Süchtiges Essverhalten Adrian Meule, Würzburg Adipositas bzw. übermäßiges Essen zeigt sowohl auf der Verhaltensebene als auch hinsichtlich neurobiologischer Mechanismen starke Ähnlichkeiten zu Substanzabhängigkeiten. Aufgrund dieser Befunde wird insbesondere in den letzten Jahren die Validität eines Konzepts süchtigen Essverhaltens (engl.: Food Addiction) diskutiert. Aktuelle Forschung beschäftigt sich damit, wie dieses süchtige Essverhalten erfasst werden kann, wer davon betroffen ist und vor allem welche therapeutischen und gesellschaftlichen Konsequenzen hieraus gezogen werden können. Essen als Sucht In den letzten Jahren gewinnt ein Suchtmodell von Überessen und Adipositas zunehmend an Popularität. Eine beachtenswerte Zunahme der Anzahl von Publikationen, die sich mit Food Addiction beschäftigen, lässt sich insbesondere seit dem Jahr 2009 beobachten1. Das Konzept des süchtigen Essverhaltens zeigt verschiedene Parallelen − sowohl auf neurobiologischer als auch behavioraler Ebene − zwischen Überessen bzw. Adipositas und Substanzabhängigkeit auf. Als mögliche Erklärung dafür wurde vorgeschlagen, dass manche Nahrungsmittel ein Suchtpotenzial besitzen könnten1. Zahlreiche Übersichtsartikel beschäftigen sich mit der Frage, ob sich Substanzabhängigkeitskriterien und andere mit Sucht assoziierte Aspekte auf Menschen mit Adipositas oder übermäßigem Essen, wie bei Bulimia nervosa (BN) oder Binge Eating Störung (BES), übertragen lassen und sich deren Essverhalten somit als süchtig bezeichnen lässt2-9. Einige der Diagnosekriterien lassen sich sehr gut auf Überessen und Adipositas übertragen. Beispielsweise essen die meisten Menschen mit Adipositas und/oder BES größere Mengen oder über einen längeren Zeitraum als beabsichtigt, haben den anhaltenden Wunsch abzunehmen oder haben bereits erfolglose Versuche unternommen weniger zu essen, und überessen sich weiterhin trotz körperlicher oder psychischer Probleme aufgrund des Essens bzw. des Gewichts10-12 (Tab. 1). In einer Studie13 konnten sogar 92,4% der Patienten mit einer BES als süchtig klassifiziert werden, nachdem in den Substanzabhängigkeitskriterien die Verweise auf „Substanz“ durch „Binge Eating“ ersetzt wurden. Nichtsdestotrotz sind einige Kriterien, wie beispielsweise Entzugssymptome, Toleranzentwicklung oder die Einschränkung wichtiger Aktivitäten aufgrund des Substanzgebrauchs, schwierig auf Essverhalten übertragbar und deren genaue Definitionen hinsichtlich süchtigen Essverhaltens werden kontrovers diskutiert13, 14. Auf neurobiologischer Ebene wird häufig ein mögliches Belohnungsdefizitsyndrom angeführt. Dieses gründet auf der Beobachtung, dass sich bei Menschen mit Adipositas eine reduzierte Verfügbarkeit striataler dopaminerger D2-Rezeptoren zeigt15, was mit Befunden bei substanzabhängigen Patienten vergleichbar ist16, 17. Ähnliche Mechanismen könnten sich auch bei Menschen mit BN zeigen18, 19. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass aufgrund der erhöhten Stimulation durch exzessives Essen sich diese Rezeptorverfügbarkeit herunterreguliert und daher auch immer mehr gegessen werden muss, um das Belohnungssystem wieder adäquat zu stimulieren. Für diesen kausalen Zusammenhang gibt es bisher aber lediglich Hinweise aus Tierstudien20. Eine weitere Annahme ist, dass Menschen mit Adipositas und/oder BES hypersensitiv auf Nahrungsreize reagieren, d. h. mit erhöhter Aktivität des Belohnungssystems21, 22. Die Befunde hierzu sind zum derzeitigen Stand der Forschung aber ebenfalls inkonsistent9, 14 und neben sich überschneidenden Mechanismen wird auch auf Unterschiede zwischen Essens- und Drogen-induzierten dopaminergen Belohnungsmechanismen