Pro- 1 fanes bzw. bedingen sich gegenseitig und sind im Rahmen eines ganzheitlichen Menschenbildes auch nicht voneinander zu trennen. RELIGIONSGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE Weltweite Praktiken zeigen, dass die “heilige Reise“ tief im religiösen Empfinden des Menschen verwurzelt ist – unabhängig von der Glaubensgemeinschaft. Unterwegssein aus religiösen Motiven ist ein Phänomen, das Juden, Christen, Muslime, Gläubige der asiatischen Religionen ebenso wie Anhänger von Naturreligionen verbindet. Wichtig ist dabei nicht so sehr das Ziel, ein „heiliger Ort“ oder die Verehrung Heiliger, sondern die Wegerfahrung als Ausdruck gläubiger Existenz. So entwickeln sich vielfältige Formen, die im engeren und weiteren Verständnis unter das Phänomen Pilgerfahrt / Wallfahrt eingeordnet werden können. Die Bandbreite reicht von den klassischen Pilgerzielen bis zu den politisch und ökologisch motivierten Wallfahrten oder Protestmärschen für Frieden und Gerechtigkeit oder gegen Missstände. Allen gemeinsam ist, Gott auf die Straßen zu tragen und von ihm her Leben und Umwelt zu gestalten; Wallfahrten waren und sind dabei immer ein Spiegel der Bedürfnisse und Nöte ihrer Zeit. Mit jährlich über 250 Millionen – mehr als die Hälfte Christen – gehören die Pilgerfahrten zu den größten Bewegungen von Menschen auf den Straßen dieser Welt. Das alle zwölf Jahre stattfindende hinduistische Pilgerfest Kumb Mela brachte es bereits 1989 zu einem Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde, als sich dort mehr als 15 Millionen Pilger am Ganges versammelten. Die ältesten Pilgerziele: Natur als Verweis auf göttliches Wirken Zu den ältesten heiligen Orten, die Menschen auf ihrer Suche nach Gott aufsuchen, gehören Naturheiligtümer: Berge mit Höhlen oder eigenartig geformte Felsen, Quellen, Flüsse oder Bäume. Beispielhaft ist der japanische Shintoismus: Es existieren ca. 80.000 Heiligtümer, die von den Gläubigen aufgesucht werden. Der Mensch tritt mit dem Göttlichen in Verbindung und trägt seine Wünsche und Bitten vor, begleitet von Ehrfurchtsbezeugungen. Von der ehrfürchtigen Haltung gegenüber den Traditionen und Heiligen erhoffen sich die Menschen Segen, Glück und Reichtum für ihr künftiges Leben. Berge sind in vielen Religionen Ziel von Pilgerfahrten. Eine religionsübergreifende Wallfahrt führt zum Heiligtum von Kataragama auf dem Gipfel des Adams Peak in Sri Lanka. In der Vertiefung des Felsens verehren Buddhisten den Fußabdruck Buddhas, für Hindu ist es der Ausgangspunkt der Schöpfung, als Shiva bei seinem Tanz den Fußabdruck hinterließ. Auch Muslime bringen den Berg mit der Schöpfung in Verbindung, denn an dieser Stelle betrat Adam die Erde; die Thomaschristen verehren den Abdruck als den des Apostels Thomas, der nach dem Tode Jesu in Südindien und Sri Lanka missionierte. Der Kailash im Himalaya ist Tibetern, Buddhisten, Hindu oder Animisten in gleicher Weise heilig wie den Chinesen ihre fünf mythischen Berge oder der von den Aborigines in Australien verehrte Ayers Rock. Quellen, Flüsse und Brunnen haben herausragende Bedeutung. Daher spielen an vielen Wallfahrtsorten Wasser und die damit verbundenen Rituale (zur Reinigung oder das Trinken des Wassers) eine bedeutende Rolle: der Jordan für Juden und Christen, das Trinken aus dem Zemzembrunnen auf dem Weg zur Kaaba von Mekka bis zum Bad im Wasser der Quelle von Lourdes oder das rituelle Bad im Ganges. In der Ganges-Stadt Varanasi (= Benares) stehen über 1.500 hinduistische Tempel. Es ist die Stadt Shivas und der heiligste Ort der Hindu. Die Gläubigen pilgern das ganze Jahr dorthin, um sich in rituellen Waschungen im Fluss zu reinigen. Der Blick auf den Ganges und vor allem das rituelle Bad verleihen dem Gläubigen 2 geistige Gesundheit, sühnen die Verfehlungen und führen ihn zum Erkennen der göttlichen Gesetze und zur Läuterung der Seele. Verbreitet ist weltweit bei Pilgern der Brauch, Wasser für die zu Hause gebliebenen, v. a. für die Kranken und Sterbenden mitzunehmen. Ziele hinduistischer Pilgerfahrten sind die Geburtsorte der Götter, wie Mathura, wo Ende August der Geburtstag Krishnas gefeiert wird, der menschliche Gestalt angenommen hat, um den Menschen den Weg aus Leid und Unwissenheit zu zeigen. Bei den Feierlichkeiten zeigt sich ein Grundelement jeder Pilgerfahrt: Geschichten und Legenden aus dem Leben der jeweiligen Gottheit oder Heiligen. Als Element lebendiger Frömmigkeit sind Wallfahrten immer auch Ausdruck ihrer jeweiligen Epoche, haben ihre Höhe- und Tiefpunkte und können sogar von Religionen übernommen, umgedeutet oder gemeinsam benutzt werden; auch die „Inhalte“ von Wallfahrtszentren können wechseln oder in ihrer Bedeutung zurücktreten. In Ephesus zeigt sich der Wandel deutlich: vom großen Tempel der „magna mater“, der zu den sieben Weltwundern zählte, der Wandel zum Wallfahrtsort für Maria, die gerade an diesem Ort im Jahr 431 den Ehrentitel „theotokos“, Gottesgebärerin erhielt. Die Verehrungsformen und Religionen wechseln, aber die Orte bleiben heilig. Über die Religionsgrenzen hinweg zeigt sich eine erstaunliche Ähnlichkeit der Opfergaben, die die Pilger mitbringen. Zahlreiche „ex voto“ (= Dankesgaben) an den Wallfahrtsorten zeugen davon, das Menschen dort Erhörung und Befreiung erlebt haben. Spenden werden zum Unterhalt des Pilgerortes und für soziale Projekte verwendet. Nach altem Pilgerbrauch zünden viele eine Kerze an als Zeichen ihres Gebets, das sich über die Pilgerfahrt hinaus fortsetzen soll, eine Art Übergangsritus und Brückenschlag von der Pilgerfahrt zum Lebensalltag. Als Opfer gelten in einigen Religionen auch die Beschwerlichkeiten auf der Pilgerfahrt, wie das „Ausmessen“ des Weges (oder Teile davon) mit der Körperlänge: die Pilger legen sich zur Buße oder als Zeichen der Demut und Verehrung bei jedem Schritt flach auf den Boden oder Erschweren sich den Weg durch die Mitnahme zusätzlicher Lasten. Bewusste Naturerfahrung Die Natur ist v. a. für die Fußpilger und der damit verbundenen Verlangsamung des Fortkommens nicht nur ein „Nebenschauplatz“, sondern wesentlicher Ausgangspunkt für Erfahrungen. Pilgerwege können zu ökologischen Lehr- und Lernpfaden werden, die ein Gespür für die Schönheit und Größe, aber auch die Zerbrechlichkeit und Gefährdung unserer Umwelt auslösen. Es entsteht ein neues Bewusstsein für die Erde als Lebensraum