Paragrana 25 (2016) 2 De Gruyter Verlag Peter Osborne Existentielle Dringlichkeit Kontemporanität, Biennalen und soziale Form1 Wie verändert sich die Form der Biennale, wenn Biennalen Teil eines weltumspannenden Systems von Kunstinstitutionen werden und der historischen Zeitlichkeit einer globalen Kontemporanität2 unterliegen? Was geschieht insbesondere, wenn die periodischen Rhythmen nationaler Biennale-Narrative von der seriellen Abfolge internationaler Biennalen – die scheinbar endlos um Kontemporanität konkurrieren – umgeschrieben werden? Der Essay nähert sich diesen Fragen über die Debatte um die symbolische Bedeutung, die die dritte Havanna Biennale im Jahr 1989 als Zwischenstadium annahm. Er vergleicht drei historische Problematiken ‚des Zeitgenössischen‘ in Form von Modellen, mit denen die kulturelle Funktion von Biennalen gedacht werden kann: (i) die Kritik der Anthropologie oder der Co-Zeitlichkeit (the coeval),3 (ii) die sozialistische Postkolonialität oder die AvantgardeKonstruktion von Traditionen und (iii) die historische Kontemporanität einer global kapitalistischen Moderne. 1 Dies ist eine überarbeitete Version eines Vortrags, der zuerst auf dem Kolloquium „Contemporaneity and Contemporary Art“ im Aarhus Institute of Advanced Study (AIAS), Aarhus University, am 3. November 2014 gehalten wurde. Eine weitere Version wurde als Keynote Lecture auf dem World Biennial Forum No. 2, Biennial Foundation of São Paulo/Institute for Contemporary Culture, São Paolo, am 26. November 2014 präsentiert und in der darauf folgenden Publikation dieser Veran staltung unter dem Titel ‚“Every Other Year is Always this Year”: Contemporaneity and the Biennial Form‘ publiziert, in: Making Biennials in Contemporary Times: Essays from the World Biennial Forum No. 2, Sao Paolo 2014, Biennial Foundation, 2015, p. 15-27; online @ http://www.biennialfoundation.org/wordpress/wp-content/uploads/2015/05/Making-Biennials-in-Contemporary Times_Home-Print.pdf. Der vorliegende Text ist eine Übersetzung des im Nordic Journal of Aesthetics (Vol. 24, No 49-50, 2015) unter dem Titel „Existential Urgency: Contemporaneity, Bien nials and Social Form“ erschienenen Artikels. 2 Der englische Terminus „contemporaneity“ wird hier und im Folgenden als „Kontemporanität“ übersetzt, wo es um die von Osborne problematisierte historische Zeitlichkeit einer globalen ka pitalistischen Moderne geht, und als „Zeitgenossenschaft“ oder „Zeitgenössischkeit“, wo es sich um allgemeinere oder unspezifischere Ausprägungen dieses Konzepts handelt. A.d.Ü. 3 „Co-Zeitlichkeit“ steht hier als Übersetzung des Begriffs „coevalness“, der sich auf Johannes Fabi ans Kritik an der anthropologischen Praxis bezieht, die den Anderen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich in Differenz zum beobachtenden Subjekt setzt und so die geteilte Zeitlichkeit von For scher und Erforschtem verdrängt (denial of coevalness). Da laut Fabien ‚coevalness‘ nicht mit dem dt. Gleichzeitigkeit gleichzusetzen ist, wurde hier auf einen Neologismus zurückgegriffen. Siehe Fabian 1983. (A.d.Ü.) Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 148 Paragrana 25 (2016) 2 Biennalen Kunst lebt heute – daran kann kein Zweifel mehr bestehen – im ‚Zeitalter der Biennale‘: großer internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, die den globalen Kunstwelten – inklusive der sie bewohnenden Fachleute und eines großen Teils der Bewohner/innen der gastgebenden Städte – einen bestimmten, ganz speziellen Rhythmus auferlegen: die Zeit des jedes-zweite-Jahr. Bekanntlich haben sich diese Ereignisse seit den späten 1980er Jahren exponentiell vervielfacht. Die Havanna Biennale, 1984 gegründet, war zu diesem Zeitpunkt erst die vierte generell international anerkannte Biennale der Welt – nach Venedig (1895), São Paolo (1951) und Sydney (1975), obgleich es natürlich einige weniger bekannte Biennalen zwischen São Paolo und Havanna gab. Heute, 30 Jahre nach der ersten Havanna Biennale, beträgt diese Zahl mehr als ein vierzigfaches: 175 mindestens. Sie erstrecken sich über einen proto-globalen Raum und ihre Ambitionen richten sich nicht länger auf eine hauptsächlich nationale oder auch regionale Dimension, sondern auf eine geopolitische Totalisierung der Welt, die der kontinuierlichen Ausweitung der sozialen Beziehungen des Kapitalismus in der Zeit nach 1989 entspricht. Abb. 1: Biennial Foundation. Directory of Biennials http://www.biennialfoundation.org/biennial-map/ Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit 149 Seit dem Ende der 1980er Jahre – auf weltgeschichtlicher Ebene symbolisch seit ‚1989‘ – erleben wir die Entstehung von Biennalen, die von zwei wesentlichen Merkmalen geprägt sind: künstlerische ‚Kontemporanität‘ und geo-politische ‚Globalität‘. Diese zwei Merkmale sind untrennbar miteinander verbunden, denn die neue und charakteristische Zeitlichkeit von Kon-temporanität – einer disjunktiven Vereinigung oder Zusammenkunft von unterschiedlichen sozialen Zeiten – als eine historisch gegenwärtige Zeitlichkeit