Arbeitsmedizinische Gehörvorsorge nach G 20 „Lärm“ Vorwort Inhaltsverzeichnis 1. Grundlagen 2. Arbeitsmedizinische Vorsorge „Lärm“ 3. Untersuchungstechniken 4. Erkrankungen des Hörorgans 5. Beratung des Beschäftigten und des Unternehmers 6. Versicherungsmedizin 7. Kasuistik 8. Weiterführende Literatur und andere Quellen 9. Stichwortverzeichnis 10. Anhang 11. Abbildungsverzeichnis 4 Erkrankungen des Hörorgans 4.1 Nicht lärmbedingte Erkrankungen Thomas Nielitz Cave: In den nachfolgenden Ausführungen sind ausgewählte, häufige Erkrankungen angeführt, ohne dass damit der Anspruch auf korrekte Häufigkeitsverteilungen oder Vollständigkeit erhoben wird! 4.1.1 Übersicht In folgender Tabelle, Abb. 4.1 sind nicht lärmbedingte Erkrankungen des äußeren Ohres, des Mittel- und Innenohres zusammengefasst. Äußeres Ohr Fehlbildungen Präaurikuläre Fisteln u. Gehörgangsduplikaturen Traumata Teilabrisse u. Bissverletzungen Entzündungen Neubildungen Gehörgangsexostosen Mittelohr Innenohr Cochleäre Störungen Retrocochleär Störungen Hörsturz Akustikusneurinom Traumata Mikrovasculäres Kompressionssyndrom Morbus Menière Multiple Sklerose Akute Otitis media Grippeotitis Chronische Otitis media Traumata Otosklerose Altersschwerhörigkeit Heriditäre Innenohrschwerhörigkeit Peri- und postnatal erworbene Innenohrschwerhörigkeit Akuter / chronischer Tinnitus Abb. 4.1: Übersicht nicht lärmbedingter Ohrerkrankungen 4.1.2 Äußeres Ohr Für den Zeitraum einer medikamentösen oder operativen Behandlung an Ohrmuschel bzw. Gehörgang ist ein Tragen von Gehörschutz (Stöpsel/Kapsel) i. d. R. nicht möglich. Hieraus resultiert die Arbeitsunfähigkeit für Arbeitsplätze mit Lärmexposition! 149 4.1.2.1 Fehlbildungen Ätiologisch zeichnen genetische Faktoren (im Rahmen komplexer Syndrome) oder exogene Noxen (isolierte Entwicklungsstörungen) verantwortlich. Man unterscheidet Ohrmuscheldysplasien Grad 1-3. Bei Grad 1 bestehen häufig abstehende Ohrmuscheln durch unvollständige Ausprägung der Antehelixfalte und/ oder Cavumhyperplasie sowie Tassenohrdeformitäten Grad I –III mit Überhängen der Helix und Mikrotie. Eine operativ plastische Korrektur sollte aus sozialer und ästhetischer Indikation im Vorschulalter erfolgen. Bei Dysplasien Grad 2 finden sich ausgeprägte Ohrmuschelfehlbildungen mit Fehlbildungen des Mittelohres (Hammer, Amboss). Bei Grad 3 reichen die Ohrmuscheldysplasien bis zu einer Anotie mit vergesellschafteten Fehlbildungen / Atresien des Gehörganges / Mittelohres. Besonders in schweren Fällen erfolgt initial der Versuch der akustischen Rehabilitation mit Knochenleitungshörgeräten (bis 3. Lebensjahr), daran schließt sich die aufwendige und mehrzeitige Rekonstruktion des äußeren Ohres nach Brent oder Werda mit der Verwendung von autologem Rippenknorpel für das knorpelige Ohrmuschelstützgerüst an. Es kann die Gehörgangsanlage mit ggf. Mittelohrrekonstruktion folgen. Alternativ kommen knochenverankerte Epithesen zum Einsatz. 4.1.2.2 Präaurikuläre Fisteln und Gehörgangsduplikaturen Präaurikuläre Fisteln und Gehörgangsduplikaturen sind entwicklungsbedingte Fehlbildungen (der Aurikulärhöcker bzw. 1. Kiemenfurche). Bakterielle Superinfektionen führen zu entzündlich schmerzhaften Schwellungen mit putrider Sekretion aus dem Fistelmaul. Nach antibiotischer Behandlung erfolgt die Extirpation in toto im entzündungsfreien Intervall. 4.1.2.3 Traumata Durch gewaltsame Scherung des Perichondriums gegen Knorpel kommt es zur Einblutung mit Ausbildung eines Othämatom. Durch die Verlängerung der Diffusionsstrecke ist nachfolgend die Knorpelernährung gefährdet. Knorpelmazerationen und Sekundärinfektion können zur deutlichen Formveränderung (Blumenkohlohr) führen. Daher muss immer eine operative Hämatomausräumung mit Knorpelfensterung und temporären Matratzennähten erfolgen. Alleiniges Abpunktieren führt zwangsweise zum Rezidiv. 4.1.2.4 Teilabrisse und Bissverletzungen Bei Teilabrissen oder Bissverletzungen des äußeren Ohres kann nach ausgiebiger Wundreinigung der Versuch einer Replantation gemacht werden. Der Erfolg ist wesentlich von der Revaskularisierung abhängig. Besser sind meist primäre, gefäßgestielte Lappenplastiken oder eine temporäre Knorpeldeponierung in einer retroaurikuläre Tasche mit zweizeitiger Reposition/Rekonstruktion. 4.1.2.5 Entzündungen Eine Otitis externa diffusa (Badeotitis) ist eine schmerzhafte Gehörgangsentzündung mit Lumeneinengung und Detritusbildung. Heftigste Schmerzen, Hörminderung und Otorrhoe bei typischem Tragusdruckschmerz sind charakteristisch. Das initiale Abschwellen des Gehörganges (Alkohol) sowie die regelmäßige Reinigung des überwiegend mit Pseudomonas – infiziertem (>60%) Detritus sind Voraussetzung für eine effektvolle Streifeneinlage (Steroide/ Chinolone) für ca. 1-2 Wochen. Bei „überlanger“ (>14d) Lokalbehandlung mit Chinolonen droht durch Zerstörung jeglicher physiologischer Keimflora das Auftreten einer Otomykose mit Juckreiz und Otorrhoe. Je nach Pilzart kann otoskopisch weißer Detritus oder farbiges (gelb, grün oder schwarz) Mycel sichtbar werden. Eine intensive Gehörgangsreinigung (Alkohol) mit Abtragung oberer Epithelschichten zur Sporenreduktion (Salizylsäure 1%, Silberni- 150 trat 10%, Albotyl) ist dann ebenso unumgänglich wie die lokale Applikation eines Antimykotikum. Die so genannte „maligne“ Variante der Otitis externa resultiert durch eine Pseudomonas – Infektion bei gleichzeitig bestehendem Diabetes mellitus. Aus der Gehörgangsaffektion können eine Begleitostitis und Osteolyse des Felsenbeines mit Facialisparese resultieren. Neben einer systemischen Antibiose (Chinolone, Ceftazidim) ist eine operative Sanierung notwendig. Über eine Eintrittspforte an der Hautoberfläche (Mikroverletzung) kann eine Perichondritis, d.h. eine schmerzhafte Entzündung der Knorpelhaut entstehen. Es zeigt sich eine typische Rötung und Schwellung der Ohrmuschel mit Aussparung des Ohrläppchens. Eine lokale Kühlung und Desinfektion mit Rivanol sowie die systemische (orale) Gabe von Clindamycin sind die Therapie der Wahl. Ein Erysipel ist eine Infektion der Lymphgefäße der Haut durch Streptokokken-Spezies. Typischerweise zeigt sich eine Rötung und Schwellung der gesamten Ohrmuschel unter Einbeziehung des Ohrläppchens und angrenzender Hautareale mit scharfer Begrenzung. Therapeutisch sind eine lokale Kühlung und Desinfektion mit Rivanol sowie die hochdosierte (i.v.) Gabe von Penicillin indiziert. Auch das äußere Ohr kann Manifestationsort verschiedenster Ekzeme sein: endogene Ekzeme treten im Rahmen systemischer Hauterkrankungen (Neurodermitis) eher gehäuft auf, ebenso wie Kontaktekzeme (Metalle, Stäube, Kosmetika). Ein mikrobielles Ekzem als allergische Reaktion auf Bakterieneiweiße sowie das seborrhoische Ekzem sind seltener vertreten. Der häufig begleitende Juckreiz kann zu Kratzeffekten an der Haut mit bakterieller Sekundärinfektion führen. Aufwendige und langzeitige Lokalbehandlungen mit Externa (Steroide) sind notwendig. 4.1.2.6 Neubildungen Benigne Hautveränderungen der Ohrmuschel, eine Chondrodermatitis nodularis, aber auch Basaliome sind durch eine Teilresektion der Ohrmuschel mit Reduktionsplastik meist gut zu beherrschen. Malignome hingegen, wie z. B. das maligne Melanom, das Spinaliom oder das Gehörgangskarzinom treten eher seltener auf und sind durch ihr Metastasierungsverhalten langfristig kaum zu beherrschen. Selbst die nötigen, aufwendigen und destruierenden Operationsverfahren (Ablatio auris, Petrosektomie, Parotidektomie und Neck dissektion) mit ggf. Nachbestrahlung verbessern die Vitalprognose nicht signifikant. 4.1.2.7 Gehörgangsexostosen Als Gehörgangsexostosen bezeichnet man Osteome, die zu einer Lumeneinengung und konsekutiver (rezidivierender) Otitis externa führen. Wassersportler sind infolge der abrupten Temperatursprünge überproportional häufig betroffen. Die operative Entfernung der Knochenvorsprünge sollte im entzündungsfreien Intervall erfolgen. 4.1.3 4.1.3.1 Mittelohr Akute Otitis media und Komplikationen Bezüglich des Pathomechanismus spielt eine temporäre Funktionsstörung der Tuba auditiva eustachii mit konsekutiv mechanisch oder funktionell eingeschränkter Belüftungs- und Drainagefunktion des Mittelohres und des angrenzenden Mastoids die entscheidende Rolle. Es besteht eine enge Assoziation zu Ventilationsbehinderungen der Nase oder Infektionen bzw. Nasenrachenpathologien (Adenoide, Tumore). Tubenverlegungen bzw. aus dem Keimreservoir tubogen aufsteigende Infektionen (auch hämatogen) sind die Folge. Sekretstau im Tym151 panon mit Veränderung der Sekretzusammensetzung (mukös) mit bakterieller Superinfektion führen zur sichtbaren Trommelfellaffektion und tympanalen Pusbildung. In Mitteleuropa besteht ein annähernd konstantes Erregerspektrum (Streptococcus pneumoniae bis 60 %, Haemophilus influenzae bis 30 %, Branhamella catarrhalis bis 6 %). Bei Kindern sind häufiger virusbedingte Otitiden anzutreffen. Bis Vollendung des 3. Lebensjahres waren ca. 50 % und bis 9. Lebensjahr ca. 75 % aller Kinder von entzündlichen Mittelohraffektionen betroffen. In Abhängigkeit der anatomischen Verhältnisse des Erregerspektrums (+ Resistenzlage) und des medikamentösen Therapieansatzes sind otogene Komplikation möglich: akute Mastoiditis mit ostitischer Ausdehnung in Temporalschuppe oder Jochbogen, Abszedierung und Meningitis im Bereich der hinteren und mittleren Schädelgrube, Labyrinthitis (Vertigo, Innenohrschwerhörigkeit, Tinnitus), Facialisparese, Thrombose des Sinus sigmoideus/transversus, Senkungsabszess der Mastoidspitze in den Ansatz des Musculus sternocleidomastoideus(Bezold-Abszess), Abszedierung der Felsenbeinspitze mit Ausprägung eines Gradenigo-Syndroms (Parese der Hirnnerven VIII,IX, XI,XII). Bei Jugendlichen und Erwachsenen steht klinisch die Otalgie (pochender Schmerz) mit Hörminderung durch Schallleitungsstörung und ggf. Otorrhoe im Vordergrund. Kleinkinder reagieren initial mit zunächst scheinbar unklarem Fieber, Diarrhoe, Emesis und Dyspepsie. Das ständige Ziehen und Fassen an das äußere Ohr weist auf eine mögliche Mittelohrentzündung hin. Komplikationen können sich klinisch in Cephalgien, meningealer Reizung oder neurologischen Ausfällen sowie Schwindel, Innenohrschwerhörigkeit, Tinnitus oder Facialisparese äußern. Entsprechend des bakteriellen Erregerspektrums sind Breitbandpenicilline oder Cephalosporine oral für 7-10 Tage medikamentöse Mittel der ersten Wahl. Symptomatisch ist die Gabe von Antiphlogistika (Paracetamol, Ibuprofen, Diclofenac) sowie abschwellende Nasentropfen (Naphazolin, Xylometazolin) empfehlenswert. Eine Paracentese zur akuten Pus- und damit Schmerzentlastung ist nur noch in ausgewählten Fällen nötig. Bei Kindern ist die Ausheilung infolge der viralen Genese häufig auch durch symptomatische Behandlung möglich. Nur bei 15 % ist die Antibiose zur Ausheilung nach Intervall von ca. einer Woche ohne Befundregredienz notwendig. Aufgrund der modernen Medikationsmöglichkeiten sind schwere Verlaufsformen der akuten Otitis media selten. Bei akuter Mastoiditis würde neben der i.v. Antibiose die zeitnahe Mastoidektomie und Paukendrainage mit Adenotomie (Kinder) erfolgen. Bei zentralnervösen Komplikationen ist neben der Gabe liquorgängiger Antibiotika (Cefotaxim, Ceftriaxon) und der Einleitung einer Infusionstherapie mit hochdosierter Steroidgabe kausal eine sofortige operative Herdsanierung (Mastoidektomie, ggf. subtotale Petrosektomie, Abszessentlastung, Thrombektomie) notwendig. 4.1.3.2 Grippeotitis Differentialdiagnostisch von der bakteriellen Otitis media ist die virale Myringitis hämorrhagica bullosa (Grippeotitis) abzugrenzen, die häufig 2-3 Wochen nach grippalem Infekt auftritt und vorrangig durch Rhino-, Influenza-, Parainfluenza- und Adenoviren verursacht wird. Es besteht die Gefahr einer akuten Labyrinthitis nach Durchwanderung des Tympanons. Klinisch besteht eine z. T. schmerzhafte blutige Otorrhoe mit akuter Hörminderung (Schallleitungsstörung) bei otoskopisch sichtbaren (z. T. geplatzten) Blutblasen auf dem entzündlichen Trommelfell. Bei Labyrinthaffektionen können eine Innenohrschwerhörigkeit bis zur Ertaubung, Tinnitus, Schwindel und eine Facialisparese resultieren. Bei fehlender labyrinthärer Komplikation erfolgt nur eine topische Applikation von abschwellenden Nasentropfen, ggf. oralen Schmerzmittel (Analgetika) bei obligaten otoskopischen und tonaudiometrischen Verlaufskontrollen. 152 Bei Auftreten von Innenohrkomplikationen soll eine zeitnahe Einlage einer Paukendrainage zum Abfluss des toxischen Sekretes und die kombinierte Gabe eines Virusstatikums (Aciclovir), eines liquor- und lymphgängigen Antibiotikums (Cefotaxim, Ceftriaxon) und hochdosierter Steroide (Methylprednisolon) erfolgen. Bei klinischer Befundpersistenz bzw. -progredienz (auffälliger Felsenbein-CT-Befund) erfolgt im Intervall von 3 bis 5 Tagen die Mastoidektomie. 