und als dem Menschen aufgetragene Schöpfung Gottes zur Bewahrung. In ihrer immer wieder neu aufbrechenden Lebenskraft macht die Natur Mut für eigene Hoffnung und mahnt zu Zivilcourage und zu Achtsamkeit und einem verträglichen Lebensstil. Es sind nicht die großen Wunder, die Pilger auf die Straßen treibt, sondern eher die kleinen am Wegrand, z. B. die Blume, die durch den Asphalt bricht, die symbolischen und tatsächlichen Steine, die unterwegs abgelegt werden können. Sie machen „Naturerfahrungen“ im ursprünglichen Sinn des Begriffs: „Natur“ kommt vom lateinischen „nasci“, was soviel bedeutet wie „neu geboren werden“. Der Pilgerweg als Bild des Lebensweges Menschliche Grunderfahrung erlebt das Leben als Weg zwischen Geburt und Tod: - in den täglichen, konkreten Wegstrecken; 3 - auf Irr- und Umwegen, mit Hindernissen, mit und ohne Wegweiser, Grenzen und Sackgassen; - in den Kreuzungspunkten des Lebens, den sog. „Lebenswenden“, wo Fragen aufkommen und Entscheidungen gefällt werden müssen; - im Glaubensweg als lebenslangem Lernprozess. Pilgern ist ein Sinnbild dafür, es ist also keine nostalgische Musealisierung mittelalterlicher Frömmigkeit, sondern Grunderfahrung menschlicher Existenz. Die großen Weltreligionen sind Wegreligionen und ihre Stifter oder bedeutenden Persönlichkeiten haben sich nicht aufsuchen lassen, sondern sind aufgebrochen zu den Menschen ihre Botschaft verkündet: Sie waren Menschen auf dem Weg: Abraham als Prototyp des Pilgers, Moses: der Exodus ist das identitätsstiftende Ereignis Israels, in dem sich Gott als mitgehender Gott erweist; die Bundeslade wird zum Symbol des wandernden Volkes, das im Lauf seiner Geschichte Gott an konkreten Orten erfährt. Dreimal jährlich ist der fromme Jude verpflichtet, in Erinnerung an den heilgeschichtlichen Weg Gottes mit seinem Volk, nach Jerusalem zum Haus des Herrn zu pilgern, wohin in der Endzeit auch alle Völker kommen werden. Jesus von Nazareth zog als Wanderprediger und Pilger durch Galiläa und immer wieder nach Jerusalem. Mohammed musste von Mekka nach Medina fliehen und Siddharta Gautama zog sieben Jahre als Bettelmönch umher, bevor er zum Buddha, zum Erleuchteten wurde. „Der Weg ist das Ziel“ – doch wer bricht auf ohne ein Ziel vor Augen, ohne die verschiedenen Zwischenziele? Weil eben das Ziel so wichtig ist, mobilisiert der Pilger immer wieder neu seine Kräfte und nimmt Mühen und Strapazen in Kauf. Ziel ist nicht nur das Konkrete, Irdische… Wenn Jesus sich selbst als Weg, Wahrheit und Leben (Joh 14,6) bezeichnet, vereinigt er damit grundlegende Bedürfnisse menschlicher Existenz in seiner Person. In Analogie zur Emmauserzählung wird deutlich, dass die Begegnung mit Gott nicht erst am Ende des Weges, sondern bereits unterwegs geschieht. In der mittelalterlichen Kunst fand das seinen Niederschlag, indem Jesus als Pilger mit Stab, Pellerine, Flasche, Hut und Muschel dargestellt wird. In der Nachfolge Jesu verstanden sich die ersten Christen als Anhänger des „neuen Weges“ (Apg 9,2 u. a.), die den „Weg des Heils“ (Apg 16,7) verkünden und zu leben zu versuchten; deren Erfahrung kann nur verstehen, wer sich selbst auf den Weg macht und eigene Erfahrungen sammelt. Im Islam gehört die Pilgerfahrt nach Mekka, der Geburtsstadt des Propheten Mohammed und dem Ort der Offenbarung des Koran, zum wesentlichen und unverzichtbaren Grundelement. Die Haddsch, die große Pilgerfahrt, hat die Würde, die dem Sakrament im Christentum entspricht. Mit der Pilgerfahrt bekennt der Muslim sich zu Allah, dem einzigen Gott, den er um Vergebung seiner Sünden anfleht; wie in Vorwegnahme des Jüngsten Tages stellt sich der Pilger vor Gott und legt Rechenschaft über sein Leben ab. Geographisches Ziel der Pilgerfahrt ist die Kaaba mit dem schwarzen Stein, dem heiligsten „Betplatz, wo Abraham stand“ (Sure 2,126), und die für Muslime den Mittelpunkt der Welt bedeutet. Nicht die Kaaba als Gebäude wird verehrt, sondern die Verehrung gilt der Anbetung Allahs, dessen Gegenwart die Kaaba verkörpert. Indem der Pilger den Stein küsst, handelt er wie einst der Prophet Mohammed und empfängt so über die Zeiten hinweg symbolisch den Bruderkuss des Propheten. Anders als im Christentum werden in Hinduismus und Buddhismus in den zahlreichen Glaubensrichtungen kaum Reliquien verehrt, da die materielle Welt kaum eine Rolle spielt. Wichtig im Leben eines gläubigen Hindu sind alljährliche Pilgerreisen zu lokalen und 4 überregionalen Heiligtümern, von denen er sich innere Reinigung und religiöse Erfahrungen erhofft, hinein in die selbstlose Hingabe und die verinnerlichte Betrachtung der Gottheit. Viele heilige Orte werden von Hindu und Buddhisten gemeinsam ausgesucht. Buddha ermahnt seine Anhänger – ähnlich wie Mohammed –, sich nicht mit der Verehrung seiner Reliquien aufzuhalten. Dennoch gestattete er kurz vor seinem Tod vier Gedenkorte, die zu Pilgerorten wurden: die Orte seiner Geburt und Jugendzeit (Kapilavastu), seiner Erleuchtung (Bodh-Gaya), seiner Predigt (Sarnath) und seines Todes (Kushinara). DIE WICHTIGSTEN MOTIVE DER PILGERFAHRT Lebenserfahrung als Wegerfahrung – Unterwegssein auf ein Ziel hin Der französische Schriftsteller und Philosoph Gabriel Marcel bezeichnete den Menschen als „homo viator“, das bedeutet, sich auf den Weg machen ist eine Urerfahrung des Menschen. Und das zweite vatikanische Konzil hat den alttestamentlichen Begriff vom „Volk Gottes auf dem Weg“ wieder ins Zentrum seines Kirchenverständnisses gerückt. Die Religionen wollen den Menschen den „rechten“ Weg auf ihrer Lebensreise zeigen. Shinto ist der Weg der Götter, Buddha zeigt den achtgliedrigen Pfad zur Befreiung von Leid; das chinesischen „dao“ ist der Erlösungsweg zur Einheit mit sich selbst und dem Kosmos, vergleichbar dem hindusitischen „darma“. Viele Religionen kennen die Lehre der „zwei Wege“ zur Vollendung oder ins absolute Verderben. Stellvertretend sei hier Jesu eindringliche Warnung am Ende der Bergpredigt genannt. Sich auf den Weg machen ist der Auftrag Jesu, nicht nur an die ersten Jünger, sondern an jeden einzelnen Christen; alle sind immer wieder neu „in statu viatoris“ – „in den Pilgerstand“ gerufen. „Der Pilgerweg ist Symbol für lebenslanges Suchen der Menschen nach einem Lebensziel“ (Carmen Rohrbach). Seit der Kritik Martin Luthers und der Reformatoren kam das Pilgerwesen im Protestantismus zum Erliegen, Pilgern wurde zum katholischen Charakteristikum. Martin Luther sagte nicht, „dass Wallfahren böse sei, sondern dass sie zu dieser Zeit übel geraten, denn zu Rom sehen sie keine guten Exempel, sondern ein Ärgernis.