Süchtiges Essverhalten - The psychology of eating

Werbung
Süchtiges Essverhalten
Adrian Meule, Würzburg
Adipositas bzw. übermäßiges Essen zeigt sowohl auf der
Verhaltensebene als auch hinsichtlich neurobiologischer
Mechanismen starke Ähnlichkeiten zu Substanzabhängigkeiten. Aufgrund dieser Befunde wird insbesondere
in den letzten Jahren die Validität eines Konzepts süchtigen Essverhaltens (engl.: Food Addiction) diskutiert.
Aktuelle Forschung beschäftigt sich damit, wie dieses
süchtige Essverhalten erfasst werden kann, wer davon
betroffen ist und vor allem welche therapeutischen und
gesellschaftlichen Konsequenzen hieraus gezogen werden können.
Essen als Sucht
In den letzten Jahren gewinnt ein Suchtmodell von
Überessen und Adipositas zunehmend an Popularität.
Eine beachtenswerte Zunahme der Anzahl von Publikationen, die sich mit Food Addiction beschäftigen,
lässt sich insbesondere seit dem Jahr 2009 beobachten1. Das Konzept des süchtigen Essverhaltens zeigt
verschiedene Parallelen − sowohl auf neurobiologischer als auch behavioraler Ebene − zwischen Überessen bzw. Adipositas und Substanzabhängigkeit auf.
Als mögliche Erklärung dafür wurde vorgeschlagen,
dass manche Nahrungsmittel ein Suchtpotenzial besitzen könnten1. Zahlreiche Übersichtsartikel beschäftigen sich mit der Frage, ob sich Substanzabhängigkeitskriterien und andere mit Sucht assoziierte Aspekte auf Menschen mit Adipositas oder übermäßigem
Essen, wie bei Bulimia nervosa (BN) oder Binge Eating Störung (BES), übertragen lassen und sich deren
Essverhalten somit als süchtig bezeichnen lässt2-9.
Einige der Diagnosekriterien lassen sich sehr gut auf
Überessen und Adipositas übertragen. Beispielsweise
essen die meisten Menschen mit Adipositas und/oder
BES größere Mengen oder über einen längeren Zeitraum als beabsichtigt, haben den anhaltenden Wunsch
abzunehmen oder haben bereits erfolglose Versuche
unternommen weniger zu essen, und überessen sich
weiterhin trotz körperlicher oder psychischer Probleme aufgrund des Essens bzw. des Gewichts10-12
(Tab. 1). In einer Studie13 konnten sogar 92,4% der
Patienten mit einer BES als süchtig klassifiziert werden, nachdem in den Substanzabhängigkeitskriterien
die Verweise auf „Substanz“ durch „Binge Eating“ ersetzt wurden. Nichtsdestotrotz sind einige Kriterien,
wie beispielsweise Entzugssymptome, Toleranzentwicklung oder die Einschränkung wichtiger Aktivitäten aufgrund des Substanzgebrauchs, schwierig auf
Essverhalten übertragbar und deren genaue Definitionen hinsichtlich süchtigen Essverhaltens werden kontrovers diskutiert13, 14.
Auf neurobiologischer Ebene wird häufig ein mögliches Belohnungsdefizitsyndrom angeführt. Dieses
gründet auf der Beobachtung, dass sich bei Menschen
mit Adipositas eine reduzierte Verfügbarkeit striataler dopaminerger D2-Rezeptoren zeigt15, was mit Befunden bei substanzabhängigen Patienten vergleichbar
ist16, 17. Ähnliche Mechanismen könnten sich auch bei
Menschen mit BN zeigen18, 19. Eine mögliche Erklärung
hierfür wäre, dass aufgrund der erhöhten Stimulation
durch exzessives Essen sich diese Rezeptorverfügbarkeit herunterreguliert und daher auch immer mehr
gegessen werden muss, um das Belohnungssystem
wieder adäquat zu stimulieren. Für diesen kausalen
Zusammenhang gibt es bisher aber lediglich Hinweise aus Tierstudien20. Eine weitere Annahme ist, dass
Menschen mit Adipositas und/oder BES hypersensitiv
auf Nahrungsreize reagieren, d. h. mit erhöhter Aktivität des Belohnungssystems21, 22. Die Befunde hierzu
sind zum derzeitigen Stand der Forschung aber ebenfalls inkonsistent9, 14 und neben sich überschneidenden
Mechanismen wird auch auf Unterschiede zwischen
Essens- und Drogen-induzierten dopaminergen Belohnungsmechanismen hingewiesen23-25.