hingewiesen23-25. Welche Nahrungsmittel machen „süchtig“? Es wird häufig diskutiert, ob es sich bei süchtigem Essverhalten um eine substanzgebundene Abhängigkeit handelt oder dies eher den Verhaltenssüchten zuzuordnen ist2. Die Aufnahme von Nahrungsmitteln kann eine psychotrope Wirkung beinhalten wie beispielsweise eine Stimmungsverbesserung oder -verschlechterung. Diese emotionalen Wirkungen von Nahrung können durch assoziative, sensorische, energetische, neurochemische und pharmakologische Mechanismen vermittelt sein26. Allerdings lässt sich bei Nahrungsmitteln keine eindeutig süchtig machende Substanz identifizieren. Tiermodelle weisen darauf hin, dass vor allen Dingen der Konsum von Zucker einen suchthaften Charakter entwickeln kann27. Dieser Zuckerkonsum alleine führt jedoch noch nicht zu Übergewicht und Adipositas, sondern erst in Kombination mit einem hohem Fettanteil in der Nahrung28-30. Bei Menschen wurde entsprechend vorgeschlagen, dass Nahrungsmittel mit einem hohen glykämischen Index ein Suchtpotenzial haben könnten31. Darüber hinaus wurden aber ebenso verarbeitete Lebensmittel32 oder solche mit einem hohen Salzgehalt33 als potenziell süchtig machend diskutiert. Schließlich lautete ein Vorschlag1, dass wahrscheinlich verarbeitete Nahrungsmittel, die eine Kombination aus hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt – d. h. höher als in unverarbeiteten Nahrungsmitteln – besitzen und somit extrem schmackhaft (engl.: hyperpalatable) sind, ein Suchtpotenzial besitzen könnten. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass sich ein mögliches süchtiges Essverhalten auf eine bestimmte Substanz zurückführen lässt. Außerdem legen Ergebnisse aus Tierstudien nahe, dass das Muster des Essverhaltens (die sogenannte Esstopografie5) entscheidend dazu beiträgt − oder sogar eine Voraussetzung dafür 31 neuro aktuell 1/2014 sucht neuro aktuell 1/2014 ist − dass Nahrungsmittel einen suchthaften Charakter bekommen können. Beispielsweise zeigen Ratten erst einen suchtartigen Konsum von Zucker, nachdem sie mehrere Wochen zyklische Phasen bestehend aus wechselnder Nahrungsdeprivation und freiem Zugang zu Futter und einer Zuckerlösung durchlaufen haben27. Süchtiges Essverhalten zeigt somit Überschneidungen mit Substanzabhängigkeiten, wobei aber der Art des Essverhaltens, d. h. ein Wechsel aus kurz- 32 Diagnosekriterien für Substanzabhängigkeit Beispiel-Item %a 1) Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren „Bestimmte Nahrungsmittel einzuschränken oder gar nicht mehr zu essen, ist etwas worüber ich mich sorge.“ 94,8 2) Fortgesetzter Substanzkonsum trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch die Substanz verursacht oder verstärkt wurde „Ich habe die gleichen Nahrungs- 75,0 mittel oder die gleiche Menge an Essen weiterhin konsumiert, obwohl ich emotionale und/oder körperliche Probleme hatte.“ 3) Toleranzentwicklung „Ich habe bemerkt, dass die 54,2 gleiche Menge an Essen meine negativen Emotionen nicht mehr so vermindert oder Wohlbefinden nicht mehr so erhöht wie früher.“ 4) Es besteht eine klinisch signifikante Beeinträchtigung bzw. Leiden aufgrund des Substanzkonsums „Mein Verhalten in Bezug auf Nahrung und Essen verursacht eine erhebliche Belastung.“ 47,9 5) Die Substanz wird häufig in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt eingenommen „Ich ertappe mich dabei, bestimmte Nahrungsmittel weiter zu essen, obwohl ich nicht mehr hungrig bin.“ 31,2 6) Viel Zeit für Aktivitäten, um die Substanz zu beschaffen, sie zu sich zu nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen „Ich finde, wenn ich bestimmte 30,2 Nahrungsmittel nicht da habe, scheue ich keine Mühen, diese zu beschaffen. Bspw. gehe ich in den Supermarkt, um bestimmte Nahrungsmittel zu kaufen, obwohl mir zu Hause Alternativen zur Verfügung stehen.