“ Der Reformator kritisierte zunächst nicht die Wallfahrt als solche, sondern die zeitgenössische Praxis mit all ihren Auswüchsen wie sittlichen Gefährdungen, Geschäftemacherei, überzogenen Verehrungsformen, die nicht mehr auf Gott ausgerichtet wahren, sondern einer Götzenanbetung gleichkamen, ebenso wie dubiose Heiligen- oder Reliquienverehrung. Die Pilgerfahrt war darin für ihn ein schädliches Unternehmen, weil sie die Gebote Gottes missachtet, die Pilger finanziell ausbeutet während zu Hause die Familie hungerte und in die Armut abglitt. Er setzte dagegen die geistliche Pilgerfahrt, die im Lesen der Heiligen Schrift bestand und daraus ein Gott gemäßes Leben ableitete. Das Leben in seiner Gesamtheit wird so für ihn zur Pilgerfahrt wie sie Jesus einfordert: der Mensch im Geist und in der Wahrheit unterwegs zu Gott. Dennoch der ungebrochene Strom von Pilgern durch die Zeiten hindurch! Gerade von Santiagopilgern ist immer wieder zu hören: „Der Weg ist das Ziel.“ Der Weg ist wichtig und so wurden an den großen Pilgerwegen schon immer Kapellen und Kirchen aufgesucht und dafür sogar Umwege in Kauf genommen. Mittelalterliche Pilger wussten meist nicht einmal genau um ihren Weg, dennoch gingen sie los – der aufgehenden oder untergehenden Sonne nach, aber immer im Wissen um das angestrebte Ziel. Dagegen steht der Tourist: „Tourist“ kommt von „tour“, d. h. eigentlich Runde, also Weg ohne Ziel. Das Ziel bestimmt den Weg, doch der Weg selbst darf als Herausforderung nicht ignoriert werden und dieser Weg hat eine doppelte Ausrichtung: horizontal den konkreten Weg der 5 körperlichen Erfahrung, allein oder in Gemeinschaft, in Konfrontation mit Natur und Umwelt. In vertikaler Richtung bedeutet dieser Weg die Suche des Menschen nach dem „Mehr“, nach Transzendenz und nach Gott. Der geographische und der innerlich zurückgelegte Weg bedingen und ergänzen sich gegenseitig, der geographische zum „spirituellen“. Der große Theologe Thomas von Aquin fand durch Nachdenken „fünf Wege zu Gott“; wenn Menschen aufbrechen, können sie spüren, dass viele Wege zu Gott führen. Nicht jeder bricht schon als Pilger auf: Wandern – Trecking – Pilgern – für manchen, und nicht nur für Gläubige, werden diese Worte im Verlauf des Weges zu Synonymen. Manch einer beginnt als interessierter Tourist und wird unterwegs zum Pilger; nicht im Schnellverfahren, sondern unterwegs als Wachstumsprozess und Einübung. So entscheidend der Weg ist, darf das Ziel nicht aus den Augen verloren werden: konkret der Pilgerort, übertragen der Pilger selbst und Gott. Anders als für die Fußpilger ist das Ziel für diejenigen, die ohne Wegerfahrung und entsprechende Einstimmung mit modernen Verkehrsmitteln kommen, der Zielort der Höhepunkt der Wallfahrt. Für Fußpilger löst der Zielort eher doppeldeutige Emotionen aus: neben der Freude über das Ende des absolvierten Weges, das Durchhalten und die Weggemeinschaft mischt sich Wehmut über das Ende der gemeinsamen Zeit. Dazu wird er nach der Besinnlichkeit und Ruhe mit dem Trubel, den Menschenmengen und leider auch dem Kommerz am Wallfahrtsort konfrontiert. Die Weggemeinschaft setzt sich nicht einfach fort, es entsteht eine neue, die sich erst aufbauen und im gemeinsamen Glaubensvollzug erfahren muss. Gesucht werden individuelle Formen der Frömmigkeit und Spiritualität. Pilgerwege und – ziele sind eine Antwort auf die Sehnsucht nach neuen Formen einer verleiblichten Spiritualität, die Erfahrungen ermöglichen, d. h. reflektierte Eindrücke, die es lohnt weiterzugeben. Der klassischen Pilgervorstellung entspricht es, den Weg zu Fuß zurückzulegen, was auch die steigende Beliebtheit der Fußwallfahrten unterstreicht. Anders als früher ist die Zeit dafür heute meist eher begrenzt, auf Tage oder Wochen zusammengeschmolzen. Es ist kein Problem mehr, in relativ kurzer Zeit alle Punkte dieser Welt zu erreichen. Dagegen setzt das Gehen zu Fuß neue Maßstäbe: Gegen die schier unbegrenzte technische Beschleunigung stellt es die Langsamkeit und damit die intensivere Wahrnehmung der Welt – mit jedem Schritt. Der Mensch erlebt dabei durch die Beanspruchung seines Körpers sich selbst neu: in seiner Belastbarkeit ebenso wie in seinen Beschränkungen. Die härteste Wegstrecke auf dem Jakobusweg ist die Meseta, die durch ihre Monotonie und Länge den Pilger physisch und psychisch an seine Grenzen bringt. Aber gerade diese Wegstrecke wird im Nachhinein von vielen als eine der wichtigsten Etappen geschildert. Im Vergleich dazu wurden die Städte am Weg trotz der Annehmlichkeiten von einem großen Teil der Pilger eher negativ empfunden, mit ihrer Lautstärke, den Ablenkungen, Menschenmengen und als besonders störend empfundenen Unterhaltungs- und Konsumangeboten. Die Konfrontation mit sich selbst bringt die Chance, sein Leben nicht als unabwendbares Schicksal hinzunehmen, sondern die Gegenwart zur Einleitung von Veränderungen zu nutzen. „Peregrinatio“ – „Pilgerfahrt“ bedeutet im ursprünglichen Sinn nichts anderes als „fremd sein“ – so wie sich der Pilger unterwegs als Fremder erlebt – immer wieder neu und anders. Wallfahrt ist „Beten mit den Füßen“: der Pilger bleibt – spürbar über seinen Körper – im Hier und Jetzt und übersteigt / „transzendiert“ es zugleich; er erlebt sich ganzheitlich, Körper und Geist durchdringen und befruchten sich gegenseitig. Gegen die gewohnten technisierten und virtuellen Kunstwelten stehen die authentischen Naturerfahrungen und ein Gespür für die Welt als Schöpfung Gottes, die den Menschen als Gabe und Aufgabe übergeben ist. 6 Große Gestalten der Religionsgeschichten wie Buddha, Philo von Alexandrien oder aus der christlichen Tradition der Mönchsvater Benedikt, Hildegard von Bingen, Nikolaus von Kues oder in neuerer Zeit Dag Hammarskjöld haben gezeigt: ihr Weg führt über die Erfahrung Gottes zum Menschen. Die Faszination des Ortes Kann ich in Rom oder Jerusalem Gott näher sein als zu Hause? Erhört er in Santiago Gebete eher als anderswo? Ein wohl eher magisches Gottesbild! Grundsätzlich kann jeder Ort zum „heiligen“ werden, doch nicht der Mensch bestimmt darüber; die Gottheit weist den Ort aus. Typisch für die Entstehung eines