4.1.3.3 Chronische Otitis media Durch eine längeranhaltende Funktionsstörung der Tuba auditiva eustachii resultiert eine permanent gestörte Belüftungs- und Drainagefunktion des Mittelohres. Bei der chronischen Otitis media mesotympanalis bleibt der Entzündungsprozess auf eine chronische Schleimhauteiterung des Tympanons ohne Destruktion der knöchernen Grenzen limitiert. Klinisch imponiert eine permanente Trommelfellperforation bei intaktem Anulus fibrosus und eine intermittierende Otorrhoe. Sekundäre, narbige und sklerotische Schleimhautveränderungen bzw. ostitische Abbauprozesse können zur Fixierung bzw. zum Verlust der Gehörknöchelchen führen und die Schallleitungsschwerhörigkeit weiter verstärken. Bei der chronischen Otitis media epitympanalis resultiert aus der tympanalen Belüftungsstörung initial eine Retraktionstasche des Trommelfells mit überwiegend randständiger Lokalisation im hinteren oberen Quadranten (Pars flaccida, Pars tensa). Mit fortschreitender Entwicklung kommt es zum Einwachsen von Plattenepithel in das mit Schleimhaut ausgekleidete Tympanon, der „Geburtsstunde“ des Cholesteatoms. Dieses imponiert als benigner Tumor mit Größenprogredienz und lokal entzündlicher Knochen- und Gewebedestruktion. Klinisch zeigt sich eine randständige Perforation mit fötider Otorrhoe und meist kombinierter Schwerhörigkeit. Entzündungsbedingte Komplikationen mit Affektionen des Labyrinthes (Schwindel, Tinnitus, Innenohrschwerhörigkeit) und des Nervus facialis (Parese) sowie zentrale Störungen (Meningitis, Hirnabszesse, Sinusthrombose) sind daher keine Seltenheit. In diesen Fällen ist immer die Indikation zur bildgebenden Diagnostik (hochauflösendes Felsenbein – CT) gegeben. Verlagerungen von Plattenepithel und nachfolgende Cholesteatomentstehung sind auch kongential durch embryonale Keimversprengung oder durch Mittelohr-/Felsenbeintraumata möglich. Nach konservativer Vorbehandlung des Ohres zur Eindämmung der lokal-bakteriellen Superinfektion kann eine kausale Therapie immer nur durch eine sanierende Ohroperation (Tympanoplastik) erfolgen. Dabei erfolgt der Trommelfellverschluss (Temporalisfascie, Perichondrium, Knorpel) und ggf. die Kettenrekonstruktion (umgeschliffene autologe Knöchelchen, Titan – Prothesen). Bei einem Zeitintervall < 6 Monaten seit der letzten Otorrhoe ist von einer begleitenden Ostitis des Mastoids auszugehen, die durch Mastoidektomie saniert werden muss. Bei der chirurgischen Therapie von Cholesteatomen besteht grundsätzlich die Notwendigkeit einer vollständigen Entfernung zur Vermeidung von Rezidiven und Komplikationen. Je nach Cholesteatomgröße und –lokalisation und Voroperationen finden die geschlossene (Belassen der hinteren Gehörgangswand: ICW = Intact Canal Wall) und die offene Operationstechnik (Radikalhöhlenanlage: CWD = Canal Wall Down) ihre Anwendung. Der Vorteil einer offenen Technik liegt bei der deutlich geringeren Rezidivquote (< 5 %) bei jedoch schlechteren Optionen der Mittelohrrekonstruktion (größere Schallleitung). Grundsätzlich ist jedoch darauf zu verweisen, dass beim Ersteingriff nicht die Hörverbesserung, sondern eine große Übersicht zur Sanierung des Entzündungsherdes und die vollständige Cholesteatomentfernung zur Vermeidung späterer z. T. vital bedrohlicher Komplikationen vorrangig sind. Hörverbessernde Nachoperationen im Sinne des Second-look folgen üblicherweise ein Jahr nach der Primäroperation. 153 4.1.3.4 Traumata Ursächlich können Gehörgangsmanipulationen (u. a. Zerumen- oder Fremdkörperentfernung, Schweißperle) oder erhebliche Druckveränderungen im Gehörgang (u. a. Ohrfeige, Explosionstrauma = Schalldruckeinwirkung > 150 dB in mehr als 3 ms mit Luftdruckwelle, Ohrspülung) zur Schädigung des Trommelfelles mit Perforation führen. Symptomatisch zeigt sich die schmerzhafte Hörminderung (Schallleitungsschwerhörigkeit) bei häufigster Perforation in beiden hinteren TF-Quadranten. Bei Destruktion der Gehörknöchelchenkette sind auch begleitende Mittel- und Innenohrschäden möglich. Bei otoskopisch nicht erkennbaren, entzündlichen Begleitveränderungen erfolgt die sofortige endaurale Trommelfellschienung in Lokalanästhesie oder Kurznarkose. Bei V.a. Lokalinfektion wird keine Schienung oder Lokalbehandlung durchgeführt und zunächst eine antibiotische (oral) Abschirmung für eine Woche (Amoxicillin, Augmentan, Unacid) eingeleitet. Eine endaurale Tympanoplastik (Trommelfellverschluss, ggf. Kettenrekonstruktion) erfolgt frühestens im Intervall von 4 Wochen. Bei labyrinthären Komplikationen (Knochenleitungsabfall, Tinnitus, Schwindel) ist die Einleitung einer rheologischen Infusionstherapie mit Methylprednisolon indiziert. Entsprechend der Einwirkungsrichtung (temporal, frontal+occiptial) großer Kräfte auf die Schädelkalotte unterscheidet man zwischen Felsenbeinlängs- und –querfrakturen. Bei Fraktur längs der Pyramidenachse werden immer die Gehörknöchelchenkette und das Trommelfell (Schallleitungsschwerhörigkeit) verletzt. Liquorrhoe infolge Durazerreißung via Trommelfelldefekt in den Gehörgang oder über die Keilbeinhöhle in die Nase/Nasenrachen sowie eine Facialisparese treten seltener auf. Die Bruchlinie quer zur Pyramidenachse verläuft fast immer durch das Labyrinth bzw. den inneren Gehörgang. Hieraus resultieren eine meist sofortige Ertaubung, akuter Schwindel, Fazialislähmung bei sichtbarem Hämatotympanon hinter dem intakten Trommelfell. Der Liquorabfluss erfolgt via Ohrtrompete in den Nasenrachen. Infolge der Intensität der einwirkenden Kräfte auf den knöchernen Schädel ist immer auch von einem begleitenden SHT mit Coup-contre-Coup-Phänomen auszugehen. Nach klinischer und CT-Diagnostik sind die Therapiemaßnahmen vom Schädigungsausmaß abhängig. Wegen des „Begleit–SHT“ ist immer eine stationäre Überwachung für mindestens eine Nacht empfehlenswert. Bei Felsenbeinlängsfraktur mit blutiger Otorrhoe erfolgt nur eine sterile Ohrabdeckung und keine Gehörgangsreinigung. Bei Felsenbeinquerfraktur sind ebenfalls keine Manipulationen zur Entlastung des Hämatotympanon indiziert. Zur Prävention einer aufsteigenden Infektion wird ein liquorgängiges Antibiotikum (Cefotaxim, Ceftriaxon) appliziert. Bei akutem Knochenleitungsabfall / Tinnitus wird eine rheologische Infusionstherapie mit hochdosierter Gabe von Steroiden eingeleitet. Der akute Schwindel kann mit Dimenhydrinat 150 mg supp./i.v. oder ggf. 0,5 mg Atropin i.v. anbehandelt werden. Bei mäßiger Rhinoliquorrhoe (tubogen) oder Otoliquorrhoe bis zu 5-7 Tagen besteht keine Operationsindikation. Bei großen Liquormengen, meningealer Reizung oder Persistenz der Liquorrhoe > 5 Tage ist eine operative Intervention notwendig (transmastoidale Duraplastik, endonasale Liquorfisteldeckung der Keilbeinhöhle). Bei kompletter Sofortparese des Nervus facialis mit sicherem (radiologischen) Frakturverlauf durch den knöchernen Fazialiskanal ist immer eine sofortige Revision mit Dekompression / Rekonstruktion im mastoidalen und tympanalen Verlauf mit begleitender, hochdosierter Steroidgabe (Dexamethason) indiziert. Bei kompletter / inkompletter Spätparese (>6 h) wird zunächst abgewartet. Ergibt sich unter Infusionstherapie und Gabe von Dexamethason mit Fazialistraining innerhalb von 10 Tagen keine signifikante Besserung (FNG - Denervation >90 %), erfolgt ebenfalls die operative Dekompression. Nach einem Intervall von drei Monaten kann abschließend die Rekonstruktion des Mittelohres (Gehörknöchelchenkette) durchgeführt werden. 154 4.1.3.5 Otosklerose Symptomatisch besteht eine langsam progrediente, ein- oder beidseitige Hörminderung, die häufig mit Tinnitus einhergeht. Tonaudiometrisch kann sich eine reine Schallleitungs- oder eine kombinierte Schwerhörigkeit darstellen bei gleichzeitigem Ausfall aller Stapediusreflexe. Ursächlich handelt sich um einen knöchernen Umbauprozess des Labyrinthes unbekannter Ätiologie mit einer Ankylose (knöcherne Fixierung) der Stapesfußplatte. Beim Knochenabund –umbau werden in die Lymphkompartimente der Cochlea proteolytische Enzyme freigesetzt, welche zur ototoxischen Haarzellschädigung führen können. Otosklerose wird autosomal dominant vererbt. Frauen sind häufiger als Männer (60:40) betroffen, vorrangig in Zeitphasen hormoneller Umstellungen. Therapeutisch erfolgt bei ausreichend großer Schallleitungskomponente (Rinne-Versuch negativ) die operative Stapesplastik mit Ersatz des fixierten Steigbügels durch einen TeflonPlatin-Piston. Bezüglich der toxisch bedingten Innenohrkomponente kann ein Behandlungsversuch mit Natriumfluorid oder Biphosphonaten eingeleitet werden. 4.1.4 Innenohr 4.1.4.1 Cochleäre Störungen Akute Innenohrschwerhörigkeit (Hörsturz) Symptomatisch besteht eine plötzlich und meist ohne erkennbare Ursache auftretende, überwiegend einseitige Hörminderung. Begleitender Tinnitus und temporärer Schwindel können vergesellschaftet sein. Tonaudiometrisch können einzelne Frequenzbereiche betroffen sein, aber auch pantonale Hörverluste bis zur Ertaubung sind möglich. Die Ätiologie des Hörsturzes ist nicht abschließend geklärt. Diskutiert werden einerseits Mikrozirkulationsstörungen und andererseits Reaktivierungen neurotroper Viren (u. a. Mumps, Masern, HSV, VZV, Adeno-, Influenzaviren) mit nachfolgender, endolymphatischer Labyrinthitis. Differentialdiagnostisch sind außerdem durch serologische Untersuchungen mögliche Nerven- und Labyrinthinfektionen durch Treponema pallidum, Toxoplasmose und Borrelien auszuschließen. Da auch retrocochleäre Läsionen (u. a. Akustikusneurinom, Multiple Sklerose) initial als Hörsturzereignis imponieren können, ist die Durchführung einer Hirnstammaudiometrie (BERA) 6 Wochen nach Initialereignis obligat, bei Auffälligkeiten ist eine MRT des Kleinhirnbrückenwinkels und des Hirnstammes zu veranlassen. Die Spontanerholungsrate beträgt nach seriöser Einschätzung ca. 50-60%, in einzelnen Studien werden sogar bis 80% angegeben. Die unsichere Ätiologie führt zu uneinheitlichem therapeutischen Vorgehen. Allgemein verbreitete und von der HNO-Fachgesellschaft empfohlene Therapie ist die rheologische Infusionstherapie mit Haes 6 % oder Dextran 40 zur Hämodilution mit Gabe von Glucocorticoiden (Methylprednisolon 250 mg) in absteigender Dosierung. Die Infusion von Haes 6 % muss auf maximal 300g/Woche beschränkt werden, darüber hinaus resultiert eine Akkumulation im retikuloendothelialen System (RES) der Haut mit therapieresistentem Pruritus. Moderne Apherese – Verfahren (HELP-, Fibrinogen-Apherese) zeigen bisher günstige Ergebnisse, sind aber aufwendig und kostenintensiv. Eine hyperbare Sauerstofftherapie erbringt im Vergleich zur Infusionstherapie keine Vorteile, ist jedoch deutlich kostenintensiver. Bei serologischem Nachweis einer Infektion mit neurotropen Erregern werden zusätzlich spezifische Medikamentenapplikationen eingeleitet (Herpes simplex Virus+ Varizella zoster Virus à Aciclovir i.v., Borrelien à Doxycyclin p.o. oder Rocephin i.v., Lues à Penicillin G i.v.). 155 · Nachtrag: Der „Hörsturz“ ist laut MDK und Leitlinie der Deutschen HNO-Gesellschaft kein medizinischer Notfall mehr, sondern ein Eilfall mit Behandlungsbedürftigkeit. Die Möglichkeit einer möglichen Spontanremmission innerhalb von 3 Tagen wird daher zunächst abgewartet. Die generelle Notwendigkeit/ Sinnhaftigkeit einer Infusionstherapie, insbesondere unter stationären Bedingungen wird durch die Prüfinstitutionen (qualitativ nicht ausreichend evidenzbasierte Therapieeffekte) i. d .R. immer wieder infrage gestellt. Die Entscheidung zur stationären Aufnahme trifft jedoch per Gesetzeskraft immer noch der aufnehmende Krankenhausarzt. Die Behandlungsdauer spielt unter DRG – Abrechnungsbedingungen keine wesentliche Rolle mehr, die Indikation zur stationären Aufnahme selbst ist jedoch mehr denn je Gegenstand der Diskussion. Als Indikationskriterien für eine stationäre Behandlung werden durch den MDK in Ausnahmefällen akzeptiert: · hochgradiger oder vollständiger, ein- oder beidseitiger Hörverlust mit Kommunikationsbeeinträchtigung · Hörverlust mit Persistenz/Progredienz unter ambulanter Therapie · Hörverlust am „letzten Ohr“ · Hörverlust mit vestibulärer Begleitsymptomatik · Hörverlust mit internistische Komorbidität (Therapiedurchführung mit erhöhtem Risiko – z. B. Diabetes mellitus, Hypertonus, kardiale Erkrankungen, Nieren-insuffizienz) Traumata Durch ruckartige, starke körperliche Belastung oder infolge starker Druckschwankungen (Barotrauma - Tauchen/Fliegen) kann die Ruptur der Membran des runden Fensters oder des Stapesringbandes mit nachfolgender Perilymphfistel resultieren. Die Hörminderung stellt sich audiometrisch als eine pantonale Innenohrschwerhörigkeit > 50 dB dar und kann mit akutem Tinnitus und Drehschwindel einhergehen. Die sofortige endaurale Tympanoskopie mit Abdeckung der Leckage (Bindegewebe und Fibrinkleber) ist mit begleitender hochdosierter Cortisonstoßtherapie (bis 1000 mg) die Therapie der Wahl. Bei Knalltraumata kommt es durch eine Schalldruckeinwirkung von > 150 dB in weniger als 3 ms zu einer akuten Haarzellschädigung mit konsekutivem Abfall der Hörschwelle vorrangig im Hochtonbereich(initiale c5-Senke). Begleitender Tinnitus und Schwindel sind möglich. Die Einleitung einer rheologischen Infusionstherapie mit Steroidgabe sollte zeitnah erfolgen. Bei Therapieresistenz ist die Durchführung einer hyperbaren Sauerstofftherapie innerhalb von 4 Wochen nach Ereignis medizinisch sinnvoll indiziert. Jedes stumpfe Schädelhirntrauma kann auch zu einer mechanischen Schädigung auf zellulärer Ebene in der Cochlea im Sinne einer Commotio oder Contusio labyrinthi führen. Beidseitige (z. T. asymmetrische) Innenohrschwerhörigkeiten mit Bevorzugung der hohen Frequenzbereiche sind die Folgen. Mikrofrakturen der Labyrinthkapsel führen langfristig zu einer Cochleasklerosierung mit Progredienz der Innenohrschwerhörigkeit über Jahre bis zur möglichen Ertaubung. Therapieoption der Wahl ist wiederum die Einleitung einer rheologischen Infusionstherapie mit Gabe von Steroiden. Morbus Menière Symptomatisch besteht eine klassische Symptomtrias aus anfallsartigem Drehschwindel (mit Übelkeit + Erbrechen), Tieftonschwerhörigkeit und Tinnitus bei initialer Aura und begleitendem, aurikulären Druckgefühl. Bei fortschreitender Krankheit steigt die Anfallsfrequenz bei gleichzeitig zunehmender Dauer der Schwindelanfälle (Minuten bis Stunden). Die initial fluktuierende Hörminderung mit reversiblem Tinnitus erholt sich später nur unvollständig und prägt sich zu einer pantonalen, irreversiblen Hörminderung mit chronischem Tinnitus aus. Mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 20 % besteht die Möglichkeit der Erkrankung der Gegenseite. 