Islam und Verfassungsstaat: Theologische Versöhnung mit der

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Islam und Verfassungsstaat: Theologische Versöhnung mit der politischen
Moderne?
Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) – Zukunftsforum Islam
Brühl, 8. Mai 2010
Das Thema Islam kann gegenwärtig sicherlich als hot topic bezeichnet werden. Sein emotionales Potential ist beträchtlich und die diskursiven Wogen werden schnell einmal turmhoch
– im Schweizer Kontext wäre wahrscheinlich minaretthoch eher angebracht. Viele Wortmeldungen in Talk-Shows sowie Beiträge in der Tagespresse sind effekthascherisch und unnötig
emotionalisierend. Es ist bisweilen richtiggehend ärgerlich, wie sich Parteien und einzelne
Politiker um den Staatsschutz bemühen, wenn irgendein profilierungssüchtiges Individuum
wirres Zeug faselt. Gleichzeitig tut man jedoch gut daran, das offensichtlich latent vorhandene Unbehagen vieler Bürger gegenüber dem Islam nicht einfach medial zu verurteilen und in
den Untergrund abzudrängen. Denn auf offen angesprochene Probleme und Sorgen kann
man immerhin noch eingehen, selbst wenn damit teilweise auch Debatten verbunden sind,
die unangenehm sind.
Theologisches Interesse am Islam mag auf den ersten Blick wenig mit den gegenwärtigen
Debatten und öffentlichen Auseinandersetzungen zu tun haben. Ein solches, theologisches
Interesse mag manchem vielleicht sogar theoretisch, ja allzu theoretisch erscheinen. Bisweilen kann es jedoch von Nutzen sein, mal etwas Distanz zu gewinnen gegenüber medial hochstilisierten Skandalen und Titelgeschichten, um Raum zu schaffen für theoretische Fragestellungen. Gerade in den angeblich so theoretisch anmutenden Überlegungen werden meiner
Ansicht nach jedoch wichtige Fragen thematisiert.
Die politische Realität im Westen, d.h. in Europa, Amerika, aber auch in so erfolgreichen
Staaten wie Japan oder Südkorea und nicht zuletzt in der islamischen Welt ist zu Beginn des
21. Jh. geprägt von der Institution des Verfassungsstaates. Die Genese des Konstitutionalismus kann an dieser Stelle nicht im Detail erläutert werden. Grundsätzlich können aber folgende Feststellungen gemacht werden. Die Etablierung verfassungsrechtlicher Ordnungen
verlief vor allem in Europa bei Weitem nicht immer ruhig und harmonisch, und gerade die
christlichen Kirchen – sowohl die katholische als auch die protestantische – erhoben zu Beginn vehement Einspruch gegen die Forderungen des Konstitutionalismus. Insbesondere in
den Postulaten von Freiheit und Gleichberechtigung glaubte man einen klaren Widerspruch
zur Tradition, zur Doktrin und zur Kirchenordnung zu erkennen. Der Modus Vivendi des cuius
regio eius religio wurde durch die neuen Ansprüche massiv infrage gestellt. Die geäusserten
Einwände schienen unüberwindbar und dauerten teilweise bis ins 20. Jh. an. Die evangelischen Kirchen verabschiedeten dann auf der ersten Vollversammlung des ökumenischen
Rates der Kirchen im Jahre 1948 eine Erklärung über die religiöse Freiheit. Katholischerseits
kam es kurze Zeit später im II. Vatikanischen Konzil in der Erklärung Dignitatis Humanae (Pkt.