heiligen Ortes, der zum Pilgerziel wird ist die Jakobserzählung (Gen 28,10-22): Gott erscheint dem Jakob und er erfährt die Hilfe Gottes, bzw. eine Verheißung; er baut einen Altar zur Erinnerung und gibt dem Ort einen Namen (Bet-el); der Ort wird zum religiösen Zentrum mit eigenem Kult, durch den das Initialereignis über die Generationen hinweg weiter getragen wird. Ein solcher Ort wird im Erleben gleichsam zum Berührungspunkt von Himmel und Erde. In seiner heiligen Geschichte kommt die heilige Geschichte des ganzen Glaubens einer Gemeinschaft zum Ausdruck und bestätigt sie in ihrer Konkretisierung und Verdichtung. Ein solches Reden von bestimmten Räumen in Bezug auf Gott kann auch Unsicherheit auslösen und theologische Anfragen. Steht nicht jeder Raum ebenso wie die Zeit ganz unter Gottes Herrschaft? Alles ist aus Gott hervorgegangen und es gibt keinen Ort, an dem man ihn nicht begegnen könnte; die ganze Welt als seine Schöpfung ist Tempel seiner Gegenwart. So der wohl bekannteste und trotz seiner Krankheit aktivste Pilger unserer Zeit, Papst Johannes Paul II. im Jahr 1999. Kein Ort ist von sich aus mehr verehrungswürdig und nirgends lässt sich über göttliche Kräfte verfügen. Die Gefahr, in abergläubische oder esoterische Praktiken ist sicher vorhanden, wie leider die Geschichte zeigt. Probleme entstehen immer dann, wenn Pilger von Gott die Erfüllung ihrer Wünsche erwarten. Was ist, wenn die erwartete Gebetserhörung ausbleibt? Hier kann man wohl nur mit Martin Luther antworten: „Hat aber jemand ein Gelübde getan, zu Sankt Jacob zu reisen, … der lass es hinfahren. Es ist ein Gelübde wider deiner Seligkeit … und kindische, närrische Werke als Wallfahren … da kein Gebot Gottes davon ist“ (Apologie XII). Gott lässt sich sicher nicht auf bestimmte Orte festlegen. Seine Gegenwart ist in Rom, Jerusalem, Santiago oder an den zahlreichen Marienwallfahrtsorten nicht stärker als anderswo. Dennoch werden nahezu selbstverständlich Orte als „heilig“ bezeichnet. Was macht sie dazu? Worin liegt ihre besondere Faszination: Es zieht sich der religiöse Grundgedanke durch die verschiedenen Religionen, dass Gott an bestimmten Orten den Menschen näher ist – näher nicht, weil Gott ein anderer wäre, sondern weil der Mensch dort eine besondere Bereitschaft zeigt, sich auf die Begegnung mit dem Göttlichen hin zu öffnen, frei von den Belastungen und der Routine des Alltags. Es sind besonders Orte, an denen Menschen schon vorher Erfahrungen mit Gott gemacht haben, wie Orte des Lebens und Leidens Jesu und seiner Zeugen im Christentum, an den Wirkstätten des Propheten im Islam oder Buddhas im Buddhismus oder an Heiligengräbern oder Aufbewahrungsorten wichtiger Reliquien. Menschen können dort erfahren, aus welchen Quellen Gläubige vor ihnen geschöpft haben. Dazu braucht der Pilger keine neuen Wege suchen, er kann sich in die „ausgetretenen“ Spuren der Pilger vor und mit ihm einreihen und so selbst den Weg lebendig halten, denn Wege entstehen nicht von selbst, sondern sie werden durch das Gehen und Weitergeben bekannt. Pilgerorte gleichen so einer Spurensuche von der Vergangenheit in die Gegenwart – nicht nur in den großen Monumenten und Zeugnissen vergangener Zeiten, sondern in die Weitergabe der Glaubensgeschichte. 7 Mittelalterliche Pilger machten sich auf den Weg im Wissen um ihre Sündhaftigkeit und Heilsbedürftigkeit. Sie brauchten jemanden im Himmel, der aber gleichzeitig mit den irdischen Problemen vertraut war und sich ihrer Anliegen schon zu Lebzeiten annimmt. Dem entsprach Jakobus, dem Jesus schon auf Erden nahe stand. Auch für den modernen Menschen haben Heilige eine Bedeutung. Wenn auch für den heutigen Jakobuspilger wohl eher das Pilgererlebnis als der konkrete Jakobus im Zentrum steht. Die Begeisterung für den Jakobusweg wächst seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ständig; wie im Mittelalter zieht sich wieder ein Netz von Wegen quer durch Europa, um sich in Frankreich und Spanien zu einem einzigen Strom nach Gallizien zu vereinigen. Seit Jahrhunderten ist der Sternenweg ein europäisches Phänomen mit großer kultureller Bedeutung und gewaltiger Infrastruktur und einem intensiven kulturellen und religiösem Austausch, der Goethe zu dem Ausspruch veranlasst: „Pilgern hat ein europäisches Bewusstsein geschaffen.“ Christlichabendländischer Geschichte verbindet sich mit dem Erleben von Natur als Schöpfung an historisch, religiös und kirchlich bedeutsamen Orten. Eine besondere Faszination und Anziehungskraft geht von den Gräbern bedeutender Persönlichkeiten aus. Die Verehrung Heiliger und ihrer Gräber gehört zum Grundbestand christlicher Frömmigkeit, ohne dass es eine Pflicht oder Heilsnotwendigkeit zur Heiligen- oder Reliquienverehrung gibt. Man besuchte von jeher aus Pietät die Gräber der Märtyrer am Jahrestag ihres Todes und gedachte ihrer Taten. Das Grab hatte keine magische Funktion, sondern galt als Schnittstelle zwischen dem irdischen Leib und der unsterblichen Seele, die zur „Wolke der Zeugen“ (Hebr 12,1) aufgestiegen war. Die Gläubigen hofften, am Grab Anteil an der Wirkkraft des Heiligen und seiner Glaubensstärke zu erlangen. Die Geschichten werden von Generation zu Generation bewahrt und weitererzählt. Obwohl der Islam keine offizielle Verehrung von Heiligengräbern – mit Ausnahme des Grabes des Propheten Mohammed in Medina – kennt, ist die Wallfahrt zu Heiligengräbern v. a. in Nordafrika und Indien weitverbreitet und Grundbestand der Volksfrömmigkeit. Aufgesucht werden die Gräber bedeutender Scheichs, Gelehrter, Friedensstifter, Religionsführer und von Menschen, die aufgrund ihres heiligmäßigen Lebens bekannt geworden waren. Familien vor Ort, die das jeweilige Grab betreuen, bewahren ihre Lebensgeschichten und erzählen sie ebenso weiter wie die Wunder und Legenden, die mit dem Heiligen und seinem Grab in Zusammenhang stehen. Die Gräberwallfahrten sind keine Konkurrenz zur offiziellen, vom Koran vorgeschriebenen, Pilgerfahrt nach Mekka. Sie werden zusätzlich, vor allem im regionalen Raum absolviert, um die alltäglichen Sorgen und Nöte vorzubringen und Rat zu finden in der Nähe eines Menschen, der sein Leben nach den Lehren des Islam ausgerichtet und darin vollendet hat. Bei der großen Pilgerfahrt nach Mekka besuchen die meisten Pilger vor der endgültigen Rückkehr in die Heimat die Gräber des Propheten und