156 Es besteht ein endolymphatischer Hydrops im Labyrinth als pathmorphologisches Korrelat. Bei Anfall rupturiert die Reissner Membran (Corti-Organ) mit nachfolgender Vermischung von kaliumreicher Endolymphe und natriumreicher Perilymphe. Durch die plötzliche Aufhebung des Ionengradienten werden afferente Nervenfasern und Haarzellen dauerdepolarisiert und verursachen die komplexe, klinische Symptomatik. Nach dem Druckausgleich der Flüssigkeitskompartimente verklebt die Leckage und der Ionengradient baut sich erneut auf, die Schwindelsymptomatik sistiert. Diagnostisch ist zusätzlich zur Eruierung der typischen, klinischen Symptomatik vor Einleitung weiterführender therapeutischer Maßnahmen der Hydropsnachweis zu erbringen (Elektrocochleographie, tieftonmodulierte DPOAE). Infolge vergleichbarer klinischer Symptomatik ist differentialdiagnostisch durch eine Hirnstammaudiometrie (BERA) bzw. durch bildgebende Verfahren (MRT/MR-Angiografie) eine retrocochleäre Läsion, insbesondere ein mikrovasculäres Kompressionssyndrom (AICA/PICA – Gefäßschlinge am Nervus vestibulocochlearis) auszuschließen. Im Akutanfall steht die Beherrschung des ausgeprägten Drehschwindels mit der vegetativen Begleitsymptomatik im Vordergrund (Dimenhydrinat 150 mg supp/i.v., 0,5 mg Atropin i.v., alternativ: Diazepam oder Psyquil). Begleitend kann zur Behandlung der cochleären Tieftonschwerhörigkeit und des Tinnitus eine Therapie mit Methylprednisolon oder eine Dehydratationstherapie nach Vollrath-Schema (Mannitol + Diuretikum) erfolgen. Eine nachfolgende Betahistin-Dauermedikation (bis zu 3 x 24 mg/d) zur permanenten Schwindelbeherrschung wird danach begonnen. Bei rezidiverenden Menière -Attacken (kurze Anfallsintervalle) kann die intratympanale Gentamycingabe unter OAE- und tonaudiometrischem Monitoring erfolgen. Alternativ ist eine (wenn auch umstrittene) operative Saccusdekompression bzw. Saccotomie nach House möglich. Ultima ratio ist die selektive Neurektomie des Nervus vestibularis im inneren Gehörgang. Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) Hierbei handelt es sich um eine physiologische Verschlechterung der cochleären Leistungsfähigkeit, meist ab 5. Lebensdekade einsetzend, mit langsamer Progredienz und annähernd symmetrischer Entwicklung einer hochtonbetonten Innenohrschwerhörigkeit. Durch den zeitlich protrahierten Verlauf wird diese erst bei deutlicher Beeinträchtigung des Sprachverständnisses und damit der Kommunikationsfähigkeit auffällig. Die irreversible Degeneration der Haarzellen und nachfolgend der assoziierten Neurone ist einerseits Resultat der physiologischen Involution (genetisch programmierter Zelltod) und andererseits einer lebenslangen Akkumulation schädigender exogener Einflüsse (u. a. Lärmexposition, O2-Mangel, metabolische und ototoxische Schäden, Perfusionsstörungen). Eine kausale Therapie ist nicht existent, symptomatisch ist bei Störung des Sprachverständnisses die beidseitige Hörgeräteversorgung indiziert. Heriditäre Innenohrschwerhörigkeiten Bei der hereditär progressiven Variante entwickelt sich eine annähernd symmetrische, cochleäre Innenohrschwerhörigkeit mit initialer Ausprägung einer Senke im mittleren Tonbereich (empirisches Erscheinungsbild) oder seltener im Hochtonbereich und nachfolgend möglicher Progredienz bis zur Ertaubung. Die überwiegend betroffenen, jungen Männer unterliegen einem schubweisen und schicksalhaften Verlauf mit schlechter Prognose bei frühem Eintritt. Die Ursache ist bislang nicht bekannt, eine genetische Fixierung mit familiärer Häufung wird angenommen. Da diese akute Hörminderung initial wie ein „Hörsturz“ imponiert, wird zunächst eine rheologische Infusionstherapie mit zusätzlicher Steroidgabe eingeleitet. Später ist meist eine Hörgeräteversorgung oder die Anlage eines Cochlear Implants unumgänglich. Bei anderen heriditären Erkrankungen sind Innenohrschwerhörigkeiten (IOS + ggf. mit Tinnitus und /oder Vertigo) mit komplexen, syndromalen Pathologien vergesellschaftet (u. a. 157 Pendred-Syndrom: IOS und Struma, Alport-Syndrom: IOS und Niereninsuffizienz, UsherSyndrom: IOS und Retinitis pigmentosa mit Erblindung). Peri- und postnatal erworbene Innenohrschwerhörigkeiten Infektionen (Herpes simplex – Viren, Varizella zoster – Viren, Röteln, Mumps, Zytomegalie, Toxoplasmose, Lues), im Geburtskanal oder intrauterin erworben, können ebenso wie perinatale Risikosituationen (Hypoxie, Kernikterus) zu dauerhaften Innenohrschäden unterschiedlicher Ausprägung bis zur Ertaubung führen. Auch nach der Geburt sind die gleichen Erreger potentiell in der Lage, durch eine akute Labyrinthitis oder Meningitis neuronale oder Haarzellschäden mit irreversibler Hörschädigung zu erzeugen. Nach der virusstatischen oder antibakteriellen Akutbehandlung ist die frühzeitige Hörgeräteversorgung oder Anlage eines Cochlear Implants die wesentliche Voraussetzung für das soziale Gehör und den Spracherwerb. Akuter / chronischer Tinnitus Tinnitus ist ein Krankheitssymptom mit der subjektiver Wahrnehmung von temporären oder permanenten Ohrgeräuschen, am häufigsten in Form von Rauschen oder hochfrequenten Pfeiftönen, aber auch „Wasserplätschern“, „Zwitschern“ oder „Maschinenrattern“ werden berichtet. Die aus dem Tinnitus resultierende psychovegetative Belästigung variiert individuell sehr. Die Persistenz bis 3 Monate wird als akuter Tinnitus, darüber hinaus als chronischer Tinnitus bezeichnet. Die Entstehung von Tinnitus wird heute als Ausdruck einer Funktionsstörung der Cochlea oder von Abschnitten der zentralen Hörbahn gesehen. Ätiologie und Pathogenese sind weitestgehend unbekannt. Eine initiale Generierung an den äußeren Haarzellen mit späterer, zentral - neuronaler Manifestation wird diskutiert. Differentialdiagnostisch abzugrenzen ist der weitaus seltenere, objektive Tinnitus (Strömungsgeräusche von Blutgefäßen, spontane Muskelkontraktionen der Mittelohrmuskeln). Allgemein etablierte Therapie ist wiederum die rheologische Infusionstherapie mit Haes 6 % oder Dextran 40 zur Hämodilution mit Gabe von Glucocorticoiden (Methylprednisolon 250 mg in absteigender Dosierung). Optional kann die Zugabe von Procain (400 – 1000 mg) zur Membranpotentialstabilisierung unter RR- und Ekg-Monitorring erfolgen. Bei Therapieresistenz kann im Intervall eine einmalige Lidocain – Injektion (100 mg Lidocain über 10 Minuten) versucht werden. Bei Veränderung der Tinnitusqualität erfolgt die orale Nachbehandlung mit Tocainid unter Spiegel- und EKG-Kontrolle durch den Hausarzt. Eine Infusionstherapie mit inhibitorischen Neurotransmittern (Glutamat und Glutaminsäurediethylester) mit ggf. oraler Nachbehandlung kann optional angeschlossen werden. Eine hyperbare Sauerstofftherapie hat vergleichbar dem Hörsturz keine besseren Behandlungsergebnisse als o. g. Infusionstherapien. Grundsätzlich sind die Wirkungen aller medikamentösen Behandlungsoptionen über die Spontanremission hinaus als überwiegend nur bedingt effektvoll und schwer prognostizierbar anzusehen. Daher kommt bei möglicher, medikamentöser Therapieresistenz dem psychosomatischen Ansatz mit dem Ziel einer „positiven Verarbeitung“ des Ohrgeräusches die wesentliche Rolle zu. Das Erzielen einer Habituation, d.h. letztlich einer Akzeptanz eines Lebens mit Tinnitus ohne wesentliche psychovegetative Beeinträchtigung, ist Inhalt einer Retraining–Therapie. Nachtrag: Auch der „akute/chronische Tinnitus“ ist laut MDK und Leitlinie der Deutschen HNOGesellschaft kein medizinischer Notfall, sondern ebenfalls ein Eilfall mit Behandlungsbedürftigkeit. Auch nach Abwarten einer möglichen Spontanremission innerhalb von 3 Tagen wird durch Prüfinstitutionen die Notwendigkeit einer Infusionstherapie, insbesondere unter stationären Bedingungen generell nur sehr bedingt gesehen. Als Indikationskriterien für eine stationäre Behandlung werden in Ausnahmefällen akzeptiert: · · 158 ausgeprägte psychovegetative Begleitsymptomatik/Dekompensation Begleitender Hörverlust und/oder vestibuläre Symptomatik · Internistische Komorbidität (Therapiedurchführung mit erhöhtem Risiko – z. B. Diabetes mellitus, Hypertonus, kardiale Erkrankungen, Niereninsuffizienz) 4.1.4.2 Retrocochleäre (neurale) Störungen Akustikusneurinom Korrekterweise handelt es sich hierbei um ein langsam wachsendes Neurinom des Nervus vestibularis mit häufigster Manifestation in der 3. bis 6. Lebensdekade. Ca. 90 % sind im inneren Gehörgang lokalisiert, die verbliebenen 10 % im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels. Symptomatisch können eine Schallempfindungsschwerhörigkeit, Tinnitus und Gleichgewichtsstörungen bestehen sowie in fortgeschrittenen Stadien Cephalgien, neurologische Ausfälle und eine Hirndrucksymptomatik. Für die Diagnosesicherung ist nach einer pathologischen Hirnstammaudiometrie (BERA) als Ausdruck der retrocochleären Genese der morphologische Nachweis mittels Kernspintomographie (MRT) mit Kontrastmittelgabe (Gadolinium) der Goldstandard. Hinsichtlich des therapeutischen Aspektes hat sich zunehmend die Haltung „wait and scan“ gegenüber der Sofortoperation durchgesetzt. Erst bei nachweisbarer Größenprogredienz (MRT) im zeitlichen Verlauf und einhergehender Verschlechterung der klinischen Symptomatik wird die Tumorexstirpation angestrebt. Der Operationszugang richtet sich hierfür nach der Tumorgröße und –lage sowie der cochleären Restfunktion. Alternativ ist eine primäre stereotaktische Radiotherapie mit dem „g-knife“ möglich. Mikrovasculäres Kompressionssyndrom Siehe unter Morbus Menière! Multiple Sklerose Siehe unter Hörsturz! 4.2 Lärmbedingte Hörminderungen Bodo H. Pfeiffer 4.2.1 Audiometrisches Bild lärmbedingter Hörminderungen In Anlehnung an die Begriffsbestimmungen der VDI-Richtlinie 2058.2 [1] sollen hier unter lärmbedingten Hörminderungen tonaudiometrisch nachweisbare Hörverluste verstanden werden, die sich vorzugsweise bei Frequenzen oberhalb 1 kHz ausbilden. Das typische audiometrische Bild der lärmbedingten Hörminderung ist in Abb. 4.2 und Abb. 4.3 als senkenförmiger Hochtonverlust mit den größten Hörverlusten im Bereich 3 bis 6 kHz dargestellt; dies ist die so genannte c5-Senke, benannt nach dem fünfgestrichenen c der musikalischen Tonreihe. Das Tongehör für die tiefen und mittleren Frequenzen bis nahe 1 kHz ist bei lärmbedingten Hörminderungen in der Regel normal. Das Ausmaß der Hörverluste schwankt auch bei gleicher Lärmexposition interindividuell sehr stark. Meist beträgt der Hörverlust bei 4 kHz nicht mehr als 60 dB. Die Hörverluste zeigen sich gleichermaßen bei der Messung mit luft- und knochengeleitetem Schall, sie werden also nicht durch den Schalleitungsapparat des Gehörs verursacht. Lärmbedingte Hörminderungen zählen somit ausschließlich zu den Schallempfindungsstörungen. Neben der typischen Hochtonsenke im Audiogramm spricht für eine lärmbedingte Hörminderung bei ausreichender Exposition die diagnostische Beobachtung, dass lauter Schall im oberen Frequenzbereich vom Lärmschwerhörigen praktisch genau so laut empfunden wird 159 wie vom Normalhörenden. Dieser Lautheitsausgleich (oder Recruitment) kann mit den verschiedenen überschwelligen Tests nachgewiesen werden. 4.2.2 Entstehen lärmbedingter Hörminderungen Voraussetzung für die Ausbildung lärmbedingter Hörminderungen ist eine ausreichende Lärmexposition. Sowohl die täglich aufgenommene Schalldosis (beschrieben durch den Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h) als auch die Dauer der Lärmeinwirkung bestimmen die Größe des lärmbedingten Hörverlustes. Ganz entscheidend ist jedoch die persönliche Disposition, die individuelle Lärmempfindlichkeit, für deren Feststellung vor einer Lärmbelastung bis heute kein brauchbarer Test bekannt ist. Bei kurzzeitiger Exposition kommt es zunächst zu vorübergehenden Hörminderungen (Temporary Threshold Shift = TTS), die sich während ausreichender lärmfreier Gehörerholungszeit (mit LEX,8h < 70 dB) vollständig zurückbildet. Das Ausmaß der Gehörerholung ist umso größer, je niedriger der Geräuschpegel während der Erholungszeit ist und je länger diese andauert. Bilden sich die Hörverluste nicht mehr vollständig zurück, so kommt es zu bleibenden Hörminderungen. Daher kann Freizeitlärm auch deutlich unterhalb 90 dB(A) für beruflich lärmexponierte Personen durch Verkürzung der Gehörerholungszeit zum Entstehen lärmbedingter Hörminderungen beitragen. Bleibende lärmbedingte Hörminderungen sind irreversible Haarzellschäden in der Cochlea durch Stoffwechselüberforderung, s. Abschn. 