Berlin Statement, 9

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Pastorale Berufsrollen im Transformationsprozess der katholischen Kirche
Rainer Bucher, Graz
Das Programm kündigt meinen Beitrag unter dem Stichwort „Provokationen“ an. Das war der
Wunsch der Veranstalter, ich bin ihm gerne nachgekommen. Provokationen entstehen freilich
erst im Kopf der Zuhörerinnen und Zuhörer und in Zeiten von Papst Franziskus verschiebt sich
die innerkirchliche Provokationsschwelle sowieso dramatisch.
Ich kann Ihnen also keine Provokationen garantieren. Was ich Ihnen bieten kann, ist meine Sicht
der Dinge auf den aktuellen Transformationsprozess der katholischen Kirche in unseren Breiten
und dessen Auswirkungen auf die kirchlichen Berufsrollen. Und ich werde auch andeuten, wie es
weitergehen könnte.
1. Die neue Lage der katholischen Kirche
Religion vergesellschaftet sich in unseren Breiten zunehmend nach jenem Muster, nach dem in
dieser Gesellschaft nun einmal immer mehr organisiert wird: Sie organisiert sich nach den Regeln
des Marktes.
Religion individualisiert sich auf der Nachfrageseite – jeder und jede kann sich seine/ihre
persönliche Religion selbst zusammenstellen und tut dies auch –, aber auch auf der Anbieterseite:
Einige ihrer Merkmale wandern aus in andere kulturelle Handlungsfelder, so zum Beispiel in die
Medien, in die kapitalistische(n) Wirtschaftsform(en) oder auch in eine neue ästhetisierende
Kunstreligion um Museen und Pop-Events. Diese marktorientierte „Dispersion des Religiösen“
(Höhn) scheint mir der zentrale religionssoziologische Befund der Gegenwart, zumindest in
unseren Breiten.
Dass Religion unter ein individuelles Nutzenkalkül gestellt ist, gilt seit ein paar Jahrzehnten auch
für Katholiken und Katholikinnen. Das trifft die katholische Kirche an einem wunden Punkt
ihrer neuzeitlichen Geschichte: ihrer institutionellen Lebensform. Diese institutionelle
Lebensform ist bekanntlich gerade im katholischen Bereich mächtig und eindrucksvoll.
Gegenwärtig aber muss die Kirche damit umgehen, dass mit ihr umgegangen wird und dass auch
ihre stolze Institutionalität dies nicht verhindert – im Gegenteil.
Wir erleben aktuell den de facto-Umbau der Kirche von ihrer Nutzungsseite her, oder, um es in
ökonomischen Termini zu fassen: Die Kirche wird gerade von ihrer Konsumentenseite her
umgebaut, insofern die klassischen kirchlichen Produktionsbedingungen von Religion und
Pastoral und die Konsumbedingungen von Religion und Pastoral nicht mehr selbstverständlich
zueinander passen, schon allein, weil sich die Institutionen der Religion nicht unter den
Kategorien von Produktion und Konsum verstehen, aber genau so heute genutzt werden und
zwar ganz unabhängig davon, wie sie sich dazu stellen, ihr Protest dagegen also ins Leere läuft.
Es findet gegenwärtig in unseren Breiten nichts weniger als die Verflüssigung der Kirchen als
religiöse Herrschaftssysteme und Heilsbürokratien statt: eine „liquid church“ (P. Ward) in einer
„liquid modernity“ (Z. Bauman).
2. Konsequenzen für ihr professionelles System
Nach dem Auseinanderbrechen der mittelalterlichen „christianitas“ in der Reformation hatte das
Konzil von Trient den Weg einer reaktiven Verdichtung der sozialen Organisationsform
kirchlicher Pastoralmacht gewiesen. Der einsetzende kirchliche Reichweitenverlust wurde durch
Verdichtung der verbliebenen Sozialräume kompensiert, wurden also Exklusion und Integration
miteinander verschränkt.
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Mit dieser tridentinischen Sozialtechnologie, deren zentraler personeller Träger der Priester war,
ist es aber unter den skizzierten Rahmenbedingungen vorbei, wenn an die Stelle normativer
Integration auch im Feld des Religiösen situative, temporäre, erlebnis- und intensitätsorientierte
Partizipation tritt.