Welche Nahrungsmittel machen „süchtig“?
Es wird häufig diskutiert, ob es sich bei süchtigem
Essverhalten um eine substanzgebundene Abhängigkeit handelt oder dies eher den Verhaltenssüchten zuzuordnen ist2. Die Aufnahme von Nahrungsmitteln
kann eine psychotrope Wirkung beinhalten wie beispielsweise eine Stimmungsverbesserung oder -verschlechterung. Diese emotionalen Wirkungen von Nahrung können durch assoziative, sensorische, energetische, neurochemische und pharmakologische Mechanismen vermittelt sein26. Allerdings lässt sich bei Nahrungsmitteln keine eindeutig süchtig machende Substanz identifizieren. Tiermodelle weisen darauf hin,
dass vor allen Dingen der Konsum von Zucker einen
suchthaften Charakter entwickeln kann27. Dieser Zuckerkonsum alleine führt jedoch noch nicht zu Übergewicht und Adipositas, sondern erst in Kombination mit einem hohem Fettanteil in der Nahrung28-30.
Bei Menschen wurde entsprechend vorgeschlagen,
dass Nahrungsmittel mit einem hohen glykämischen
Index ein Suchtpotenzial haben könnten31. Darüber hinaus wurden aber ebenso verarbeitete Lebensmittel32
oder solche mit einem hohen Salzgehalt33 als potenziell süchtig machend diskutiert. Schließlich lautete
ein Vorschlag1, dass wahrscheinlich verarbeitete Nahrungsmittel, die eine Kombination aus hohem Zucker-,
Fett- und Salzgehalt – d. h. höher als in unverarbeiteten Nahrungsmitteln – besitzen und somit extrem
schmackhaft (engl.: hyperpalatable) sind, ein Suchtpotenzial besitzen könnten.
Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass sich ein mögliches süchtiges Essverhalten auf eine bestimmte Substanz zurückführen lässt. Außerdem legen Ergebnisse aus Tierstudien nahe, dass das Muster des Essverhaltens (die sogenannte Esstopografie5) entscheidend
dazu beiträgt − oder sogar eine Voraussetzung dafür 31
neuro aktuell 1/2014
sucht
neuro aktuell 1/2014
ist − dass Nahrungsmittel einen suchthaften Charakter bekommen können. Beispielsweise zeigen Ratten
erst einen suchtartigen Konsum von Zucker, nachdem sie mehrere Wochen zyklische Phasen bestehend
aus wechselnder Nahrungsdeprivation und freiem
Zugang zu Futter und einer Zuckerlösung durchlaufen haben27. Süchtiges Essverhalten zeigt somit Überschneidungen mit Substanzabhängigkeiten, wobei aber
der Art des Essverhaltens, d. h. ein Wechsel aus kurz-
32
Diagnosekriterien für
Substanzabhängigkeit
Beispiel-Item
%a
1) Anhaltender Wunsch oder
erfolglose Versuche, den
Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
„Bestimmte Nahrungsmittel einzuschränken oder gar nicht mehr
zu essen, ist etwas worüber ich
mich sorge.“
94,8
2) Fortgesetzter Substanzkonsum trotz Kenntnis
eines anhaltenden
oder wiederkehrenden
körperlichen oder psychischen Problems, das
wahrscheinlich durch die
Substanz verursacht oder
verstärkt wurde
„Ich habe die gleichen Nahrungs- 75,0
mittel oder die gleiche Menge
an Essen weiterhin konsumiert,
obwohl ich emotionale und/oder
körperliche Probleme hatte.“
3) Toleranzentwicklung
„Ich habe bemerkt, dass die
54,2
gleiche Menge an Essen meine
negativen Emotionen nicht mehr
so vermindert oder Wohlbefinden