Religionsstifters Mohammed und seiner ersten Gefährten Abu Bakr und Umar. Der Hof der Moschee, ein Ort des Gebets, wo keine Waffen getragen werden dürfen, wird auch als Zufluchtsort für Obdachlose genutzt. Damit vereinen sich die beiden wichtigsten Aspekte islamischer Frömmigkeit: die Verehrung Gottes und die Barmherzigkeit in seinem Namen – die soziale Dimension, die jede Pilgerfahrt mitprägen soll. Auch im Buddhismus genießen Orte mit sterblichen Überresten wie Haaren oder Knochensplittern des historischen Buddha eine intensive Verehrung: Aufbewahrungsorte der Asche Buddhas, die der Überlieferung nach unter acht indischen adeligen Familien verteilt worden war. Auch falsche Reliquien, wie der Eckzahn Buddhas in Kandy auf Sri Lanka sind Ziel von Wallfahrten. Im tibetischen Buddhismus, dem Lamaismus wird die Asche von Heiligen und verstorbenen Lamas verehrt. Prozessionen und das Berühren der Reliquien 8 sollen dem Land und seinen Bewohnern Glück bringen und gleichzeitig an die Lehren Buddhas erinnern. Sehnsucht: „Es muss im Leben mehr als Alles geben…“ Die Wallfahrt z. B. zum Marienwallfahrtsort Lourdes ist eine Praxis der katholischen Kirche, die der evangelischen traditionell eher fremd ist. Dennoch: Der Rummel steht am Rande des Geschehens und extreme überzogene und verabsolutierte Marienverehrung mancher stoßen wohl ab, doch das, was Lourdes wirklich ausmacht, ist die Hoffnung – Hoffnung als Lebensquelle, Hoffnung auf Gesundung v. a. im geistig-geistlichen Sinn. Lourdes mit seinen Kranken ist dabei eine grundsätzliche Anfrage an jeden, eine Infragestellung, was wirklich im Leben zählt. Maria zeigt sich hier als die menschlich zugängliche Seite Gottes, die gerade im Blick auf die vielfältigen Leiden Zeugnis von ihm ablegt: sie steht unter dem Kreuz, weist auf es hin und gleichzeitig darüber hinaus. Wer von Maria redet, spricht davon, dass der unsichtbare Gott eingetreten ist in die Begrenztheit und Sichtbarkeit des menschlichen Lebens. Wir suchen Orte, die in uns Gefühle wecken, zu denen wir zu Hause keinen Zugang haben. Augustinus beschreibt diese Sehnsucht folgendermaßen: „Im Menschen lebt die Sehnsucht, die ihn hinaustreibt aus dem Einerlei des Alltags und aus der Enge der gewohnten Umgebung. Immer lockt ihn das andere, das Fremde. Doch alles Neue, das er unterwegs sieht und erlebt, kann ihn niemals ganz erfüllen. Seine Sehnsucht ist größer. Im Grunde seines Herzens sucht er ruhelos den ganz Anderen, und alle Wege, zu denen der Mensch aufbricht, zeigen ihm an, dass ein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg zu Gott.“ Der Pilgerweg wird für ihn zum Bild des ganzen Lebens, eines Weges, der ein ganz klares Ziel hat: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Gott.“ Heute gilt es, sich Wünsche und Sehnsüchte in kürzester Zeit und mit möglichst wenig Aufwand materiell zu erfüllen. Doch die Sehnsucht nach dem „Mehr“ kommt nicht zum Stillstand und wird immer neu geweckt, wie es Wilhelm Busch in seiner speziellen Art ausdrückt: „Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.“ Doch wie schon Augustinus sagt, ist Sehnsucht mehr, eine Grundbewegung des Herzens, die nach Dauerhaftem sucht. Diese Sehnsucht ist ein Grundmotiv der Pilgerschaft, der Wunsch, sich aus der Enge des Alltags zu lösen. Der Pilger will Gott – wer auch immer das für ihn ist – den nötigen Raum dafür schaffen. Es ist im letzten das, was die Mystiker des Mittelalters mit der „Gottgeburt in sich“ suchten. Der Sinn von religiösen Vollzugsformen liegt nicht darin, seine Sorgen und Probleme von sich weg auf Gott oder eine höhere Macht abzuwälzen und durch Wallfahrten oder Opfer seinen Beitrag gleichsam als Gegenleistung zu erbringen. Das gehört einer hoffentlich überwundenen Vergangenheit an. Menschen suchen heute verstärkt nach Formen spirituellen Erlebens, die ihnen helfen, den Alltag zu bewältigen, heilend und befreit zu leben und ihrem Leben einen Sinn und ein Ziel aufzuzeigen. Menschen, die sich auf eine Pilgerfahrt begeben, haben nicht nur ihren Rucksack als Gepäck dabei, sondern auch ihr „Lebensgepäck“ – ihre Stärken und Schwächen, Fehler, Verletzungen und Grenzen, Hoffnungen und Fragen. Im Unterwegssein ist Zeit, Fragen und Zweifel zuzulassen, Bilanz zu ziehen. An sog. „Lebenswenden“ wie Schulabschluss, bei Berufs- oder Partnerwahl, Neuanfang im beruflichen und privaten Bereich, Eintritt in den Ruhestand, kann die vorherige Auszeit einer Wallfahrt helfen, mit einer neuen inneren Freiheit zu leben und die Zukunft aktiv in Angriff zu nehmen. Auch schwierige Lebenssituationen wie Krankheit, Tod, Trennung, Arbeitslosigkeit, Angst vor der Zukunft, sind Grund, auf Pilgerfahrt zu gehen. 9 Angestammtes und Gewohntes vermag nicht mehr zu tragen, die Betroffenen sind auf „Lösungen“ und Zuspruch von Außen angewiesen. Die Pilgerfahrt wird zum Gang durch meine persönlichen Erlebniswelten, wenn sie auch nicht automatisch alle Ratlosigkeiten und Ungereimtheiten löst. Der mittelalterliche Pilger sah seine Pilgerfahrt als Neugeburt und bringt das auch in der Zahlensymbolik zum Ausdruck: Eine Pilgerfahrt nach Santiago dauerte neun Monate: vier Monate Hinweg, ein Monat Aufenthalt in Santiago und vier Monate für die Heimreise – neun Monate der Pilgerreise zur Geburt des neuen Menschen. Pilgern ist immer ein Angebot, ein Aufruf, die Vergangenheit zu überdenken und dabei die Zukunft zu gestalten – es ist eine Einladung, das Geheimnis Gottes und seine Gegenwart in der Geschichte der Menschen zu erspüren. Suche nach zeitübergreifender Einheit und Frieden Wir würden auf den Pilgerreisen gerne das Bild einer geeinten Christenheit und der versöhnten Religionen entdecken, doch gerade an den großen Pilgerorten wie Rom oder im Heiligen Land spüren wir den Mangel an Versöhnung und Einheit besonders. Dort in Jerusalem, wo Jesus gelitten hat, gestorben und auferstanden ist keine versöhnte Verschiedenheit, sondern Kriegsgeschehen und Zerstörung, Streit um die heiligen Stätten, wie z. B. die Eskalationen am Tempelberg zeigen. Auch an den anderen Gedenkorten: keine apostolische Einfachheit, sondern eine Anhäufung mehr oder weniger geschmackvoller Gebäude und strikte Regeln. Auch die Historizität erscheint mangelhaft: die Via Dolorosa in Jerusalem ist als Kreuzweg Jesu äußerst unwahrscheinlich und dennoch ziehen seit Jahrhunderten Pilger diesen