4.3 oder durch Zerreißen von Innenohrstrukturen infolge extrem hoher Lärmbelastungen. Betroffen sind zunächst die äußeren Haarzellen, bei fortschreitender Lärmschädigung auch die inneren Haarzellen. Wird die Lärmbelastung des Gehörs beendet, nehmen die lärmbedingten Hörminderungen nicht mehr zu. 4.2.3 Abgrenzung lärmbedingter Hörminderungen gegen altersbegleitende Hörverluste Mit zunehmendem Alter nimmt in größeren Gruppen die Hörfähigkeit im Mittel ab. Auch wird die Streuung des Hörverlustes mit zunehmendem Alter größer. Es gibt keine physiologische Gesetzmäßigkeit, dass mit höherem Lebensalter die Hörverluste im Einzelfall zunehmen müssen [2]. Da das Alter selbst also nicht kausal für die Hörverschlechterung ist, dennoch aber für Populationen eine beschreibende Rolle als Parameter erfüllt, sprechen wir von altersbegleitenden Hörverlusten. Altersbegleitende Hörverluste weisen ganz ähnliche pathologische Veränderungen auf wie die lärmbedingten Hörminderungen, s. Abschn. 4.3, also Haarzellschäden in der Basalwindung der Hörschnecke. 4.2.4 Abschätzung des Hörverlustes bei Lärmbelastung nach ISO/DIS 1999.2 Die internationale Norm ISO/DIS 1999.2 [3] enthält ein mathematisches, empirisches Modell zur Berechnung der zu erwartenden Hörverluste für einheitlich lärmbelastete Gruppen (s. Abb. 4.2 und Abb. 4.3). In die Berechnung gehen die folgenden Einflussgrößen ein: · · · · 160 der A-bewertete, energieäquivalente, auf acht Stunden bezogene Dauerschallpegel LAeq,8h = LEX,8h nach der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (Tages Lärmexpositionspegel ohne Impulszuschlag) die Expositionsdauer in Jahren, das Lebensalter in Jahren, das Geschlecht. Als Grenzen für die Gültigkeit des Modells werden (aber mit der Möglichkeit der Extrapolation) angegeben: · · · LArd zwischen 75 und 100 dB(A), Lebensalter über 18 Jahre und Expositionsdauer bis zu 40 Jahren. Die Aussagen des Modells beschränken sich auf Gruppen ohne außerberuflich bedingte Hörminderungen. Die Berechnung ergibt die Hörverluste bei den Frequenzen 500 Hz; 1 kHz; 2 kHz; 3 kHz; 4 kHz und 6 kHz in Perzentilen von 0,05 bis 0,95. Das Perzentil 0,05 besagt beispielsweise, dass bei 5 % der Lärmexponierten ein Hörverlust zu erwarten ist, der gleich oder größer ist als der Kurvenwert in den Abbildungen Abb. 4.2, Abb. 4.3 unten. Aus den Perzentilen 0,05 rekrutieren sich die meisten Lärmschwerhörigen. 161 Abb. 4.2: Hörverlustverteilungen nach ISO/DIS 1999.2 [3]: Dargestellt sind die Perzentilen 0,05 (unten); 0,25; 0,5; 0,75; 0,95 (oben) für sonst ohrgesunde Gruppen. Die Parametersätze z. B. [m,25,5,85] sind wie folgt zu lesen: [Männlich, 25 Lebensjahre, 5 Expositionsjahre bei einem LAeq,8h von 85 dB]. 162 Abb. 4.3: Hörverlustverteilungen nach ISO/DIS 1999.2 [3]: Dargestellt sind die Perzentilen 0,05 (unten); 0,25; 0,5; 0,75; 0,95 (oben) für sonst ohrgesunde Gruppen. Die Parametersätze z. B. [m,25,5,95] sind wie folgt zu lesen: [Männlich, 25 Lebensjahre, 5 Expositionsjahre bei einem LAeq,8h von 95 dB]. 163 Gehörschäden im Sinne der VDI-Richtlinie 2058.2 [1] sind Hörminderungen mit audiometrisch nachweisbaren Merkmalen eines Haarzellenschadens, die bei 3 kHz 40 dB Hörverlust überschreiten. Sind die Gehörschäden lärmbedingt, so liegt eine Lärmschwerhörigkeit vor. Abb. 4.4: Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Gehörschadens (mehr als 40 dB Hörverlust bei 3 kHz) in Abhängigkeit vom für das Gehör wirksamen Tages-Lärmexpositionspegel nach ISO/DIS 1999.2 unter Verwendung der Datenbasis A (altersbegleitende Hörverluste von otologisch normalen Männern); Parameter ist die Kombination (Lebensalter/Expositionsdauer) in Jahren. 4.2.5 Literatur [1] VDI 2058.2: Beurteilung von Lärm hinsichtlich Gehörgefährdung. Beuth-Verlag, Berlin (1988) [2] Pfeiffer, B. H., Martin, R. und Niemeyer, W.: Neufassung der ISO 1999 (1984) - Zur Anwendung im System der Prävention und Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Zeitschrift für Lärmbekämpfung 32 (1985), S.31-43. [3] ISO/DIS 1999.2: Acoustics - Determination of occupational noise exposure and estimation of noise induced hearing impairment. Genf (1985) 164 4.3 Entstehung und audiometrisches Bild der Lärmschwerhörigkeit Wolfhart Niemeyer 4.3.1 Vorbemerkung Die Lärmschwerhörigkeit nimmt eine gewisse Sonderstellung unter den Berufskrankheiten ein; nicht nur durch ihre hohe Inzidenz, denn sie liegt nach jährlichen Neuanerkennungen und Neuberentungen seit Jahrzehnten an erster Stelle [8], [12]. Auch ihre Bezeichnung fällt aus dem Rahmen: Sie ist medizinisch unkorrekt. Wie eine Durchsicht der Berufskrankheitenliste in der Anlage 1 zur BKV zeigt, wird die Lärmschwerhörigkeit zusammen mit dem "Augenzittern der Bergleute" (BK 6101) aus der Systematik herausgehalten, die der Benennung der übrigen Berufskrankheiten zugrunde liegt. Hier sind durchweg "Erkrankungen" aufgeführt oder spezifiziert und dann die verursachenden Noxen bezeichnet. "Lärmschwerhörigkeit" verknüpft hingegen nicht Noxe und verursachte Erkrankung, sondern Noxe (Lärm) und Symptom (Schwerhörigkeit). Schwerhörigkeit ist keine Erkrankung sui generis, sondern eines von mehreren Symptomen der Erkrankungen des Hörorgans. Es gibt Ohrenerkrankungen ohne Schwerhörigkeit, aber keine Schwerhörigkeit ohne Ohrenerkrankung ("Ohr" hier vereinfachend mit Hörsystem gleichgesetzt). Die von der Noxe (schädigenden Einwirkung) „Lärm“ verursachte Erkrankung, also die durch Stereozilienschädigung und metabolische Dekompensation induzierte Degeneration der Hörsinneszellen (Haarzellen), u. U. auch weiterer Innenohrweichteile, fehlt in der Bezeichnung "Lärmschwerhörigkeit". Logisch und im Einklang mit den anderen Benennungen in der BK-Liste wäre "Innenohrerkrankung durch Lärm". 4.3.2 Pathologie und Pathophysiologie Das pathologische Substrat der Lärmschwerhörigkeit besteht zur Hauptsache in mehr oder weniger ausgedehnten Ausfällen von Hörsinneszellen und in begleitenden Weichteilveränderungen im Innenohr. Äußeres Ohr, Mittelohr und zentrale Leitungsbahnen werden von Arbeitslärm nicht geschädigt; ein Teil der Hörnervenfasern kann sekundär in geringem Maße mitbetroffen werden [5], [10], [24], [25], [32]. Eine Schallleitungsschwerhörigkeit ist niemals lärmbedingt. Die Hörsinneszellen, wegen der haarähnlichen Stereozilien auf ihrer Kopffläche auch "Haarzellen" genannt, stellen die weitaus empfindlichsten Mechanorezeptoren des menschlichen Organismus dar. Wie im Kapitel "Anatomie und Physiologie..." besprochen, setzen sie sich aus zwei anatomisch und funktionell unterschiedlichen Zelltypen zusammen: aus den so genannten äußeren Haarzellen, die wir als die motorischen Zellen des Innenohres anzusehen haben [20], [30], [36], ohne deren Tätigkeit die inneren Haarzellen offenbar keinen Schall von 0-60 dB verarbeiten können und die gegen die meisten Innenohrnoxen sehr empfindlich sind; und aus den inneren Haarzellen, den eigentlich sensorischen (Hör-)Zellen des Innenohres, die sich als wesentlich resistenter erweisen und daher bei den meisten Innenohrschädigungen die äußeren Haarzellen überleben [1], [17], [18]. Die Hörsinneszellen, vornehmlich die äußeren Haarzellen, bilden gewissermaßen die Schwachstelle des Hörsystems. Mindestens 90 % aller Schallempfindungs- oder "sensorineuralen" Schwerhörigkeiten einschließlich der Lärmschwerhörigkeit beruhen nur oder überwiegend auf Erkrankungen der Hörsinneszellen. Da Schallempfindungsschwerhörigkeiten etwa 80 % aller chronischen Hörminderungen ausmachen, sind Hörsinneszellschäden oder -ausfälle die häufigste Schwerhörigkeitsursache insgesamt. Lärm kann die Hörsinneszellen auf zweierlei Weise schädigen: · · durch Schädigung der Stereozilien und metabolische Überforderung, durch mechanische Zerstörung der Zellstrukturen. 165 4.3.2.1 Schädigung der Stereozilien und metabolische Überforderung Durch lärminduzierte Veränderungen ihrer Aktinfilamente verlieren die Stereozilien ihre physiologische Steifigkeit, knicken ab und können verklumpen. Solche diskreten mikrostrukturellen Befunde stehen am Anfang der Haarzellschädigung und sind, im Gegensatz zum Endzustand der ausgefallenen und verschwundenen Haarzellen (der organpathologischen Grundlage des Großteils aller Schwerhörigkeiten), weitgehend spezifisch für Lärmschäden. Die mit der Ziliendestruktion einhergehenden Ausfälle von Ionenkanälen der Hörsinneszelle haben wahrscheinlich Einfluss auf die lange bekannten Veränderungen im Zellkörper infolge metabolischer Dekompensation, s. [1], [4], [5], [24], [28], [30], [32]. Unser Innenohr hat sich im Lauf der Evolution an Schallstärken angepasst, wie sie in der belebten und unbelebten Natur vorkommen. Starkem Industrielärm ist es auf die Dauer nicht gewachsen. Vor allem die Tätigkeit der motorischen äußeren Haarzellen erfordert und verbraucht Energie, die wesentlich von ihrem eigenen Stoffwechsel bereitgestellt werden muss. Bei Einwirkung starken Dauerlärms übersteigt der Energieverbrauch den Nachschub. Die Folge ist zunächst ein 02-Defizit. Im weiteren Verlauf der metabolischen Erschöpfung kommt es u. a. zum Schwinden der Succinodehydrogenase und des Glykogens, zur Umstellung auf anaerobe Glykolyse (die aber zeitlich begrenzt und von schlechterem Wirkungsgrad ist) und Abnahme der 02-Spannung in der Endolymphe. Es folgen Störungen des Eiweißstoffwechsels, Schwellung der Zellkerne, Vakuolisierung des Zytoplasmas. Möglicherweise ist dies das letzte noch reversible Schädigungsstadium. Der noch nicht irreparablen Schädigung der Hörsinneszellen durch Überforderung ihres Metabolismus bei der Verarbeitung zu starken Lärms entspricht die lärmbedingte zeitweilige Hörschwellenverschiebung (ZHV, im internationalen Schrifttum "NITTS" als Abkürzung für Noise Induced Temporary Threshold Shift). Ihr subjektives Korrelat hat heute wohl jeder als "Vertäubungsgefühl" beim Verlassen einer überlauten Diskothek oder eines Rockkonzerts, nach Walkmanbenutzung im Lärm, nach Schießübungen oder auch nach der Begehung eines Lärmbetriebes ohne Gehörschützer erlebt. Die lärmbedingte zeitweilige Hörschwellenverschiebung kann die lärmbedingte dauernde Hörschwellenverschiebung (DHV oder „NIPTS“ für Noise Induced Permanent Threshold Shift) überlagern und dadurch verfälschen. Auf die fehlerfreie Verlaufsbeurteilung nur des bleibenden Lärmhörverlustes kommt es aber an. Daher schreibt der G 20 in Abschnitt 3.4.3 eine für die Gehörerholung ausreichende Lärmpause vor dem Siebtest und der Ergänzungsuntersuchung vor. Die ZHV bildet sich zunächst rasch, dann immer langsamer zurück. Wird die metabolische Überforderung der Hörsinneszellen, womöglich jahre- und jahrzehntelang, arbeitstäglich wiederholt, entstehen aus reversiblen Schädigungen irreversible Schäden. Umstrukturierungen der Chromatinsubstanz, Platzen des Zellkerns und Ausstoßen der Zellkerntrümmer gehen der Autolyse der Zelle voraus. Ihre Reste werden von der Perilymphe, z. T. auch von der Endolymphe abtransportiert. Der resultierende Hörverlust ist nicht mehr rückbildungsfähig [24], [29], [32]: Dauernde Hörschwellenverschiebung (DHV). Zuerst gehen die äußeren Haarzellen zugrunde. In der Basalwindung der Schnecke fehlen sie bei vielen Lärmhörschäden solchen Ausmaßes, dass dauernde gesundheitliche Bedenken ausgesprochen werden müssen oder ein BK-Verfahren einzuleiten ist, größtenteils oder ganz. Bei schweren Schäden folgt ein Teil der inneren Haarzellen. Noch höhere Schädigungsgrade gehen mit einer Degeneration auch von Stützzellen des Corti-Organs einher, das in den betroffenen Abschnitten zu einem flachen Zellhaufen zusammensintern kann. Nicht selten entwickelt sich sekundär eine aszendierende Degeneration von Hörnervenfasern und Ganglienzellen des Ganglion spirale cochleae [5], [10], [24], [32], die ihren Ausgang von den am stärksten geschädigten Sinneszellarealen nimmt. Pathophysiologisch und funktionsdiagnostisch bleibt jedoch immer die Sinneszellschädigung, also die sensorielle Komponente der Schallempfindungsschwerhörigkeit, im Vordergrund. Reine oder überwiegende 166 Hörnervschwerhörigkeiten (neurale Schwerhörigkeiten) gehören nicht zum Bild der Lärmerkrankung des Innenohres. Die lärmbedingte Degeneration der Hörsinneszellen erfasst nicht das gesamte Corti-Organ gleichzeitig und gleichmäßig. Sie beginnt typischerweise umschrieben in einem Abschnitt, der etwa 10 mm vom basalen (mittelohrwärtigen) Ende entfernt, d.h. ungefähr zwischen basalem und mittlerem Drittel des Corti-Organs, aber noch in der Basalwindung der Schnecke liegt; hier werden die Frequenzen um 4000-6000 Hz verarbeitet. Im weiteren Krankheitsverlauf dehnt sich die Schädigungszone in beiden Richtungen aus, bis sie einerseits bis ans basale Ende des Corti-Organs (entsprechend der oberen Hörgrenze), andererseits bis in die Mittelwindung der Schnecke reicht (Verarbeitung mittlerer Frequenzen). Sie nimmt dann etwa 16-20 mm, gelegentlich noch mehr des insgesamt rund 30 mm langen Corti-Organs ein. An den Sinneszellen der Spitzenwindung (Verarbeitung tiefer Frequenzen) kommt es nur selten zu Ausfällen und wenn, dann in weit geringerer Zahl als in der Basal- und Mittelwindung. Dieser hier stark simplifiziert dargestellte Prozess der lärmbedingten Degeneration der Hörsinneszellen dürfte heutzutage fast allen Lärmhörschäden zugrunde liegen; die mechanische Destruktion, s. Abschn. 