Wirkleistung, Blindleistung und Effektivwert∗ http://www.siart.de/lehre/leistung.pdf Uwe Siart [email protected] 14. September 2013 (Version 1.87) Inhaltsverzeichnis 1. Leistung 1 2. Effektivwert 4 3. Leistungstransport auf Hochfrequenzleitungen 5 A. Additionstheoreme 7 1. Leistung Wir betrachten einen allgemeinen linearen Zweipol von beliebigem inneren Aufbau. An seinen Klemmen liege die zeitharmonische Spannung u(t) und es fließe der Strom i(t) von der Form u(t) = |U | · cos(ωt + φu ) = Re |U |e jφu e jωt = Re U e jωt (1a) jωt jφ i jωt i(t) = |I | · cos(ωt + φ i ) = Re |I |e e = Re I e . (1b) Dabei wird ein Verbraucherzählpfeilsystem angenommen (Abb. 1). Die momentane Leistung p(t) ist dann p(t) = u(t) · i(t) = |U | · |I | · cos(ωt + φu ) · cos(ωt + φ i ) 1 = |U ||I | · cos(φu − φ i ) + cos(2ωt + φu + φ i ) . (2) 2 i(t) bc u(t) bc Abb. 1: Strom und Spannung an den Klemmen eines Zweipols ∗ Dieser Aufsatz ist ein Auszug aus: Detlefsen, J.; Siart, U.: Grundlagen der Hochfrequenztechnik. 4. Auflage. München: Oldenbourg, 2012. 1 Entsprechend den Zählrichtungen von u(t) und i(t) nimmt der Zweipol Leistung auf, wenn p(t) > 0 und er gibt Leistung ab, wenn p(t) < 0. Wir schreiben nun den Term cos(2ωt +φu +φ i ) in der Form cos(2ωt + φu + φ i ) = cos 2(ωt + φu ) − (φu − φ i ) = cos 2(ωt + φu ) cos(φu − φ i ) + sin 2(ωt + φu ) sin(φu − φ i ) (3) um und können damit p(t) schreiben als 1 p(t) = |U ||I | · 1 + cos 2(ωt + φu ) cos(φu − φ i ) + sin 2(ωt + φu ) sin(φu − φ i ) . 2 (4) Offenbar besitzt der Term 1 + cos 2(ωt + φu ) den Mittelwert 1 und der Term sin 2(ωt + φu ) den Mittelwert 0. Man bezeichnet die Leistung, die im zeitlichen Mittel vom Zweipol aufgenommen wird, als Wirkleistung PW . Dem gegenüber steht ein Anteil, der im zeitlichen Mittel 0 ist, also eine Leistung, die vom Zweipol aufgenommen und zu anderen Zeiten wieder abgegeben wird. Diesen Anteil bezeichnet man als Blindleistung PB und man schreibt 1 |U ||I | · cos(φu − φ i ) = u eff · i eff · cos(φu − φ i ) (5a) 2 1 (5b) PB = |U ||I | · sin(φu − φ i ) = u eff · i eff · sin(φu − φ i ) . 2 Mit der Zerlegung (5a,b) in Wirk- und Blindleistung kann die Momentanleistung (4) auch geschrieben werden als p(t) = PW · 1 + cos 2(ωt + φu ) + PB · sin 2(ωt + φu ) . (6) PW = p(t) = In dieser Form erkennt man die Bedeutung der Wirkleistung PW als den zeitlichen Mittelwert der Momentanleistung sowie der Blindleistung PB als der Amplitude des mittelwertfreien und zeitlich schwankenden Anteils der Momentanleistung p(t). In Abb. 2 sind beispielhaft die Funktionen u(t), i(t), p(t) sowie der zeitliche Mittelwert von p(t) für φu − φ i = 60° dargestellt. Ein weiterer Weg zur Definition (5) von Wirk- und Blindleistung ist der Folgende. Offenbar ist p(t) zu allen Zeiten positiv, wenn u(t) und i(t) in Phase sind, also wenn φ i = φu . In diesem Fall wird nur Wirkleistung aufgenommen. Andererseits ist p(t) mittelwertfrei, wenn zwischen u(t) und i(t) eine Phasendifferenz von π/2 besteht. Der Zweipol nimmt dann keine Wirkleistung auf, es liegt ausschließlich Blindleistung vor. Man erkennt beides anhand der Beziehungen 1 1 + cos(2ωt + 2φu ) ≥ 0 ∀t (7a) 2 2 1 π mittelwertfrei . (7b) cos(ωt + φu ) · cos(ωt + φu ± ) = ∓ sin(2ωt + 2φu ) 2 2 Aufgrund dieser Erkenntnis zerlegen wir den Strom (1b) in einen Anteil, der mit u(t) in Phase ist