Weg. Für zahlreiche Pilger ist das Grab des Jakobus „am Ende der Welt“ ihr Ziel, wenn auch die historisch-kritische Forschung vieles in den Bereich der Legende verweist. Die historischkritische Sichtweise ist die eine Seite; doch es bleibt die Tatsache, dass die Jakobuslegenden mehr Einfluss auf die Menschen hatten und haben als die verbürgte Geschichte. Für Legenden erhält der Begriff „Wahrheit“ eine andere Bedeutung. Legenden enthalten, was der gläubige Mensch im Vertrauen wahrnimmt und weitergeben will, gelebte menschliche Geschichte. Die einen motivieren sie zum Handeln, andere lassen sie ihr Schicksal ertragen und wieder andere finden darin die notwendige Hoffnung für ihr Weiterleben. Vor dem Gnadenbild von Mariazell oder den Schwarzen Madonnen von Tschenstochau und Altötting, der Grotte von Lourdes, dem Grab des Jakobus oder auf der Via Dolorosa in Jerusalem zählt nicht die historisch-archäologische Gewissheit, sondern einzig und allein die Andacht und die Gebete. Pilger von heute reihen sich mit den unzähligen Menschen vor und nach ihnen ein, sie spüren das Mysterium, das sie auf Gott verweist. Die Mauern der Pilgerorte haben über Jahrhunderte die Gebete der Pilger gleichsam aufgesogen und jeder Pilger lebt an diesen Orten in einer langen Tradition und gliedert sich dort in die Zeitübergreifende Glaubensgemeinschaft ein. In der Grabeskirche zeigt sich unübersehbar die fehlende Einheit und Zerrissenheit der christlichen Kirche. Die Konfessionen feiern neben, teils sogar gegeneinander die Erinnerung an die Heilsereignisse. Es gibt keinen anderen Ort auf der Erde, der so heilig ist und dennoch soviel Streit und Uneinigkeit aufweist. Dennoch – auch, oder gerade dort lässt sich Gott entdecken. Trotz seiner Gespaltenheit und fehlenden Einheit weist Jerusalem auf seine endgültige Bestimmung als Ort der Versöhnung und Begegnung. Jerusalem ist die Stadt der Verheißung und Symbol für die künftige Stadt Gottes (Offb 21,9-22,5), die damit der Verfügbarkeit durch Menschen entzogen ist. 10 Heilige Stätten sind heilig für verschiedene Religionen, nebeneinander und nacheinander. Jerusalem ist Juden, Christen und Muslimen in gleicher Weise verehrungswürdig. Auch die Muslime verehren Jerusalem mit dem Felsendom, wo einst der Tempel Salomos stand. Juden, Christen und Muslime sehen sich als Nachkommen Abrahams und verehren die Stadt als heilig. Muslime nennen Jerusalem noch heute Al-Quds, die Heilige, oder Masdschid alHaram, die Stadt, in der sich der heilige Tempel befindet. Ob es jemals Frieden für Jerusalem geben wird, wird sich am Tempelberg entscheiden. Dass ein gemeinsames Heiligtum möglich ist, dafür gibt es Anzeichen: Jerusalem fungiert als sog. „Simultanheiligtum“, was z. B.am Ölberg deutlich wird: in der Himmelfahrtskapelle, die seit 1187 im Besitz der Muslime ist, feiern die Christen jedes Jahr am Himmelfahrtstag ihre Gottesdienste. Eine Einigung zeigt sich auch am Zion, dem Ort des Geistempfangs, wo Juden, Christen und Muslime das Grab König Davids verehren. Ein hoffnungsvolles Beispiel für das Verständnis über die eigenen Religionsgrenzen hinaus ist der neue Hindu-Tempel in Jaipur. Das andere, zurzeit am häufigsten besuchte Pilgerziel hat auch den Beigeschmack der Trennung: Rom, das die Pilger seit der Frühzeit des Christentums aufsuchen. Wer heute nach Rom pilgert, kommt in keinen typischen Pilgerort, sondern in eine moderne Metropole mit all ihren Problemen und überwältigenden kunst- und kulturhistorischen Monumenten. Dies macht es manchem schwer, in dieser verwirrenden Fülle die Spuren Gottes zu entdecken und sich nicht vom touristischen Pflichtprogramm überrollen zu lassen. Hauptanziehungspunkt ist wohl seit Johannes Paul II. und dem deutschen Papst Benedikt die Begegnung mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche. Nicht nur katholische Christen kommen in Scharen zu den großen Feierlichkeiten am Petersplatz, zu den wöchentlichen Audienzen oder dem sonntäglichen Angelusgebet, um im Kreis Gleichgesinnter Weltkirche zu erleben und den gemeinsamen Glauben zu bekennen. Rom besteht eben nicht nur aus Steinen, Kunstwerken und Monumenten einer wechselvollen Vergangenheit, sondern ist für den Pilger in erster Linie ein Ort der Begegnung: von den Zeugen der Urkirche über die Jahrhunderte lange Tradition bis zur heutigen Weltgemeinschaft der Pilger. Es geht letztlich ob in Rom, Jerusalem oder anderswo um den lebendigen Glauben, biblisch gesprochen um den Weg zu einem anderen Jerusalem, für das die irdischen Städte nur ein Bild sind. Durch die Vielfalt der Pilger ergibt sich die Chance, über Grenzen hinweg vielleicht auch die Trennung der Konfessionen zu überwinden, nicht in der Verflachung oder Vereinheitlichung des Glaubens, sondern als „Ökumene“ – Hauswesen Gottes, in dem viele Wohnungen sind (vgl. Joh 17,20-26). Wunsch nach äußerer und innerer Stille – Zeit für Gebet „Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er ist eine Herausforderung und eine Einladung. Er macht dich kaputt und leer. Und er baut dich wieder auf. Er nimmt dir alle Kraft und gibt sie dir dreifach zurück.“ sagt Hape Kerkeling über den „wichtigsten Weg seines Lebens“. In einer auf Perfektionismus, Konsum, Funktionalität, Leistung und Spaß angelegten Welt kann eine Pilgerfahrt zum Alternativprogramm werden, dass Leben mehr ist als Arbeit und Höchstleistung, auch Genießen und Ausruhen – biblisch gesprochen eine Orientierung am Verhalten Gottes, der nach der Schöpfung am siebten Tag ruhte und am Verhalten Jesu, der mit seinen Jüngern feierte, Mahl hielt und ihnen die Augen für die Schöpfung und ihre Mitmenschen öffnete. Gegen die Dominanz des Materiellen ist der Pilger auf der Suche nach einer anderen Werteordnung mit einer besonderen Sensibilität für die kleinen und alltäglichen 11 Dinge. „Die Seele geht zu Fuß“ sagt ein altes Sprichwort. Pilgern bringt zunächst ein neues Verhältnis zur Zeit, einer Zeit, die nicht primär von der Uhr diktiert wird. Die Welt wird durch den Verzicht auf Transportmittel und die Beschränkung auf das eigene Tempo größer. Pilgern hat die Zeit und Chance, eine Sensibilität zu entwickeln für seine eigenen körperlichen und psychischen Grenzen, sie zu erkennen und im kontinuierlichen Ablauf des bewussten Gehens zur Ruhe und Gelassenheit zu finden. Erstarrung, Sesshaftwerden kann der Beginn einer