nicht mehr so erhöht wie früher.“
4) Es besteht eine klinisch
signifikante Beeinträchtigung bzw. Leiden
aufgrund des Substanzkonsums
„Mein Verhalten in Bezug auf
Nahrung und Essen verursacht
eine erhebliche Belastung.“
47,9
5) Die Substanz wird häufig
in größeren Mengen oder
länger als beabsichtigt
eingenommen
„Ich ertappe mich dabei, bestimmte Nahrungsmittel weiter
zu essen, obwohl ich nicht mehr
hungrig bin.“
31,2
6) Viel Zeit für Aktivitäten,
um die Substanz zu
beschaffen, sie zu sich zu
nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen
„Ich finde, wenn ich bestimmte
30,2
Nahrungsmittel nicht da habe,
scheue ich keine Mühen, diese
zu beschaffen. Bspw. gehe ich in
den Supermarkt, um bestimmte Nahrungsmittel zu kaufen,
obwohl mir zu Hause Alternativen
zur Verfügung stehen.“
7) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des
Substanzkonsums aufgegeben oder eingeschränkt
„Es gab Zeiten, in denen ich
29,2
bestimmte Nahrungsmittel so
oft oder in solch großen Mengen
konsumiert habe, dass ich
begann zu essen anstatt zu arbeiten, Zeit mit meiner Familie oder
meinen Freunden zu verbringen
oder mich mit anderen wichtigen
Tätigkeiten oder Freizeitaktivitäten, die ich mag, zu befassen.“
8) Entzugssymptome
„Ich hatte Entzugssymptome wie
körperliche Unruhe, Ängstlichkeit oder andere körperliche
Symptome, wenn ich das Essen
bestimmter Nahrungsmittel
eingeschränkt oder vollständig
darauf verzichtet habe.“
27,1
Tab. 1: Diagnosekriterien für Substanzabhängigkeit nach DSM-IV und
dazugehörige Beispiel-Items der Yale Food Addiction Scale
a
Prozentuale Häufigkeit des Vorliegens der einzelnen Suchtsymptome
in einer Stichprobe präbariatrischer Patienten mit Adipositas (N = 96).
Daten aus Meule et al. (2012)12
zeitiger Nahrungsrestriktion und Überessen (welcher
für das Essverhalten bei BN und BES typisch ist),
ebenfalls eine entscheidende Bedeutung zukommt.
Wie kann „süchtiges“ Essverhalten erfasst werden?
Ein wesentlicher Bestandteil zur Bewertung der Gültigkeit des Suchtkonzepts übermäßigen Essens stellt
die valide Erfassung süchtigen Essverhaltens dar.
Diese orientiert sich meist an den Diagnosekriterien
für Substanzabhängigkeit des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV;
Tab. 1). In einer Studie13 wurde dies beispielsweise
durch ein diagnostisches Interview realisiert, indem
das Substanzabhängigkeitsmodul des Strukturierten
Klinischen Interviews für DSM-IV-Achse-I-Störungen
(SKID) hinsichtlich Binge Eating umformuliert wurde.
Ein ähnlicher Ansatz zur Identifikation süchtigen Essverhaltens liegt der Yale Food Addiction Scale (YFAS)
zugrunde34, 13. Dieser Selbstauskunftsfragebogen erfasst anhand von 25 Fragen die sieben Abhängigkeitskriterien bezogen auf Nahrungsmittel und Essverhalten sowie eine klinisch signifikante Beeinträchtigung
oder ein Leiden aufgrund des Essverhaltens (Tab. 1).
Bei Vorliegen von mindestens drei Symptomen sowie
einer Beeinträchtigung oder eines Leidens kann dann
eine Diagnose süchtigen Essverhaltens gestellt werden.
Wie häufig ist „süchtiges“ Essverhalten
und wer ist davon betroffen?
