Kapitel I Reelle Zahlen

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Kapitel I
Reelle Zahlen
§ 1 Axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen R
§ 2 Angeordnete Körper
§ 3 Die natürlichen, die ganzen und die rationalen Zahlen
§ 4 Das Vollständigkeitsaxiom und irrationale
Zahlen
§ 5 Intervalle, Metrik und Topologie für R
§ 6 Polynome mit reellen Koeffizienten
C1
§1
1.2
1.3
1.4
1.6
1.8
1.10
1.11
1.13
1.14
1.15
Axiomatische Charakterisierung der
reellen Zahlen R
Partielle und lineare Ordnung
Obere und untere Schranke, beschränkte Menge
Maximum und Minimum
Supremum und Infimum
Ordnungsvollständigkeit
Regeln für <“
”
Gruppe
Körper
Angeordneter Körper
R als angeordneter, vollständiger Körper
Die reellen Zahlen R werden dadurch beschrieben werden, daß wir ein Axiomensystem für die Menge R mit den Verknüpfungen +“ und ·“ sowie für die
”
”
Ordnung ≤“ angeben. Dieses Axiomensystem ist als ein System von Sätzen
”
anzusehen, die immer vorausgesetzt werden, und auf die wir uns als einziges bei
der Herleitung der Resultate der Analysis I–IV berufen werden.
Von den reellen Zahlen werden wir nun fordern, daß sie partiell, ja sogar linear
geordnet sein sollen. Ein Beispiel für eine partiell geordnete Menge, die jedoch
in der Regel nicht linear geordnet ist, wird geliefert durch:
1.1
Beispiel
Sei X eine nicht-leere Menge. Sei M := P(X) die Potenzmenge von X, d.h.
die Menge aller Teilmengen von X. Es sei ⊂“ die Teilmengenrelation, d.h. wir
”
schreiben für zwei Mengen a, b genau dann a ⊂ b, wenn jedes Element von a
auch Element von b ist. Dann gilt für alle a, b, c ∈ M :
a ⊂ a;
a ⊂ b ∧ b ⊂ a ⇒ a = b;
a ⊂ b ∧ b ⊂ c ⇒ a ⊂ c.
Ist X = {p} eine einelementige Menge, so sind nur ∅ und X Teilmengen von X,
d.h. Elemente von M. Man hat dann:
a ⊂ b oder b ⊂ a für alle a, b ∈ M.
[1]–1
C1
Axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen
In diesem Fall ist M versehen mit der Relation ⊂“ eine linear geordnete Menge
”
im Sinne der Definition 1.2. Enthält jedoch X mindestens zwei verschiedene
Elemente p1 6= p2 , dann gilt weder {p1 } ⊂ {p2 } noch {p2 } ⊂ {p1 }. Die Relation
⊂“ ist daher eine partielle — jedoch keine lineare — Ordnung für M im Sinne
”
der folgenden Definition. In dieser Definition ist nun M eine ganz beliebige
nicht-leere Menge und ≤ irgendeine Relation zwischen den Elementen von M.
1.2
Partielle und lineare Ordnung
(i)
Sei ≤ eine Relation über einer nicht-leeren Menge M. Dann heißt
≤ eine partielle Ordnung über M, wenn für alle a, b, c ∈ M gilt:
(O1) a ≤ a
(Reflexivität)
(O2) a ≤ b ∧ b ≤ a ⇒ a = b
(Antisymmetrie)
(O3) a ≤ b ∧ b ≤ c ⇒ a ≤ c
(Transitivität).
Ist ≤ eine partielle Ordnung über M, so heißt M eine partiell geordnete
Menge.
(ii) Ist ≤ eine partielle Ordnung über M und ist ferner folgendes erfüllt:
(O4) für alle a, b ∈ M gilt: a ≤ b oder b ≤ a,
so heißt ≤ eine lineare oder totale Ordnung. M heißt in diesem Fall eine
linear oder total geordnete Menge.
Unser Beispiel 1.1 liefert, wenn wir für ≤“ die Teilmengenrelation ⊂“ wählen,
”
”
ein Beispiel für eine partielle Ordnung. Besitzt X mindestens zwei Elemente,
so ist, wie wir gesehen haben, ≤ jedoch keine lineare Ordnung für M = P(X).