12/13) zu einem klaren – theologischen – Bekenntnis zu politischer Gleichberechtigung und
Religionsfreiheit. Damit verbunden war auch eine klare Absage an das mit der konstantinischen Wende (313) eingeläutete und unter Kaiser Theodosius (380) etablierte Ideal eines
christlichen Staates. Auch kam es bei dieser Gelegenheit zu einem Eingeständnis, dass man
den Ansprüchen des Evangeliums nicht immer nachgekommen sei: „Gewiss ist bisweilen im
Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt – im Wechsel der menschlichen Geschichte –
Lukas Wick – Islam und Verfassungsstaat: Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne?
eine Weise des Handelns vorgekommen, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war.“ 1
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Im Zusammenhang mit – andere würden vielleicht sagen unter dem Druck veränderter, politischer Realitäten, kam es im christlichen Kontext zu einer Neuorientierung, der ein längeres
theologisches Ringen vorangegangen war. Diese Auseinandersetzung kann man durchaus als
Läuterungsprozess bezeichnen, der dazu beigetragen hat, historischen Ballast abzuwerfen
und sich eine gewisse Selbstbeschränkung aufzuerlegen. Diese Neuorientierung war jedoch
nicht einfach eine pragmatische Anpassung an veränderte politische Rahmenbedingungen,
sie war darum bemüht, am Evangelium, an der apostolischen Überlieferung, am Verhalten
der ersten Christen und an der theologischen Reflexion der Patristik bis zur konstantinischen
Wende (313) anzuknüpfen. Der Paradigmenwechsel im II. Vatikanischen Konzil stiess jedoch
innerhalb der katholischen Kirche nicht auf ungeteilte Zustimmung. Die Abspaltung der mittlerweile allgemein bekannten Piusbruderschaft steht damit in engem Zusammenhang. 2
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Es ist sicherlich nicht falsch zu behaupten, dass die islamische Doktrin bzw. die islamische
Theologie gegenwärtig vor ganz ähnlichen Herausforderungen steht. Formell bildet der Verfassungsstaat zwar in den meisten muslimischen Ländern die Rahmenbedingungen. Dabei ist
es bisher leider fast ausschliesslich bei einer formellen Übernahme geblieben, die inhaltliche
Aspekte weitgehend ausklammert. Um die inhaltliche Auseinandersetzung mit der politischen Moderne korrekt wiederzugeben, sind die islamischen Religions- und Rechtsgelehrten
unumgehbar. Die Lektüre von Schriften und Büchern einiger – ausschliesslich arabischer –
Vertreter des sunnitischen Islams hinsichtlich der freiheitsrechtlichen Forderungen des Konstitutionalismus kann hier teilweise Klärung verschaffen. Insbesondere deren Haltung bezüglich Gleichberechtigung und Religionsfreiheit ist dabei von besonderem Interesse, da diese
gemeinhin zu den Grundvoraussetzungen einer verfassungsstaatlichen Ordnung gezählt
werden. Es handelt sich bei allen untersuchten Exponenten ausschliesslich um Religionsgelehrte, sogenannte ulama, welche die entsprechende, einschlägige Ausbildung durchlaufen
haben und deshalb auch über den nötigen institutionellen Rückhalt im islamischen Establishment verfügen. Alle untersuchten ulama lebten im 20. Jh. und sind mittlerweile verstorben; Scheich Tantawi, der bekannte Vorsteher der Azhar-Universität in Kairo eben erst im
März 2010.
Ich bin dezidiert der Ansicht, dass die Religions- und Rechtsgelehrten für die Normativität
islamischer Vorstellungen von entscheidender Bedeutung sind. Selbstverständlich gibt es
gegenwärtig auch viele muslimische Intellektuelle, die sich zum Thema Islam äussern, ihre
Aussagen reflektieren den innerislamischen Diskurs jedoch nur sehr bedingt, da ihre Wortmeldungen und Bücher höchstens in den westlichen Medien Aufmerksamkeit erfahren, innerislamisch allerdings kaum rezipiert werden. Dahingegen haben die Prediger und Rechtsgelehrten viel grösseren Einfluss auf die konkrete Lebensgestaltung frommer Muslime. Über
die Freitagspredigt, Fernsehauftritte, fromme Zeitschriften und Internetportale erreichen sie
unvergleichlich viel mehr Menschen als Intellektuelle und Literaten. Es verhält sich in etwa
gleich, wie wenn Hans Küng etwas vermeldet: dies mag interessant sein und mediales Aufsehen erregen, ist für die Normativität der katholischen Kirche jedoch weitgehend irrelevant.