und in einen Anteil, der u(t) um π/2 nacheilt. Wir erhalten π i(t) = |I | · cos(φu − φ i ) cos(ωt + φu ) + sin(φu − φ i ) cos(ωt + φu − ) (8) 2 cos(ωt + φu ) · cos(ωt + φu ) = und hieraus durch Produktbildung mit (1a) aus dem gleichphasigen Stromanteil und dem der Spannung um π/2 nacheilenden Stromanteil die Werte (5a,b) für Wirk- und Blindleistung. Unter Verwendung der komplexen Schreibweise können wir die komplexe Scheinleistung S = PW + jPB = 1 1 |U ||I |e j(φu −φ i ) = · U · I ∗ 2 2 2 (9) i(t) 2π π 3π ωt → u(t) p(t) p(t) 2π π 3π ωt → Abb. 2: Die harmonischen Zeitfunktionen u(t) und i(t) mit φu − φ i = 60° und der entstehende Verlauf der Momentanleistung p(t) definieren, sodass PW = Re{S } und PB = Im{S } ist. Jeder lineare Zweipol kann an seinen Klemmen durch seine Impedanz Z beziehungsweise durch seine Admittanz Y = 1/Z beschrieben werden. Verwendet man die Zusammenhänge U = Z I und I ∗ = Y ∗U ∗ , so ergeben sich aus (9) die Formeln 1 1 1 U I∗ = |I | 2 Z = |U | 2 Y ∗ 2 2 2 1 1 1 ∗ U I = |I | 2 Re{Z } = |U | 2 Re{Y } PW = Re 2 2 2 1 1 1 U I ∗ = |I | 2 Im{Z } = − |U | 2 Im{Y } PB = Im 2 2 2 S= (10a) (10b) (10c) für Wirk- und Blindleistung. Die Definition (9) beinhaltet die Konvention, dass induktive Blindleistung positiv und kapazitive Blindleistung negativ gezählt wird. Der Betrag der Scheinleistung Im U |I | sin(φu − φ i ) I φu φi |I | cos(φu − φ i ) Re Abb. 3: Zerlegung des Stromes in einen Wirk- und einen Blindanteil 3 errechnet sich mit p |U | |I | |S | = PW 2 + PB 2 = √ · √ = u eff · i eff 2 2 (11) als das Produkt der Effektivwerte von Spannung und Strom. An dieser Stelle sei betont, dass die Beträge von komplexen Zeigern in der Hochfrequenztechnik stets Scheitelwerte sind, während im Bereich der Energietechnik hier üblicherweise mit Effektivwerten gerechnet wird. 2. Effektivwert Der Effektivwert u eff einer Spannung u(t) ist diejenige Gleichspannung, die an einem ohmschen Widerstand R im zeitlichen Mittel die gleiche Wirkleistung PW umsetzt wie die Spannung u(t). Der Effektivwert eines Stromes ist in gleicher Weise festgelegt. Zur Herleitung betrachten wir die Wirkleistung PW 1 = p(t) = lim T →∞ 2T +T ∫ p(t) dt (12) −T als den zeitlichen Mittelwert p(t) der Leistung p(t). Die Momentanleistung an einem Wirkwiderstand R mit der Spannung u(t) ist p(t) = u 2 (t) . R (13) Die in Wärme umgesetzte mittlere Leistung ist dann PW = p(t) = 2 u 2 (t) u eff = , R R (14) wodurch sich der Effektivwert von u(t) ergibt als u eff = q u 2 (t) . (15) Im Fall einer periodischen Funktion u(t) ist die Mittelung über den Zeitraum T einer Periode ausreichend. Sie liefert den selben Mittelwert, wie eine Mittelung über alle Zeiten. Wir betrachten den Sonderfall einer harmonischen Zeitabhängigkeit mit beliebiger Nullphase φu entsprechend (1a) und erhalten dann für den Effektivwert v v u u u u u u +T ∫ t t t1∫+T 2 1 1 u eff = lim |U | · cos(ωt + φu ) dt = |U | · cos2 (ωt + φu ) dt . (16) T →∞ 2T T t1 −T Mit der Periodendauer T = 2π/ω ergibt sich der Mittelwert der cos2 -Funktion zu v v u u u u # t1 +T u u t t1∫+T t " 1 1 1 1 1 =√ . t+ sin 2(ωt + φu ) cos2 (ωt + φu ) dt = T T 2 4ω 2 t1 t1 4 (17) Dieser Wert ist erwartungsgemäß unabhängig von der Wahl von t 1 und von φu . Mit (16) und (17) ergibt sich der Effektivwert einer zeitharmonischen Spannung |U | u eff = √ . 2 (18) 3. Leistungstransport auf Hochfrequenzleitungen Auf einer Hochfrequenzleitung, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht kurz ist gegenüber der Signalwellenlänge, sind Spannung und Strom nicht mehr auf der ganzen Leitung konstant. Der Gehalt an Wirk- und Blindleistung ist daher eine Funktion der Längenkoordinate z entlang der Leitung. Zur Beschreibung der Verhältnisse auf HF-Leitungen verwendet man vorteilhaft Spannungs- und Stromwellen, die sich auf der Leitung ausbreiten. Im Fall des Einwellenbetriebs1 gibt es auf einer Leitung allgemein zwei Wellen des gleichen Typs, die sich jeweils in +zund in −z-Richtung ausbreiten. Die Gesamtspannung U (z) und der Gesamtstrom I (z) ergeben sich aus der Überlagerung dieser beiden Wellen und man erhält für eine verlustfreie Leitung U (z) = Uh · e−jβ z + Ur · e+jβ z I (z) = I h · e −jβ z − Ir · e +jβ z (19a) (19b) , wobei Uh die Amplitude der in +z-Richtung laufenden Welle und Ur die Amplitude der in −zRichtung laufenden Welle jeweils an der Stelle z = 0 darstellen. Spannung und Strom jeder Teilwelle sind durch I h = Uh /Z L bzw. I r = Ur /Z L über den Leitungswellenwiderstand Z L miteinander verknüpft. Das Phasenmaß β = 2π/λ beschreibt die Phasenänderung der Teilwellen bei ihrer Ausbreitung entlang der Leitung. Im Falle einer Leistungsanpassung existiert nur die hinlaufende Welle. Das Auftreten einer reflektierten, rücklaufenden Welle ist mit dem Auftreten von Blindleistung identisch. In der Wellendarstellung (19) wird lediglich der Mittelwert der Momentanleistung (2), welche positive und negative Werte annehmen kann, dargestellt als Summe zweier Momentanleistungen, die jeweils nur positive Werte haben können, jedoch in entgegengesetzter Richtung gezählt werden. Führt man den Reflexionsfaktor r = Ur /Uh ein und bildet dann die komplexe Scheinleistung an der Stelle z, so ergibt sich 1 1 S = U (z)I ∗ (z) = (Uh · e−jβ z + Ur · e+jβ z )(Uh · e−jβ z − Ur · e+jβ z )∗ 2 2Z L 1 = (Uh · e−jβ z + Ur · e+jβ z )(Uh ∗ · e+jβ z − r ∗Uh ∗ · e−jβ z ) 2Z L |Uh | 2 = (1 − |r | 2 + r e j2β z − r ∗ e−j2β z ) . (20) 2Z L Dabei ist der Ausdruck r e j2β z − r ∗ e−j2β z als Differenz zweier zueinander konjugiert komplexer Zahlen rein imaginär und die Zerlegung von (20) in Wirk- und Blindleistung ergibt mit a − a ∗ = 1 Damit ist gemeint, dass auf der Leitung nur ein einziger Wellentyp vorkommt. Bei praktisch allen Wellenleiterstruktu- ren existieren oberhalb charakteristischer Grenzfrequenzen, die von der Wellenleitergeometrie und dem Wellentyp abhängen, beliebig viele weitere Wellentypen. Der Einwellenbetrieb muss daher durch eine ausreichend niedrige Signalfrequenz sichergestellt werden. 5 2j Im{a} und Anwendung von (9) die Ausdrücke |Uh | 2 |Ur | 2 |Uh | 2 (1 − |r | 2 ) = − 2Z L 2Z L 2Z L 2 |Uh | PB = · Im{r e j2β z } ZL (21a) PW = (21b) für Wirk- und Blindleistung auf einer Hochfrequenzleitung. Erwartungsgemäß ergibt sich PW als Differenz der von hin- und rücklaufender Welle transportierten Wirkleistungen und ist auf einer verlustfreien Leitung nicht abhängig vom Ort z auf der Leitung. Die Blindleistung hängt dagegen vom Imaginärteil des örtlichen Reflexionsfaktors ab. Sie verschwindet nur an den Stellen, an denen r (z) = r e j2β z und damit auch die Impedanz rein reell ist. Eine weitere äquivalente Darstellung erhält man