Bezeichnet man weiterhin die Teilmengenrelation mit ≤, dann gilt für jede
Teilmenge T von M :
(1)
t≤X
für alle t ∈ T ;
(2) X ∈ M ;
(1)
∅≤t
für alle t ∈ T ;
(2) ∅ ∈ M .
X ist also eine obere Schranke und ∅ eine untere Schranke für T im Sinne der
Definition 1.3. Ist T = {p1 }, so ist auch {p1 } untere und obere Schranke von T.
Untere und obere Schranken sind also in der Regel nicht eindeutig bestimmt.
1.3
Obere und untere Schranke, beschränkte Menge
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und T ⊂ M.
(i)
s heißt obere Schranke von T, wenn gilt:
(1) t ≤ s für alle t ∈ T ;
(2) s ∈ M.
Besitzt T eine obere Schranke, so heißt T nach oben beschränkt.
C1
[1]–2
Kapitel I
Reelle Zahlen
(ii) s heißt untere Schranke von T, wenn gilt:
(1) s ≤ t für alle t ∈ T ;
(2) s ∈ M.
Besitzt T eine untere Schranke, so heißt T nach unten beschränkt.
(iii) T heißt beschränkt, wenn T nach oben und unten beschränkt ist.
Betrachten wir wieder das Beispiel 1.1 mit einer mindestens zweielementigen
Menge X. Dann ist T1 := {∅, {p1 }, {p2 }, {p1 , p2 }} ⊂ M (mit p1 , p2 ∈ X und
p1 6= p2 ) eine Menge, die eine obere Schranke, nämlich {p1 , p2 }, besitzt, die
zu T1 gehört. Ferner ist ∅ eine untere Schranke, die zu T1 gehört. Hingegen
besitzt T2 := {{p1 }, {p2 }} keine untere bzw. obere Schranke, die zu T2 gehört.
T1 hat also ein Minimum und Maximum, während T2 weder ein Minimum noch
Maximum im Sinne der folgenden Definition besitzt.
1.4
Maximum und Minimum
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und T ⊂ M.
(i)
s heißt größtes Element von T oder auch Maximum von T, wenn
gilt:
(1) t ≤ s für jedes t ∈ T ;
(2) s ∈ T.
(1) s ≤ t für jedes t ∈ T ;
(2) s ∈ T.
(ii) s heißt kleinstes Element von T oder auch Minimum von T, wenn
gilt:
Insbesondere ist also erklärt (T := M ) was unter einem kleinsten bzw. größten
Element von M zu verstehen ist. Für diesen Fall (d.h. T = M ) ist also obere
Schranke von M (untere Schranke von M ) dasselbe wie Maximum von M (Minimum von M ). Beispiel 1.1 hat gelehrt, daß dies für beliebige Teilmengen in
der Regel nicht der Fall ist. Dieses Beispiel zeigt auch, daß obere und untere
Schranke in der Regel nicht eindeutig bestimmt sind. Maxima und Minima sind
jedoch, sofern sie überhaupt existieren, eindeutig:
1.5
Eindeutigkeit des Maximums und des Minimums
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und T ⊂ M. Dann besitzt T
höchstens ein Maximum und höchstens ein Minimum.
Existiert das Maximum, so wird es mit max(T ) bezeichnet. Existiert das
Minimum, so wird es mit min(T ) bezeichnet.
Beweis. Seien s1 , s2 zwei Maxima von T. Es ist zu zeigen:
s1 = s2 .
[1]–3
C1
Axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen
Nach Definition des Maximums (siehe 1.4(i)(2)) gilt zunächst:
s1 , s2 ∈ T
und deshalb ist, da Bedingung (1) von 1.4(ii) für s2 und für s1 gelten muß:
s1 ≤ s2 und s2 ≤ s1 .
Da ≤ eine partielle Ordnung über M ist, folgt hieraus s1 = s2 (benutze (O2)
von 1.2).
Entsprechend beweist man die Eindeutigkeit des Minimums.
Eine Abschwächung des Begriffes Maximum“ führt zum Begriff Supremum“.
”
”
Eine Abschwächung des Begriffes Minimum“ führt zum Begriff Infimum“.
”
”
1.6
Supremum und Infimum
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und T ⊂ M.
(i)
s heißt kleinste obere Schranke oder Supremum von T , wenn gilt:
(1)
s ist obere Schranke von T ;
(2)
s ≤ s0 für jede obere Schranke s0 von T .