1
Vgl. Konzilserklärung Dignitatis Humanae, Nr. 12.
Vgl. dazu Rhonheimer, Martin, „Die «Hermeneutik der Reform» und die Religionsfreiheit“, in Die Tagespost
29.9.2009 und die Replik auf www.piusbruderschaft.de (Endlich ein Gegner, der logisch denken kann).
2
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Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islam wird nicht darum herumkommen, dem
eigentlich religiösen Diskurs innerhalb der Moschee mehr Bedeutung beizumessen. Insgesamt ist die Lektüre der Schriften und Bücher ehemaliger Vorsteher (Shaltut und Tantawi)
und anderer gewichtiger Vertreter (Halaf Allah, Al-Ibrahimi) der Azhar Universität allerdings
ziemlich ernüchternd. Die politische Moderne und ihre Mechanismen werden nämlich kaum
thematisiert, und wenn, dann ist man darum bemüht, sie in apologetischer Weise islamisch
zu vereinnahmen oder abzulehnen. Die erwähnten Autoritäten zeigen jedoch bei aller
sprachlichen und thematischen Verschiedenheit erstaunliche Parallelen, die darauf hindeuten, dass sich das theologische Establishment wohl noch länger schwertut mit den Inhalten
einer liberalen konstitutionellen Ordnung.
Besonders frappierend ist die apologetische Argumentation der Autoren. Was auch immer in
der islamischen Geschichte, insbesondere in der Urzeit passiert ist, es wird durchwegs verteidigt oder schöngeredet. Eine kritische Auseinandersetzung sucht man vergebens. Besonders augenfällig ist beispielsweise, wie selbst ein als gemässigt geltender Gelehrter wie Halaf
Allah (1916-1998), die frühislamischen Konflikte mit den jüdischen Stämmen Medinas und
deren teilweise Vernichtung, damit rechtfertigte, dass diese Stämme selbst daran schuld
seien, da sie sich dem Ruf des Propheten verweigert hätten. 3 Ebenso gemeinsam ist allen
Autoren die Rezeption der Schriften des Reformers Muhammad Abduhs (1849-1905). Die
paradigmatische Bedeutung der Urzeit und seine dorthin propagierte Rückkehr wird von
allen untersuchten Autoren übernommen. Gleichzeitig werden angebliche Fehlentwicklungen zwischen dem 8. Jh. und der Gegenwart stets als unislamische Auswüchse denunziert.
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Gerade die teilweise recht krude Apologetik und eine völlig unkritische Verklärung der Urzeit
sind zwei Komponenten, die eine positive Auseinandersetzung mit den Inhalten der politischen Moderne bis anhin weitgehend verhindert haben.
Obschon die Autoren wie eingangs erwähnt die politische Moderne nur ansatzweise thematisieren, ist deren Ablehnung inhaltlicher – und nicht formeller – Aspekte dann doch recht
eindeutig. Die Ursache dieser Ablehnung kann weder monokausal erklärt noch allein mit
dem islamischen Glaubensverständnis begründet werden. Eine ganze Reihe politischer und
sozialer, aber auch theologischer Umstände können dafür ins Feld geführt werden:
1. Es gibt keinerlei positive Assoziationen mit konstitutionellen Errungenschaften. Der Konstitutionalismus (wenn er denn überhaupt Erwähnung findet) und besonders die damit verbundene Säkularisierung (Säkularisierung und nicht Säkularismus) werden meist pauschalisierend als trojanisches Pferd neokolonialen, westlichen Strebens gesehen. Zudem fehlt jegliche positive Erfahrung mit einem konstitutionellen Modell. Zwar gibt es formell in den
meisten muslimischen Ländern eine verfassungsrechtliche Ordnung, diese hat bis anhin jedoch kaum verhindern können, dass Despoten, Familienclans und kleine Machteliten nach
Gutdünken schalten und walten. Diesbezüglich wäre es sehr wohl denkbar, dass sich gerade
die Erfahrung von Muslimen in der westlichen Diaspora, wo sie in einer Minderheitsposition
unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit vollständig gleichberechtigt sind, positiv auf
die innerislamische Debatte auswirkt. Möglicherweise stehen wir diesbezüglich sogar am
Anfang einer interessanten Entwicklung.