Wenn alle kirchlichen Handlungsorte unter den stets revidierbaren Zustimmungsvorbehalt ihrer
eigenen Mitglieder kommen, wandeln sich ihre internen Kommunikationsverhältnisse von
Herrschaftsbeziehungen zwischen Anweisenden und Ausführenden in Tauschbeziehungen
zwischen Anbietern und Nachfragenden.
Für die katholische Kirche steht damit eine grundlegende Umstellung ihres Steuerungsdenkens
und -handelns an. Der eigenen flüssigen Realität unter liquiden Marktbedingungen ist es
angemessener, nicht in Herrschaftskategorien, sondern situativ und aufgabenorientiert zu denken
und auf dieser Basis dann flexible Sozialformen zu entwickeln. Was bedeutet dies für die
unterschiedlichen kirchlichen Berufsrollen?
3. Die Priester in der aktuellen Lage der Kirche
Zuallererst ist festzuhalten: In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht so sehr darauf an, wie
man sich selber versteht, als vielmehr darauf, wie man von anderen wahrgenommen wird. Das
gilt auch und gerade für die Priester als ehemaliges personales Herrschaftssegment der
katholischen Kirche. Entscheidend ist dabei, wie das eigene Selbstverständnis, das eigene
Handeln und die Fremdwahrnehmung zusammenspielen und welche Wirkungen dieses
Zusammenspiel entfaltet. Das markiert eine epochale Verschiebung gegenüber jenen Zeiten, als
die katholische Kirche ihre Fremdwahrnehmung steuern und sich so vor kritischen
Rückmeldungen weitgehend abschirmen konnte.
Niemanden trifft damit der aktuelle Machtwechsel im Verhältnis von Individuum und Religion
härter als die Priester. Sind Frauen in der katholischen Kirche die vom Weiheamt
ausgeschlossenen tendenziellen Gewinner der Entwicklung,1 so Priester die mit dem Weiheamt
ausgezeichneten tendenziellen Verlierer. Zwar sind Priester in der katholischen Kirche
bekanntlich nach wie vor theologisch wie rechtlich hoch privilegiert. Doch ihre konkrete
Praxisrolle rutscht im Kontext der religionssoziologisch beschriebenen Situation der Gegenwart
in ein ziemlich dramatisches Anerkennungsdefizit.
Der Priester, streng zur Einhaltung einer spezifischen Standesethik angehalten, die etwa den
Verzicht auf sexuelle Aktivität fordert, bekam dafür früher auch einiges: Status und Macht,
Ansehen und Beheimatung und auch eine Erwählungsprädikation. Mit einem Wort: Er bekam
Anerkennung.
Heute schlagen dem Priester aus dem Volk Gottes aber ganz unterschiedliche Erwartungen
entgegen: zum einen die noch vor- oder schon wieder postmoderne Erwartung, sakral
legitimierter Heilsvermittler zu sein, dann die Forderungen ihrer mittlerweile new public
management-geübten Vorgesetzten, als erfolgreiche Vor-Ort-Manager der Religionsgemeinschaft
Kirche zu agieren, und schließlich die Hoffnungen von Gläubigen und selbst von Nichtgläubigen
auf religiös-therapeutische Lebensbegleitung.
Die kirchenrechtliche Letztzuständigkeitsklausel bürdet dem Priester dabei die Verantwortung für
all dies auf. Im Unterschied zur Pianischen Epoche besitzt er aber keine entsprechenden
Einflussmöglichkeiten und Machtmittel mehr, dieser Verantwortung zu genügen. Auf dem Markt
1 Vgl. dazu: M. E. Aigner/J. Pock (Hrsg.), Geschlecht quer gedacht. Widerstandspotentiale in kirchlicher Praxis,
Wien-Berlin 2009.
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gerät man aber immer unter den Zustimmungsvorbehalt der notorisch unberechenbaren
Marktteilnehmer.2
Priesterliche Identität durch die Einschärfung alter Distanz- und Privilegierungsregelungen
gegenüber Laien zu stärken, ist offenkundig kontraproduktiv und schädlich zuletzt für die
Priester selber. Ekklesiologisch sind solche Versuche problematisch, denn sie definieren die
Ämter und Dienste der Kirche gegeneinander, sie sind aber auch organisations- und
individualpsychologisch fatal, denn sie senden eine höchst ambivalente Doppelbotschaft: Wer so
gestärkt werden muss, ist offenkundig höchst gefährdet, wer diese rechtliche, ständisch denkende
Unterstützung braucht, wird als schwach identifizierbar.
