Phytopharmaka als Alternative

Werbung
Geriatrie
Hausarzt Medizin
Phytopharmaka
als Alternative
Altersassoziierte Erkrankungen und Multimorbidität
sind eine Herausforderung bei der Auswahl von Arzneimitteln. Einige Medikamente sind für ältere Patienten
potenziell ungeeignet. Als Alternativen kommen auch
Phytopharmaka infrage.
Die Arzneimitteltherapie hat sich neben altersbedingten physiologischen Veränderungen und Organfunktionsstörungen nach
pharmazeutischen, pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Aspekten zu richten, um Risiken durch Überdosierung,
Wechselwirkungen oder Organschäden zu
vermeiden. Hierbei stellen sich u. a. folgende Fragen: Besteht eine begründete Verordnungsfähigkeit? Wird bei Multimorbidität
ein geeignetes Arzneimittel verordnet? Sind
Resorption, Metabolismus und Elimination
im Alter verändert? Ist mit höheren Raten
an Nebenwirkungen zu rechnen?
Auch für die Behandlung
rheumatischer Erkrankungen gibt es pflanzliche Präparate.
Besonderheiten von Phytopharmaka
Während chemische Synthetika direkt u. a.
an spezifischen molekularen oder zellulären Strukturen wirken, sind pflanzliche Extrakte komplexe Mehrstoffgemische mit wirksamkeitsrelevanten
sowie unbekannten Fraktionen. Sie besitzen multiple pharmakophore Gruppen, wirken pleiotrop eher unselektiv an Targets
(Multi-Target-Wirkstoffe) und besitzen durch Addition mehrerer Einzeleffekte ein breiteres Wirkprofil mit weniger wirkungs-
Fotos: Jasmin K. - photocase, Joker - picture alliance
Hausarzt Medizin
mechanistisch bedingten Nebenwirkungen.
Interaktionen: Die klinische Relevanz
Sie gelten gemäß Arzneimittelgesetz (AMG)
von Interaktionen mit Arzneimitteln über
und EU-Regelung in ihrer Gesamtheit und
CYP450-Isoenzyme oder Exprimierung des
nicht bezüglich einzelner Strukturen als
Aufnahme und Efflux-Transporters GlykoWirkstoffe. Pharmazeutisch unterliegen sie
protein P (P-gp) muss für jeden Einzelfall benaturbedingten Schwankungen in quantitawertet werden. Pharmakokinetisch ist derzeit
tiver (DEV= Drogen-Extrakt-Verhältnis) und
nur bei Johanniskraut-Extrakt auf Interaktiqualitativer Zusammensetonen mit CYP3A4, CYP2C9,
zung der Inhaltsstoffe.
CYP2C19 und P-gp zu achDurch Addition mehreStudien zur Bioverfügbarten. Sie führen zu einer Abrer
Einzeleffekte
besitkeit/Bioäquivalenz sind
schwächung der Wirkung
zen Pflanzenextrakte
nur bei akzeptierten wirkvon Antikoagulanzien,
ein breiteres Wirkprofil
samkeitsbestimmenden InCi­closporin, Tacrolismus,
als synthetische Arzneihaltsstoffen möglich.
Dig­oxin, Indinavir, Proteasemittel.
Prof. Dr. med.
Hemmstoffen, Irinotecan,
André-Michael Beer
Resorption: Viele pflanzliImatinib, Zytostatika, Ami­
Abteilung für
Naturheilkunde,
che Inhaltsstoffe liegen als
triptylin, Nortriptylin, MiKlinik Blankenstein,
inaktive Vorstufen (Prodrugs) in Form von
dazolam, Theophyllin und zu einer VerstärHattingen, E-Mail:
andre.beer@klinikGlykosiden vor und werden erst nach der
kung der Wirkung von Antidepressiva wie
blankenstein.de
Spaltung durch ß-Glykosidasen im DarmNefazodon, Paroxetin, Sertralin.
lumen resorbiert.
Ko-Autoren:
Prof. Dr. Dr. h.c. mult.
Dosisanpassung: Entscheidend für die
Heinz Schilcher
Biotransformation: Ein wichtiger UnterWirksamkeit und Unbedenklichkeit eiProf. Dr. med. dent.