3
Vgl. Hallaf Allah, Al-qurÁn wa muškilÁt hayÁtina al-muÁsira, Al-mu’assasa al-arabiya li-al dirÁsÁt wa al-našr.
Beirut 1981, 78.
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2. Saudi Arabien konnte in den vergangenen Jahrzehnten dank Einnahmen aus der Erdölförderung weltweit die wahhabitische Interpretation des Islam verbreiten. Millionen von
Arbeitern kamen während ihres Aufenthalts in Saudi Arabien in Kontakt mit dem Wahhabismus und trugen diesen später in ihre Heimatländer zurück. Darüber hinaus wurden unzählige Studenten aus der ganzen Welt über Stipendien in Saudi Arabien ausgebildet und
haben diese äusserst reaktionäre Lehre nach ihrer Rückkehr weiterverbreitet. Dies hat weltweit zu einer merklichen Radikalisierung von Muslimen beigetragen, vor der auch Muslime
in Europa nicht völlig immun sind. Erstaunlicherweise haben sich die etablierten ulama, beispielsweise in Ägypten jedoch bis anhin kaum darum bemüht, eine echte diskursive Konkurrenz zur wahhabitischen Deutung aufzubauen.
3. In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch die enorme Fixierung auf den Koran zu erwähnen, die eine positive Auseinandersetzung mit konstitutionellen Paradigmen nachteilig
beeinflusst hat. Etablierte Religionsgelehrten sind oft darum bemüht, die Moderne zu islamisieren, d.h. mit koranischen Belegstellen zu legitimieren. Dass ein solches Unterfangen nur
schon aus Gründen des Anachronismus scheitern muss, versteht sich von selbst. Demokratie
ist eben nicht dasselbe wie eine beduinische Shura-Versammlung, und die Nachfolgeregelung nach dem Tod Muhammads hat mit einer Präsidentenwahl herzlich wenig zu tun. Die
kürzlich von Katajun Amirpur veröffentlichten Texte iranischer Theologen in Unterwegs zu
einem anderen Islam, geben recht deutlich zu verstehen, dass sich der traditionelle Islam
hinsichtlich der politischen Moderne richtiggehend in einer Sackgasse befindet. Einige reformorientierte iranische Theologen wie etwa Mohsen Kadivar sind aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Islamischen Republik in den vergangenen drei Jahrzehnten sogar überzeugt, dass
der traditionelle Islam nicht mit der Demokratie vereinbar sei. Einzig der Reformislam könne
die politische Gleichheit in jeder Form anerkennen. 4
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4. Die meisten islamischen Religions- und Rechtsgelehrten überhöhen die islamische Urzeit
von Muhammad und seinen Gefährten in unkritischer Weise. Ob der Verklärung der Urzeit
gelingt es ihnen nicht, sich von den Verquickungen von Islam und Politik zu lösen. Der in den
60er Jahren verstorbene Vorsteher der ägyptischen Azhar-Universität Shaltut schreibt so
beispielsweise: „Im Islam kann es keine Trennung von Religion und Staat geben, es sei denn,
man könnte den Geist vom Leib des lebendigen Menschen trennen, ohne ihn zu töten.“ 5 Es
ist unverkennbar, dass der Einfluss institutionell etablierter ulama in den vergangenen 30
Jahren nach einer längeren Phase sozialer Marginalisierung wieder stärker geworden ist. In
verschiedenen mehrheitlich muslimischen Ländern hat dies auch zu einer vermehrten, zivilrechtlichen Ausrichtung an den Vorschriften der Scharia geführt. Die Orientierung an der
Urzeit ist zwangsläufig auch mit einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Religionsstifter Muhammad verbunden. Und dieser war eben nicht einfach ein Prophet, sondern auch
politischer Führer und Kriegsherr. In den 20er Jahren des 20. Jh. stiess der Versuch Ali Abd
Al-Raziq s diese Tatsache in seinem Buch Al-Islam wa usūl al-hukm (Die Grundlagen der Herrschaft im Islam) als kontingenten und historisch einmaligen Umstand ohne jeglichen paradigmatischen Charakter zu deuten, auf heftigen Widerstand, und die Gelehrten befanden,
dass Medina, d.h. Muhammad als politisch-religiöser Führer, eher dem Islam entspreche als
Mekka, wo Muhammad zu Beginn nur eine prophetische Gestalt mit einer religiösen BotF
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4
Vgl. Kadivar, Mohsen, „Islam und Demokratie ein Widerspruch?“, in Unterwegs zu einem anderen Islam – Texte
iranischer Denker, Amirpur, Katajun (Hg.), Herder, Freiburg 2009, 74.