Erste Untersuchungen unter Verwendung der YFAS
ergaben, dass etwa 20 bis 40% der Teilnehmer mit
Adipositas als „esssüchtig“ klassifiziert werden konnten35, 36, 12. Es fanden sich aber ebenfalls, wenn auch
in geringerem Ausmaß, Menschen mit süchtigem Essverhalten mit Unter-, Normal- und Übergewicht34, 37, 13.
Die häufigsten Diagnosen finden sich unter adipösen Patienten mit BES10. Viele Studien fanden jedoch
keinen oder lediglich einen geringen Zusammenhang
zwischen dem Ausmaß süchtigen Essverhaltens und
der Körpermasse38. Diese auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Befunde legen einen nichtlinearen Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen nahe38 (Abb. 1). In den unteren Gewichtskategorien bleibt das Ausmaß süchtigen Essverhaltens
zunächst konstant und steigt erst im übergewichtigen
und adipösen Bereich an. Eine mögliche Erklärung
hierfür wäre, dass wahrscheinlich Menschen mit bulimischen Symptomen ebenfalls die Kriterien süchtigen
Essverhaltens erfüllen39, 40. Aufgrund der kompensatorischen Gegenmaßnahmen führt das exzessive Essverhalten jedoch nicht zu einer Gewichtszunahme. Bei
Menschen mit extremer Adipositas flacht der Zusammenhang wiederum ab, was sich durch das Erreichen
körperlicher Grenzen erklären lassen könnte.
Diesen Befunden entsprechend ist die derzeitige Konzeptualisierung süchtigen Essverhaltens in Abbildung
2 dargestellt. Süchtiges Essverhalten zeigt die größte
Überschneidung mit der Binge-Eating-Störung (BES),
kann aber ebenfalls normal- und übergewichtige Menschen sowie Menschen mit Adipositas ohne BES umfassen. Umgekehrt erfüllen nicht alle Patienten mit
Adipositas bzw. BES die Diagnose süchtigen Essverhaltens (Abb. 2).
Abb. 2: Derzeitige Konzeptualisierung süchtigen Essverhaltens nach
dessen Beziehung zu Körpermasse und Binge Eating. Süchtiges Essverhalten zeigt die größte Überschneidung mit der Binge-Eating-Störung (BES), aber kann ebenfalls normal- und übergewichtige Menschen
sowie Menschen mit Adipositas ohne BES umfassen. Umgekehrt erfüllen nicht alle Patienten mit BES die Diagnose süchtigen Essverhaltens.
Abbildung modifiziert nach Ahmed et al. 40.
Korrelate süchtigen Essverhaltens
Bisherige Studien konnten in Stichproben mit adipösen
Menschen keinen Zusammenhang mit Alter und Geschlecht feststellen z.B. 35. In vorwiegend normalgewichtigen Stichproben war die Häufigkeit süchtigen Essverhaltens jedoch bei Frauen erhöht, was wiederum
für eine Assoziation mit bulimischer Symptomatik in
dieser Gewichtskategorie spricht13. Süchtiges Essverhalten ist positiv assoziiert mit einer erhöhten Essstörungspathologie (z. B. Binge Eating und emotionalem
Essverhalten) sowie erhöhter Impulsivität, Depressivität, Emotionsregulationsschwierigkeiten und geringerem Selbstwert z.B. 35, 36, 10, 13.
Therapeutische und gesellschaftliche Implikationen
Die Adaptation eines Suchtmodells auf Überessen und
Adipositas zieht sowohl therapeutische als auch gesellschaftliche Implikationen nach sich. In einer ak-
neuro aktuell 1/2014
Abb. 1: Anzahl der Suchtsymptome gemessen mit der Yale Food Addiction Scale in Abhängigkeit der Gewichtskategorien nach World Health
Organization (2000). Die gestrichelte Trendlinie stellt einen möglichen
kubischen Zusammenhang zwischen Gewichtskategorie und Suchtsymptomen dar (R² = .95). Abbildung modifiziert nach Meule (2012)38.
tuellen Studie mit adipösen Teilnehmern ging die Anzahl der Suchtsymptome gemessen mit der YFAS mit
einem geringeren Gewichtsverlust nach einer siebenwöchigen Gewichtsreduktionstherapie einher, was auf
die Notwendigkeit einer speziellen Anpassung solcher
Therapien an Menschen mit süchtigem Essverhalten
hinweist35. Diese könnte sich beispielsweise auf eine
betonte Förderung alternativer Emotionsregulationsstrategien, insbesondere in „Rückfallsituationen“, beziehen35.