Glaubenskrise sein. Wer aber als Pilger aufbricht, dem ist der Segen Gottes in den Unwägbarkeiten und Risiken des Weges von Bedeutung, das Vertrauen in die eigene Machbarkeit reicht nicht aus. Es werden in den seltensten Fällen die großen Wunder oder außergewöhnlichen Ereignisse sein, die eine Pilgerfahrt prägen – auch wenn Heilungen von Lourdes von den Medien groß aufgemacht werden. Die Pilgerfahrt kann ein Anstoß dafür sein, kleine Dinge wieder bewusst wahrzunehmen, die dann zu tragfähigen Elementen des Lebens werden, wie es das biblische Gleichnis vom Senfkorn oder Sauerteig vor Augen führt. Insbesondere die Erfahrung von Stille ist ein unverzichtbares Grundelement jeder Pilgerfahrt. Auch Jesus zog sich immer wieder an einsame Orte zurück, um zu Beten oder vor wichtigen Wendepunkten seines Lebens. Orten der Stille wie Kirchen, Klöstern oder der Natur wohnt eine natürliche Faszination inne. Stille bedeutet dabei mehr als nur Ruhe oder die Abwesenheit von Lärm. Die bewusst erlebte Stille ist eine Form der Spiritualität. Pilger machen solche Erfahrungen z. B. auf den einsameren Streckenabschnitten des Jakobusweges, wie beim Übergang durch die Pyrenäen, während der Monotonie der Meseta oder in den Bergen von Rabanal. Klara, die Gefährtin des Franziskus, forderte ihre Gefährtinnen auf, „sich in den Spiegel der Ewigkeit“ zu stellen, d. h. ruhig zu werden und in der Gegenwart Gottes sein eigenes Menschsein tiefer zu erleben, durchlässig auf Gott hin. Das persönliche, stille Gebet ist kein Leistungssport, sondern ein ganz persönlicher Vorgang und für viele das wichtigste Element des Weges und der ganzen Pilgerfahrt. Ob in festgelegten oder selbstformulierten Worten können darin die persönlichen Anliegen einfließen oder Dank ausgesprochen werden. Jean Marie Vianney, bekannt als der Pfarrer von Ars, sah die Bedeutung des Gebetes weniger auf der Ebene des Wortes als der Beziehung: „Wenn ich bete, schaue ich ihn [Gott] an und er schaut mich an.“ - ein dialogischer Glaube, der Beziehung schafft, aber auch Orte und Zeiten der Entfaltung. Übrigens: Das klassische Pilgergebet, der Rosenkranz ist in Verruf geraten und für viele nur ein gedankenloses Herunterleiern, nicht mehr zeitgemäß. Doch eben dieses Gebet schafft genau das, was viele so am Buddhismus fasziniert: im Gehen, im Einklang von Wort, Schritt und Atmung zur Meditation und mystischen Vertiefung zu finden. Pilgerfahrten in politischer Dimension Pilgern ist trotz oder vielleicht gerade wegen der persönlichen Betroffenheit kein Selbstzweck. Pilgern geschieht auf dem Weg, das heißt in der Öffentlichkeit. Der mittelalterliche Camino, der Sternenweg nach Santiago war ein Netz von Straßen quer durch Europa und brachte gegen Fremdenangst und Abgrenzung einen Austausch zwischen Völkern, Kulturen und Glaubensformen in ihrer ganzen Vielfalt. Viele Moderne Pilgerwege sind Protestwege und Mahnmale der Erinnerung gegen das Vergessen; nicht in einseitiger Fixierung auf die Vergangenheit, sondern als Weg in eine lebenswerte Zukunft. Die neuen-alten Pilgerwege zeigen dabei eine erstaunliche Bandbreite: da sind 12 die traditionellen christlichen Zielen auch in neuer Tradition wie der alte Zisterzienserweg von Loccum nach Volkenroda als Teil des großen europäischen Pilgerweges in ökumenischer Perspektive. Eine Mahnung gegen das Vergessen, aber auch Zeichen der Versöhnung und Annäherung ist die 1957 zum Gedenken der Opfer des Holocaust erbaute Gedenkstätte Yad Vaschem. Dort brennt in einer Bronzeschale die ewige Flamme der Erinnerung und im Boden sind die Namen von einundzwanzig Konzentrationslagern eingelassen; das ununterbrochene namentliche Verlesen der Millionen Opfer soll sie im Gedenken der Menschen lebendig halten. Für viele Jerusalem-Pilger ist auch dieser Ort Ziel ihrer Pilgerschaft geworden. Ähnliches wollen auch Konzentrationslager wie Auschwitz mit der Zelle Maximilian Kolbes, der freiwillig für einen Mitgefangenen in den Tod ging und der Erinnerung an die dort ermordete christliche Jüdin Edith Stein. Alte Wallfahrten wie Tschenstochau sind zu Zentren des Widerstandes gegen Unrechtssysteme, zur Bewahrung nationaler Identität und des friedlichen Widerstandes gegen die kommunistische Herrschaft geworden. Nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs steht jetzt wieder der marianische Aspekt im Vordergrund – Wallfahrtsorte haben ihre Zeit in inhaltlicher Ausrichtung und von ihrer Beliebtheit her. Angesichts der andauernden Bedrohung durch Kriege und Terrorakte unter denen viele Länder leiden, können Wallfahrtsorte und deren Besucher sich zum Anwalt derer machen, die zu Opfern dieser Gewaltpotentiale werden und in der Öffentlichkeit wenig oder gar keine Beachtung finden und dem drängenden Wunsch nach Frieden eine Stimme verleihen. Gegen die Ohnmacht des Hasses, der Ängste und Bedrohungen können Wallfahrtsorte in der Solidarität der Pilger Hoffnung wecken und den konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung trotz Gewalt und massiver Hindernisse am Leben erhalten – gegen Feindbilder und Diskriminierung. Konrad Adenauer hat die Wallfahrtsorte einmal als die „geheimen Hauptstädte Europas“ bezeichnet, wo sich Menschen nach den Zerstörungen der Weltkriege wieder die Hände reichten und Mut fassten, den Wiederaufbau ihres Landes anzugehen. Der Jakobusweg – vielleicht ein Indiz für einen Neuaufbruch der europäischen Christenheit über die Grenzen der Nationen und Konfessionen hinweg. Die soziale Dimension Selbst wer allein zur Pilgerfahrt aufbricht, trifft unterwegs unweigerlich auf andere Pilger. Er fügt sich in eine lange Tradition ein, in ein umfassendes Beziehungsgeflecht. Eines der am häufigsten genannten Motive für eine Pilgerfahrt ist der Wunsch nach einer offenen Gemeinschaft, in der sich der einzelne in seinen körperlichen, sozialen und emotionalen Bedürfnissen aufgehoben und angenommen weiß. Dazu kommt, dass trotz moderner Kommunikationstechniken die Möglichkeiten zum direkten, persönlichen Gespräch immer seltener werden. Pilgerfahrt dagegen ist auf echte Begegnung angelegt. Die Aufhebung sozialer Grenzen zieht sich durch die Pilgerpraxis der Religionen: Bei der islamischen Pilgerfahrt steht neben dem Erleben der weltweiten Solidargemeinschaft die Grunderfahrung, dass vor Gott alle Gegensätze aufgehoben sind. Die einheitliche Kleidung und der Verzicht auf Statussymbole hebt alle sozialen und nationalen Schranken ebenso auf wie die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Gläubigen – gemäß den Lehren des Koran, dass die Menschen Brüder und vor Gott alle gleich sind. Pilgerfahrt als gemeinschaftsfördernden Einheitsband zwischen Muslimen in aller Welt. Den Hindu gelten die Tempel als Wohnstätte der Götter, sie sind dort in ihren Darstellungen für die Gläubigen segensreich anwesend. Die im Alltag immer noch praktizierte Trennung und Einteilung der Menschen in Kasten mit unüberwindbaren Schranken ist für den Pilger aufgehoben. Im Tempel haben sogar die Parias, die Unberührbaren, ihren Platz. 