5
8
Šaltut, Mahmud, Min tawÊihÁt al-islam, DÁr šuruq, Kairo [1982].
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schaft war. Bis heute sind Abd Al-Raziqs Ideen gerade in theologischen Zirkeln tabu geblieben, während sie in anderen Kreisen freimütig diskutiert werden.
5. Es gibt in der islamischen Theologie die Vorstellung der islamischen Urnatur (fitra, ‫)ﻓﻄﺮة‬.
Diese Vorstellung stützt sich auf Prophetentraditionen, die in den Sammlungen von AlBuchari und Al-Muslim aufgeführt werden 6 und davon ausgehen, dass jeder Mensch ursprünglich als Muslim geboren wird. Wenn nun jemand Christ, Jude oder Anhänger einer
anderen Religion ist, dann entspricht er letztlich nicht seiner ursprünglichen Geschaffenheit,
ist nach Abu Huraira, einem Gefährten Muhammads, sogar verstümmelt. Neuere Autoren
sprechen in diesem Fall sogar von einer Pervertierung der ursprünglichen Natur. 7 Man kann
aus einer solchen – theologisch-anthropologischen – Perspektive durchaus verstehen, dass
man Nicht-Muslimen nicht die gleichen Rechte gewähren kann wie Muslimen. Denn als
Nicht-Muslim entspricht man eigentlich gar nicht der ursprünglich Schöpfungsordnung. Es ist
deshalb auch kaum verwunderlich, dass namhafte schiitische Ayatollahs (Fazlollah Nuri,
Muḥammed Hussain Naini) anlässlich der Konstitutionellen Revolution im Iran (1906) die
Gleichberechtigung von Muslimen und Christen damit ablehnten, dass diese so absurd sei
wie die Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen. Für die zivilrechtliche Ungleichbehandlung gibt es im Islam folglich eine theologisch-anthropologisch Grundlage, die sich
offensichtlich nicht mit den Vorstellungen verträgt, wie sie in der universellen Erklärung der
Menschenrechte der UNO von 1948 zum Ausdruck kommt. Diese geht nämlich eindeutig
davon aus, dass man zuallererst einmal Mensch ist, und dann dieser oder jener oder gar keiner Religion angehört. Diese Vorstellung wiederum beruht ursprünglich auf dem Naturrecht,
welches die römischen Rechtsphilosophen geprägt und die frühchristlichen Kirchenväter
übernommen haben. Es ist denn auch selbstredend, dass die Organisation Islamischer Staaten und andere islamische Organisationen eigene Menschenrechtserklärungen verabschiedet haben, um die umstrittenen Stellen (z.B. Religionsfreiheit in Artikel 18) mit der Scharia in
Einklang zu bringen.