Ein weiterer Ansatz, der sich aus der Suchttherapie
ableitet, könnte die Konfrontation mit Nahrungsreizen und gleichzeitiger Reaktionsverhinderung darstellen. Bisherige Pilotstudien konnten zeigen, dass beispielsweise Menschen mit einem häufigen Verlangen
nach Schokolade ihren Schokoladenkonsum reduzieren, nachdem sie ein Verhaltenstraining absolvierten,
in dem die Reaktionen auf Schokolade (z. B. ein Tastendruck) zurückgehalten werden sollte41, 42. Eine mögliche Erklärung für solch eine Verhaltensänderung
könnte eine Stärkung von Kontrollmechanismen sein,
aber auch eine Abschwächung bzw. ein Verlernen automatischer Annäherungsreaktionen oder impliziter
affektiver Bewertungen der Nahrungsreize darstellen.
Langfristige Effekte eines solchen Ansatzes sind jedoch noch unbekannt.
Ein häufiger Kritikpunkt des Suchtmodells besteht
darin, dass eine konsequente Übertragung von Therapiebausteinen der Suchttherapie das Anstreben einer
Abstinenz der süchtig machenden Substanz nach sich
ziehen würde. Die Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel gilt bei der Therapie der BN und BES jedoch
als kontraindiziert43. Andererseits findet solch ein Abstinenzansatz auch Befürworter. Beispielsweise orientieren sich Selbsthilfegruppen wie die Overeaters
Anonymous am 12-Punkte Programm der Anonymen
Alkoholiker. Der Abstinenzbegriff ist hier zwar nicht
eindeutig definiert, dennoch finden manche Teilnehmer es hilfreich, auf beispielsweise Einfachzucker zu
verzichten44. Randomisierte, kontrollierte Studien zur
Wirksamkeit der Teilnahme an solchen Selbsthilfegruppen fehlen jedoch.
Neben therapeutischen Implikationen könnte ein
Suchtmodell ebenfalls Auswirkungen auf gesellschaftlicher Ebene haben. Vorschläge zur politischen Einflussnahme als Prävention von Übergewicht und Adipositas wurden meist durch bereits erfolgte Regulationen
des Tabakmarktes inspiriert und umfassen beispielsweise die Besteuerung von zuckerhaltigen Softdrinks,
eine stärkere Regulation von Werbung oder die Einführung von Ernährungsstandards an Schulen3, 45-48.
Gleichzeitig werden aber auch kritische Punkte angeführt. Da in den bisherigen Studien nur eine bestimmte Untergruppe von adipösen Personen als „esssüchtig“ klassifiziert wurde, könnte die Nahrungsmittelindustrie süchtiges Essverhalten als seltene Störung
präsentieren, die das politische Eingreifen zur Beeinflussung des Essverhaltens auf gesellschaftlicher
Ebene nicht erfordert49. Ein weiteres Bedenken grün- 33
det darauf, dass die Konzeptualisierung als „esssüchtig“ zwar das Stigma des Versagens vom Individuum
hin zu Einflussfaktoren der Umwelt lenken könnte,
aber ebenso zu einem neuen Stigma führen und die
Wichtigkeit von körperlicher Aktivität zur Gewichtsabnahme reduzieren könnte49.