Existiert dieses Supremum, so ist es eindeutig bestimmt und wird mit
sup(T ) bezeichnet.
(ii)
s heißt größte untere Schranke oder Infimum von T , wenn gilt:
(1)
s ist untere Schranke von T ;
(2)
s0 ≤ s für jede untere Schranke s0 von T .
Existiert dieses Infimum, so ist es eindeutig bestimmt und wird mit inf(T )
bezeichnet.
Bezeichnet man die Menge aller oberen Schranken von T mit O, so ist s genau
dann ein Supremum, wenn gilt:
s ≤ t für jedes t ∈ O, und es ist s ∈ O,
also genau dann, wenn s das kleinste Element der Menge der oberen Schranken ist. Insbesondere ist daher sup(T ), sofern es existiert, nach 1.5 eindeutig
bestimmt.
Bezeichnet man die Menge aller unteren Schranken von T mit U, so ist s genau
dann ein Infimum, wenn gilt:
t ≤ s für jedes t ∈ U , und es ist s ∈ U ,
also genau dann, wenn s das größte Element der Menge der unteren Schranken ist. Insbesondere ist daher inf(T ), sofern es existiert, nach 1.5 eindeutig
bestimmt.
C1
[1]–4
Kapitel I
1.7
Reelle Zahlen
Supremum und Maximum
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und T ⊂ M. Dann gilt:
(i)
T besitzt genau dann ein Maximum, wenn T ein zu T gehörendes
Supremum besitzt. In diesem Fall ist max(T ) = sup(T ).
(ii)
T besitzt genau dann ein Minimum, wenn T ein zu T gehörendes
Infimum besitzt. In diesem Fall ist min(T ) = inf(T ).
Beweis. (i) ⇒“ Es gilt t ≤ max(T ) für jedes t ∈ T (siehe 1.4(i)(1)), also
”
ist max(T ) eine obere Schranke von T. Da max(T ) ∈ T ist (siehe 1.4(i)(2)), ist
max(T ) ≤ s0 für jede obere Schranke s0 von T. D.h. sup(T ) existiert, und es ist
max(T ) = sup(T ).
⇐“ Sei umgekehrt sup(T ) ∈ T. Es ist t ≤ sup(T ) für jedes t ∈ T (siehe
”
1.6(i)(1)). Aus beidem zusammen folgt, es existiert max(T ) (siehe 1.4(i)), und
es ist sup(T ) = max(T ).
(ii) beweist man analog zu (i).
Wir zeigen nun mit Beispiel 1.1, daß nicht jedes Supremum einer Menge T zu T
gehören muß, also nicht jedes Supremum notwendigerweise ein Maximum sein
muß. Sei also wieder M = P(X) mit einer mindestens zweielementigen Menge
X. Dann besitzt — wie wir schon gesehen haben — nicht jede Teilmenge T von
M ein Maximum. Daher reicht es zu zeigen
(1)
s := 0∪ t0 ist Supremum von T .
t ∈T
Beweis. Zunächst ist jedes t0 ∈ T ⊂ M = P(X) eine Teilmenge von X. Also
ist auch die Vereinigungsmenge s aller dieser t0 eine Teilmenge von X und gehört
daher insbesondere zu M. Ferner ist
t0 ⊂ s für jedes t0 ∈ T.
Also ist s eine obere Schranke von T. Ist nun s0 eine beliebige obere Schranke
von T, so gilt nach Definition t0 ⊂ s0 für alle t0 ∈ T. Also ist auch s ⊂ s0 . Also
ist s das Supremum von T, d.h. es gilt (1).
Entsprechend zeigt man
(2)
∩ t0 ist Infimum von T.
t0 ∈T
Gehört also ∪t0 ∈T t0 zu T, so ist es das Maximum von T . Gehört ∩t0 ∈T t0 zu T ,
so ist es das Minimum von T.
(1) zeigt insbesondere, daß M := P(X) mit der partiellen Ordnung ⊂ eine
ordnungsvollständige Menge im Sinne der folgenden Definition ist.
[1]–5
C1
Axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen
1.8
Ordnungsvollständigkeit
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M. Dann heißt (M, ≤) ordnungsvollständig, wenn gilt:
Jede nicht-leere nach oben beschränkte Teilmenge von M besitzt
ein Supremum.
Ist (M, ≤) ordnungsvollständig, dann besitzt auch jede nicht-leere nach
unten beschränkte Teilmenge von M ein Infimum.