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Aufgrund der erwähnten politischen, sozialen und theologischen Umstände gibt es begründete Zweifel an der Möglichkeit einer theologischen Versöhnung der islamischen Doktrin mit
liberalen, menschenrechtlichen Forderungen des modernen, Konstitutionalismus. Dabei soll,
und dies gilt es an dieser Stelle explizit zu betonen, in keiner Weise präjudiziert werden,
Menschen muslimischen Glaubens seien grundsätzlich unfähig, sich mit einer konstitutionellen Ordnung zu arrangieren, welche die erwähnten Freiheiten garantiert. Der französische
Islamforscher Olivier Roy meint dazu: „Die Einpassung der Muslime in den westlichen Kontext hat nichts mit Theologie zu tun, sondern vielmehr mit der Lebenspraxis und den Anstrengungen jedes Einzelnen.“ 8 Dem ist sicherlich zuzustimmen, denn es ist schlicht eine
Tatsache, dass unzählige Muslime die politische Ordnung im Westen respektieren und schätzen, und nur wenige – diese allerdings mit überproportionaler medialer Aufmerksamkeit –
wünschen sich eine politische Ordnung nach strikte schariatischen Vorstellungen. Es erscheint jedoch auch eine Pflicht intellektueller Redlichkeit darauf hinzuweisen, dass es hinsichtlich der liberalen Forderungen und Rechtsgarantien des Konstitutionalismus ein theologisch ungelöstes Problem gibt, welches für Unruhe und Unbehagen in der Bevölkerung sorgt,
und welches gerade für fromme Muslime und Vermittler des islamischen Glaubens einen
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6
Vgl. Muslim, Sahīh – KitÁb al-qadar, Kap. 6; Al-Buchari, KitÁb al-qadar, Kap. 3; siehe auch
www.alhamdulillah.net/modules.php?name=Hadith-Bukhari bzw.
www.alhamdulillah.net/modules.php?name=Hadith-Muslim
7
Vgl. Ezzati, Abu, Islam and Natural Law, ICAS Press, London 2002, 70.
8
Roy, Olivier, Wie hast Du’s mit der Religion, Europa?, in Neue Zürcher Zeitung, 21.4.2010.
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Loyalitätskonflikt darstellen kann, wie es im Übrigen auch eine Untersuchung unter Islamlehrern in Österreich gezeigt hat. 9
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Man wird dieses Unbehagen islamischerseits nicht mit einer bloss pragmatischen Akzeptanz
konstitutioneller Freiheiten zerstreuen können. Da schwingt allzu sehr mit, dass man diese
vorerst mal zähneknirschend akzeptiert, um sie dann bei der nächst besten sich bietenden
Gelegenheit zu ändern. Jürgen Habermas ist der Ansicht, dass der liberale Staat – aus Gründen der Instabilität eines erzwungenen Arrangements – mit einem blossen Modus Vivendi
nicht zufrieden sein kann. Als demokratischer Rechtsstaat sei er nämlich auf eine in Überzeugungen wurzelnde Legitimation angewiesen. 10 D.h. das konstitutionelle Modell ist nicht
einfach ein formaljuristisches Konstrukt, es ist auf die innere Überzeugung der Bürger angewiesen, damit verfassungsmässig garantierte Rechte auch dann Geltung haben, wenn dereinst die religiöse Landkarte anders aussehen sollte. Abschliessend sei auch auf das Diktum
des ehemaligen deutschen Verfassungsrichters Böckenförde verwiesen, wonach der säkulare
Verfassungsstaat auf Grundlagen aufbaut, die er selbst nicht garantieren kann. Wenn sich
die islamischen Theologen, Religions- und Rechtsgelehrten nicht dazu durchringen können,
sich mit den Inhalten der politischen Moderne zu versöhnen, wird das gesellschaftliche Zusammenleben in Zukunft bestimmt nicht einfacher.
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Wie eine solche, theologische Wende zustande kommen soll, ist kaum vorhersehbar. Ansätze sind freilich durchaus vorhanden. Nicht-Muslime sollen sich jedoch in Zurückhaltung
üben, Muslimen diesbezüglich irgendwelche Ratschläge zu erteilen und sich in eine letztlich
innerislamische Debatte einzumischen.
9
Vgl. Dissertation Khorchide, Mouhanad, Der Islamische Religionsunterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft (Wiener Zeitung 29.1.2009 / NZZ 29.1.2009).
10
Vgl. Habermas, Jürgen, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in Neue Zürcher Zeitung 10.2.2007.
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