Fazit
Süchtiges Essverhalten findet sich insbesondere bei
Menschen mit BES. Ebenfalls findet sich eine erhöhte Prävalenz bei Menschen mit Adipositas. Allerdings
zeigt sich dies nur bei einem bestimmten Anteil, so
dass Adipositas nicht mit „Esssucht“ gleichgesetzt,
sondern innerhalb der Gruppe der adipösen Menschen
zwischen denjenigen mit und denjenigen ohne süchtigem Essverhalten differenziert werden kann. Andererseits erfüllen aber auch manche Menschen mit
Unter- oder Normalgewicht die Kriterien süchtigen
Essverhaltens, die hier möglicherweise stark mit bulimischer Symptomatik assoziiert sind.
Hinsichtlich therapeutischer und gesellschaftlicher Implikationen lässt sich schließen, dass das Suchtkonzept übermäßigen Essens von Nutzen sein kann, beispielsweise durch die Ableitung von Therapiemaßnahmen oder politischen Regulationen aus dem Bereich
der Substanzabhängigkeiten, aber dennoch auch potenzielle Gefahren in sich birgt. Zum aktuellen Zeitpunkt bleibt daher der Nutzen des Suchtmodells unklar.
Das Konzept süchtigen Essverhaltens befindet sich
noch in der Entwicklung und bedarf grundlegender
Forschung, die zu einer präziseren Definition des Begriffs sowie zur Überprüfung der Gültigkeit des Ansatzes im Humanbereich beiträgt. Ein integraler Bestandteil hierbei wären longitudinale Studien, die sich dem
Übergang von impulsivem hin zu kompulsivem Essverhalten widmen. Diese könnten ebenfalls zur Klärung bisher wenig beachteter „Esssuchtssymptome“,
wie beispielsweise der Toleranzentwicklung, führen,
um somit die bislang anhand von Fragebögen erhobenen Selbstberichte durch objektive Verhaltensbeobachtungen zu belegen.
neuro aktuell 1/2014
Dipl.-Psych. Adrian Meule
Lehrstuhl für Psychologie I · Universität Würzburg
Marcusstraße 9-11 · 97070 Würzburg
Tel.: 0931/31 808 34 · Fax: 0931/31 8 24 24
E-Mail: [email protected]
34
Literatur
40 Ahmed, S., Avena, N. M., Berridge, K. C., Gearhardt, A., & Guillem, K.
(2013). Food Addiction. In D. W. Pfaff (Ed.), Neuroscience in the 21st
Century (pp. 2833-2858). New York: Springer.
2 Albayrak, O., Wolfle, S. M., & Hebebrand, J. (2012). Does food addiction
exist? A phenomenological discussion based on the psychiatric classification of substance-related disorders and addiction. Obesity Facts, 5,
165-179.
3 Allen, P. J., Batra, P., Geiger, B. M., Wommack, T., Gilhooly, C., & Pothos,
E. N. (2012). Rationale and consequences of reclassifying obesity as an
addictive disorder: Neurobiology, food environment and social policy
perspectives. Physiology & Behavior, 107, 126-137.
27 Avena, N. M., Rada, P., & Hoebel, B. G. (2008). Evidence for sugar addiction: Behavioral and neurochemical effects of intermittent, excessive
sugar intake. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 32, 20-39.
28 Avena, N. M., Rada, P., & Hoebel, B. G. (2009). Sugar and fat bingeing
have notable differences in addictive-like behavior. The Journal of Nutrition, 139, 623-628.
4 Barry, D., Clarke, M., & Petry, N. M. (2009). Obesity and its relationship to
addictions: Is overeating a form of addictive behavior? American Journal
on Addictions, 18, 439-451.
23 Benton, D. (2010). The plausibility of sugar addiction and its role in obesity
and eating disorders. Clinical Nutrition, 29, 288-303.
18 Broft, A., Berner, L. A., Martinez, D., & Walsh, B. T. (2011). Bulimia nervosa and evidence for striatal dopamine dysregulation: A conceptual
review. Physiology & Behavior, 104, 122-127.
19 Broft, A., Shingleton, R., Kaufman, J., Liu, F., Kumar, D., Slifstein, M.,
Walsh, B. T. (2012). Striatal dopamine in bulimia nervosa: A PET imaging
study. International Journal of Eating Disorders, 45, 648-656.