Nun führt der sich dramatisch zuspitzende Priestermangel gegenwärtig in den deutschsprachigen
Diözesen zu pastoralplanerischen Reaktionen, die bei allen Unterschieden eines gemeinsam
haben: Sie lösen das Normalbild einer um den Pfarrpriester gescharten, überschaubaren, einander
verbundenen und kommunikativ verdichteten Glaubensgemeinschaft auf.3 Man muss davon
ausgehen, dass dies – unabhängig von der Priesterzahl – ein unvermeidliches
Abschiedsphänomen darstellt.
Der Abschied vom Konzept „Überschaubarkeit“ ist unvermeidlich und wäre notwendig, auch
wenn durch Änderung der Zulassungsbedingungen wieder mehr Priester zur Verfügung stünden.
In der pastoralen Organisationsstruktur ist „Überschaubarkeit“ charakteristisch für jene typisch
moderne Kopplung von Sakramentalität und Macht, die gegenwärtig an ihr Ende kommt. Wir
leben auch religiös längst in Zeiten der irreversiblen Unüberschaubarkeit, in Zeiten der religiösen
Selbstbestimmung, in denen Nähe eher mit Anonymität und Flüchtigkeit gekoppelt ist, denn mit
Dauer und ständiger Beobachtung, gar permanentem Sein unter dem Blick des anderen. Man darf
vielleicht gar nicht in der Position des zentralperspektivischen Allesüberblickers sein, um die
Chance zu bekommen, angesprochen und gefragt zu werden.
Erkennbarkeit, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit sind heute notwendige Kategorien einer
Kirche, die, wie zu Recht gefordert, vor Ort ist, präsent bleibt, sich aussetzt und anbietet.
Pastorale Kompetenzvermutung muss kommuniziert werden, erkenn- und erreichbar sein,
Überschaubarkeit von einem zentralen priesterlichen Ort aus braucht es dazu nicht. Und es
braucht die Fähigkeit, sich und die eigene Botschaft dem anderen, den Anfragen, dem „Schrei des
Lebens“ (Papst Franziskus) auszusetzen.
4. LaientheologInnen
Laientheologische Berufe entstehen bekanntlich in einiger Breite erst mit der Professionalisierungswelle der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, also zu Zeiten der forcierten Gemeindetheologie. Während bei anderen der jetzt entstehenden kirchlichen Laienberufe (Schule,
Bildungsbereich, Caritas, Verwaltung) Professionalisierung das Auswandern aus der Gemeinde
und den Aufbau eines eigenständigen Handlungsfeldes bedeutete, markieren PastoralreferentInnen den Aufbau professionalisierter theologischer Laienkompetenz in der Gemeinde. Dem
scheint das gegenwärtige kirchliche Dispositiv freilich bislang nicht wirklich gewachsen zu sein.
Das insgesamt ambivalente Schicksal des Berufs des Pastoralreferenten in der deutschsprachigen
Kirche, seine permanenten Status- und Selbstverständnisunsicherheiten dokumentieren, dass die
deutschsprachige katholische Kirche die konziliare Volk-Gottes-Theologie als praxisleitendes
Konzept noch nicht wirklich realisiert hat. Dieser Beruf steht für den Volk-Gottes-Charakter der
Vgl. dazu: J. Först/J. Kügler (Hrsg.), Die unbekannte Mehrheit. Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben?
2. Aufl., Münster 2010.
3 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Mehr als Strukturen… Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen
Neuordnung in den Diözesen. Dokumentation des Studientages der Frühjahrs-Vollversammlung 2007 der
Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen Nr. 213), Bonn 2007; Dies. (Hrsg.), Mehr als Strukturen…
Neuorientierung der Pastoral in den (Erz-)Diözesen. Ein Überblick (Arbeitshilfen Nr. 216), Bonn 2007.
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Kirche, denn seine Träger/innen sind Laien und haben ein wirkliches Laienamt. 4 Sie haben das
Glück, nicht in die hierarchische Versuchung verstrickt zu sein.
Laien sind auf dem II. Vatikanum nicht eine mindere Form der Kleriker, sie besitzen eine eigene
unverzichtbare Bedeutung für die Kirche, die sie von Gott und nicht von den Klerikern erhalten.