4.3.2.2, gehört seit den 70er Jahren - erfreulicherweise - zu den Raritäten. Mit dem Ende der gehörschädigenden Lärmexposition endet auch der Degenerationsprozess der Hörsinneszellen und damit die Zunahme der Lärmschwerhörigkeit [6], [24], [25]. Sie erreicht spätestens sechs Monate nach dem Ausscheiden aus der Lärmarbeit ihre definitive Ausprägung. Nicht selten beobachtet man sogar in den ersten lärmfreien Monaten eine geringfügige Rückbildung der Hörschwellenverschiebungen [24], die wahrscheinlich mit der Funktionswiederkehr geschädigter, aber noch nicht zum Zelltod verurteilter ("Point of no return") Hörsinneszellen zusammenhängt. Einmal zugrundegegangene Hörsinneszellen bleiben jedoch lebenslang ausgefallen. Der menschliche Organismus kann sie nicht ersetzen [29]. Daher ist die mit den Sinneszellverlusten korrespondierende Schwerhörigkeit therapieresistent. Sie bleibt für den Rest des Lebens bestehen. Durch das spätere Hinzutreten nicht lärmkausaler Innenohr- und Hörnervschädigungen können ihre Auswirkungen jedoch verschlimmert werden. Dass diese Verschlimmerung mit dem Berufslärm nichts mehr zu tun hat, nützt dem Lärmschwerhörigen wenig. Er erlebt nur, dass seine Hörbehinderung noch stärker wird. Versicherungsrechtlich handelt es sich dabei um einen nicht berücksichtigungsfähigen Nachschaden [25]. Der Ausfall größerer Areale der Sinneszellpopulation, vorwiegend der äußeren Haarzellen und vorwiegend in der Basalwindung und im angrenzenden Abschnitt der Mittelwindung der Kochlea, und die resultierende audiometrische Befundkonstellation sind keineswegs eine Eigentümlichkeit der Innenohrerkrankung durch Lärm und für diese pathognomonisch [16], [25]. Auch Intoxikation (ototoxische Medikamente, Gewerbegifte usw.), Mikrozirkulationsstörungen, Infektionen, Immun- und Autoimmunstörungen [35], Schädeltraumen, akute akustische Traumen, vor allem aber die sehr unterschiedlich ausgeprägten, multifaktoriellen altersbegleitenden Schädigungen der Innenohrweichteile sowie andere, teilweise noch unbekannte Ursachen führen häufig zu dem gleichen oder einem ähnlichen pathologischen Substrat [1], [24]. Dieser Unspezifität pathologischer Innenohrveränderungen entspricht eine vergleichbare Unspezifität der audiometrisch erfassbaren Funktionsstörungen [14]. Sie erlaubt es nicht, allein aus audiometrischen Befunden Rückschlüsse auf die Ätiologie einer Innenohrschwerhörigkeit zu ziehen. Was das Tonschwellenaudiogramm uns bei einem G 20-Probanden sagt, ist zunächst, ob wir es mit einer Schallleitungs- oder einer Schallempfindungsschwerhörigkeit (sensorineuralen Schwerhörigkeit) zu tun haben. Bei letzterer decken sich Luftleitungs- und Knochenleitungs-Tonhörschwellenkurven bis auf 10 dB. Handelt es sich, wie meistens, bei der Schallempfindungsschwerhörigkeit um eine Innenohrschwerhörigkeit und nicht um eine Nerven167 schwerhörigkeit, so können wir aus dem Verlauf der Hörschwellenkurve ersehen, in welchem Abschnitt der Hörschnecke die Sinneszellschädigung eingetreten ist, und ungefähr in welchem Ausmaß [22]; Hörverluste von mehr als 40-60 dB weisen darauf hin, dass der Erkrankungsprozess außer den äußeren auch die inneren Haarzellen betroffen hat. Ein positiver SISI-Test ist nahezu beweisend für eine Sinneszellschädigung, ein negativer allerdings noch keineswegs beweisend für einen Hörnervenschaden [9], [23], [24], [25]; er erfordert aber die Abklärung durch objektive Untersuchungen (s. Abschn. 1.3.5). Mehr aus dem Tonschwellenaudiogramm, den überschwelligen audiometrischen Tests und ggf. den objektiven Befunden herauslesen zu wollen - ohne weitere Informationen -, heißt die Aussagefähigkeit audiometrischer Befunde zu überfordern. Ob es sich bei einer basokochleären oder baso-mediokochleären Innenohrschwerhörigkeit um eine Lärmschwerhörigkeit handelt, lässt sich erst aus der Synopse von · · · · · · allgemeiner und HNO-Anamnese, spezieller Berufsvorgeschichte, zeitlicher Entwicklung der Schwerhörigkeit, Spiegelbefunden, ggf. neurootologischen und röntgenologischen Befunden und audiometrischen Daten wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen [3], [7], [11], [21], [25], [29]. Entsprechend schwierig kann sich für den HNO-Arzt die Begutachtung der Schwerhörigkeit eines Lärmarbeiters gestalten. Nicht jeder schwerhörige Lärmarbeiter ist lärmschwerhörig. Im Rahmen der arbeitsmedizinischen Gehörvorsorge ist allerdings bei allen nicht schallleitungsbedingten Hörverlusten bis auf weiteres von der Möglichkeit einer Lärmgenese auszugehen. 4.3.2.2 Mechanische Schädigungen der Zellstrukturen Sie tritt bei Lärmpegeln von über 130-140 dB ein, in der Regel wohl zusätzlich zu metabolischen Zelldegenerationen; einzelne Schalldruckspitzen wie Knalle können 130 dB erheblich übersteigen, ohne zu bleibenden Schäden zu führen. Bei nicht nur momentaner Einwirkung solcher Pegel zerstören die lärmbedingten Schwingungsabläufe im Corti-Organ die empfindlichen Zellmembranen [4], [5], [32]. Die Reste der Hörsinneszellen werden dann rasch resorbiert. Anschließend gehen die Stützzellen zugrunde, so dass das gesamte Corti-Organ in Abschnitten der Basalwindung der Schnecke verschwindet. Neben weiteren Weichteildestruktionen kann sogar die Basilarmembran, der das Corti-Organ aufsitzt, einreißen. Zum Verständnis dieser unmittelbaren organischen, schon in geringer Vergrößerung sichtbaren Schäden durch Schallschwingungen, die über die Mechanorezeptoren der Haut gar nicht wahrgenommen werden, sei daran erinnert, dass die Hörsinneszellen nicht nur unvorstellbar empfindliche Schwingungsaufnehmer sind, sondern auch die einzigen, denen ein mechanischer Verstärker vorgeschaltet ist - das Trommelfell-Gehörknöchel-System im Mittelohr -, und dass ein Lärmpegel von 140 dB schon vor dem Trommelfell pro Sekunde mehrere tausend Druckwechsel von 2 Millibar bedeutet; das ist das 10-millionenfache des Schallwechseldruckes, bei dem die Hörwahrnehmung beginnt (1/5000 Mikrobar = 20 Mikropascal = 0 dB; Hörschwelle). Seit Nietarbeiten weitgehend durch Schweißen ersetzt sind, dürfte Arbeitslärm von über 130 dB nur noch in besonderen Ausnahmefällen für Minuten oder Stunden auf ein ungeschütztes Ohr treffen. Heutzutage spielt die grobmechanische Zerstörung der Hörsinneszellen und anderer Innenohrweichteile als Ursache einer Lärmschwerhörigkeit kaum noch eine Rolle. Zu einer Lärmtaubheit, d.h. zur völligen Gehörlosigkeit, kommt es auch durch solche extremen Lärmschädigungen des Innenohres nicht. Die BK-Bezeichnungen "Durch Lärm verursachte Taubheit" in der 2. bis 5. und "Lärmtaubheit" in der 6. und 7. Berufskrankheitenverordnung waren also falsch. Ein Resthörvermögen in den tiefen Frequenzen bleibt erhalten. 168 4.3.3 Morbidität und individuelle Disposition Drei bis vier Millionen Beschäftigte allein in den alten Bundesländern sind am Arbeitsplatz Lärm mit einem Tages-Lärmexpositionspegel (LEX,8h)von über 85 dB(A) und davon etwa zwei Millionen Pegeln ab 90 dB(A) exponiert. Eine Rente wegen Lärmschwerhörigkeit haben von zwei Generationen Lärmarbeitern 1961-2005 aber nur ca. 50.335, 1969-2005 49.388 erhalten. „Lärmrenten-Bestand“ 2005: 39.888. Die Lärmrente setzt nach den Begutachtungsrichtlinien mindestens eine Lärmschwerhörigkeit geringen bis mittleren Grades (bzw. einen tabellarischen Hörverlust von 40%) auf beiden Ohren voraus (MdE dann 20 von Hundert). Ist dem Erkrankten bereits eine sog. stützende MdE von mindestens 10 v.H. zuerkannt, genügt für die Berentung schon eine Lärmschwerhörigkeit mindestens knapp geringen Grades (bzw. ein Hörverlust von 20 %); sie bedingt eine MdE von 10 v.H. Diese Fälle machten bis zur 4. Auflage des „Königsteiner Merkblatts“ (1996) etwa 40% der neuen Lärmrenten und etwa 11% aller neuen Berufskrankheitsrenten aus [11], [12], [25]. Für die Entstehung und das Ausmaß eines Lärmhörschadens sind im Einzelfall zwei Faktoren ausschlaggebend: 1. Die am Innenohr wirksam gewordene Lärmdosis, die man sich als Produkt aus TagesLärmexpositionspegel und Einwirkungsjahren des Lärms vorstellen muss. Die Gefahr eines versicherungsrechtlich relevanten Lärmhörschadens (den die arbeitsmedizinische Gehörvorsorge zu verhindern hat) nimmt um so mehr zu, je stärker der einwirkende Lärm und je länger die Einwirkungsdauer ist; zur Vermeidung von Wiederholungen sei auf Abschn. 0 und 4.2, ferner auf den Abschnitt 3.1.2 des G 20 verwiesen. 2. Die individuelle Lärmempfindlichkeit, nämlich der Innenohrweichteile und speziell der Hörsinneszellen. Trotz genauer Lärmanalysen nach Einwirkungspegel und -dauer bleibt die Manifestation einer Lärmschwerhörigkeit unberechenbar. Innerhalb eines größeren Kollektivs von Beschäftigten, die am Arbeitsplatz gleich lang gleich starkem Betriebslärm ausgesetzt sind, verhält sich das Gehör ganz unterschiedlich. Meist bewahrt eine lärmresistente Minderheit der Exponierten ein praktisch normales Schwellengehör, die große Mehrzahl wird im Audiogramm leichtere Hörverluste oberhalb von 2000 Hz ohne merkliche Beeinträchtigung des Sprachverstehens erkennen lassen, und nur eine Minderheit mit besonders lärmempfindlichen Innenohren erleidet Hörverluste, die versicherungsrechtlich ins Gewicht fallen und im täglichen Leben eine gravierende Behinderung bedeuten. Die nach ISO 1999.2 berechneten Hörverluste, s. Abschn. 4.2.4, zeigen die Wahrscheinlichkeit der Hörschwellenverschiebungen in Abhängigkeit von Tages-Lärmexpositionspegel und Lärmarbeitsjahren [15], [26]. Worauf beruht diese so unterschiedliche Lärmresistenz? Unter den Aspekten der arbeitsmedizinischen Gehörvorsorge müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass Vorschädigungen der Innenohren, sogar solche ohne audiometrisch nachweisbaren Hörverlust, eine vermehrte Empfindlichkeit der Hörsinneszellen gegen Lärm hinterlassen. Diese potentiellen Vorschäden gilt es rechtzeitig zu erfassen. Im Untersuchungsbogen "LÄRM II" wird unter "Anamnese" nach Ohroperationen, Morbus Menière bzw. Menière-Verdacht, Hörsturz und zeitlichem Zusammenhang zwischen Knall oder Explosion, Schießlärm, Schädeltrauma, Ohroperation, Infektionskrankheit und dem Auftreten einer Hörstörung gefragt. Auch frühere oder außerberufliche starke Geräuschexpositionen, die Behandlung mit ototoxischen Medikamenten (vor allem Aminoglykosid-Antibiotika und Etacrynsäure; im Übrigen siehe Rote Liste, orangefarbene Seiten) und gewerbliche Gifte sollten nicht außer Betracht gelassen werden. Bei Ohroperationen ist besonders an hörverbessernde Eingriffe am Schallleitungsapparat und hier speziell an eine Stapesplastik wegen Otosklerose zu denken. Denn meist wird dabei die Sehne des M. stapedius durchtrennt, so dass die Dämpfungswirkung des M. stapedius auf die Schwingungen der Gehörknöchelkette entfällt und eine unphysiologische Schallübertragung auf das Innenohr resultiert (oft klagen Otosklerose-Operierte anfangs über unangenehm dröhnende Hörempfindungen). Außerdem erfordert die Entfernung der otoskleroti169 schen Knochenwucherungen im Bereich des ovalen Fensters Manipulationen in unmittelbarer Nähe des basalen Endes des Corti-Organs und damit der für die Verarbeitung hoher Frequenzen zuständigen Hörsinneszellen; trotz schonendster Operationstechnik sind die Knochenleitungs-Hörverluste für hohe Frequenzen postoperativ oft größer als präoperativ. Wenn irgend möglich, sollen Otosklerose-Operierte nicht in Lärmbereichen eingestellt werden [24]. Es versteht sich von selbst, dass die Erhebung der "LÄRM II"- Anamnese persönliche Aufgabe des beauftragten Arbeitsmediziners ist und keinem nichtärztlichen Assistenzpersonal übertragen werden darf. Auf Vorschäden wird man indessen nur bei verhältnismäßig wenigen Lärmarbeitern stoßen. Der Hauptfaktor der erhöhten Lärmempfindlichkeit muss in einer genetischen Disposition gesehen werden. Sie entzieht sich bisher allen diagnostischen Techniken. Auch Kurzzeitbelastungstests mit Lärm oder lärmanalogen Laborgeräuschen geben nur beim Vergleich größerer Kollektive Aufschluss über etwaige Beziehungen zwischen ZHV durch kurzzeitige Einwirkung des Testlärms und DHV durch langjährige Einwirkung von Arbeitslärm, nicht aber im Einzelfall, und auf den kommt es an. Folglich bleiben wir für noch nicht absehbare Zeit auf die Langzeitbeobachtung der dauernden Hörschwellenverschiebungen bei jeder einzelnen lärmexponierten Person angewiesen, wenn wir eine wirksame und möglichst lückenlose sekundäre Prävention der lärmbedingten Innenohrschäden sicherstellen wollen. Begreiflicherweise muss der enorme diagnostische Aufwand auf das für diesen Zweck Notwendige beschränkt werden. Dem dient die Abstufung der Untersuchungsprogramme in "LÄRM I, II und III". 4.3.4 4.3.4.1 Audiometrisches Bild der Lärmschwerhörigkeit Verlauf der Tonschwellenkurve Bei Lärmhörschäden ohne gleichzeitige, nicht lärmkausale Schallleitungsstörung decken sich Luft- und Knochenleitungs-Hörschwellenkurve im Messfehlerbereich. Falls die Differenz zwischen Luft- und Knochenleitungs-Hörschwelle in mehr als einer Frequenz mehr als 10 dB beträgt, ist die Knochenleitungskurve für die Beurteilung maßgebend. Bei geringeren Luft/Knochenleitungsdifferenzen sollen die Knochenleitungs-Hörverluste anhand der Luftleitungs-Hörverluste beurteilt werden (G 20, Abschn. 3.4.5) [21], [24], [28]. Die Lärmschwerhörigkeit beginnt typischerweise mit einer scharf abgegrenzten Einsenkung der Tonschwellenkurve im Frequenzbereich von 4000 bis 6000 Hz, dem Korrelat der oben beschriebenen Sinneszelldegeneration ca. 10 mm vom basalen Ende des Corti-Organs. Der Hörverlust für 6000 Hz ist bei Metallarbeitern oft größer als der für 4000 Hz (s. Abschn. 