Beweis. Sei also (M, ≤) als ordnungsvollständig vorausgesetzt und ∅ 6= T ⊂ M
nach unten beschränkt. Dann ist
U := {u ∈ M : u ist untere Schranke von T } 6= ∅.
Zu zeigen ist, U besitzt ein Maximum. Wir zeigen hierzu:
(1)
sup(U ) existiert;
(2)
sup(U ) ∈ U, also max(U ) = sup(U ).
1.7(i)
Zu (1): Da T 6= ∅ ist, und jedes Element von T eine obere Schranke von U
ist, ist U nach oben beschränkt. Also existiert sup(U ) wegen der Ordnungsvollständigkeit von M.
Zu (2): Sei t ∈ T. Dann gilt u ≤ t für jedes u ∈ U nach Definition von U.
Also ist sup(U ) ≤ t, und somit sup(U ) eine untere Schranke von T . Daher ist
sup(U ) ∈ U nach Definition von U .
Die hier als Ordnungsvollständigkeit bezeichnete Eigenschaft wird manchmal
auch als beschränkte Ordnungsvollständigkeit bezeichnet.
Ist a ≤ b, so ist der Fall a = b nach (O1) ausdrücklich mit eingeschlossen. Will
man den Fall a = b ausschließen, so kann man a < b durch a ≤ b und a 6= b“
”
definieren.
1.9
Von ≤ abgeleitete Schreibweisen
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und a, b ∈ M. Man schreibt auch:
(i)
(ii)
(iii)
a ≥ b für b ≤ a;
a < b für die zusammengesetzte Aussage a ≤ b und a 6= b;
a > b für b < a.
Damit erhält man folgende Rechenregeln:
C1
[1]–6
Kapitel I
Reelle Zahlen
1.10
Regeln für <“
”
Sei ≤ eine partielle Ordnung über M und < die gemäß 1.9 abgeleitete
Relation. Dann erhält man für a, b, c ∈ M :
(i)
Es gilt höchstens eine der drei Beziehungen:
a < b,
a = b,
b < a;
(ii)
(a < b ∧ b < c) ⇒ a < c.
Ist ≤ eine lineare Ordnung, so gilt zusätzlich:
(iii)
Es gilt genau eine der drei Beziehungen:
a < b,
a = b,
b < a.
Beweis. (i) Ist a = b, dann kann nach Definition 1.9 von < weder a < b noch
b < a gelten. Zu zeigen bleibt:
a < b und b < a können nicht gleichzeitig gelten.
Andernfalls wäre a ≤ b und b ≤ a, also a = b (siehe (O2) von 1.2), was wegen
a < b unmöglich ist.
(ii) Sei
a<b∧b<c
(1)
gültig. Dann gilt a ≤ b und b ≤ c, also auch a ≤ c (siehe (O3) von 1.2)). a = c
führte wegen (1) zu c < b und b < c. Dies ist aber wegen (i) unmöglich. Also
ist a 6= c und daher insgesamt a < c.
(iii) Sei also ≤ eine lineare Ordnung. Wegen (i) reicht es zu zeigen:
Es gilt mindestens eine der drei Beziehungen
a < b,
a = b,
b < a.
Sei nun a 6= b, d.h. es sei nicht a = b. Da ≤ eine lineare Ordnung ist, gilt a ≤ b
oder b ≤ a (siehe (O4) von 1.2). Wegen a 6= b ist a < b oder b < a (siehe
Definition 1.9).
In Beispiel 1.1 ist also a < b gleichbedeutend mit a ⊂
b. Die Begriffe kleinstes
6=
bzw. größtes Element von T werden wir nicht nur auf die reellen Zahlen, sondern
häufig auch auf Beispiel 1.1 anwenden.
Ist ≤ eine lineare Ordnung, so veranschaulicht man sich die abgeleitete Relation
<“ immer auf einer Geraden. a < b bedeutet dann dasselbe wie a liegt links
”
von b. Sind a, b zwei verschiedene Punkte“, so liegt nach 1.10 (iii) also entweder
”
a links von b oder b links von a. 1.10 (ii) besagt bei dieser Sprechweise: liegt a
links von b und b links von c, so liegt auch a links von c.
a
[1]–7
b
c
C1
Axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen
Da es bei partiellen Ordnungen, die keine linearen Ordnungen sind, Elemente
gibt, die nicht miteinander vergleichbar sind, d.h. für die weder a < b noch b < a
gilt, ist in einem solchen Fall eine Veranschaulichung auf einer Geraden nicht
möglich. Ist X := {p1 , p2 } in Beispiel 1.1, so stellt man die von ⊂ abgeleitete
Relation <, d.h. ⊂
, etwa folgendermaßen dar:
6=
{p1 , p2 }
{p1 }
{p2 }
∅
Aus der linearen Algebra übernehmen wir die Begriffe Gruppe und Körper.