Die Differenz Laien – Kleriker denkt das Konzil bekanntlich nicht hierarchisch, sondern
konzeptionell. Es überwindet grundsätzlich die ideologische Auffassung einer innerkirchlichen
Konkurrenz von Berufs- oder Statusgruppen. Die konziliare Volk-Gottes-Ekklesiologie aber
wurde bis zu Papst Franziskus nachvatikanisch marginalisiert und verdächtigt.
PastoralreferentInnen stehen auch für den situativen Vorrang der Orthopraxie vor der
Orthodoxie. Denn sie sind keine Kleriker, die so lange für den Vorrang der Orthodoxie vor der
Orthopraxie standen. Sie wirken an der Basis der Kirche, dort aber nicht in deren amtlichklerikaler Zentralposition. In beidem, dem Laienstatus wie in ihrer Dezentrierung außerhalb der
klerikalen Hierarchie, sind sie als Träger/innen der Pastoral etwas Neues und Ungewohntes.
Die oft beklagte Machtlosigkeit dieses Berufes ist ein Pfund, mit dem man wuchern kann,
zumindest wenn die Mächtigen der Kirche anerkennen, dass der Ort der Kirche an der Seite der
Ohnmächtigen ist, dass Kirche sich an den Rändern und Peripherien nicht verliert, sondern
findet, weil dort ihre Aufgabe wartet, dass die alte konstantinische Machtposition eine tiefe
Versuchung ist und war, eine Versuchung, die sich in den pastoralen Habitus, in die
theologischen Denkformen und die persönlichen Identitäten zutiefst eingeschrieben hat und
ohne deren Vertreibung es keine Zukunft für die katholische Kirche geben wird.
Und dieser Beruf steht für den Primat der Gegenwart. Denn es gab ihn in der Vergangenheit
nicht, seine Träger sind zu einem guten Teil Frauen und die gab es als Amtsträgerin in der
katholischen Kirche bekanntlich nur ganz am Anfang und später ganz selten.5
Dieser Beruf könnte mithin für die Pastorale Umkehr der Kirche stehen, er heißt schließlich nach
ihr. Sein größter Verbündeter war schon immer das Konzil und ist heute der Papst.
5. Ständige Diakone
Was ist das Besondere am Ständigen Diakonat, so wie er heute und hier wieder existiert? Erstens:
Ständige Diakone hat es über viele Jahrhunderte nicht gegeben. Der Ständige Diakonat verliert
sich mit der spätantiken Sazerdotalisierung der kirchlichen Ämter, im Mittelalter und in der
Neuzeit bis zum II. Vatikanum gab es den Diakon in der römisch-katholischen Kirche nur als
Durchgangsstation zum Priestertum.
Zweitens: Ständige Diakone sind überwiegend verheiratete Männer. Das unterscheidet sie vom
Diakon auf dem Weg zum Priester und natürlich überhaupt von allen anderen Klerikern in der
katholischen Kirche – sieht man von verheirateten Priestern in den unierten Ostkirchen oder
konvertierten Protestanten ab.
Drittens: Diakone sind zwar Kleriker, das unterscheidet sie von den Laien, auch von den
LaientheologInnen, aber sie sind es „auf einer niedrigeren Stufe der Hierarchie“, wie es in Lumen
gentium 29.1. heißt.
Nun konfrontieren diese drei Spezifika des Ständigen Diakons die katholische Kirche mit heiklen
Realitäten ihrer selbst. Dass es den Ständigen Diakon über viele Jahrhunderte nicht gegeben hat,
konfrontiert die Kirche in geradezu exemplarischer Weise mit der Geschichtlichkeit ihrer eigenen
Siehe: S. Demel (Hrsg.), Vergessene Amtsträger/innen? Die Zukunft der Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten, Freiburg/Br.-Basel-Wien 2013.
5 Vgl. dazu: Ch. Heil, Da ist weder Laie noch Kleriker, in: M. Sohn-Kronthaler/R. Höfer (Hrsg.), Laien gestalten
Kirche, Innsbruck-Wien 2009, 11-21; M. Gielen, Die Wahrnehmung gemeindlicher Leitungsfunktionen durch
Frauen im Spiegel der Paulusbriefe, in: Th. Schmeller/M. Ebner/R. Hoppe (Hrsg.), Neutestamentliche
Ämtermodelle im Kontext, Freiburg/Br.-Basel-Wien 2010, 129-165.