4.4, Abb. 4.5). Gleiche Senkenbildungen kann das Audiogramm nach Knallen und gelegentlich auch nach Schädeltraumen zeigen; sogar genetisch bedingt kommen sie in seltenen Fällen vor. Mit der Ausdehnung der Schädigungszone im Corti-Organ verbreitert sich auch die Hochtonsenke (s. Abschn. 4.4, Abb. 4.6). Wenn schließlich die Hörsinneszellen in der ganzen Basalwindung der Kochlea betroffen sind, meist in Form des Verlustes der äußeren Haarzellen, nimmt die Audiogrammkurve Stufenform an: Normale und annähernd normale Hörschwelle im unteren, steiler Abfall im mittleren Frequenzbereich und starke Hörverluste oberhalb des Kurvenabfalls (s. Abschn. 4.4, Abb. 4.7). Die initiale Senkenbildung kann noch erkennbar, aber auch in dem breiten Hochtonverlust aufgegangen sein [25]. 170 In Spätstadien dehnt sich der Hörverlust, entsprechend dem Fortschreiten der Sinneszellverluste in Richtung Schneckenspitze, noch weiter nach den unteren Frequenzen hin aus. Aus dem Steil- wird ein Schrägabfall. Der Hörverlust in den oberen Frequenzen braucht dabei nur noch wenig zuzunehmen, oft bleibt er konstant. Die lärmbedingten Hörverluste überschreiten relativ selten den Betrag von 60 dB, vorzugsweise bei überdurchschnittlicher Lärmempfindlichkeit nach sehr langer und starker Lärmeinwirkung (s. Abschn. 4.4, Abb. 4.4). Abweichungen von diesen typischen, aber nicht pathognomonischen Hörkurvenverläufen werden bei Untertage-Bergarbeitern gefunden: Ein bereits in den tiefen Frequenzen einsetzendes, flacheres Absinken mit oder ohne zusätzliche Hochtonsenke [2], [13]. Vermutlich spielt die Faktorenkombination Lärm-Vibrationen-Druckwechsel (letztere beim Ein- und Ausfahren) eine Rolle. Auch unter gehörschädigender Lärmimmission mit zusätzlicher Vibrationseinwirkung können sich offenbar Lärmhörverluste mit vermehrter Einbeziehung der unteren Frequenzen ausbilden [33]. Extreme Lärmhörverluste ohne nachweisbare Hörreste in einem Teil der oberen Frequenzen sieht man gelegentlich noch bei älteren Lärmarbeitern, die lange Jahre ohne Gehörschutz sehr starkem, womöglich impulshaltigem Lärm ausgesetzt gewesen sind [24], [25]. Als Nietarbeiten, vor allem im Kessel-, Lokomotiv-, Schiff-, Brückenbau usw., noch Routine waren, scheint es nicht selten zu einer solchen Hochton-Taubheit gekommen zu sein. Wahrscheinlich hatten die Druckspitzen der Schlagimpulse, etwa im Innern von Großkesseln, zur mechanischen Desintegration der Zellstrukturen mit totalem Sinneszellverlust in der Basalwindung geführt. Die lärmbedingten Hörschwellenverschiebungen sind in aller Regel annähernd seitengleich ausgebildet. Stärkere interaurale Hörverlustdifferenzen müssen an eine nicht lärmkausale Mitursache denken lassen; die vom Probanden oft angeschuldigte stärkere Lärmbelastung des schlechteren Ohres lässt sich erfahrungsgemäß nur ausnahmsweise bestätigen [27]. Die Ursache stark seitenverschiedener Hörverluste sollte vom HNO-Arzt abgeklärt werden. Grundsätzlich ist bei anamnestisch unklarer Seitendifferenz an ein sog. Akustikus-Neurinom zu denken, auch wenn die überschwelligen audiometrischen Befunde (s. u.) einer Haarzellenschädigung entsprechen; denn in früheren Entwicklungsstadien können diese langsam wachsenden Tumoren mit Funktionsstörungen der Hörsinneszellen einhergehen (vielleicht weil das Tumorwachstum im inneren Gehörgang, durch den auch die Labyrinth- bzw. Innenohrgefäße verlaufen, zu kochleären Mikrozirkulationsstörungen führt). In 5 % der akuten Innenohrschwerhörigkeiten soll sich hinter dem Hörsturz ein Akustikusneurinom verbergen. 4.3.4.2 Überschwellige und objektive audiometrische Befunde Schädigungen oder Ausfälle der äußeren bei funktionsfähigen inneren Haarzellen bedingen einen Lautheitsausgleich (auch "positives Recruitment"), weil dann die steile ReizstärkeErregungs-Kennlinie der inneren Haarzellen die Verarbeitung der Schallstärken zwischen der - zu größeren dB-Werten verschobenen - Hörschwelle und der Unbehaglichkeitsschwelle bestimmt. Leiser Schall wird vom Recruitment-Schwerhörigen gar nicht, mittellauter ebenfalls nicht oder nur leise, lauter Schall von 90 bis 100 dB aber ebenso laut gehört wie vom Normalhörenden mit intaktem Innenohr. Die dB-Spanne zwischen Hörschwelle und Unbehaglichkeitsschwelle, normalerweise 90-100 dB im Frequenzbereich 500-8000 HZ, ist dem gemäß auf weniger als 60 oder 50 dB verkleinert. Man bezeichnet das als eingeschränkte Intensitätsbreite, eingeengte Hördynamik, verkleinerten Dynamikbereich und ähnlich. Die Bestimmung der Intensitätsbreite zwischen Hör- und Unbehaglichkeitsschwelle, ohnehin ein etwas vages Prüfverfahren, das viel Erfahrung und Einfühlung in den Probanden erfordert, ist bei Lärmarbeitern besonders problematisch. Denn diese haben sich durch ihre Arbeitsbedingungen oft an hohe Schallstärken gewöhnt (habituiert), die andere Menschen als 171 unangenehm empfinden; dadurch kann ihre subjektive Unbehaglichkeitsschwelle zu abnorm hohen dB-Werten verschoben und für eine Ermittlung der Intensitätsbreite wenig brauchbar sein. Die steile Reizstärke-Erregungs-Kennlinie des Haarzellschwerhörigen, auch des Lärmschwerhörigen, bedingt aber auch, dass er geringere Schallpegelerhöhungen erkennen kann als der Normalhörende, Schallleitungsschwerhörige und Nervenschwerhörige. Hierauf im Wesentlichen beruht der SISI-Test (Short Increment Sensitivity Index), der beim Lärmschwerhörigen typischerweise positiv ausfällt. Er gehört fest zum Testprogramm der Ergänzungsuntersuchung nach "LÄRM II". Ein positiver SISI-Test ist, vorschriftsmäßige Ausführung vorausgesetzt, ohne Hörsinneszellschädigung nicht zu erwarten, ein negatives Testergebnis schließt eine solche nicht aus [9], [23], [24], [25]. Denn ein positiver SISI erfordert nicht nur das verfeinerte LautstärkeUnterscheidungsvermögen des Recruitment-Schwerhörigen, sondern auch die Fähigkeit des jeweiligen Probanden, minutenlang konzentriert auf eben wahrnehmbare Schallstärkeerhöhungen hinzuhören; und die bringen vor allem ältere Untersuchte nicht immer auf. Aussagefähig ist also nur der positive Ausfall des SISI-Tests. Die Befunde weiterer überschwelliger audiometrischer Tests bei Lärmhörschäden brauchen hier nicht aufgeführt zu werden; sie sind nicht ins Testprogramm der arbeitsmedizinischen Gehörvorsorge aufgenommen worden, um die Praktikabilität der Untersuchungen nicht in Frage zu stellen. Die objektive Diagnostik eines Haarzellschadens erfolgt mittels der Registrierung der frühen akustisch evozierten Potentiale, die bei der Erregungsfortleitung vom Innenohr zum Hirnstamm entstehen (Brain Stem Evoked Response Audiometry, abgek. „BERA“), und der Registrierung und Auswertung der transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) [19], [34], [20], [30]. In der Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit haben beide Verfahren ihren festen Platz, für die Gehörvorsorge sind sie nach dem derzeitigen technischen Stand zu aufwendig. Deswegen beschränkt sich auch die erweiterte Ergänzungsuntersuchung nach „Lärm III“ auf die Beziehungen zwischen (subjektiver) Hörschwelle und (objektiver) Reflexschwelle des Steigbügelmuskels (sog. Stapedius-Reflexschwelle). In Rahmen der Impedanzmessung am Trommelfell werden die Stapedius-Reflexschwellen für Töne von 500, 1000, 2000, und 4000 Hz ermittelt. Konvergiert die Reflexschwellenkurve mit der Hörschwellenkurve, verkleinert sich also im oberen Frequenzbereich die dB-Differenz zwischen Hör- und Reflexschwellen (sog. positives METZ-Recruitment, nach dem Erstbeschreiber), so spricht dies für eine Schädigung der Hörsinneszellen. 4.3.5 Tinnitus (Ohrgeräusche) Klagen über Ohrgeräusche gehören zum audiologischen Beschwerdebild vieler sensorineuraler Schwerhörigkeiten [24], [29], [36]. Über ihre Häufigkeit bei der Lärmschwerhörigkeit gehen die Angaben im Schrifttum mit 5 % bis über 50 % weit auseinander; manche erfahrenen Gutachter rechnen mit ca. 20 %. Ein Nachdröhnen des Arbeitsplatzlärms nach Schichtende wird fast regelmäßig berichtet (nachfragen: wurden wirklich Gehörschützer getragen, wie und wie lange?); es ist aber nur vorübergehend, verschwindet bald und gerät deswegen in Vergessenheit. Unangenehm sind ständige Ohrgeräusche. Typischerweise geben Lärmhörgeschädigte einen hochfrequenten Klangcharakter an und schildern ihren Tinnitus als hochtonähnlich, Pfeifen, Klingeln, Zirpen, Zischen usw. Eine Objektivierung ist begreiflicherweise schwierig. Der HNO-Arzt bedient sich z. B. bestimmter Verdeckungstechniken: Er versucht, das Ohrensausen durch Töne und Geräusche über den Audiometer-Kopfhörer zu verdecken, und registriert, bei welchen dB-Werten der 172 Proband nur noch den Audiometerton bzw. das Audiometergeräusch hört und der Tinnitus subjektiv verschwunden, "maskiert" oder "ausgelöscht" ist. Die Einschaltung des Otologen empfiehlt sich auch besonders dann, wenn der Tinnitus eigenständigen Krankheitswert angenommen hat und (was sicher extrem selten, aber nicht undenkbar ist) dem Beschäftigten Anlass gibt, seine Umsetzung aus dem Lärmbereich zu beantragen. 4.3.6 Literatur [1] Beck, C.: Pathologie der Innenohrschwerhörigkeiten. Arch. f. Ohr.- Nas.- u. Kehlk.Heilkunde Suppl. 1984/I, 1-57 [2] Bründel, K. H., G. 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Wolfhart Niemeyer 4.4.1 Lärmschwerhörigkeit und altersbegleitender Hörverlust Das Corti-Organ enthält im jüngeren und auch noch im mittleren Lebensalter einen Überfluss an Hörsinneszellen; er dient als Reserve zum Ausgleich der vielfältigen Mikroläsionen, denen die Sinneszellpopulation vor allem in der Basalwindung der Kochlea im Lauf des Lebens ausgesetzt ist [15] und deren Summierung zu jenem zunehmenden Abknicken der Hörschwellenkurve oberhalb von 1000 Hz führt, das früher missverständlich als altersbedingter Hörverlust, Altershörverlust und Altersschwerhörigkeit [11] bzw. Presbyakusis bezeichnet wurde. Richtig ist "altersbegleitende Schwerhörigkeit". Denn nicht die Alterungsvorgänge im Organismus spielen kausal die entscheidende Rolle, mit dem Lebensalter steht die – von Mensch zu Mensch stark streuende – Zunahme der Hörschwellenverschiebungen in den oberen Frequenzen nur in zeitlichem Zusammenhang. Der altersbegleitende Hörverlust hat mit dem lärmbedingten Hörverlust das hauptsächliche pathologische Substrat, nämlich die Degeneration der äußeren Haarzellen in der Basalwindung der Schnecke, gemeinsam. Daher kann man beide auch nicht addieren [5] oder, wie es noch im alten G 20 vorgesehen war, den altersbegleitenden vom lärmbedingten Hörverlust abziehen, um den "echten" Lärmhörverlust zu bestimmen. Eine durch Lärmeinwirkung schon zugrundegegangene Hörsinneszelle kann kein zweites Mal den Zelltod erleiden und folglich der korrespondierende Hörverlust nicht zunehmen, nur weil der Mensch älter wird. Nach beendeter Lärmschädigung der Hörsinneszellen können die altersbegleitenden Innenohrnoxen bisher verschonte Sinneszellen und andere Weichteilstrukturen des Innenohres in Mitleidenschaft ziehen und so den Hörverlust vergrößern; das lässt sich aber erst nach dem Ausscheiden aus der Tätigkeit in Lärmbereichen von lärmkausalen dauernden Hörschwellenverschiebungen abgrenzen [16]. Die Schwerhörigkeit im Alter muss als sehr komplexes Resultat innenohrbedingter und neural-zentraler Degenerationsprozesse angesehen werden. Sie ist interindividuell noch weit unterschiedlicher ausgebildet als die altersbegleitenden Hochton-Hörminderungen im oberen Frequenzbereich [4], [7]. 4.4.2 Hörwahrnehmungen bei zunehmender Lärmschwerhörigkeit Die Lärmschwerhörigkeit beginnt schleichend und ohne subjektive Symptomatik. Untersuchungen in den USA sprechen dafür, dass nicht ganz unerhebliche Einbußen an Hörsinneszellen eingetreten sein können, ohne dass sich die Hörschwelle verschiebt [2], [12], [13]. Vice versa garantiert eine normale tonaudiometrische Schwellenkurve kein intaktes Cortisches Organ [17]. Wir müssen vielmehr damit rechnen, dass eine bleibende Hörschwellenverschiebung durch Lärm Ausdruck einer schon recht ausgedehnten Degeneration von Hörsinneszellen ist. Die initiale Hochtonsenke, im Frequenzbereich um 6000 oder 4000 Hz (Abb. 4.5) beeinträchtigt die Wahrnehmung von Geräuschen, das Hören von Musik und das Verständnis von 175 Sprache in aller Regel nicht. Daher werden solche umschriebenen Hörverluste ("Hörskotome") nur ausnahmsweise von Betroffenen selbst bemerkt; erst die audiometrische Untersuchung deckt sie auf. Abb. 4.5: Hörsenke im oberen Frequenzbereich; Sprachverstehen nicht beeinträchtigt Im Stadium der verbreiterten Hochtonsenke (Abb. 4.6) ist die Wahrnehmung mancher hochfrequenten Klänge und Geräusche (Grillenzirpen, Haus- und Telefonklingel, Armbanduhrenticken, Vogelstimmen) eingeschränkt. Flüstersprache wird nur noch aus Zimmerentfernung verstanden, ganz leises Flüstern nur noch aus der Nähe. Stimmhafte Sprache klingt mehr oder weniger verwaschen; durch den Hörverlust werden wesentliche Anteile der hochfrequenten Konsonanten von der Wahrnehmung abgeschnitten, insbesondere der Laute s und f. Gespräche mit einer oder zwei Personen bereiten keine Schwierigkeiten. Wenn mehrere Menschen gleichzeitig reden, also in der Partysituation, erfordert die verbreiterte Senke ein häufiges Nachfragen, allerdings ohne dass der Lärmgeschädigte schon als hörbehindert auffällt oder sich selbst als hörbehindert empfindet. Abb. 4.6: Verbreiterte Hörsenke. Hörweite für Flüstersprache herabgesetzt; leichte, noch nicht auffällige "Party"Schwerhörigkeit Wann dies der Fall ist, hängt von mehreren Faktoren ab. Die Fähigkeit zur zentralen Kompensation peripherer Hörverluste durch - unbewusstes - konzentriertes Hinhören, die Beachtung und Beobachtung des eigenen Hörvermögens und die akustischen Umgebungssituation spielen eine wesentliche Rolle. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass bei steilem oder schrägsteilem Abfall der Hörschwellenkurve eine hinderliche Beeinträchtigung des 176 Sprachverstehens eintritt, wenn der Hörverlust in der Frequenz 3000 Hz den Betrag von 40 dB überschreitet [15], [16]. Dieser Wert ist durch langjährige Beobachtungen an Lärmschwerhörigen mit Korrelation von subjektivem Beschwerdebild und Hörkurvenverlauf gut abgesichert; in der DDR markierte er den Beginn einer Schwerhörigkeit von sozialer Bedeutung. Abb. 4.7: Stufenform der Audiogrammkurve, steiler Abfall zwischen 1 und 2 kHz. Sprachverstehen im ruhigen Hörprüfraum noch ausreichend, im täglichen Leben stark erschwert Wenn sich der Lärmhörverlust auf das gesamte Frequenzband von oberhalb 1000 Hz bis 8000 oder 12000 Hz ausgedehnt hat, zeigt die Hörschwellenkurve den in Abb. 4.7 dargestellten stufenförmigen Verlauf. Damit ist schon fast die Hälfte des hörbaren Frequenzbereichs und des Sprachfrequenzbereichs - von der Wahrnehmung abgeschnitten. Hochfrequente Klänge und Geräusche werden jetzt viel häufiger als im Stadium der verbreiterten Hochtonsenke überhört. Das akustische Erleben der Umwelt ist deutlich verarmt. 4.4.3 Sprachverstehen bei Lärmschwerhörigkeit Die wichtigste Aufgabe des Hörens besteht für den Menschen in der Wahrnehmung des gesprochenen Wortes. Am mangelnden Sprachverstehen wird der Schwerhörige von seinen Mitmenschen als schwerhörig erkannt, und seine Schwierigkeiten beim Sprachverstehen machen ihm selbst bewusst, dass er schwerhörig ist. Über die Sprachverständlichkeit bei Steilabfall der Audiogrammkurve im mittleren Frequenzbereich findet man in manchen Begutachtungsrichtlinien, arbeitsmedizinischen und HNOLehrbüchern ganz andere Angaben, als sie der Erkrankte macht [16]. Unstrittig ist die stark reduzierte Verständlichkeit von Flüstersprache. Flüstersprache besteht hauptsächlich aus hochfrequenten Strömungs-, Reibungs- und Explosivgeräuschen. Eine Schwerhörigkeit in der oberen Hälfte des Hörfrequenzbereiches macht diese relativ leisen Geräusche unhörbar. Erst wenn durch Verringerung der Entfernung zwischen Mund und Ohr auf weniger als 0,5 m, unter Umständen auf weniger als 0,1 m ("Flüstersprache am Ohr"), der Sprachschallpegel am Ohr über den Betrag des Hörverlustes angehoben ist, wird Flüstersprache verstanden. Was die Umgangssprache betrifft, so kann man nicht selten lesen, ihre Verständlichkeit werde von der Lärmschwerhörigkeit wenig beeinträchtigt oder sei "erstaunlich gut". Dem steht die Klage des Patienten gegenüber, er müsse bei Unterhaltungen dauernd nachfragen, höre die Sprache wohl, verstehe sie aber nicht, werde deswegen ausgelacht und fühle sich durch solche Erschwerungen bei Gesprächen isoliert von seinen Mitmenschen; abgesehen von der Schwierigkeit, sich im Berufsleben sprachlich zu verständigen. 177 Die Faktoren, die zu derartigen Widersprüchlichkeiten zwischen Untersucher und Geschädigtem führen, sind im einzelnen seit langem bekannt, werden aber in ihrem Zusammenwirken wenig beachtet. Es sind in erster Linie: · · · 4.4.3.1 der Tiefpassfilter-Effekt des Hörverlustes der Lautheitsausgleich im Bereich des Hörverlustes infolge Ausfalls der äußeren Haarzellen weitere Störungen des überschwelligen Hörens. Lärmschwerhörigkeit als Tiefpassfilter Tiefpassfilter lassen tiefe Frequenzen passieren und halten hohe zurück; ein Steilabfall der Audiogrammkurve bei 1000 Hz schließt, wie schon gesagt, ungefähr die Hälfte des Sprachbereiches von der Wahrnehmung aus (s. Abb. 4.7). In grober modellhafter Vereinfachung bedeutet dies, dass nur noch 50 Prozent der Bestandteile der Lautsprache gehört werden. Das impliziert nicht unbedingt eine entsprechende Herabsetzung der Sprachverständlichkeit. Denn systematische Untersuchungen der Informationswissenschaftler und Nachrichtentechniker haben ergeben, dass die Lautsprache einen Informationsüberfluss (Redundanz) von ca. 75 Prozent enthält. Für die Übermittlung des Nachrichteninhaltes reichen 25 Prozent der Information aus. Natürlich ist dieser Informationsüberfluss hörphysiologisch wohl begründet und keine unökonomische Laune der Natur. Er dient dazu, die Übertragung der lautsprachlichen Botschaft gegen äußere Störeinflüsse abzusichern und gleichzeitig ein müheloses Verstehen ohne ständiges konzentriertes Hinhören zu ermöglichen. Prüfen wir einen Lärmschwerhörigen im vorschriftsmäßig störschallgeschützten und schallrückwurfarmen Hörprüfraum, so erhalten wir in der Tat bemerkenswert große Hörweiten für Umgangssprache. Dies gilt vor allem dann, wenn wir der "Hörweite für Umgangssprache" das Verständnis viersilbiger Zahlenwörter zugrunde legen. Diese viersilbigen Zahlwörter bestehen nur aus den Silben ein - zwei - drei - vier - fünf - sechs - sieben - acht - neun, "und", "zig" oder "ßig" und "zwan". Sie sind für den Reichtum an Lauten und Lautverbindungen fließender Rede nicht repräsentativ. Ihre wenigen Bestandteile können größtenteils allein am tieffrequenten Vokalklang erraten werden, und eben das hat der Lärmschwerhörige gelernt. So produziert er bei der Sprachabstandsprüfung das, was als erstaunlich große Hörweiten oder erstaunlich gutes Sprachgehör ins Schrifttum eingeht. Die lautsprachliche Verständigung im Alltag, im Beruf und damit auf dem so genannten allgemeinen Arbeitsfeld erfolgt aber nicht mit zweistelligen Zahlwörtern, sondern mit Sätzen. Sätze sind zwar für den Normalhörenden nur wenig schwerer verständlich als zweistellige Zahlwörter. Um sie richtig zu erkennen, bedarf es jedoch in viel höherem Maße auch des Konsonantenverständnisses als bei der Zahlenprüfung, die mehr das Sprache-Hören als das Sprachverstehen betrifft, und am Konsonantenverständnis fehlt es dem Patienten mit Tiefpassfilter-Schwerhörigkeit. Die Hörweite für Sätze ist deshalb bei Lärmschwerhörigen regelmäßig deutlich kleiner als die Hörweite für Zahlen. Auf das Satzverständnis aber kommt es an. Diese Erkenntnis ist alles andere als neu; R. MITTERMAIER hat sie vor über 50 Jahren in seinem Referat "Ohrenärztliche Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung der Erwerbsminderung" [14] so präzisiert: "Für die Beurteilung der Erwerbsminderung ist auch heute das binaurale Satzgehör maßgebend" (Seite 103) und "jedoch sollte man gerade bei der Begutachtung nie vergessen, dass es nicht darauf ankommt, welche mehr oder weniger schweren Worte der Prüfling versteht, sondern wie sein Verständnis einer sinnvollen Umgangssprache ist. Es kommt also auf das binaurale Satzgehör an" (Seite 113]). Den meisten Lärmschwerhörigen bereitet allerdings auch das in Satzform geführte Gespräch mit dem Arzt in einem ruhigen Untersuchungsraum kaum Schwierigkeiten, was zum Eindruck eines nur wenig beeinträchtigten Sprachverständnisses beiträgt. Aber, und das ist das Entscheidende, wir müssen die Definition der sprachlichen Verständigung im Alltag noch in anderer Hinsicht ergänzen. Sie erfolgt nämlich gerade nicht im störschallarmen Sprechzim178 mer oder gar im speziellen, störschallgeschützten Hörprüfraum wie die konventionelle Sprachaudiometrie, sondern bei Anwesenheit von Umweltgeräuschen [1]. Abb. 4.8: Typisches Schallspektrum eines Umweltgeräusches (Zimmer an mäßig befahrener Straße bei geschlossenem Fenster) Man kann davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der arbeitenden europäischen Bevölkerung tagsüber Umweltgeräuschen von > 50 dB(A) ausgesetzt ist [18]. Sie setzen sich zusammen zum Beispiel aus gedämpftem Verkehrslärm, Arbeitslärm, gedämpftem Sprechen vieler Menschen, Windrauschen, usw. Die einzelnen Komponenten der Umweltgeräusche sind an ihrem Ursprungsort in der Regel breitbandig, ähnlich wie die meisten Industriegeräusche. Während der Fortpflanzung durch die Luft, Wände, Fenster und andere Medien wird das Klangbild (das heißt die spektrale Energieverteilung) verändert. Die hohen Frequenzen werden viel stärker absorbiert als die tiefen. Wenn das Umweltgeräusch in die Luftstrecke zwischen Sprecher und Hörer eindringt, ist es in aller Regel ein ausgeprägtes Tieftongeräusch (Abb. 4.8). Ein solches Tieftongeräusch lässt sich unter Berücksichtigung der Hörschwellen-Differenzen zwischen freiem Schallfeld und Kopfhörer ins Audiogramm projizieren (Abb. 4.9). In dem grau getönten Bereich, den es abdeckt, sind Sprachbestandteile weitgehend unhörbar, sie werden maskiert wie ein übergehörter Audiometerton bei der Vertäubung des Gegenohres. Abb. 4.9: Umweltsimulierendes Rauschen (A-Schallpegel 50 dB), in ein Audiogrammformular projiziert. Grundtöne des Sprachklangs sowie Teile der ersten Oberformanten und Konsonanten sind durch das Geräusch verdeckt. 179 Abb. 4.10: Schematische Darstellung der Sprachwahrnehmung bei Hörkurvenverlauf wie in Abb. 4.7:, Sprachschall oberhalb ~1,5 kHz infolge Hörverlustes unhörbar, tiefe Frequenzanteile der Sprache durch Umweltgeräusch verdeckt. Das dick umstrichelte Restsprachfeld reicht zum Verstehen normaler Konversationssprache nur noch aus ca. 1 m Entfernung aus. In Abb. 4.10 ist die Audiogrammkurve aus Abb. 4.7 eingezeichnet. Man erkennt, dass dem Patienten unter natürlichen akustischen Bedingungen nur noch ein kleines "Restsprachfeld" für sein Sprachverstehen zur Verfügung steht: Was oberhalb des Steilabfalls der Audiogrammkurve liegt, ist unhörbar, was unterhalb liegt, wird zu einem erheblichen Teil vom tieffrequenten Umweltgeräusch überdeckt. Den Normalhörenden stört das wenig, weil er den Informationsverlust durch das Umweltgeräusch mühelos mit der Information aus den oberen Sprachfrequenzen kompensieren kann, wo das Umweltgeräusch nur geringe akustische Energie entwickelt und die Sprachwahrnehmung daher nicht behindert. Der Lärmschwerhörige ist aber für sein Sprachverständnis auf den unteren Frequenzbereich angewiesen, und gerade hier wird die Sprache durch das Umweltgeräusch maskiert. Das in den Abbildungen eingezeichnete Sprachfeld bezieht sich auf normale Konversationssprache in einer Entfernung von etwa 1 m. In diesem Abstand beträgt der Sprachschallpegel rund 65 dB. Der im Beispiel der Abb. 4.7 und Abb. 4.10 trotz Hörverlustes und Umweltgeräusches verbliebene Sprachbereich genügt noch zum Sinnverständnis, wenn er auch ein erheblich konzentriertes - und auf die Dauer ermüdendes - Hinhören verlangt, als es der Normalhörende oder auch der leicht Schwerhörige mit gleichmäßigem Hörverlust von beispielsweise 30 dB aufbringen muss. Wenn aber der Abstand zwischen Sprecher und Hörer vergrößert oder wenn verhalten gesprochen wird, vermindert sich die Sprachschallstärke, ohne dass auch das Umweltgeräusch leiser wird. Abb. 4.11 zeigt, dass das freibleibende Sprachareal für den Normalhörenden auch jetzt noch zum Verständnis ausreicht. Der Lärmschwerhörige dagegen kann die Sprache nicht mehr verstehen, das dick umstrichelte Sprachareal ist dafür zu klein. Nur hören kann er die Sprache noch. In grober Näherung verdeutlicht diese Darstellung zeichnerisch die Ursache der sozialen Tragik des Lärmschwerhörigen. Jeder Schwerhörige ist der Verkennung als dumm ausgesetzt. Im Niederdeutschen hat das Wort "doof" sowohl die Bedeutung taub als auch die Bedeutung dumm. Dummheit gibt sich daran zu erkennen, dass der Träger dieser Eigenschaft, wenn er angesprochen wird, auf das gesprochene Wort falsch oder nicht reagiert. Durch einen voreiligen Analogieschluss setzten wir umgekehrt das falsche oder fehlende Reagieren auf das gesprochene Wort mit Dummheit gleich. Damit tun wir dem Schwerhörigen Unrecht. Er reagiert nämlich auf das gesprochene Wort falsch oder nicht, weil er es nicht oder zu schwach hört. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ein normal intelligenter Mensch zu 180 schlecht hört, um zu verstehen, oder ein Normalhörender infolge Dummheit nicht begreifen kann, was er hört. Abb. 4.11: Gleiche Situation wie in Abb. 4.10, Sprache jedoch durch größere Entfernung oder verhaltenes Sprechen ca. 15 dB leiser. Das dick umstrichelte Restsprachfeld ermöglicht noch ein Hören der Sprache, reicht aber nicht mehr für das Verständnis aus. Der Normalhörende verfügt zusätzlich über das mittelstark umstrichelte Sprachfeld oberhalb der beiden Pfeile rechts und kann gut verstehen. Der Lärmschwerhörige: "Ich höre, aber ich verstehe nicht" Dies lässt sich einem Normalsinnigen noch einigermaßen begreiflich machen. Wenn aber ein Mensch zugegebenermaßen die Sprache hört, womöglich sogar laut hört (weil die Hörschwelle im unteren Frequenzbereich, wo die energiereichen Vokale ihre Formanten haben, ja nicht nennenswert verschoben ist) und trotzdem nicht versteht, so fällt es der Umwelt schwer einzusehen, dass hieran eine Eigentümlichkeit der Hörstörung Schuld sein soll und nicht Intelligenzmangel, Unaufmerksamkeit, Interessenlosigkeit oder andere unerfreuliche Eigenschaften, die dem Lärmschwerhörigen unterstellt werden. 181 4.4.3.2 Lautheitsausgleich infolge Verlustes der äußeren Haarzellen Im Abschn. 