13 Im goldenen Tempel von Amritsar, dem höchsten Heiligtum der Sikh, baden Menschen aller Volksgruppen, religiösen Vorstellungen und Kasten, einschließlich der Unberührbaren im gleichen Wasser. Wirtschaftlicher Erfolg und Sozialprestige stehen an der Spitze gesellschaftlicher Wertehierarchien. Beim Pilgern sind andere Dinge wichtig. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus“ (Gal 3,29). Gerade für Kranke, Behinderte und ihre Betreuer und Angehörigen verlangt es viel Mut, den Schutz und die Sicherheit der Privatsphäre zu Hause zurückzulassen. In fremder Umgebung sind sie verstärkt neugierigen Blicken ausgesetzt und auf Hilfe angewiesen; sie können nur aufbrechen im Vertrauen auf ihre Begleiter und die, die ihnen unterwegs begegnen. Sie spüren in besonderer Weise, dass unverzichtbares Element einer Pilgerfahrt die Gastfreundschaft ist, in der jeder als Nächster an- und aufgenommen wird. Nicht bei jedem ist die Behinderung oder Krankheit äußerlich sichtbar oder medizinisch erfassbar. So prägen diese Randexistenzen z. B. das Erscheinungsbild des französischen Wallfahrtsortes Lourdes. Ihre Anwesenheit und Hilfsbedürftigkeit ist Anfrage und Aufgabe an alle Pilger. Eine Pilgerfahrt ist für viele Kranke und Behinderte die einzige Möglichkeit, aus ihrem Zuhause und ihren Pflegestellen heraus zukommen. In einer jugend-, leistungs- und konsumorientierten Welt werden Krankheit, Armut, Alter und Behinderung als unzulänglich und nicht vollwertig eher versteckt und lösen in der Konfrontation schnell Unbehagen aus. Als Gegenbeispiel steht hier Lourdes, der wohl meistbesuchte Wallfahrtsort der Welt – psychologisch gesehen die größte Selbsthilfegruppe für Kranke. Es geht nicht um die Frage ob eine Existenz lebenswert ist, sondern uneingeschränkte Achtung vor jedem Leben. Stellvertretend für die sozialen Randgruppen, die zu den Wallfahrtsorten kommen, sei hier die Gruppe der Sinti und Roma genannt. Obwohl diese Volksgruppen nicht mehr staatlichen Verfolgungen ausgesetzt sind, ist die Zeit der Diskriminierung und der gesellschaftlichen Ächtung noch lange nicht vorbei. Für diese Menschen sind die Wallfahrten z. B. nach SaintesMaries-de-la-Mer in der Provence oder nach Lourdes, wohin jährlich im August über 10.000 Sinti und Roma pilgern, die Zeiten im Jahr, wo sie Angehörige und Freunde treffen und sie ihren Glauben leben und teilen können. Ihr „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“, die Erfahrung von Fairness und Akzeptanz, die Anerkennung ihrer Lebensbedingungen und der Abbau von Vorurteilen und damit von Ängsten und Feindbildern ist ihr zentrales Anliegen. An den Wallfahrtsorten bleiben sie nicht isoliert, sondern erleben sich in Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft. In Lourdes gibt es keine dominante Sprache – es sind die Sprachen der Pilger, die die Feiern bestimmen – eine Art Pfingsterlebnis, wenn alle miteinander beten. Während bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Pilgern kaum Jugendliche waren, stellen sie mittlerweile eine bedeutende Pilgergruppe dar. Ein Hauptgrund ist für sie die Erwartung authentischer Erlebnisse und echter Erfahrung in der Gemeinschaft Gleichaltriger und Gleichgesinnter. Diese Jugendlichen haben nicht immer konkrete Vorstellungen, was sie auf einer Wallfahrt erwartet. Traditionelle Glaubensformen und „kirchliche Religiosität“ sind ihnen eher fremd oder sie stehen in Distanz dazu. Sie wollen sich frei und unvoreingenommen über ihr Leben austauschen, ihre Pläne, Träume und Kirche erleben, nicht als Institution oder Dienstleistungsgesellschaft, sondern Ort der Begegnung, wo Probleme, Hoffnungen und Sehnsüchte thematisiert und ernst genommen werden, als eine Gemeinschaft, die sich 14 vorurteilsfrei für die Schwachen und Ausgesetzten einsetzt. Ähnliche Erwartungen stellen die Jugendlichen auch an Kirchentage oder Weltjugendtreffen, die ja pilgerähnliche Elemente aufweisen. Sogar die mittelalterliche Strafwallfahrt scheint mit Erfolg wieder aufzuleben. Das belgische Resozialisierungsprojekt der sog. „Oikoten“ knüpft daran an und baut auf die positiv verändernde Wirkung einer Pilgerfahrt: Jugendliche Ersttäter können nach entsprechender Vorbereitung mit Sozialpädagogen zu Fuß von Brüssel nach Santiago gehen. Nach absolvierter Pilgerfahrt gilt die Strafe als erlassen. Die Attraktivität des Pilgerns liegt darin, dass Frohe Botschaft verkündet wird, als eine lebendige, bewegte und bewegende Gemeinschaft, wo miteinander gelebt und gefeiert wird in der Vielfalt und Einbeziehung vorhandener Charismen. Die Pilger des dritten Jahrtausends werden Männer und Frauen sein, die für die Begegnung offen sind und sich gegenseitig in ihrer Vielseitigkeit bereichern. Wallfahrt ist sicher nicht alles, was Glauben ausmacht, aber es ist ein nicht zu übersehendes Zeichen, das zum Erlebnis wird für den, der sich auf den Weg macht. Gott ist sicher überall der gleiche, kann überall erfahren werden, aber ich bin nicht überall derselbe, ich brauche Orte, Auszeiten, wo ich ihn besonders spüren kann, so wie es Hape Kerkeling am Ende seines Pilgerberichtes beschreibt: „Während ich im Zug nach Hause sitze, versuche ich meine Gedanken zu Gott zu sammeln und sie für mich noch einmal so griffig wie möglich zu formulieren. … Der Schöpfer wirft uns in die Luft, um uns am Ende überraschenderweise wieder aufzufangen. Es ist wie in dem ausgelassenen Spiel, das Eltern mit ihren Kindern spielen. Und die Botschaft lautet: Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein. Und wenn ich es Revue passieren lasse, hat Gott mich auf dem Weg andauernd in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Wir sind uns jeden Tag begegnet.“ 15