1.11
Gruppe
(i)
Eine Menge G versehen mit einer Verknüpfung ◦ heißt Gruppe,
wenn gilt:
(G1)
(G2)
(a ◦ b) ◦ c = a ◦ (b ◦ c) für alle a, b, c ∈ G (Assoziativität).
Es gibt ein Element e ∈ G mit
e ◦ a = a für alle a ∈ G.
Ein solches Element e heißt neutrales Element.
(G3)
Zu jedem a ∈ G existiert ein Element a0 ∈ G mit
a0 ◦ a = e.
Ein solches Element a0 heißt inverses Element zu a.
(ii)
Eine Gruppe (G, ◦) heißt kommutativ oder abelsch, wenn gilt
(G4)
a ◦ b = b ◦ a für alle a, b ∈ G.
In der linearen Algebra wird bewiesen:
1.12
Eindeutigkeit des neutralen und des inversen Elementes
Sei (G, ◦) eine Gruppe. Dann gilt:
(i)
(ii)
C1
Es gibt genau ein neutrales Element e ∈ G, und es gilt ferner
a ◦ e = a für alle a ∈ G.
Zu jedem a ∈ G gibt es genau ein inverses Element, das mit a−1
bezeichnet wird. Für a−1 gilt ferner a ◦ a−1 = e.
[1]–8
Kapitel I
Reelle Zahlen
Mit Hilfe des Gruppenbegriffs läßt sich besonders prägnant der Begriff des
Körpers einführen. Ein Körper wird manchmal auch ausführlicher kommutativer Körper genannt.
1.13
Körper
Eine Menge K versehen mit zwei Verknüpfungen + und · heißt Körper,
wenn gilt:
(K1)
(K2)
(K, +) ist eine kommutative Gruppe. Das neutrale Element bzgl.
der Addition +“ wird Nullelement genannt und mit 0 bezeichnet.
”
(K \ {0}, ·) ist eine kommutative Gruppe. Das neutrale Element
bzgl. der Multiplikation ·“ wird Einselement genannt und mit 1
”
bezeichnet.
(K3)
Es gilt für alle a, b, c ∈ K :
a · (b + c) = (a · b) + (a · c).
Es werden die üblichen Konventionen für das Rechnen in Körpern verwandt:
Das zu a inverse Element bzgl. + wird mit −a bezeichnet. Man schreibt a − b
statt a + (−b). Statt a · b schreibt man auch ab, statt a · b−1 auch ab oder a : b.
Man verwendet die übliche Vereinbarung: Punktrechnung“ geht vor Strich”
”
rechnung“. Daher schreibt man z.B. a · b + a · c an Stelle von (a · b) + (a · c).
Die Körpereigenschaften alleine reichen zur Charakterisierung der reellen Zahlen
bei weitem nicht aus. So zeigt man in der linearen Algebra, daß es Körper gibt,
die nur aus zwei Elementen bestehen. Die nun in 1.14 eingeführten angeordneten
Körper enthalten — wie wir später sehen werden — unendlich viele Elemente.
Ein Körper mit einer linearen Ordnung, die mit der Addition und Multiplikation
verträglich“ ist, heißt angeordneter Körper:
”
1.14
Angeordneter Körper
Eine Menge K versehen mit zwei Verknüpfungen +, · und einer Relation
≤ heißt ein angeordneter Körper, wenn gilt:
(i)
(ii)
(iii)
(K, +, ·) ist ein Körper.
(K, ≤) ist eine linear geordnete Menge.
Für alle a, b, c ∈ K gilt:
(A)
(M)
a ≤ b ⇒ a + c ≤ b + c,
(a ≤ b ∧ 0 ≤ c) ⇒ ac ≤ bc.
Die von der Schule her bekannten rationalen Zahlen Q, die in § 3 noch einmal
genau eingeführt werden, liefern ein Beispiel für einen angeordneten Körper.