1.3 wurde besprochen, dass die beiden Typen von Hörsinneszellen, die sog. äußeren und inneren Haarzellen, unterschiedliche Aufgaben bei der Transformation der in der Innenohrflüssigkeit und an der Schneckentrennwand ablaufenden, schallinduzierten Schwingungsvorgänge in körpereigene bioelektrische Erregung erfüllen; und im Beitrag "Entstehung und audiometrisches Bild der Lärmschwerhörigkeit", s. Abschn. 4.3, dass im Stadium des Stufenaudiogramms die äußeren Haarzellen in der Basalwindung der Kochlea weitgehend ausgefallen sind. Im Frequenzbereich der stärkeren Hörverluste, wo Sprachbestandteile nur bei lautem Sprechen oder aus der Nähe wahrnehmbar sind, und im Übergangsbereich zwischen gutem Schwellengehör und stärkerem Hörverlust ist der Lärmschwerhörige also auf das Hören nur oder fast nur mit den inneren Haarzellen angewiesen. Die inneren Haarzellen sprechen ohne die Mitwirkung der äußeren erst auf Schallstärken ab 40 – 60 dB an. Nachdem ihre Hörschwelle aber einmal überschritten ist, verläuft ihre Reizstärke-Erregungs-Kennlinie steil. Ein viel geringerer Zuwachs an Reizstärke genügt für einen viel stärkeren Zuwachs an Erregung und damit an empfundener Lautstärke als beim normalen Hören mit inneren und äußeren Haarzellen (Abb. 4.12). Abb. 4.13a erläutert die Auswirkungen auf den SISI-Test. Abb. 4.12: Reizstärke-Erregungs-Funktion ("Input-Output") der Hörsinneszellen, schematisch dargestellt über einem um 150° gedrehten Audiogrammformular. dB bezogen auf 20 µPa, normale Hörschwellenkurve eingezeichnet. Siehe Text. (In Anlehnung an Keidel [1]). Wie aber beeinflusst dieser positive Lautheitsausgleich, wie das Hören nur mit den inneren Haarzellen die Wahrnehmung von Sprache? Hier kommt die Kehrseite des Recruitments zur Wirkung: Ein tatsächlicher Schallstärkeunterschied von 5 dB wird vom Recruitmentschwerhörigen nicht wie 5 dB, sondern wie 10 oder 15 dB Unterschied empfunden. Man kann von einem Expansionseffekt der inneren Haarzelle sprechen (Abb. 4.13b). Er übertreibt die Kontraste zwischen lauteren und leiseren Sprachbestandteilen zugunsten der lauteren [8]. Die Wirkung ist vergleichbar einem überbelichteten Schwarzweißfoto, in dem infolge Übertrei182 bung der Schwarzweißkontraste die feineren Grauabstufungen verloren gehen und das infolgedessen weniger Information enthält als ein richtig belichtetes Bild. Abb. 4.13a: Erklärung des SISI-Tests: Der Recruitmentschwerhörige braucht infolge seiner steilen SchallstärkeLautstärkeempfindungs-Funktion 20 dB über die Hörschwelle nur eine viel geringere Schallstärkeerhöhung, um eine Lautstärkeerhöhung zu empfinden, als der Normalhörende 20 dB über seiner Hörschwelle. Er kann daher die SISI-Inkremente bei 20 dB SL (Sensation Level, das heißt, bezogen auf die individuelle Hörschwelle) wahrnehmen, während sie dem Normalhörenden bei 20 dB SL verborgen bleiben. Abb. 4.13b: Der Kehrwert des Lautstärkeausgleichs (das heißt des positiven Recruitments) ist der Expansionseffekt beim Hören allein mit den inneren Haarzellen. Der Recruitmentschwerhörige empfindet einen objektiven Schallstärkeunterschied von 5 dB so stark wie der Normalhörende einen solchen von 10 oder 15 dB. Bei der Wahrnehmung von Sprache geht die Kontrastübertreibung zu Lasten der Konsonanten. Diese enthalten weniger Energie als die Vokale. Die übertrieben laut empfundenen Vokale müssen daher das Konsonantenverständnis beeinträchtigen, zusätzlich zum Hörverlust. Bei vielen Lärmschwerhörigen im fortgeschrittenen Stadium sind intaktes Tieftongehör und geschädigtes Hochtongehör nicht durch einen scharfen Steilabfall voneinander abgetrennt, sondern durch einen Schrägabfall der Audiogrammkurve (Abb. 4.14). Vor allem in dieser für die Spracherkennung wichtigen Übergangszone wirken sich die geschilderten Funktionsstörungen voll aus. Konsonanten sind für das Verständnis fließender Rede und von Einzelwörtern (außer Zahlen) bedeutsamer als Vokale. Das Konsonantenverständnis des Lärmschwerhörigen wird also zweifach behindert, einmal durch den Hochtonverlust, zum anderen durch die Benachteiligung der Konsonanten infolge Lautheitsausgleich (Abb. 4.15). 183 Abb. 4.14: Schrägabfall der Audiogrammkurve bei Lärmschwerhörigkeit im fortgeschrittenen Stadium mit mittelstarkem Hörverlust im oberen Frequenzbereich (solche Kurvenverläufe sind vor allem bei Bergleuten nicht selten). Abb. 4.15: 4.4.3.3 Übertreibung des Lautstärkekontrastes zwischen Konsonanten (K) und Vokalen (V), schematisch dargestellt am Beispiel des Audiogramms von Abb. 4.14, in den Frequenzen 1, 1,5 und 2 kHz. Je steiler die Reizstärke-Erregungskennlinie ansteigt, das heißt, je ausgeprägter das positive Recruitment ist, desto mehr werden die Vokale lautstärkemäßig über die Konsonanten angehoben und übertönen sie. Weitere überschwellige Störungen Der vorstehend beschriebene „Expansionseffekt“ des Hörens ohne äußere Haarzellen – der Kehrwert des positiven Recruitments (Abb. 4.13 – mit seinen ungünstigen Auswirkungen auf die Konsonantenerkennung und damit auf die Deutlichkeit der Sprache ist nicht die einzige 184 Störung des überschwelligen Hörens, die dem Lärmschwerhörigen das Sprachverstehen erschwert und oftmals unmöglich macht. Sehen wir uns noch einmal die Abb. 1.18 an: Hier haben Plinkert und Zenner zeichnerisch verdeutlicht, wie die Wellenbewegungen der Schneckentrennwand mit dem Corti-Organ mit und ohne motorische äußere Haarzellen ablaufen. Ohne äußere Haarzellen sind sie abgeflacht, die Konzentration auf den energiereichsten schmalen Frequenzbereich fehlt. Der Verlust dieser Schall-Vorverarbeitung durch die äußeren Haarzellen hat zwei weitere Folgen, die das Sprachverstehen zusätzlich erschweren (3), (6), (9), (10), (15), (16), (19), (20): · eine Verschlechterung des Frequenz-Unterscheidungsvermögens. Sie vermindert die Deutlichkeit der Sprache, reduziert also ihren Informationsgehalt; sie erschwert das Heraushören von Sprachbestandteilen aus den Nebengeräuschen, die der Sprache im Alltag und am Arbeitsplatz praktisch immer und überall beigemischt sind. · Eine verschlechterte Wahrnehmung von Zeitstrukturen mit verzögerter Adaptation und Readaptation. Unter Adaptation verstehen wir hörwissenschaftlich die Anpassung von geringen an hohen Schallstärken, unter Readaptation die (Rück-)Anpassung von hohen an geringe; übertragen auf das Sehen: Adaptation von dunkel an hell, Readaptation von hell zu dunkel. Die verlangsamte Rückanpassung von laut an leise geht wiederum zu Lasten der Konsonantenerkennung: Folgt ein energiearmer Konsonant einem energiereichen Vokal (wobei der Expansionseffekt die Lautstärkedifferenz zwischen beiden ohnehin zu Lasten des Konsonanten übertreibt), so kann der Konsonant nur wahrgenommen erkannt werden, wenn das Ohr sich rechtzeitig an seine geringe Schallstärke rückanpasst. Ist die Rückanpassung verzögert, so entgeht der Konsonant der Wahrnehmung. Die Information, die er enthält, ist verloren [15], [16]. 4.4.4 Zusammenfassung und Folgerungen Unter den unrealistischen akustischen Verhältnissen der Hörprüfungssituation (niedriger Störschallpegel, Prüfung mit Einzelwörtern, zum Teil mit leicht erratbaren Zahlwörtern) zeigt der Lärmschwerhörige vielfach ein recht gutes Sprachverstehen, das im Widerspruch zu seinen Klagen über schlechtes Sprachverstehen im täglichen Leben steht. Dies kann den Untersucher dazu verführen, eine Übertreibung der Beschwerden anzunehmen und die tatsächliche Behinderung zu unterschätzen [16]. Das Sprachverstehen im Alltag und auf dem allgemeinen Arbeitsfeld ist meist das Verstehen kurzer Sätze bei Anwesenheit eines Umweltgeräusches. Hier befindet sich der Lärmschwerhörige mit seinem steilen oder schrägen Abfall der Hörschwellenkurve im mittleren Frequenzbereich bei normalem Schwellengehör für tiefe Töne und starkem Hörverlust für hohe Töne in einer besonders ungünstigen Situation. Die Konsonanten sind größtenteils für ihn unhörbar. Die unteren Sprachfrequenzen, auf deren Wahrnehmung er für das Sprachverstehen angewiesen ist, werden mehr oder weniger vom tieffrequenten Umweltgeräusch verdeckt. Die für ihn noch hörbaren Lautbestandteile reichen oftmals nur noch zum Hören, aber nicht mehr zum Verstehen der Sprache aus, was zu Missdeutungen seines Verhaltens als uninteressiert, unaufmerksam, dümmlich usw. Anlass gibt. Hinzu kommt bei Wirksamwerden des Lautheitsausgleiches eine Übertreibung der Lautstärkeunterschiede innerhalb der Sprache zugunsten der ohnehin energiereicheren Vokale und zuungunsten der energieärmeren, für das Sprachverständnis aber wichtigeren Konsonantenbestandteile, sofern der Hörverlust deren Wahrnehmung noch zulässt. Zusätzlich wird das Verständnis dadurch erschwert, dass das lärmgeschädigte Innenohr Frequenzunterschiede und Zeitgang innerhalb des Komplexes Sprache schlechter zu identifizieren vermag als das gesunde Innenohr und dass sein Readaptationsverhalten gestört ist. Der geklagten Behinderung im Sprachverständnis liegt also ein komplexes Ursachenbündel zugrunde, dessen Auswirkungen durch die konventionelle Hörweitenprüfung, Ton- und Sprachaudiometrie nur teilweise erfasst werden. Diese Zusammenhänge sind zwar nicht spezifisch für die Lärmschwerhörigkeit, sie gelten grundsätzlich für die Mehrzahl aller Innenohrschwerhörigkeiten mit vorwiegendem Hochton185 Hörverlust. Es gibt aber keine vergleichbare große Gruppe von Schwerhörigkeiten, bei der gutes Tiefton-Schwellengehör und schlechtes Hochton-Schwellengehör mit den für Innenohrschwerhörigkeit charakteristischen überschwelligen Hörstörungen - auch in der Übergangszone - einander so krass gegenüberstehen wie bei Lärmhörschäden im fortgeschrittenen Stadium. Die beinahe stereotype Klage altgedienter Lärmschwerhöriger lautet etwa folgendermaßen: "Einzelgespräche kann ich noch ohne größere Schwierigkeiten führen, wenn der andere einigermaßen laut und deutlich spricht. Viele glauben mir deswegen gar nicht, dass ich schwerhörig bin. Sobald aber mehrere Personen gleichzeitig sprechen wie bei einer Betriebskonferenz, bei einer Familienfeier oder in der Schalterhalle der Krankenkasse oder Sparkasse, höre ich wohl, dass gesprochen wird, verstehe aber das meiste nicht und mache mich durch mein ständiges Nachfragen lächerlich. Noch schlimmer ist es bei stärkeren Nebengeräuschen, zum Beispiel im fahrenden Zug. Ich kann dann nur verstehen, was man mir aus der Nähe ins Ohr spricht. Meine Enkelkinder, die mit ihren hohen Stimmchen durcheinander reden, verstehe ich kaum. Sie halten mich für dumm, uninteressiert und uninteressant und wenden sich von mir ab, obwohl ich mir soviel Mühe gebe, mit ihnen zu sprechen und zu spielen. Von manchen anderen Verwandten werde ich geschnitten, weil es zu mühsam ist, sich mit mir im größeren Kreis zu unterhalten. Aus dem Betriebsrat bin ich abgewählt worden, weil ich bei Besprechungen nicht mitkomme und die anderen durch mein ständiges Nachfragen aufhalte; manchmal geniere ich mich auch nachzufragen und antworte irgendetwas, was dann falsch ist und Gelächter oder Kopfschütteln hervorruft. Den Meisterkurs habe ich abbrechen müssen, weil ich die Vortragenden zu schlecht verstand. Auch wenn ich vorne saß, musste ich so angestrengt hinhören, dass ich davon bald ermüdet war und dann nichts mehr aufnehmen konnte. In der Kirche verstehe ich den Pfarrer so schlecht, dass ich nur noch selten zum Gottesdienst gehe. In die Wirtschaft traue ich mich gar nicht mehr, weil ich aus dem Stimmengewirr nichts richtig heraushören kann und ausgelacht werde. Ich bin richtig vereinsamt und gehe am liebsten für mich allein spazieren. Aber auch die Umwelt ist für mich wie tot. Vogelstimmen, die mir in früheren Jahren viel Freude gemacht haben, höre ich kaum mehr. Zu Hause mit dem Fernsehen ist es auch schwierig. Entweder muss ich das Gerät zu laut anstellen, und die anderen beschweren sich, oder ich muss Kopfhörer aufsetzten, und dann ärgert sich meine Familie, weil ich nicht höre, wenn einer etwas von mir will. Eigentlich hat das Leben gar keine rechte Freude mehr für mich. Immer nur lesen macht auch keinen Spaß." Dieses „Ich höre, aber ich verstehe nicht“ mit seinen Konsequenzen kommt meist erst zur Sprache, wenn sich der HNO-Gutachter im Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren oder als Sozialgerichts-Sachverständiger die Zeit nimmt, seinen Probanden anzuhören, und nicht nur auf die von Hilfskräften ins Ton- und Sprachaudiogramm eingezeichneten Kurven sieht [16]. Beim beauftragten Arbeitsmediziner liegt es, derartige Hörverluste gar nicht erst entstehen zu lassen. Ohne ständiges Bedenken der – im Gegensatz zum zeitlich begrenzten Arbeitsplatz – lebenslangen persönlichen und sozialen Tragik, die sich bereits hinter einem „Lärm III“ erforderlichen Hörverlust verbirgt, wird er sich in der heutigen Arbeitsmarktsituation schwer tun, den G 20 aus Überzeugung umzusetzen statt zu umgehen, und die richtige, nicht selten unbequeme Entscheidung zwischen Arbeitsplatz- und Gehörerhaltung zu treffen. 186 4.4.5 Literatur [1] Aniansson, G.: Methods for Assessing High Frequency Hearing Loss in Every-Day Listening Situations. Acta oto-laryng. (Stockholm) Suppl. 320 (1974) [2] Bienvenue, G. R., T. A. Bennett, A. Anthony, P. L. Michael: The Effect of Prolonged Noise Exposure on a Battery of tests. Paper presented Ann. Meeting Amer. Audiol. Soc. (Dec. 12, 1977), 1-14 [3] Chung, D.: Temporal Integration: Its Relationship with Noise-Induced Hearing Loss. Scand. 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