entsteht durch die tendenzielle Globalisierung von sozialen Abhängigkeitsbeziehungen im Zusammenhang mit transnationalen Kapital-Transaktionen zum ersten Mal (Osborne 2013a, 1. Kapitel). Wenn wir die Moderne – die zeitliche Logik des Neuen – als einen kulturellen Ausdruck der Zeitlichkeit von Kapital-Akkumulation („das ästhetische Signum der erweiterten Reproduktion“, in Adornos Formulierung (Adorno 1993, 39)) verstehen, bringt ihre tendenziell globale Ausweitung nicht nur eine globale Moderne mit sich, sondern, durch diese, eine neue zeitliche Struktur, die die fragmentierte zeitliche Einheit dieser globalen Ausdehnung artikuliert. ‚Kontemporanität‘ ist die Zeitlichkeit einer globalen Moderne, das zeitliche Produkt von Globalisierung (Osborne 2013b, 2014). Die Zeitlichkeiten der Moderne und der Kontemporanität sind keine aufeinanderfolgenden historischen Stufen (die Moderne ist nicht überschritten worden), sondern sie bestehen vielmehr auf komplexe und widersprüchliche Art und Weise nebeneinander und verändern die konzeptuellen Formen des Modernen und des Zeitgenössischen selbst. Als eine kunstgeschichtliche Periodisierung kann dann ‚das Zeitalter der Biennale‘ erstmalig als eine wirkliche, richtige oder umfassende ‚geschichtliche‘ Periodisierung aufgefasst werden – im modernen philosophischen Sinn von ‚Geschichte‘ [dt. im Orig.] im Kollektivsingular, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa herausgebildet hat. ‚Biennale‘ stellt sich so als die erste Kategorie einer im Entstehen begriffenen globalen Kunstgeschichte dar. Oder dies ist zumindest das in ihrem gegenwärtigen Verständnis implizierte theoretische Streben: ihre konstitutive Fiktion. Und es entspricht einem gewissen praktischen, intellektuellen und kulturellen Streben, das mit der jüngsten Biennale-Praxis selbst verbunden wird. Insofern ist es ihre kollektive Fantasie, wir könnten sagen: die Fantasie, die Erde durch etwas wie ein Weltsystem der Kunst gänzlich künstlerisch erfassen zu können. Es ist eine mächtige, sich selbst-verwirklichende institutionelle Fantasie. Innerhalb dieses Systems würde die Biennale als die dominante Form erscheinen, die die Beziehungen zwischen sich und anderen Elementen wie Museen, Kunstzentren, verschiedenartigen Galerien, Festivals, Messen, Märkten, Sponsoring und weiteren Arten von institutioneller Förderung gliedert. Diese umfassende Fantasie würde diese anderen Elemente und die Beziehungen zwischen ihnen ‚über-determinieren‘ und wiederum durch sie in ihrer eigenen Entwicklung determiniert werden.4 Der ‚Ausstellungskomplex‘ wird nicht länger museologisch, sondern ‚biennal‘ sein – eine seltsam einfache zeitliche 4 Zum Begriff der Über-Determinierung siehe Althusser 1977. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 150 Paragrana 25 (2016) 2 Bezeichnung für etwas, das zu einer höchst komplizierten und widersprüchlichen institutionellen Realität geworden ist.5 Was sind die charakteristischen Eigenschaften, Widersprüche und Perspektiven dieser neuen Biennale-Form? Welches sind die zugrundeliegenden und weiterreichenden Geschichten, aus denen sie hervorgeht? Zunächst könnte man festhalten, um bei ihrer buchstäblichen zeitlichen Bezeichnung zu bleiben, dass der mechanistische Chronologismus, der das periodische Auftreten von Biennalen jedes zweite Jahr (oder jedes dritte für Triennalen, oder jedes fünfte für Quintennalen) vorgibt, eine offene, serielle, mathematische Kontinuität vermittelt, die einen gewissen Idealzustand und, damit einhergehend, eine beruhigende imaginäre Dauerhaftigkeit einbringt. In Verbindung mit der jüngsten exponentiellen Vervielfältigung ihres Auftretens zeichnet sich dadurch eine Art utopische/dystopische, progressive Sättigung der Welt – und damit auch der Leben der Bewohner/innen des Weltkunstsystems und der Städte im Allgemeinen – mit Biennalen ab, bis es eine in jeder bedeutenden Stadt der Welt geben wird. Eine Biennale zu haben wird tatsächlich zunehmend zu einem Kriterium, einer Stadt Bedeutung zu verleihen und sie auf der Landkarte hervorzuheben. Aktuell gibt es genügend Biennalen, um voraussichtlich mehr als dreimal innerhalb von vierzehn Tagen eine von ihnen zu besuchen, ein Leben lang. Alle zwei Jahre ist heute (für die globale Kunstwelt) beinahe zweimal die Woche. Für sich genommen ist ‚die Biennale‘ in ihrer Vollständigkeit kein mögliches Objekt der Erfahrung mehr, nicht einmal für den vitalsten Kunstweltprofi. Die Langlebigkeit der Gründungsereignisse – Venedig und São Paulo – trägt dazu bei, den Eindruck einer Kontinuität von Biennalen als quasi-natürlichen Prozess aufrechtzuerhalten. (2015 wurde Venedig mit der 56. Biennale 120 Jahre, São Paulo 64 Jahre alt.) Tatsächlich wurden bisher einmal initiierte Reihen außergewöhnlich selten beendet, der Gesichtsverlust ist womöglich zu groß. Die Johannesburg Biennale fand nur zweimal statt (1995 und 1997), allerdings war die Einzigartigkeit ihres Scheiterns beispielhaft. Biennalen werden sogar auch wiedergeboren. In Brasilien wurde zum Beispiel 2014 die Bahia Biennale, die 1968 von der Militärdiktatur gewaltsam beendet worden war, nach einer 46-jährigen Unterbrechung mit einer dritten Auflage ins Leben zurückgeholt. Das weckt das christologische Phantasma, dass jede eingestellte Biennale lediglich eine Biennale ist, die darauf wartet, wiedergeboren zu werden; so wie jede Stadt ohne Biennale der Ort einer potentiell noch kommenden Biennale ist. Der religiöse Naturalismus dieses Phantasmas einer endlos wiederholten Struktur, die schnell zur Routine und kulturell entropisch wird, hat mit seiner nicht nur wiederkehrenden, sondern sich auch ausdehnenden religiösen Zeitlichkeit erweiterter Reproduktion, die man auch als eine neue Form von ‚Kapitalismus als Religion‘ bezeichnen könnte, zum Ausrufen einer ‚Krise der Biennale‘ geführt, obgleich solche Aussagen hauptsächlich von Ex-Biennale-Kurator/innen ausgingen, die in andere Bereiche des Kunstsystems weitergezogen sind, weshalb 5 Siehe Bennett 1995, Kap. 2: The Exhibitionary Complex. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit 151 dies vielleicht mit Vorsicht zu genießen ist. Ohnehin kommt zu jeder Krise ihre Überwindung. „To biennal or not to biennal?“ hieß die clevere Ausgangsfrage der internationalen Konferenz über Biennalen, die 2008 in Bergen, Norwegen, stattfand und aus der 2010 der „Biennial Reader“, eine frühe Zwischenstation im zunehmend selbst-reflexiv geprägten Biennale Diskurs, hervorging. Die Organisation dieser Konferenz war allerdings Teil der Vorbereitungen der künftigen Bergen Triennale (die erstmals 2013 stattfand). Welche Ansichten daher auch immer geäußert wurden, es bestand nie ein Zweifel an der Antwort: to biennal! (Filipovic/van Hal/Øvstebø 2010, 292-375). Einer der interessanten Aspekte des Konzepts für die Bahia Biennale 2014 war die Art, in der sie eine Rückbesinnung auf ihr ursprünglich regionales Vorhaben mit ihrem neuen globalen Kontext zusammenbrachte, oder, vielleicht besser, die Art, in der ihr ursprünglich regionales Projekt, rückblickend umkodiert, nun als Vorwegnahme einer neuen globalen Biennale-Form erschien. Ihr Titel „Ist alles Nordost?“ war ein klassischer Biennale-Titel mit einer rhetorischen spekulativen Totalisierung. Die Biennale, so heißt es in der kuratorischen Beschreibung, „orientiert sich an dem Hauptziel der zwei früheren Auflagen der Bahia Biennale: Anstatt historisch und künstlerisch vom ‚Anderen‘ gelesen zu werden, wird dieses ‚Andere‘ durch die lokale Erfahrung, die universell gedacht ist, gelesen.“6 Eine universell gedachte lokale Erfahrung wird, vor dem Hintergrund ihrer Umkehrung – einer lokal gedachten internationalen Erfahrung – zu einer Art leitendem Chiasmus oder gar Mantra des Selbst-Bewusstseins der Form. Es ist der wesentliche, wenngleich – da rein geographisch formuliert – abstrakteste Mechanismus, um diese „allgemein soziopolitischen Fragen“ hervorzubringen, die Charles Esche in seiner Einleitung zur Afterall-Publikation über die dritte Havanna Biennale zu einem wichtigen Merkmal der Biennale in ihrer post-1989-Form erklärte (Esche 2011, 9). Der Mechanismus ist jedoch auch problematisch, gerade wegen seiner Abstraktion: eine Abstrahierung von den politisch-ökonomischen Prozessen, mittels derer, unter den aktuellen historischen Umständen, Lokalität durch eine Globalisierung produziert wird, die dem Lokalen nicht gegenübersteht, sondern die eher ‚Lokalitäten‘ zirkulieren lässt, welche sie als konstitutive interne Elemente ihrer selbst hervorbringt. In den Worten von Arjun Appadurai: „Geschichten schaffen Geographien und nicht (länger7) umgekehrt“ (Appadurai 2013, 66). Ich möchte hier einen Moment bei der Aufzählung bezeichnender Merkmale der post-1989 Biennale Form verweilen, die Esche in seiner Interpretation der dritten Havanna Biennale (1989) herausgearbeitet hat. Letztere fand acht Tage vor dem Berliner Mauerfall statt und feierte, wie er betont, kürzlich ihren 25. Jahrestag. Vom Standpunkt dieses Jahrestages aus stellt die dritte Havanna Biennale eine Art historisches Scharnier oder einen verschwindenden Vermittler dar: Sie führte eine Reihe von Innovationen ein, die anschließend in einem neuen und völlig anderen 6 Third Bahia Biennale, ‘Curatorial Proposal’. http://bienaldabahia2014.com.br/wp/wp-content/ uploads/2013/11/Vers%C3%A3o- em-ingl%C3%AAs.pdf (letzter Zugriff 1. November 2014). 7 Hinzufügung P. Osborne. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 152 Paragrana 25 (2016) 2 geopolitischen Kontext aufgegriffen wurden, und zwar mit neuen Bedeutungen versehen, die zu grundlegenden Merkmalen einer erneuerten Form werden sollten. Die ersten fünf kennzeichnenden Merkmale von post-1989 Biennalen, die Esche rückblickend in der dritten Havanna Biennale angelegt sieht, sind: i) ii) iii) iv) v) eine symbolische Anerkennung von Kunst aus der geopolitischen Peripherie, eine Verschiebung hin zu thematischer kuratorischer Autorschaft, das Stellen sozio-politischer Fragen, eine Betonung von Debatten und eine stark diskursive oder pädagogische Dimension, eine demographisch fundierte kulturelle Selbst-Definition als „politische und soziale Mischung der gastgebenden Städte“ (Esche 2011, 8-11). Esche verweist darauf, dass die dritte Havanna Biennale in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme zu dem von ihr initiierten Modell darstellte, zum einen als internationale sozialistische Mobilisierung jener regionalen Kunstgemeinschaften, die 1989 ‚am Rand‘ der wichtigen internationalen Netzwerke standen, und zum anderen als ein sich selbst bewusstes ‚Dritte Welt‘-Ereignis. Zudem, möchte ich hinzufügen, besteht eine interne Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten. Die größte Ausstellung innerhalb der Biennale (im Nationalen Kunstmuseum, dem Museo Nacional de Bellas Artes) hieß „Drei Welten“ (Tres Mundos). Mit dem Ende des Staatskommunismus in Osteuropa (und damit der ‚Zweiten Welt‘ des sogenannten ‚historischen Kommunismus‘) war 1989 jedoch der allerletzte Moment, um das Konzept der ‚Dritten Welt‘ zu mobilisieren. In Folge dessen waren eindeutig postkommunistische Biennalen womöglich zunehmend bewusst postkolonial, aber diese Postkolonialität konnte nicht länger als eine ‚Dritte‘ Welt gedacht werden, die als Gegenstand von ideologischen Kämpfen zwischen zwei Weltsystemen um ihren eigenen ‚dritten‘ Weg kämpft (Bandung Konferenz 1955). Der Grund dafür war nicht, dass der Referent ‚Dritte Welt‘ verschwunden wäre, vielmehr verschwand die zweite Welt, über Nacht. Ihr Verschwinden schuf einerseits ein neues bipolares geopolitisches System, symbolisch als ‚Nord‘ und ‚Süd‘ bezeichnet; andererseits führte es zu komplizierteren ökonomischen und ideologischen Unterteilungen innerhalb des Kapitalismus: zwischen China und den USA und zwischen zunehmend religiös kodierten Kämpfern. Die rein ‚ökonomische‘ Kategorie der BRIC-Staaten, zu denen Brasilien ‚gehört‘ – Brasilien, Russland, Indien und China – ist in dieser Hinsicht eine etwas täuschende Einheit. China ist eine neue globale Macht auf eine Art und Weise, in der es die anderen noch nicht sind, während Russland weder ein Land des ‚Südens‘ noch ein aussichtsreicher Motor der Weltökonomie ist. Die jüngste Erweiterung der Gruppe um Südafrika, die das Akronym als BRICS in den Plural setzt, richtet nur die Aufmerksamkeit auf die Inkohärenz und ideologische Überdeterminierung der Idee durch die Finanzmärkte, die auf der Suche nach ordentlich verpackten, imaginär abgemilderten Risiken sind. Geopolitik – und die geopolitische Vorstellung, durch die Politik selbst so oft geleitet ist – lässt sich weiterhin nicht auf Finanzmärkte reduzieren, wie sehr diese Märkte die Beziehungen zwischen Staaten künftig auch dominieren werden. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit 153 Ironischerweise ist der Sozialismus auf der ideologischen Ebene dem globalen Kapitalismus gegenüber widerspenstiger geblieben als die Dritte Welt-Ideologie. Die allgemeinen ‚sozio-politischen Fragestellungen‘, die post-1989 Biennalen als ein Resultat der Anerkennung von Kunst aus der geopolitischen Peripherie charakterisieren sollten, fußen auf einer Kombination von postkolonialer Nationalität und transnationalem Kapitalismus. Als solche eröffnet diese Befragung weniger eine Alternative zum Kapitalismus als vielmehr eine neue Art seiner Artikulation. Dies steht im Einklang mit der neuen politisch-ökonomischen Funktion der post-1989 Biennalen, zu der wir ein letztes, sechstes Merkmal hinzufügen müssen: nämlich (vi) die Funktion, bestimmte Städte (in Esches Formulierung) als ‚offen für Business‘ auszuweisen. Die Form der post-1989 Biennale ist untrennbar mit kapitalgesellschaftlichen, kommunalen, nationalen und regionalen Entwicklungsprojekten und insbesondere mit Immobilienmärkten verbunden. Die wichtige Rolle von Biennalen innerhalb des Kunstmarkts ist insofern keinesfalls die hauptsächliche Kapitalfunktion, die im Zusammenhang mit Biennalen auf dem Spiel steht. Die Kombination des dritten Merkmals (das Stellen sozialer und politischer Fragen) mit dem ersten (die Anerkennung der geopolitischen Peripherie durch die Kulturinstitutionen des ‚Zentrums‘) steht deutlich in Spannung und potentiell in direktem Widerspruch zu dem sechsten: der kapitalistischen politisch-ökonomischen Funktion von kapitalgesellschaftlicher, kommunaler, nationaler und regionaler Entwicklung. Ich denke, der Hauptgrund für die momentan wahrgenommene Krise in der Entwicklung der Biennale-Form ist dieser Widerspruch und weniger die allgemein zitierte, mit der Wiederholung einhergehende ‚Routinisierung‘. Dies hat zu einer Verschiebung der früheren, gemeinhin kritischen sozio-politischen Fragestellungen in den 1990 Jahren und dem frühen 21. Jahrhundert hin zu einer zunehmend intensiven Selbst-Historisierung der Biennale-Form geführt, wofür die Gründung des Welt-Biennale-Forums durch die World Biennial Foundation eine wichtige institutionelle Manifestation darstellt. Wir haben jetzt nicht nur das Verb ‚to biennial‘ und das Konzept der ‚Biennalisierung‘, das häufig als Bedrohung der sogenannten ‚Ökologie‘ lokaler Kunstwelten wahrgenommen wird, wir haben auch eine neue Proto-Subdisziplin der Kunstgeschichte: ‚Bienniologie‘. Diese Selbst-Historisierungen werden seither zunehmend von oft recht vage definierten kuratorischen Poetiken begleitet, die kuratorische Thematiken von sozialen und politischen Themen abrückten, während sie gleichzeitig solche Themen durch verschiedene quasi-literarische Umkodierungen re-präsentierten. Womöglich hat die Akademisierung des Diskurses der Selbst-Reflexivität – im Zuge eines scheinbaren Rückzugs nicht aus der Politik als solcher, sondern aus einer historisch gedachten kritisch-politischen kuratorischen Thematik – den poetischen Charakter seines Supplements, seiner Kompensation, seiner Konsolation heraufbeschworen. Dies ist die wirkliche, entscheidende Krise im Biennale-Kuratieren, die sich aus dem immer weniger assimilierbaren Erbe der ehemaligen Vorrangstellung sozialer und politischer Fragen in der, wie wir sagen könnten, frühen post-1989er Biennale-Problematik ergibt. Diese Problematik äußerte sich in der Kunst in der kunstkritischen Vorherrschaft von postkonzeptuellen Arbeiten. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 154 Paragrana 25 (2016) 2 Dieses Erbe wird weitergeführt, nicht auf der Ebene kuratorischer Thematiken, sondern als Notwendigkeit, das Archiv der ‚bislang nicht anerkannten‘, formal und konzeptuell ernst zu nehmenden Arbeiten aus den 1950er-1970er Jahren zu Tage zu fördern, worauf die Biennalen immer mehr in ihrer kunstkritischen wie auch kunsthistorischen Legitimierung angewiesen sind. ‚Jeder Biennale ihre eigene kunsthistorische Entdeckung‘ ist das neue moralische Gesetz des Biennale-Kuratierens. Solche Kunst – wie viele der postkonzeptuellen Arbeiten, in deren Kanon sie nun als ‚zeitgenössische‘ Kunst in einem kritisch-ernsthaften Sinn eingeht – hat eine immanent künstlerische „kritische Akzeptanz der Beziehung von Kunst zur Politik und zum sozialen Kontext“ (Esche 2011, 12). In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass Biennalen im besten Fall Orte sind, an denen sich die Zeitgenossenschaft von Kunst mit ihren geopolitischen Bedingungen in der neuen globalen, historischen Kontemporanität selbst beschäftigen kann. (Und sie muss chronologisch nicht besonders jung sein, um als ‚zeitgenössisch‘ in diesem Sinn in Stellung gebracht zu werden.) Wenn dies geschieht, verdichten solche Arbeiten auf individuelle Weise kulturelle Formen historischer (das heißt politisch-ökonomischer, technologischer und soziopolitischer) Kontemporanität zu künstlerischen Ereignissen.8 Im Hinblick auf die historische Struktur dieser neuen Kontemporanität, wie sie sich in der Biennale-Form manifestiert, können wir sie mit zwei anderen historischzeitlichen Problematiken kontrastieren, mit denen sie zwar verbunden ist, aber die sie definitiv transzendiert: (i) die zeitliche Dimension der Kritik der Anthropologie oder der Co-Zeitlichkeit (the coeval) und (ii) die Avantgarde-Zeitlichkeit der sozialistischen Postkolonialität, die von der Havanna Biennale repräsentiert wird. Schematisch, als kritisch-theoretische Formationen, könnte man erstere mit den 1960er und 1970er Jahren verbinden, und letztere mit den 1970ern und 1980ern. Die Problematik der Kontemporanität als Zeitlichkeit der globalen kapitalistischen Moderne kommt indes seit den 1990er Jahren auf – während die postmoderne Problematik Geschichte geworden ist, weniger als verschwindender Vermittler, sondern vielmehr als ein jetzt überflüssiger historischer Platzhalter für eine neue kategorische Form. (Wir sollten an dieser Stelle die grundlegende kritische Irrelevanz der ganzen ‚postmodernen‘ Problematik für die historische Kontemporanität erwähnen.) Dies sind drei aufeinanderfolgende Problematiken, die die vorangegangenen in sich aufnehmen, jedoch nicht durch eine hegelianische Aufhebung (negiert und aufbewahrt, transformiert), sondern in einer sehr viel widersprüchlicheren ‚lebendigen‘ Art und Weise, als Register von untergeordneten, jedoch noch (zu gewissen Zeiten, an gewissen Orten) maßgeblichen Widersprüchen. Jede Problematik hat ihr eigenes Konzept von ‚dem Zeitgenössischen‘, aber nur in der dritten Problematik kommt Kontemporanität zu sich selbst, als eine historisch-zeitliche Struktur, die eine eigene und bestimmte zeitlich Form erlangt. Ich werde kurz auf diese Formen eingehen, bevor ich mit einigen abschließenden Bemerkungen über die Zeitlichkeit der Biennaleform ende. 8 Zur Betonung des ‚ereignishaften‘ Charakters der Biennale in Abgrenzung zum Museum siehe Smith 2014. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 155 Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit Drei historische Problematiken des ‚Zeitgenössischen‘ 1. Kritik der Anthropologie oder die Co-Zeitlichkeit (the coeval) Die Anthropologie spielte klassischerweise eine grundlegende Rolle für die Etablierung eines historischen Differentials zwischen Kulturen (die Grundlage aller Entwicklungs- und Modernisierungstheorien), da sie die Existenz nicht-europäischer Kulturen in einer anderen Zeit postuliert hat. Das Konzept der Co-Zeitlichkeit steht im Mittelpunkt der Kritik des Zeit-Bewusstseins der Disziplin der Anthropologie, indem es das identifiziert, was die Anthropologie verneint. In den Worten von Johannes Fabian, dessen 1983 erschienenes Buch Time and the Other: How Anthropology Makes its Object der grundlegende Text in diesem Zusammenhang ist (der zwei Jahrzehnte der Kritik zusammenfasst): Die für die Anthropologie charakteristische Verweigerung gleicher Zeitlichkeit ist „eine anhaltende und systematische Tendenz, diejenigen, auf die sich die Anthropologie bezieht, in eine andere Zeit zu (ver)setzen, eine Zeit, die sich von der Gegenwart derjenigen unterscheidet, die den anthropologischen Diskurs produzieren“ (Fabian 1983, 31). Co-Zeitlichkeit (coevalness) würde dann anerkennen, dass diejenigen, auf die sich die Anthropologie bezieht, in der gleichen Zeit leben wie diejenigen, die den anthropologischen Diskurs führen, in der Gegenwart nämlich. Es würde die Referenten der Anthropologie in die gleiche Zeit setzen, die die Gegenwart der Produzenten des anthropologischen Diskurses ist. Drei Dinge gilt es hier festzuhalten. Zuerst geht es um mehr als um eine simultane Erscheinung in physischer Zeit (die Fabian stattdessen Gleichzeitigkeit (synchronicity) nennt). Co-Zeitlichkeit ist eher „ein gemeinsames, aktives ‚Besetzen‘ oder Teilen von Zeit“. Es ist ein soziales, intersubjektives Konzept. Zweitens ist diese soziale Zeit der Kommunikation keine intersubjektive Gegebenheit oder transzendentale Form, die als Bedingung für Kommunikation gegeben ist. Sie muss durch eine kommunikative Beziehung geschaffen werden, im Fall der Anthropologie eine Beziehung zwischen unterschiedlichen oder ‚anderen‘ sozialen Zeiten. Jedoch ist, drittens, für Fabian selbst diese geteilte Zeit nicht mit Zeitgenossenschaft in Verbindung zu bringen. Für Fabian „bringt das Zeitgenössische ein gemeinsames Auftreten in typologischer Zeit zur Geltung“ (Fabian 1983, 31). Das heißt, für ihn ist das Zeitgenössische eine soziologisch periodisierende Kategorie. Co-Zeitlichkeit hingegen betont für Fabian die Tatsache, dass Zeitgenossenschaft selbst in „kulturell organisierte Praxis eingebettet ist“ (Fabian 1983, 34). Anders formuliert muss „intergesellschaftliche Zeitgenossenschaft“ als co-zeitliche Praxis aktualisiert werden (Fabian 1983, 148). In anderen Worten ist Zeitgenossenschaft für Fabian keine theoretische Kategorie an sich. Dennoch legt Co-Zeitlichkeit den Grundstock für die anschließende Konstruktion von Kontemporanität als eine theoretische Kategorie, als es im Laufe der 1990er Jahre, im Zusammenhang mit der Globalisierung, zu einem kritischen SelbstBewusstsein kommt. Als eine Kategorie der Philosophie historischer Zeit projiziert Kontemporanität die Co-Zeitlichkeit auf die Ebene des globalen sozialen Ganzen. Die konzeptuellen Umrisse (und die Form der Co-Zeitlichkeit selbst) ändern sich in Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 156 Paragrana 25 (2016) 2 diesem Prozess, denn die endlose globale Totalisierung der Vielzahl von Relationen der Co-Zeitlichkeit (des Teilens von Zeit) kann nur ein fragmentarisches Ganzes von Relationen sein, die ebenso disjunktiv (in ihrer Vielzahl) wie konjunktiv (in ihrer Intersubjektivität) sind. Theoretisch kann ihre Einheit nur spekulativ projiziert sein, da sie an und für sich prinzipiell nicht im Bereich eines tatsächlichen Subjekts vereint sein können. ‚Die Co-Zeitlichkeit‘ antizipiert somit die globale ‚Kontemporanität‘, jedoch wird sie strukturell durch sie verändert. Die zweite Problematik, die Avantgarde einer sozialistischen Postkolonialität, erkennt die Co-Zeitlichkeit als zeitliche Grundlage für ihre Konstruktion von Traditionen an, bewahrt jedoch einen viel stärkeren Sinn des Zukünftigen. 2. Sozialistische Postkolonialität oder die Avantgarde-Konstruktion von Traditionen Ich werde hier Geeta Kapurs Vortrag „Zeitgenössische kulturelle Praxis: Einige polemische Kategorien“ als Beispiel nehmen, den sie auf der Konferenz zur dritten Havanna Biennale gehalten hat. Er wurde an dem Wendepunkt geschrieben, an dem die zweite Problematik die Vorherrschaft an die dritte dieser Problematiken abgab, und obwohl es in erster Linie um zeitgenössische Kunst in Indien ging, war er von allgemeiner theoretischer Bedeutung, die vom Kontext seiner Präsentation in Havanna geprägt war. Es ging hauptsächlich um die zwei polemischen Kategorien ‚Tradition‘ und ‚Zeitgenössischkeit‘ – der Untertitel der „Three Worlds/Tres Mundos“ Ausstellung innerhalb der Biennale – und um die Kategorie der Moderne als Hintergrund und vermittelnder dritter Begriff. Alle drei Kategorien werden als „Chiffren in der kulturellen Dekolonisierung-Polemik behandelt, die ‚größtenteils als pragmatische Merkmale der Nationenbildung“ dienten. Kapur schreibt: Der Begriff ‚Tradition‘, so wie wir ihn im vorliegenden Zusammenhang verwenden, ist nicht als neutrales zivilisatorisches Erbe gegeben oder wird als solches empfangen, wenn es so etwas überhaupt je geben sollte. Die Tradition ist, was die kulturellen Vorreiter einer Gesellschaft im Laufe ihrer Auseinandersetzungen erfinden. [...] Selbst in ihren konservativsten Verflechtungen entstand Tradition im Prozess der Dekolonisierung als eine oppositionelle Kategorie. Sie hat die Kraft des Widerstands [...], die Macht, gewöhnlich übermitteltes Material aus der Vergangenheit in diskursive Formen zu verwandeln, die anschließend zeitgenössisch, gar radikal genannt zu werden verdienen. (Kapur 2011, 194) Im Fall der dritten Havanna Biennale ging es um die Verwendung von ‚prä-kolumbianischen Traditionen in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Kunst‘ – insbesondere in ihrem Verhältnis zum lateinamerikanischen Konstruktivismus, wie Louis Camnitzer es in seiner Besprechung der Biennale im argentinischen Kontext diskutierte (Camnitzer 2011, 211). Rückblickend ist an Kapurs Text von 1989 besonders die Art und Weise von Interesse, in der sie den Begriff ‚zeitgenössisch‘ einführt und ihn doch ‚eine Art Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit 157 Neutralität‘ annehmen lässt. Er hat noch keine eigene polemische Kraft, vielmehr argumentiert sie folgendermaßen: Wir können die Situation ‚korrigieren‘, wenn wir wollen, indem wir der Kontemporanität den ideologischen Deckmantel des Begriffs der ‚Moderne‘ verleihen. Jedoch ergeben sich natürlich sofort Komplikationen, aber vielleicht ist das der Punkt: Chaos stiften und die Gegenwart mit einer definitorischen Nichteindeutigkeit ausstatten, so dass die Zukunft auf einer höheren Bewusstseinsstufe errichtet werden kann. (Kapur 2011, 198) Die Moderne fungiert hier als ‚signalgebende Vorrichtung für die Zukunft‘, während Kontemporanität hauptsächlich die historische Gegenwärtigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit, deren Elemente es neu kombiniert und umfunktioniert, abgrenzt. Kapur fährt fort: Wir müssen den Begriff der Tradition [...] mit der Konkretheit noch vorhandener Praxis ausstatten und die originäre Verbreitung kleiner Besonderheiten zu neuen und zeitgenössischen Konfigurationen machen. Gleichzeitig müssen wir dem Begriff des Modernen auch einen weniger monolithischen, weniger formalistischen, ja in der Tat einen weniger institutionellen Status verleihen, um ihn wenigstens zu dem zu machen, was er einmal war, ein Avantgarde-Begriff, der eine Vielzahl an experimentellen Bewegungen ausgelöst hat. Nur mit solchen Initiativen können Dritte WeltKulturen beginnen, ihren Wert als alternative Kulturen zu rechtfertigen. (Kapur 2011, 201) ‚Alternativ‘ hat hier die politische Bedeutung (über eine bloße kulturelle Bedeutung hinaus), eine politische Alternative zu dem derzeitigen historischen Stand der Dinge zu bieten: „Einen aktiven Gebrauch von Tradition in Dritte Welt-Gesellschaften zu postulieren, bietet eine effektive Methode, die Kultur zu politisieren“. Im Zusammenhang mit post-1989 Biennalen hat sich allerdings etwas intensiviert, was bereits als Gefahr inhärent war, nämlich „die Kommodifizierung von Traditionen an sich und von traditionellen Formen und Artefakten im Dienst sowohl des Staates als auch des Marktes“ (Kapur 2011, 201). Die Transnationalisierung von postkolonialen Ökonomien, die mit der post-1989 Globalisierung von Kapital verbunden ist, transformiert nationale, im Kampf für Dekolonisierung herausgebildete Identitäten in kulturelle Waren für den internationalen Konsum. In diesem Prozess nimmt ein etablierter ‚Postkolonialismus‘ (der einem fortlaufenden Prozess postkolonialer Dekolonisierung entgegengesetzt ist) die erfundenen Traditionen aus einer zeitgenössischen Verwendung (die Schaffung von alternativen Kulturen) heraus und in eine andere Verwendung hinein, um sie als Ikonen einer imaginierten kulturellen Kontinuität zu verwenden, deren imaginärer Status überdeckt und verdrängt wird. Aus diesem Grund, so schließt Kapur, sollte sich die von ihr noch so genannte Dritte Welt-Intelligenzia, inklusive Künstler, der Aufgabe annehmen‚ „Kontemporanität zu einer Frage existentieller Dringlichkeit zu machen“ (Kapur 2011, 203). Ihr Artikel bringt uns also mit einem scharfsinnigen theoretischen und politischen Selbst-Bewusstsein an die Schwelle der gegenwärtigen Ära, in der die historische Rolle eines Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 158 Paragrana 25 (2016) 2 globalisierenden transnationalen Kapitals nicht nur den Begriffen ‚zeitgenössisch‘ und ‚Zeitgenössischkeit‘ neue Bedeutungen verliehen hat, sondern auch die Erfahrung der zeitlichen Formen, die sie jetzt bezeichnen, mit einer neuerdings verallgemeinerten existenziellen Dringlichkeit ausgestattet hat. Die Perspektive jener Akteure, die während der Dekolonisierung (in den 1970er Jahren) agierten, ist in der fragmentierten und multiplen Moderne eines globalen transnationalen Kapitalismus in die kulturpolitische Dynamik des globalen Kapitalismus eingefasst, als eine bestehenbleibende, aber trotzdem problematische und widersprüchliche Perspektive. Viele der Biennalen