Dr. med. Dieter Loew
schied von Phytopharmaka zu Synthetika
nes Arzneimittels ist der frei wirksame Arzliegt in der Biotransformation. Xenobiotika
neimittelanteil. Im Alter besteht häufig eiwerden in der Leber über CYP450-Isoenzyme ne Hypalbuminämie, die mit der Gefahr von
entgiftet und zur renalen Ausscheidung beÜberdosierung, Wechselwirkung mit andefähigt. Im Gegensatz dazu werden pflanzliren Arzneimitteln und Nebenwirkungen einche Glykoside in der Regel als Aglykone
her geht. Bei pflanzlichen Arzneimitteln ist
resorbiert und müssen nur glukuronidiert
die Proteinbindung im Gegensatz zu Syntheoder sulfatiert werden.
tika mäßig bis gering (ca. 60 – 80 %), weshalb
Neben der Entgiftung kann es auch zur Gifbei Hypalbuminämie kaum die Gefahr der
tung kommen. Am bekanntesten ist die Bildung des hepatoxischen Metaboliten NTab. 1: Besonderheiten pflanzlicher Extrakte
Acetylchinonimin durch > 10 g Paracetamol
nach Erschöpfung der Glutathion-Speicher.
Biopharmazeutik
Bei zugelassenen Phytopharmaka sind bisFlüssige, pH-unabhängige Darreichungsformen, feste Formen, Extrakte in Filmtabletten
her keine Biotoxometaboliten bekannt.
und Dragees mit rascher Freisetzung.
Elimination: Sieht man von Tubulusirritationen nach der Einnahme von Wacholderöl
mit größeren Mengen an α- und β-Pinen und
Senfölen ab, die eine Aluminurie verursachen können, sind von pflanzlichen Extrakten keine glomerulo- oder tubulotoxischen
interstitiellen Schädigungen und keine Kumulation bei eingeschränkter Nierenfunk­
tion bekannt. Aus pharmakokinetischer
Sicht sind die im Alter verwendeten Phytopharmaka unproblematisch.
Der Hausarzt 14/2014
Resorption
Prodrugs als Glykoside, Resorption nach Spaltung durch intestinale ß-Glykosidasen.
Elimination
Keine glomerulotoxische, tubulotoxische, interstitielle Schädigung oder Kumulation bei
eingeschränkter Nierenfunktion (Ausnahmen: Wacholderöl, Senfölglykoside).
Interaktionen
Vorhersagen aus In-vitro-Daten sind wegen der Vielzahl von Einflussfaktoren unsicher;
wichtig ist nicht die geprüfte Fraktion, sondern die klinische Relevanz des Extrakts.
Dosisanpassung
Wegen geringer Proteinbindung keine Gefahr der Überdosierung und Wechselwirkung
durch Verdrängung anderer Arzneimittel aus der Proteinbindung.