45 Brownell, K. D., & Frieden, T. R. (2009). Ounces of prevention - The public
policy case for taxes on sugared beverages. New England Journal of
Medicine, 360, 1805-1808.
35 Burmeister, J. M., Hinman, N., Koball, A., Hoffmann, D. A., & Carels, R. A.
(2013). Food addiction in adults seeking weight loss treatment. Implications for psychosocial health and weight loss. Appetite, 60, 103-110.
13 Cassin, S. E., & von Ranson, K. M. (2007). Is binge eating experienced as
an addiction? Appetite, 49, 687-690.
33 Cocores, J. A., & Gold, M. S. (2009). The Salted Food Addiction Hypothesis may explain overeating and the obesity epidemic. Medical Hypotheses, 73, 892-899.
5 Corsica, J. A., & Pelchat, M. L. (2010). Food addiction: true or false? Current Opinion in Gastroenterology, 26, 165-169.
6 Davis, C., & Carter, J. C. (2009). Compulsive overeating as an addiction
disorder. A review of theory and evidence. Appetite, 53, 1-8.
36 Davis, C., Curtis, C., Levitan, R. D., Carter, J. C., Kaplan, A. S., & Kennedy, J. L. (2011). Evidence that ‚food addiction‘ is a valid phenotype of
obesity. Appetite, 57, 711-717.
24 DiLeone, R. J., Taylor, J. R., & Picciotto, M. R. (2012). The drive to eat:
comparisons and distinctions between mechanisms of food reward and
drug addiction. Nature Neuroscience, 15, 1330-1335.
46 Gearhardt, A. N., Bragg, M. A., Pearl, R. L., Schvey, N. A., Roberto, C.
A., & Brownell, K. D. (2012). Obesity and public policy. Annual Review of
Clinical Psychology, 8, 405-430.
47 Gearhardt, A. N., & Brownell, K. D. (2013). Can food and addiction change
the game? Biological Psychiatry, 73, 802-803
7 Gearhardt, A. N., Corbin, W. R., & Brownell, K. D. (2009a). Food addiction – an examination of the diagnostic criteria for dependence. Journal
of Addiction Medicine, 3, 1-7.
34 Gearhardt, A. N., Corbin, W. R., & Brownell, K. D. (2009b). Preliminary
validation of the Yale Food Addiction Scale. Appetite, 52, 430-436.
1 Gearhardt, A. N., Davis, C., Kuschner, R., & Brownell, K. D. (2011). The
addiction potential of hyperpalatable foods. Current Drug Abuse Reviews,
4, 140-145.
48 Gearhardt, A. N., Grilo, C. M., DiLeone, R. J., Brownell, K. D., & Potenza,
M. N. (2011). Can food be addictive? Public health and policy implications. Addiction, 106, 1208-1212.
10 Gearhardt, A. N., White, M. A., Masheb, R. M., Morgan, P. T., Crosby, R.
D., & Grilo, C. M. (2012). An examination of the food addiction construct in
obese patients with binge eating disorder. International Journal of Eating
Disorders, 45, 657-663.
41 Houben, K. (2011). Overcoming the urge to splurge: Influencing eating
behavior by manipulating inhibitory control. Journal of Behavior Therapy
and Experimental Psychiatry, 42, 384-388.
42 Houben, K., & Jansen, A. (2011). Training inhibitory control. A recipe for
resisting sweet temptations. Appetite, 56, 345-349.
32 Ifland, J. R., Preuss, H. G., Marcus, M. T., Rourk, K. M., Taylor, W. C.,
Burau, K., . . . Manso, G. (2009). Refined food addiction: A classic substance use disorder. Medical Hypotheses, 72, 518-526.
neuro aktuell 1/2014
20 Johnson, P. M., & Kenny, P. J. (2010). Dopamine D2 receptors in addiction-like reward dysfunction and compulsive eating in obese rats. Nature
Neuroscience, 13, 635-641.
21 Kenny, P. J. (2011a). Common cellular and molecular mechanisms in
obesity and drug addiction. Nature Reviews Neuroscience, 12, 638-651.