der 1990er Jahre und des frühen 21. Jahrhunderts haben versucht, diesen Komplex widersprüchlicher Beziehungen durch eine neue Art des Kuratierens von Kunst auszustellen, jedoch wurden sie schnell von Dynamiken überrannt, die viel umfassender der Logik von Kapitalakkumulation selbst unterworfen sind. 3. Die globale kapitalistische Moderne und die widersprüchliche Kontemporanität der Biennale-Form Biennalen sind – auf der Ebene rein zeitlicher Form – derzeitig mit dem Problem konfrontiert, dass der periodische Rhythmus der künstlerisch-kulturellen Bestimmungen der historischen Gegenwart an bestimmten Orten, jedes-zweite-Jahr (oder jedes dritte oder gar fünfte) insgesamt überlagert ist von der intensiven seriellen Aneinanderreihung von Biennalen, die alle – aufgrund der Zeitlichkeit des ‚zwei (Biennalen) alle drei Wochen‘ – scheinbar endlos um die selbe Kontemporanität wetteifern. Nicht nur ist jedes-zweite-Jahr immer schon dieses Jahr, auch ist jedernächste-Ort immer schon nächste Woche. Dies ist die berühmte problematische oder ‚scheinbare‘ Unbegrenztheit der Temporalität von Kapitalakkumulation als erweiterte Reproduktion, die, auf der Ebene ihrer zeitlichen Form, die Biennale dem Kapital unterwirft. Wie andere auch hat Terry Smith (2014) dies als ein Problem der ‚Überproduktion‘ bezeichnet – einer Überproduktion von Biennalen und somit von Kunstwerken, die bei ihnen gezeigt werden können. Mit Blick auf das große Ganze (und seine Wahrnehmbarkeit als Ganzes) ist dies in gewisser Weise sicherlich richtig, jedoch nicht unbedingt auf der eher lokalen Ebene der Teilnehmer/innen und Besucher/innen. In jedem Fall sollten wir nicht vergessen, dass ‚Überproduktion‘ eine notwendige systemische Wirkungsweise der kapitalistischen Produktion als einer Produktion und Akkumulation von Wert ist und Krisen als Transformationsmotoren anheizt, um von einem Akkumulationsregime zum nächsten zu gelangen. Solange noch Wert produziert und akkumuliert wird, kann auf Überproduktion nicht verzichtet werden, und Biennalen sind jetzt, wenn auch nur indirekt, ein weitgehend integraler Teil dieser Produktionsweise. Die Logik der Kontemporanität als einer historisch-zeitlichen Form und die zeitliche Logik der Biennale als einer systemischen Form sind unterschiedliche Artikulationen der zeitlichen Logik von Kapitalakkumulation – wenn sie auch nicht darauf reduzierbar sind: Sie drücken deren Zeitlichkeit mit anderen zeitlichen Formen aus. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 159 Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit Abb. 2: Foto der Symposiumsankündigung im Rietberg Museum, Foto Peter Osborne. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM 160 Paragrana 25 (2016) 2 Vielleicht ist es an der Zeit aufzuhören, über das Zeitgenössische in Begriffen des Historizismus nachzudenken; an der Zeit, uns nicht länger zu fragen, ‚wann hat die Gegenwart begonnen?‘ – die Frage nach der zeitlichen Ausdehnung der Gegenwart in die Vergangenheit (vgl. Osborne 2013c). Vielleicht sollten wir besser wieder anfangen, im Präsenz zu fragen: ‚Wann beginnt die Gegenwart?‘ – die Gegenwart als die Zeit der Äußerung, der Kundgebung und der Aktion.9 Oder es wäre vielleicht noch besser, im Futur zu fragen: ‚Wann wird die Gegenwart beginnen?‘ – die Gegenwart als die Zeit, eine qualitativ andere Zukunft zu schaffen. Wann wird die Gegenwart wieder beginnen? Aus dem Englischen von Sarah Dornhof und Nanne Buurman References Adorno, Theodor W. (1993) [1970]: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Althusser, Louis (1977) [1965]: Contradiction and Overdetermination: Notes for an Investigation. In: For Marx. Trans. by Ben Brewster. London: New Left Books, 87-128. Appadurai, Ajun (2013): How Histories Make Geographies: Circulation and Context in a Global Perspective. In: The Future as Cultural Fact: Essays on the Global Condition. London, New York: Verso, 61-70. Bennett, Tony (1995): The Exhibitionary Complex. 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Oktober 2014, die im Rietberg Museum und dem Johann Jacobs Museum stattfand, organisiert von Roger Buergel, dem Direktor des Johann Jacobs Museums. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:07 PM Peter Osborne, Existentielle Dringlichkeit 161 Kapur, Geeta (2011): Contemporary Cultural Practice: Some Polemical Categories. In: Rachel Weiss et al. (eds.): Making Global Art (Part 1): The Third Havana Biennial 1989 (Exhibition Histories, Afterall Books). Cologne: Walther König, 194-203. Osborne, Peter (2013a): Anywhere or Not At All: Philosophy of Contemporary Art. London, New York: Verso. Osborne, Peter (2013b): Global Modernity and the Contemporary: Two Categories of the Philosophy of Historical Time. In: Chris Lorenz/Berber Bevernage (eds.): Breaking Up Time: Negotiating the Borders Between the Present, the Past and the Future. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 69-84. Osborne, Peter (2013c): To Each Present, Its Own Prehistory. 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