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Ämter, die beim Ständigen Diakon eben bis zur Abschaffung, bei den anderen Ämtern, Priester
und Bischof, aber eben auch zu enormen Differenzen in Konzeption wie Praxis führten. Die
hohe geschichtliche Wandelbarkeit kirchlicher Ämter in Theorie und Praxis markiert die enorme
Rolle der Situativität auch für kirchliche Ämter, die sich so gerne situationsenthoben und quasi
ewig geben.
Dass, zweitens, der Ständige Diakon zumeist verheiratet, also sexuell aktiv und gleichzeitig Kleriker
und liturgisch am Altar tätig ist, konfrontiert die katholische Kirche mit ihrer eigenen heiklen
Einstellung zum Verhältnis von Sexualität und Kult. Der Zölibat ist schließlich vor allem auf
Grund der spätantiken Wieder-Aufnahme außerchristlicher und jüdischer kultischer
Reinheitsvorschriften in die Kirche eingewandert.6 Der verheiratete Ständige Diakon
dokumentiert, dass Kultus und Pastoral in all ihren Formen eben nicht notwendig mit sexueller
Nichtaktivität verbunden sind, wie es der katholische Kleriker, zumindest offiziell, seit langem
fordert.
Dass schließlich, drittens, der Ständige Diakon Kleriker ist, aber keine Eucharistievollmacht
besitzt, was genau spätestens seit dem Frühmittelalter den Kleriker ausmachte und übrigens auch
seine allgemeine Iurisdiktionsvollmacht begründete, das konfrontiert die Kirche mit ihrer
eigenen, teilweise fatalen Machtgeschichte, die nun seit einiger Zeit real eine Entmachtungs- und
Abstiegsgeschichte geworden ist.
Was aber bedeutet das alles heute? Dass es dieses Amt jahrhundertelang nicht gegeben hat,
bedeutet schlicht, dass das, wofür es dieses Amt gab, durch andere besetzt ist. Wie immer man
die lange, zeitlich wie lokal differenzierte Geschichte zusammenfasst, wofür es Diakone und
Diakoninnen in der antiken Kirche gab: ziemlich deutlich wird, dass es zwei große Felder waren.
Zum einen tatsächlich das, wonach er heißt: die Diakonie, also der freiwillige Liebesdienst an den
Geringen und Geringsten, und dann eben auch, wenn auch wahrscheinlich von Anfang an eher
untergeordnet, der liturgische Dienst unterhalb des Priesters.
Für Diakonie wie Liturgie aber gilt: Beide Felder sind heute von anderen besetzt. Die Diakonie
wird in unseren Breiten von der enorm ausgebauten, hoch professionalisierten und sehr
angesehenen Caritas organisiert, die Liturgie aber eben immer noch vor allem vom Priester
vollzogen, andererseits drängen auch immer mehr Laien, ermutigt durch die Volk-GottesTheologie des II. Vatikanums, in liturgische Vollzüge.
Was aber bedeutet ihr Verheiratetsein für Diakone? Es bedeutet, mit der Jahrhunderte alten
Gegenüberstellung von Sexualität und Kult im Sinne von Unreinheit und Reinheit zu brechen.
Wie schwer das unserer Kirche immer noch fällt, sieht man auch daran, dass sie sich nicht einmal
dazu entschließen kann, Frauen zu Diakoninnen zu weihen.
Überhaupt müssen Diakone damit umgehen, gewollt, aber irgendwie nicht ganz gleichrangig zu
sein, müssen sie damit umgehen, von den Laien zu den Klerikern gerechnet, von diesen aber
dann doch nicht von gleich zu gleich behandelt zu werden. In dieser Lage schlage ich vor, aus
den Stigmata Charismen zu machen, also aus dem, was andere als Defizit formulieren und was es
aus der herrschenden Perspektive auch wirklich ist, ein Charisma, also ein Geschenk, eine Gabe
für sich und andere, zu machen.
Aus dem Stigma, dass die klassischen Handlungsfelder Diakonie und Liturgie von anderen
besetzt sind, wie wird daraus ein Charisma? Indem man dieses Zuspätkommen als Freiheit
interpretiert. Aus dem Stigma, verheiratete, sexuell legitim aktive Kleriker zu sein, wie wird daraus
ein Charisma? Indem man stolz auf die prophetische Existenz als eine nach-patriarchale, von
allen unjesuanischen Verständnissen von kultischer Reinheit freie Form des katholischen Klerus
ist.
Kurz und informativ: H. Lutterbach, Mittelalter in der Moderne? Wie der Pflichtzölibat entstand, in: HerderKorrespondenz 65(2011) 347-352.