“ 7) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzkonsums aufgegeben oder eingeschränkt „Es gab Zeiten, in denen ich 29,2 bestimmte Nahrungsmittel so oft oder in solch großen Mengen konsumiert habe, dass ich begann zu essen anstatt zu arbeiten, Zeit mit meiner Familie oder meinen Freunden zu verbringen oder mich mit anderen wichtigen Tätigkeiten oder Freizeitaktivitäten, die ich mag, zu befassen.“ 8) Entzugssymptome „Ich hatte Entzugssymptome wie körperliche Unruhe, Ängstlichkeit oder andere körperliche Symptome, wenn ich das Essen bestimmter Nahrungsmittel eingeschränkt oder vollständig darauf verzichtet habe.“ 27,1 Tab. 1: Diagnosekriterien für Substanzabhängigkeit nach DSM-IV und dazugehörige Beispiel-Items der Yale Food Addiction Scale a Prozentuale Häufigkeit des Vorliegens der einzelnen Suchtsymptome in einer Stichprobe präbariatrischer Patienten mit Adipositas (N = 96). Daten aus Meule et al. (2012)12 zeitiger Nahrungsrestriktion und Überessen (welcher für das Essverhalten bei BN und BES typisch ist), ebenfalls eine entscheidende Bedeutung zukommt. Wie kann „süchtiges“ Essverhalten erfasst werden? Ein wesentlicher Bestandteil zur Bewertung der Gültigkeit des Suchtkonzepts übermäßigen Essens stellt die valide Erfassung süchtigen Essverhaltens dar. Diese orientiert sich meist an den Diagnosekriterien für Substanzabhängigkeit des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV; Tab. 1). In einer Studie13 wurde dies beispielsweise durch ein diagnostisches Interview realisiert, indem das Substanzabhängigkeitsmodul des Strukturierten Klinischen Interviews für DSM-IV-Achse-I-Störungen (SKID) hinsichtlich Binge Eating umformuliert wurde. Ein ähnlicher Ansatz zur Identifikation süchtigen Essverhaltens liegt der Yale Food Addiction Scale (YFAS) zugrunde34, 13. Dieser Selbstauskunftsfragebogen erfasst anhand von 25 Fragen die sieben Abhängigkeitskriterien bezogen auf Nahrungsmittel und Essverhalten sowie eine klinisch signifikante Beeinträchtigung oder ein Leiden aufgrund des Essverhaltens (Tab. 1). Bei Vorliegen von mindestens drei Symptomen sowie einer Beeinträchtigung oder eines Leidens kann dann eine Diagnose süchtigen Essverhaltens gestellt werden. Wie häufig ist „süchtiges“ Essverhalten und wer ist davon betroffen? Erste Untersuchungen unter Verwendung der YFAS ergaben, dass etwa 20 bis 40% der Teilnehmer mit Adipositas als „esssüchtig“ klassifiziert werden konnten35, 36, 12. Es fanden sich aber ebenfalls, wenn auch in geringerem Ausmaß, Menschen mit süchtigem Essverhalten mit Unter-, Normal- und Übergewicht34, 37, 13. Die häufigsten Diagnosen finden sich unter adipösen Patienten mit BES10. Viele Studien fanden jedoch keinen oder lediglich einen geringen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß süchtigen Essverhaltens und der Körpermasse38. Diese auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Befunde legen einen nichtlinearen Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen nahe38 (Abb. 1). In den unteren Gewichtskategorien bleibt das Ausmaß süchtigen Essverhaltens zunächst konstant und steigt erst im übergewichtigen und adipösen Bereich an. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass wahrscheinlich Menschen mit bulimischen Symptomen ebenfalls die Kriterien süchtigen Essverhaltens erfüllen39, 40. Aufgrund der kompensatorischen Gegenmaßnahmen führt das exzessive Essverhalten jedoch nicht zu einer Gewichtszunahme. Bei Menschen mit extremer Adipositas flacht der Zusammenhang wiederum ab, was sich durch das Erreichen körperlicher Grenzen erklären lassen könnte. Diesen Befunden entsprechend ist die derzeitige Konzeptualisierung süchtigen Essverhaltens in Abbildung 2 dargestellt. Süchtiges Essverhalten zeigt die größte Überschneidung mit der Binge-Eating-Störung (BES), kann aber ebenfalls normal- und übergewichtige Menschen sowie Menschen mit Adipositas ohne BES umfassen. Umgekehrt erfüllen nicht alle Patienten mit Adipositas bzw. BES die Diagnose süchtigen Essverhaltens (Abb. 2). Abb. 2: Derzeitige Konzeptualisierung süchtigen Essverhaltens nach dessen Beziehung zu Körpermasse und Binge Eating. Süchtiges Essverhalten zeigt die größte Überschneidung mit der Binge-Eating-Störung (BES), aber kann ebenfalls normal- und übergewichtige Menschen sowie Menschen mit Adipositas ohne BES umfassen. Umgekehrt erfüllen nicht alle Patienten mit BES die Diagnose süchtigen Essverhaltens. Abbildung modifiziert nach Ahmed et al. 40. Korrelate süchtigen Essverhaltens Bisherige Studien konnten in Stichproben mit adipösen Menschen keinen Zusammenhang mit Alter und Geschlecht feststellen z.B. 35. In vorwiegend normalgewichtigen Stichproben war die Häufigkeit süchtigen Essverhaltens jedoch bei Frauen erhöht, was wiederum für eine Assoziation mit bulimischer Symptomatik in dieser Gewichtskategorie spricht13. Süchtiges Essverhalten ist positiv assoziiert mit einer erhöhten Essstörungspathologie (z. B. Binge Eating und emotionalem Essverhalten) sowie erhöhter Impulsivität, Depressivität, Emotionsregulationsschwierigkeiten und geringerem Selbstwert z.B. 35, 36, 10, 13. Therapeutische und gesellschaftliche Implikationen Die Adaptation eines Suchtmodells auf Überessen und Adipositas zieht sowohl therapeutische als auch gesellschaftliche Implikationen nach sich. In einer ak- neuro aktuell 1/2014 Abb. 1: Anzahl der Suchtsymptome gemessen mit der Yale Food Addiction Scale in Abhängigkeit der Gewichtskategorien nach World Health Organization (2000). Die gestrichelte Trendlinie stellt einen möglichen kubischen Zusammenhang zwischen Gewichtskategorie und Suchtsymptomen dar (R² = .95). Abbildung modifiziert nach Meule (2012)38. tuellen Studie mit adipösen Teilnehmern ging die Anzahl der Suchtsymptome gemessen mit der YFAS mit einem geringeren Gewichtsverlust nach einer siebenwöchigen Gewichtsreduktionstherapie einher, was auf die Notwendigkeit einer speziellen Anpassung solcher Therapien an Menschen mit süchtigem Essverhalten hinweist35. Diese könnte sich beispielsweise auf eine betonte Förderung alternativer Emotionsregulationsstrategien, insbesondere in „Rückfallsituationen“, beziehen35. Ein weiterer Ansatz, der sich aus der Suchttherapie ableitet, könnte die Konfrontation mit Nahrungsreizen und gleichzeitiger Reaktionsverhinderung darstellen. Bisherige Pilotstudien konnten zeigen, dass beispielsweise Menschen mit einem häufigen Verlangen nach Schokolade ihren Schokoladenkonsum reduzieren, nachdem sie ein Verhaltenstraining absolvierten, in dem die Reaktionen auf Schokolade (z. B. ein Tastendruck) zurückgehalten werden sollte41, 42. Eine mögliche Erklärung für solch eine Verhaltensänderung könnte eine Stärkung von Kontrollmechanismen sein, aber auch eine Abschwächung bzw. ein Verlernen automatischer Annäherungsreaktionen oder impliziter affektiver Bewertungen der Nahrungsreize darstellen. Langfristige Effekte eines solchen Ansatzes sind jedoch noch unbekannt. Ein häufiger Kritikpunkt des Suchtmodells besteht darin, dass eine konsequente Übertragung von Therapiebausteinen der Suchttherapie das Anstreben einer Abstinenz der süchtig machenden Substanz nach sich ziehen würde. Die Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel gilt bei der Therapie der