Zur axiomatischen Charakterisierung des Körpers der reellen Zahlen benötigt
man also noch wenigstens eine weitere Eigenschaft. Diese Eigenschaft ist die
Ordnungsvollständigkeit.
[1]–9
C1
Axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen
Zum Ausgangspunkt der Vorlesungen Analysis I–IV werden wir den folgenden
Existenz- und Eindeutigkeitssatz machen. Diesen Satz werden wir jedoch nicht
beweisen. Er liefert die am Beginn des Paragraphen gesuchte axiomatische
Charakterisierung der reellen Zahlen.
1.15
R als angeordneter, vollständiger Körper
Ein angeordneter Körper (K, +, ·, ≤) heißt vollständig, wenn (K, ≤) ordnungsvollständig ist.
(i)
Es gibt einen angeordneten Körper, der vollständig ist.
(ii)
Je zwei angeordnete, vollständige Körper sind isomorph, d.h. sind
K1 , K2 zwei angeordnete Körper, die vollständig sind, so gibt es
eine bijektive Abbildung i von K1 auf K2 , so daß für alle a, b ∈ K1
gilt:
i(a + b) = i(a) + i(b), i(a · b) = i(a) · i(b), a ≤ b ⇐⇒ i(a) ≤ i(b).
Der nach (i)+(ii) bis auf Isomorphie eindeutig bestimmte angeordnete
vollständige Körper wird mit R bezeichnet. Seine Elemente werden reelle
Zahlen, er selbst Körper der reellen Zahlen genannt.
Wegen der Eindeutigkeit“ des Körpers der reellen Zahlen sind wir berechtigt,
”
auch von dem Körper der reellen Zahlen zu sprechen und ihn mit dem Symbol
R zu belegen.
Da wir es bei angeordneten Körpern, und somit insbesondere bei R, mit linear
geordneten Mengen zu tun haben, halten wir noch eine andere Charakterisierung des Supremums und Infimums für linear geordnete Mengen fest:
1.16
Supremum und Infimum in linear geordneten Mengen
Sei ≤ eine lineare Ordnung über M und T ⊂ M.
(i)
(ii)
Dann ist s das Supremum von T, wenn gilt:
(1)
s ist obere Schranke von T ;
(2)
s0 < s ⇒ s0 ist keine obere Schranke von T.
Dann ist s das Infimum von T, wenn gilt:
(1)
s ist untere Schranke von T ;
(2)
s < s0 ⇒ s0 ist keine untere Schranke von T.
Beweis. (i) Aus 1.6(i)(2) folgt 1.16(i)(2). Ist 1.16(i)(2) erfüllt und s0 obere
Schranke von T, so kann nicht s0 < s sein. Da ≤ aber eine lineare Ordnung ist,
muß s ≤ s0 (siehe 1.10(iii)) sein. Also gilt 1.6(i)(2).
Für linear geordnete Mengen sind also die Bedingungen 1.6(i)(2) und 1.16(i)(2)
äquivalent. Dieses beweist (i). (ii) folgt entsprechend.
C1
[1]–10
Kapitel I
Reelle Zahlen
Einen genetischen Aufbau des Körpers R der reellen Zahlen findet man z.B. in
–
–
E. Landau: Grundlagen der Analysis, Chelsea 1965.
A. Oberschelp: Aufbau des Zahlensystems, Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 1976.
Einen Überblick über die verschiedensten Zahlbereiche gibt der Band:
– Grundwissen Mathematik 1, Zahlen, Herausgeber: Ebbinghaus et al.,
2. Auflage, Springer 1988.
Der hier beschrittene Weg, die reellen Zahlen axiomatisch einzuführen, wurde
von dem wohl größten Mathematiker dieses Jahrhunderts, Hilbert (1862—
1943), propagiert. Russell hat hierzu gemeint, die Vorzüge, die dieses Vorgehen
hat, sind denen ähnlich, die der Diebstahl vor ehrlicher Arbeit hat: Man eignet
sich mühelos die Früchte fremder Leistung an.
Wir werden nun mit diesem axiomatischen Aufbau starten. In den folgenden beiden Paragraphen werden wir zunächst Eigenschaften für alle angeordneten Körper und damit insbesondere für R beweisen. Die R charakterisierende
Vollständigkeit kommt erst ab § 4 zum tragen.
[1]–11
C1
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