bei einer Betrachtung dieses Sachverhaltes unter Verwendung von Wellengrößen. Die beiden Größen p U + Z LI Uh = √ = Z LIh √ 2 ZL ZL p Ur U − Z LI = √ = Z LIr b= √ 2 ZL ZL (22a) a= (22b) stellen die Wellengrößen für die hin- und die rücklaufende Welle an der Stelle z = 0 dar [2, 7, 9]. Drückt man nun die Spannungen in (19) durch die Wellengrößen (22) aus und bildet wieder die komplexe Scheinleistung, so ergibt sich 1 S = (a · e−jβ z + b · e+jβ z )(a ∗ · e+jβ z − b ∗ · e−jβ z ) 2 1 = (|a| 2 − |b| 2 + ba ∗ · e+j2β z − b ∗a · e−j2β z ) (23) 2 und damit 1 2 1 2 |a| − |b| 2 2 1 PB = Im{ba ∗ · e+j2β z − b ∗a · e−j2β z } = |a||b| sin(2βz + arg b − arg a) . 2 PW = (24a) (24b) Verwendet man wieder den Reflexionsfaktor r , um den Zusammenhang b = ra zwischen hinlaufender und rücklaufender Welle zu beschreiben, so entsteht mit arg b = arg a + arg r die Darstellung 1 2 |a| 1−|r | 2 2 PB = |a| 2 |r | · sin(2βz + arg r ) . (25a) PW = (25b) 6 A. Additionstheoreme Produkt 1 2 1 sin x sin y = 2 1 sin x cos y = 2 1 cos x sin y = 2 cos x cos y = cos(x − y) + cos(x + y) sin(x + y) − sin(x − y) Summe (26a) (26b) (26d) cos(x − y) − cos(x + y) sin(x − y) + sin(x + y) (26c) x +y x −y cos 2 2 x −y x +y cos sin x + sin y = 2 sin 2 2 cos x + cos y = 2 cos (27a) (27b) Potenzen 1 cos2 x = (1 + cos 2x) 2 1 sin2 x = (1 − cos 2x) 2 (28a) (28b) 7 Verzeichnis der verwendeten Formelzeichen Symbol Einheit Bedeutung I Ih Ir PW PB R S T U Uh Ur Y Z ZL a b i i eff p r t u u eff z β λ φi φu ω A A A W W Ω W s V V V S Ω Ω √ W √ W A A W 1 s V V m rad/m m rad rad rad/s komplexe Amplitude des Stromes Amplitude der vorlaufenden Stromwelle Amplitude der rücklaufenden Stromwelle Wirkleistung Blindleistung Resistanz komplexe Scheinleistung Periodendauer komplexe Amplitude der Spannung Amplitude der vorlaufenden Spannungswelle Amplitude der rücklaufenden Spannungswelle Admittanz Impedanz Leitungswellenwiderstand Wellengröße der vorlaufenden Welle Wellengröße der rücklaufenden Welle Strom Effektivwert des Stromes Momentanleistung Reflexionsfaktor Zeit Spannung Effektivwert der Spannung Längenkoordinate Phasenmaß Wellenlänge Phasenwinkel des Stromes Phasenwinkel der Spannung Kreisfrequenz – Zahlen – e j π 1 1 1 Í Eulersche Zahl e = k∞=0 k1! imaginäre Einheit (j2 = −1) Ludolfsche Zahl 8 Literatur [1] C. A. Balanis: Advanced Engineering Electromagnetics. Chichester: John Wiley & Sons, 1989. [2] H. Brand: Schaltungslehre linearer Mikrowellennetze. Stuttgart: Hirzel-Verlag, 1970. [3] I. N. Bronstein und K. A. Semendjajew: Taschenbuch der Mathematik. 24. Aufl. Frankfurt/M.: Verlag Harri Deutsch, 1989. [4] R. E. Collin: Foundations for Microwave Engineering. 2nd ed. IEEE Press Series on Electromagnetic Theory. Hoboken: Wiley & Sons, 2001. [5] J. Detlefsen und U. Siart: Grundlagen der Hochfrequenztechnik. 4. Aufl. München: Oldenbourg, 2012. [6] S. J. Orfanidis: Electromagnetic Waves and Antennas. Rutgers University: August 1, 2016. url: http://www.ece. rutgers.edu/~orfanidi/ewa/ (visited on 08/02/2016). [7] H. W. Schüßler: Systemtheorie linearer elektrischer Netzwerke. 2. Aufl. Bd. 1. Netzwerke, Signale und Systeme. Berlin: Springer, 1990. [8] K. Simonyi: Theoretische Elektrotechnik. 10. Aufl. Leipzig: Barth, Edition Dt. Verlag der Wissenschaften, 1993. [9] R. 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