53
Hausarzt Medizin
Tab. 2: Phytopharmaka als Alternativen zu Synthetika
Indikation
Chronische Herzinsuffizienz
(NYHA II – III)
Orthostatische Hypotonie
Schlafstörungen
Depressionen
Demenz
Angst
Benignes Prostatasyndrom
Chemisch-synthetische Substanzen
Phytopharmaka
Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer,
AT1-Rezeptor-Antagonisten, Digitalis
Etilefrin, Midodrin, Fludrocortison
Benzodiazepine, Nicht-Benzodiazepine
Standardtherapie statt Digitalis:
Weißdornblätter mit Blüten-Trockenextrakt1,3,5
Weißdornbeeren-Extrakt, Campher1
Baldriane-Extrakte1,2, Hopfen-Extrakte2,
ätherisches Lavendelöl1,2, Passionsblumen-Extrakte1,2,
Melissen-Extrakte1,2, Kombinationen1,2
Johanniskraut-Trockenextrakt1,2,3,5
Tri-, tetrazyklische Antidepressiva,
SSRI, SNRI, SSNRI, MAO-Hemmer
Acetylcholinesterase-Hemmer, Memantin,
Benzodiazepine, Buspiron
α-Rezeptorenblocker, α-Reduktasehemmer
Klimakterische Beschwerden
Östrogene, Gestagene
Bakterielle Infektionen
Schmerzen
Übelkeit, Erbrechen
Nitrofurantoin
Nichtselektive und selektive NSAR, Opioide,
Flupirtin, Methocarbamol, Orphenadrin,
Tolperison, Tizanidin
Dimenhydrinat, Metoclopramid
Ginkgo-biloba-Trockenextrakt1,4
Standardisiertes ätherisches Lavendel-Spezialöl1
Sägepalme-Trockenextrakt1,5, BrennnesselwurzelTrockenextrakt1, Roggenpollen-Trockenextrakt1,
Hypoxis-rooperi-Trockenextrakt1, KürbissamenTrockenextrakt1
Traubensilberkerze-Trockenextrakt1,2,5,
sibirischer Rhabarber-Trockenextrakt1
Bärentraubenblätter-Trockenextrakt1, Kapuzinerkresse/
Meerrettichwurzel-Trockenextrakt1
Weidenrinde-Trockenextrakt1,2 , TeufelskralleTrockenextrakt1,2, 10%-iges Pfefferminz-Öl (topisch)1,2,
Capsicum1
Ingwerwurzelstock-Trockenextrakt1,2
1 = AMG , 2 = EMA, 3 = Cochrane Collaboration, 4 = IQWiG, 5 = EBM, Metaanalysen
Überdosierung und Wechselwirkung
durch Verdrängung eines anderen Arzneimittels aus der Proteinbindung
besteht.
Potenziell inadäquate Wirkstoffe
Mit zunehmendem Alter steigt die Anzahl von Patienten mit altersassoziierten Erkrankungen, Multimorbidität
und der Verordnung von Arzneimitteln.
Laut Arzneiverordnungsreport erhielt
im Jahr 2008 jeder gesetzlich Versicherte über 60 Jahren 3,1 definierte Tagesdosen (DDD) als Dauertherapie. Folgen der
Polypharmakotherapie sind Risiken von
Interaktionen, unerwünschten Arzneimittelwirkungen und erhöhte Hospitalisierungsraten. Dies gilt nicht nur für
die Verordnung mehrerer Arzneimittel, sondern auch für die alleinige Gabe
bestimmter Substanzen, die als poten54
ziell inadäquate Medizin (PIM) eingedefinierte Alternativen verwiesen. Bestuft werden. Die Verordnung von PIM
dauerlicherweise wurden Phytopharerfolgt im Alter in beträchtlichem Maß,
maka als Alternative zu potenziell inbesonders bei Frauen.
adäquaten Synthetika
Vorrangig werden Bennicht berücksichtigt,
Im Jahr 2008 erhielt
zodiazepine, Neurolepobwohl sie für gleijeder gesetzlich Ver­
tika, Sedativa, Antideche Indikationen mit
sicherte über 60 Jahren
3,1 Tagesdosen als
pressiva und Digitalis
weniger wirkungsmeDauertherapie.
eingesetzt.
chanistisch bedingten
In der sog. Beers-LisNebenwirkungen zute der USA wurden im
gelassen sind.
Jahr 1997 erstmals 63
In Tabelle 2 sind praKriterien für PIM bei älteren Menschen
xisrelevante Indikationen für Phytodefiniert und 2003 mit 66 problemapharmaka als Alternative zu Synthetika
tischen Wirkstoffen für ältere Patiengemäß nationalem (AMG) und euroten aktualisiert. In der 2010 publizierpäischem (EMA) Zulassungsstatus, der
ten PRISCUS-Liste wurden, nach einer
wissenschaftlichen Bewertung durch
2 Runden umfassenden, strukturierdie Cochrane Collaboration, durch das
ten Expertenbefragung (Delphi-MeIQWiG sowie durch die evidenzbasierte
thode), 83 Arzneimittel als poten­ziell
Medizin und Metaanalysen aufgeführt.
inadäquat, 46 als fraglich und 26 als
Literatur bei den Verfassern
Nicht-PIM eingestuft und auf chemisch
Interessenkonflikte: keine
Der Hausarzt 14/2014
Herunterladen