BN und BES jedoch als kontraindiziert43. Andererseits findet solch ein Abstinenzansatz auch Befürworter. Beispielsweise orientieren sich Selbsthilfegruppen wie die Overeaters Anonymous am 12-Punkte Programm der Anonymen Alkoholiker. Der Abstinenzbegriff ist hier zwar nicht eindeutig definiert, dennoch finden manche Teilnehmer es hilfreich, auf beispielsweise Einfachzucker zu verzichten44. Randomisierte, kontrollierte Studien zur Wirksamkeit der Teilnahme an solchen Selbsthilfegruppen fehlen jedoch. Neben therapeutischen Implikationen könnte ein Suchtmodell ebenfalls Auswirkungen auf gesellschaftlicher Ebene haben. Vorschläge zur politischen Einflussnahme als Prävention von Übergewicht und Adipositas wurden meist durch bereits erfolgte Regulationen des Tabakmarktes inspiriert und umfassen beispielsweise die Besteuerung von zuckerhaltigen Softdrinks, eine stärkere Regulation von Werbung oder die Einführung von Ernährungsstandards an Schulen3, 45-48. Gleichzeitig werden aber auch kritische Punkte angeführt. Da in den bisherigen Studien nur eine bestimmte Untergruppe von adipösen Personen als „esssüchtig“ klassifiziert wurde, könnte die Nahrungsmittelindustrie süchtiges Essverhalten als seltene Störung präsentieren, die das politische Eingreifen zur Beeinflussung des Essverhaltens auf gesellschaftlicher Ebene nicht erfordert49. Ein weiteres Bedenken grün- 33 det darauf, dass die Konzeptualisierung als „esssüchtig“ zwar das Stigma des Versagens vom Individuum hin zu Einflussfaktoren der Umwelt lenken könnte, aber ebenso zu einem neuen Stigma führen und die Wichtigkeit von körperlicher Aktivität zur Gewichtsabnahme reduzieren könnte49. Fazit Süchtiges Essverhalten findet sich insbesondere bei Menschen mit BES. Ebenfalls findet sich eine erhöhte Prävalenz bei Menschen mit Adipositas. Allerdings zeigt sich dies nur bei einem bestimmten Anteil, so dass Adipositas nicht mit „Esssucht“ gleichgesetzt, sondern innerhalb der Gruppe der adipösen Menschen zwischen denjenigen mit und denjenigen ohne süchtigem Essverhalten differenziert werden kann. Andererseits erfüllen aber auch manche Menschen mit Unter- oder Normalgewicht die Kriterien süchtigen Essverhaltens, die hier möglicherweise stark mit bulimischer Symptomatik assoziiert sind. Hinsichtlich therapeutischer und gesellschaftlicher Implikationen lässt sich schließen, dass das Suchtkonzept übermäßigen Essens von Nutzen sein kann, beispielsweise durch die Ableitung von Therapiemaßnahmen oder politischen Regulationen aus dem Bereich der Substanzabhängigkeiten, aber dennoch auch potenzielle Gefahren in sich birgt. Zum aktuellen Zeitpunkt bleibt daher der Nutzen des Suchtmodells unklar. Das Konzept süchtigen Essverhaltens befindet sich noch in der Entwicklung und bedarf grundlegender Forschung, die zu einer präziseren Definition des Begriffs sowie zur Überprüfung der Gültigkeit des Ansatzes im Humanbereich beiträgt. Ein integraler Bestandteil hierbei wären longitudinale Studien, die sich dem Übergang von impulsivem hin zu kompulsivem Essverhalten widmen. Diese könnten ebenfalls zur Klärung bisher wenig beachteter „Esssuchtssymptome“, wie beispielsweise der Toleranzentwicklung, führen, um somit die bislang anhand von Fragebögen erhobenen Selbstberichte durch objektive Verhaltensbeobachtungen zu belegen. neuro aktuell 1/2014 Dipl.-Psych. Adrian Meule Lehrstuhl für Psychologie I · Universität Würzburg Marcusstraße 9-11 · 97070 Würzburg Tel.: 0931/31 808 34 · Fax: 0931/31 8 24 24 E-Mail: [email protected] 34 Literatur 40 Ahmed, S., Avena, N. M., Berridge, K. C., Gearhardt, A., & Guillem, K. (2013). Food Addiction. In D. W. 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