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Aus dem Stigma, irgendwie nur nachrangige Kleriker zu sein, die nicht „in persona Christi
capitis“ handeln können, wie wird daraus ein Charisma? Indem man stolz darauf ist, frei von
jedem Klerikalismus zu sein, der als klerikale Herrschaft über die Gesellschaft startete, dann zur
priesterlichen Herrschaft über die Kirche und ihre Mitglieder wurde und gegenwärtig nur noch
eine ziemlich heillose Identitätsstrategie verunsicherter priesterlicher Männer ist.
Diakone könnten also so etwas wie „das freie Amt“ einer Kirche sein, die sich in ihren
Sozialformen immer weiter verflüssigt, die nicht genau weiß, wie es weiter geht, weil man gar
nicht genau wissen kann, wie es kulturell und gesellschaftlich, religiös und eben auch kirchlich
weiter geht.
Vielleicht sind gerade Diakone jener Teil des Klerus, der in seiner Unfestgestelltheit am
zukunftsfähigsten ist, freilich nur, wenn man diese Unfestgestelltheit umsetzt in Kreativität und
Praxisinnovation. Feste Rollen werden zukünftig nicht mehr tragen, das spüren gegenwärtig die
Priester und vielleicht sogar die Bischöfe. Notwendig ist situative Flexibilität, ist der Vorrang der
pastoralen Aufgabenorientierung vor der Jahrhunderte alten Sozialform- und Rollenorientierung.
6. „Ehrenamtliche“
Noch ein kurzer Blick auf die sogenannten „Ehrenamtlichen“. Nun ist es alles andere als
nebensächlich, wie man jemanden adressiert. Es definiert den Horizont, in dem man ihn
wahrnimmt, bestimmt das Verhältnis, das man zu ihm einnimmt, und richtet die Handlung aus,
die man ihm gegenüber vornimmt. Andere Mitglieder des Volkes Gottes als „Ehrenamtliche“ zu
bezeichnen, bedeutet, sie im Horizont jener spezifischen Differenz von entlohnter
Professionalität und nicht-entlohnter Nicht-Professionalität wahrzunehmen.
Es gibt die Differenz Haupt- und Ehrenamtlichkeit und sie ist durchaus relevant in unserer
Gesellschaft.7 Mitchristen als „Ehrenamtliche“ zu adressieren, signalisiert aber eine spezifische
Wahrnehmungsperspektive seitens jener Institution, der sie doch auch angehören und die sie
selber auch verkörpern: der Kirche. Und es signalisiert auch eine spezifische Selbstwahrnehmungsperspektive des professionellen Sektors, nämlich von seiner Professionalität her.
„Ehrenamtliche“ sind aber nicht zuerst das Ehrenamtliche, sie sind vielmehr von Gott berufene
Mitglieder des Volkes Gottes, sie sind „des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes
auf ihre Weise teilhaftig“ (Lumen gentium 31). Man kann mit Ehrenamtlichen in der Kirche nur
dann noch zukunftsweisend umgehen, wenn man sie nicht primär als „Ehrenamtliche“ adressiert,
wahrnimmt und behandelt, vielmehr als erfahrungsreiche Mitchristinnen und Mitchristen, die
unter Umständen bereit sind, unentlohnt und im öffentlichen Rahmen zu tun, wofür es Kirche
gibt: das Evangelium und unsere heutige Existenz kreativ ins Spiel zu bringen, in Wort und Tat,
hier und heute, im Kleinen und im Großen, zum Segen für andere und für sich selbst. Mit
anderen Worten: die bereit sind, öffentlich pastoral tätig zu sein.
Es ist zu wenig, das Engagement der Ehrenamtlichen (noch einmal) nach dem Motto „Sie dürfen
auch“ theologisch zu legitimieren. Solch ein Ansatz fällt nicht nur hinter das II. Vatikanum,
sondern auch hinter das Selbstbewusstsein und den Autonomiestatus heutiger Existenz zurück,
die nicht paternalistisch „zugelassen“ werden will, sondern um deren Partizipation die Kirche der
Hauptamtlichen bitten muss. Es kann auch nicht darum gehen, die sog. „Ehrenamtlichen“
einfach nur als Lückenbüßer/Lückenbüßerinnen für das krisenhafte professionelle System der
Kirche zu mobilisieren. Das würde der Würde der Mitglieder der Kirche als Mitglieder des
Volkes Gottes nicht gerecht, unter denen bekanntlich eine wahre Gleichheit besteht.8
Vgl. M. N. Ebertz, Gleichberechtigte Partner? Entlohnte und nichtentlohnte Dienste und Ämter, in: HerderKorrespondenz Spezial 1/2009: „Arbeiten in der Kirche. Ämter und Dienste in der Diskussion“, 14-18.
8 Vgl. Lumen gentium 32.
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7. Noch einmal: Problemgruppe Priester
Die zentrale Problemgruppe unserer Kirche freilich sind die Priester. Denn sie waren
vorkonziliar alleine Kirche im Vollsinn, hatten die Macht und haben sie verloren. Es ist kein
Zufall, dass es kaum mehr Nachwuchs für sie gibt.
Dass es so etwas wie ein Weihepriestertum im Volk Gottes gibt, ist grundsätzlich eine wirkliche
Chance. Es ist die personale Institutionalisierung des Glaubens des Volkes Gottes an die größere
Gnade Gottes. Es ist die feierliche Institutionalisierung des Glaubens, dass Gott sich den
Menschen unwiderruflich und mit unkränkbarer Ausdauer zuwendet.
Das Spezifikum des Weiheamtes ist es darzustellen, zu repräsentieren und selbst erfahrbar zu
machen, was für die Kirche als Ganze gilt: sich der Gnade Gottes zu verdanken. Es ist Aufgabe
des Weiheamtes, „diese Vorgegebenheit der Liebe Gottes tatsächlich in den Strukturen der
Kirche selber und in deren Leitung darzustellen“9, so Ottmar Fuchs.
Warum sollte das auch unter den gegenwärtigen, tatsächlich sehr neuen Bedingungen nicht
möglich sein? Müsste nicht gerade die priesterliche Hierarchie gerade auch in ihrem eigenen
Transformationsprozess für das radikale Vertrauen auf die Gnade Gottes in und mit seiner
Kirche stehen? Also für den von ihr und an ihr selbst gewagten Wandel? Ist das nicht ihre
sakramentale Aufgabe?
Damit wird die entscheidende Frage sichtbar: Wie kann das katholische Weihepriestertum seine
unverzichtbare Aufgabe im Volk Gottes jenseits seiner bisherigen massiv macht- und
sanktionsgestützten Form erfüllen? Wie kann das geschehen, konkret erfahrbar, praxisrelevant
und tatsächlich als Gnade für ihre Träger, die Priester, wie für das übrige Volk Gottes?
Die zentrale Weichenstellung für die Zukunft wird sein, ob sich die katholische Kirche in ihren
leitenden Konstitutionsprinzipien für den sozial-technologischen Weg Trients oder den geistlichkenotischen Weg des II. Vatikanums entscheidet. Das scheint offen, seit Franziskus zumindest
wird man sagen dürfen, ist es wieder offen.
Der zweitvatikanische Weg würde bedeuten: Aufgabenorientierung statt Sozialformorientierung,
er bedeutet zudem: Kirche verliert sich nicht im Außen, sondern findet dort zu sich, weil sie dort
ihre existenzlegitimierende Aufgabe findet, und er bedeutet: wesentliches Zuordnungsprinzip in
der Kirche ist nicht die Über- oder Unterordnung, sondern der konkrete, situative Beitrag zur
pastoralen Gesamtaufgabe der Kirche. Darüber gehen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen
und es ist trotz Franziskus wohl noch nicht entschieden, wie sie ausgehen.
Für die Priester aber würde es bedeuten, dass die von ihnen als den priesterlichen „Hirten“
immer schon geforderte Hingabefähigkeit und Selbstlosigkeit aus ihrer individuellen Standesethik
in die pastorale Ereignis- und Organisationsstruktur und -kultur wandern müsste. Das wäre für
alle eine Befreiung: auch für sie selbst.
Ausführlicher:
Rainer Bucher, wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, 2. Aufl.,
Würzburg 2012
Ders., An neuen Orten. Studien zu den aktuellen Konstitutionsproblemen der deutschen und
österreichischen Kirche, Würzburg 2014
Prof. Dr. Rainer Bucher
Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz
Heinrichstraße 78, 8010 Graz
www.rainer-bucher.de
O. Fuchs, Es geht nichts verloren. Ottmar Fuchs im Gespräch mit Rainer Bucher und Rainer Krockauer,
Würzburg 2010, 222.
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