22 Kenny, P. J. (2011b). Reward mechanisms in obesity: new insights and
future directions. Neuron, 69, 664-679.
49 Lee, N. M., Carter, A., Owen, N., & Hall, W. D. (2012). The neurobiology of
overeating. Embo Reports, 13, 785-790.
29 Lindberg, M. A., Dementieva, Y., & Cavender, J. (2011). Why has the BMI
gone up so drastically in the last 35 years? Journal of Addiction Medicine,
5, 272-278.
26 Macht, M. (2005). Die Gefühle und das Essverhalten. Moderne Ernährung
Heute, 4, 6-9.
37 Meule, A. (2011). How prevalent is „food addiction“? Front. Psychiatry,
2(61), 1-4.
38 Meule, A. (2012). Food addiction and body-mass-index: A non-linear
relationship. Medical Hypotheses, 79, 508-511.
12 Meule, A., Heckel, D., & Kübler, A. (2012). Factor structure and item analysis of the Yale Food Addiction Scale in obese candidates for bariatric
surgery. European Eating Disorders Review, 20, 419-422.
11 Meule, A., & Kübler, A. (2012). The translation of substance dependence
criteria to food-related behaviors: Different views and interpretations.
Frontiers in Psychiatry, 3(64), 1-2.
13 Meule, A., Vögele, C., & Kübler, A. (2012). [German translation and validation of the Yale Food Addiction Scale]. Diagnostica, 58, 115-126.
8 Pelchat, M. L. (2009). Food addiction in humans. The Journal of Nutrition,
139, 620-622.
44 Russel-Mayhew, S., von Ranson, K. M., & Masson, P. C. (2010). How
does Overeaters Anonymous help its members? A qualitative analysis.
European Eating Disorders Review, 18, 33-42.
25 Salamone, J. D., & Correa, M. (2013). Dopamine and food addiction:
Lexicon badly needed. Biological Psychiatry,73, e15-e24
39 Speranza, M., Revah-Levy, A., Giquel, L., Loas, G., Venisse, J.-L., Jeammet, P., & Corcos, M. (2012). An investigation of Goodman‘s addictive
disorder criteria in eating disorders. European Eating Disorders Review,
20, 182-189.
31 Thornley, S., McRobbie, H., Eyles, H., Walker, N., & Simmons, G. (2008).
The obesity epidemic: Is glycemic index the key to unlocking a hidden
addiction? Medical Hypotheses, 71, 709-714.
40 Umberg, E. N., Shader, R. I., Hsu, L. K., & Greenblatt, D. J. (2012). From
disordered eating to addiction: The „food drug“ in bulimia nervosa. Journal of Clinical Psychopharmacology, 32, 376-389.
16 Volkow, N. D., Wang, G.-J., Fowler, J. S., & Telang, F. (2008). Overlapping
neuronal circuits in addiction and obesity: evidence of systems pathology.
Philosphical Transactions of the Royal Society B, 363, 3191-3200.
17 Volkow, N. D., Wang, G.-J., Tomasi, D., & Baler, R. D. (2013). Obesity and
addiction: neurobiological overlaps. Obesity Reviews, 14, 2-18
15 Wang, G. J., Volkow, N. D., Logan, J., Pappas, N. R., Wong, C. T., Zhu,
W., . . . Fowler, J. S. (2001). Brain dopamine and obesity. Lancet, 357,
354-357.
43 Wilson, G. T. (2010). Eating disorders, obesity and addiction. European
Eating Disorders Review, 18, 341-351.
14 Ziauddeen, H., Farooqi, I. S., & Fletcher, P. C. (2012). Obesity and the
brain: how convincing is the addiction model? Nature Reviews Neuroscience, 13, 279-286.
9 Ziauddeen, H., & Fletcher, P. C. (2013). Is food addiction a valid and useful concept? Obesity Reviews, 14, 19-28
30 Zilberter, T. (2012). Food addiction and obesity: do macronutrients matter? Frontiers in Neuroenergetics, 4(7), 1-2.
35
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen