Artothek (Genrich Ippolitowitsch Semiradski (1843 – 1902), Römische Orgie, Ukrainisches Museum in Lwow, 1872) Alltag in Rom Karneval am Tiber 66 epoc 06/2008 Einmal im Jahr durften Roms Bürger so richtig über die Stränge schlagen – zu Ehren des Gottes Saturn. Von Theodor Kissel So sittenstreng sich mancher Römer sonst geben mochte, für die Dauer der Saturnalien befand sich die »ewige Stadt« im kollektiven Ausnahme­ zustand. (»Römische Orgie« von G. I. Semiradski, 1872) Z u Tausenden zogen die Bauern alljährlich nach der Ernte in die Tibermetropole, um Saturn zu danken. Jenem Gott, der die Felder fruchtbar machte und Nahrung gab – saturare bedeutet »sättigen«. Auf dem Forum Romanum stand seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. sein Tempel. Er war ein alter Gott, einer, der schon herrschte, bevor sich Jupiter zum Herrn des Pantheon aufschwang (siehe Kasten S. 68). Gleichwohl erfreute er sich in Rom zunehmender Beliebtheit: Zu Zeiten Ciceros (106 – 43 v. Chr.) dauerten die Saturnalien satte drei Tage – und die ganze Stadt war in Volksfeststimmung. Alltag i n der Anti ke Schon antike Gelehrte spekulierten über die Ursprünge des Festes. Einig war man sich darin, dass seine Wurzeln weit in die mythische Vorzeit Roms zurückreichen mussten. Dem spätantiken Philosophen Macrobius (um 430 n. Chr.) zufolge sei Saturn einst vor Jupiter nach Latium geflohen, Roms Umland. Dort herrschte damals Janus, der Gott des Anfangs. Dieser gewährte dem Verwandten nicht nur Asyl, er teilte fortan sogar seine Regentschaft mit ihm. Zum Dank lehrte der »Sättiger« Latiums Bauern die hohe Kunst des Acker- und Weinbaus, und ein goldenes Zeitalter brach an – die Saturnia regia. Kaiser oder Karnevalsprinz? Sonderlich viel hielt der Philosoph Seneca (etwa 1 – 65 n. Chr.) wohl nicht von seinem Kaiser Claudius. Ein Saturna­ licus princeps sei er, der das ganze Jahr über die Saturnalien feiere. epoc.de 67 »Es ist mir nicht gestattet, etwas Wichtiges zu tun, sondern bloß zu trinken« Lukianos von Samosata, griechischer Satiriker Der Dichter Horaz (65 – 8 v. Chr.) besang jene Ära wehmütig, in der »das Land von der Pflugschar unberührt jährlich Getreide hervorbrachte, und nie beschnitten immerdar die Rebe blühte«. Als Saturn eines Tages weiterzog, so wusste Macrobius des Weiteren zu berichten, habe Janus ihm zum Dank ein Fest gestiftet, das immer im Dezember stattfand. Den Opferaltar errichtete er am Fuß jenes Hügels, auf dem Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. das politische Zentrum einer aufstrebenden Stadt entstehen sollte – das Forum Romanum. Im Jahr 497 v. Chr., wenige Jahre nach dem Ende der Königsherrschaft, zu Beginn der Republik, bauten Roms Bürger Saturn zu Ehren dort den erwähn­ ten Tempel, eines der ersten steinernen Gebäude ihrer Stadt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. aber drohte der Kriegsgott Mars den Alten zu verdrängen. Denn Rom expandierte, schwang sich zum Herrn Italiens auf, griff dann nach dem westlichen Mit- Der griechische Dichter Hesiod beschrieb um 700 v. Chr. die Entstehung der Welt als Abfolge dreier Generationen von Göttern. Aus dem Chaos sei zunächst die Erdmutter Gaia entstanden. Sie gebar Uranos, den Himmel, und nahm ihn zum Mann. Beide zeugten die zweite Generation, die Titanen. Ihr jüngster Sohn Kronos – später von den Römern mit ihrem Erntegott Saturn identifiziert – aber entmachtete den Vater und regierte fortan mit seinen Geschwistern die Welt. Mit seiner Schwester Rhea zeugte er das dritte Göttergeschlecht. Doch er fraß seine Kinder – Thema zahlreicher Bildnisse und Skulpturen –, denn eine Prophezeiung sagte seinen Tod durch ihre Hand voraus. Nur sein Sohn Zeus überlebte, versteckt von der Mutter in den Bergen Kretas. Als Zeus stark genug war, überwältigte er den Vater und zwang ihn, alle Geschwister wieder auszuspeien. In der römischen Variante des Mythos floh Saturn vor Jupiter nach Latium, wo ihm Janus, Gott des Erntegott Saturn mit Anfangs, Asyl gewährte. dem Attribut der Sichel 68 BPK Berlin (Relief von Agostino di Duccio (1418-1481)) Saturn – am Anfang das Chaos telmeerraum. Weil aber meist Bauern für den Dienst an der Waffe rekrutiert wurden, standen etliche mehr im Feld als auf den Äckern, viele kamen aus den weit entfernten Kampfgebieten nicht rechtzeitig zur Ernte zurück. Verständlich, dass ihnen nicht mehr nach Feiern zu Mute war und die Saturnalien nur noch sporadisch begangen wurden. Doch im Jahr 218 v. Chr. wendete sich das Kriegsglück: Hannibal war über die Alpen gezogen, Roms Erzfeind Karthago stand in Italien und brachte den schockierten Römern Niederlage auf Niederlage bei. Hatten sie sich den Zorn der Götter zugezogen? Bald bestätigten Berichte über rätselhafte Ereignisse diese Annahme. »Aus Sizilien wurde vermeldet, dass bei Soldaten die Speerspitzen geglüht und in Sardinien zwei Schilde Blut geschwitzt hätten«, notierte der Geschichtsschreiber Livius (59 v. – 17 n. Chr.), und weiter, »in Praeneste seien glühende Steine vom Himmel gefallen, und in Rom habe das Bild des Mars zu schwitzen begonnen.« Priester befragten heilige Bücher, wie die Götter zu versöhnen seien, und rieten, ihnen ein Festmahl auszurichten, an dem die gesamte Bevölkerung teilnehmen sollte. »Zu diesem Anlass«, so Livius, »wurden in Rom einen Tag und eine Nacht lang die Saturnalien ausgerufen.« Als Termin legte der Senat den 17. Dezember fest, den Tag der Einweihung des Saturntempels 497 v. Chr. Mehr noch: Das Datum erhielt im römischen Kalender den Zusatz Feriae und galt damit als Feiertag. Aus einem bäuerlichen, fast vergessenen Brauchtum war per Dekret ein Fest für alle Bürger Roms geworden. (Ob es auch in anderen Städten des Reichs begangen wurde, darüber schweigen sich die wenigen Schriftquellen aus). »Instrumentalisierte kollektive Angstbewältigung« nennt das der Erfurter Althistoriker und Religionswissenschaftler Jörg Rüpke. Denn indem das ganze Volk als Schicksalsgemeinschaft den Zorn der Götter besänftigte, erlebte es in einer Zeit der Krise ein Sicherheit gebendes Gefühl der Zusammengehörigkeit – und wurde von den Mächtigen der Stadt auf den Kampf gegen Karthago eingeschworen. Jahr für Jahr vollzogen Priester künftig am Morgen des 17. Dezember eine Zeremonie, die Macrobius detailliert für die Nachwelt festhielt: Während ein Priester im Tempel des Gottes ein Opfer darbrachte, lösten andere die Wollbinden, mit denen die Beine einer elfenbeinernen Statue des Saturn gefesselt waren – er hatte in der Frühzeit Roms auch etwas Ungezügeltes, Grauepoc 06/2008 BPK Berlin sames an sich und soll deshalb von Jupiter in Ketten gelegt worden sein. Sodann trugen die Adepten das nunmehr geweckte und »entfesselte« Abbild auf das Forum, wo das Göttermahl bereitet war. Tausende von Menschen kamen dort zusammen, um gemeinsam mit Saturn zu speisen; für Angehörige des einfachen Stadtvolks eine gute Gelegenheit, ihre Mägen zu füllen. Dabei rann wohl auch manch guter Tropfen die Kehle hinab, beschrieb der Dichter Martial (40 – 104 n. Chr.) die Saturnalien doch als »feuchte Tage«. Schließlich, so die Legende, hatte niemand anderes als Saturn die Römer einst die Kunst des Weinbaus gelehrt. Freiheit und Gleichheit für jedermann Die Gassen hallten wider von lautstarken »Io Saturnalia«-Rufen: »Ein Hurra auf die Saturnalien!« Der Gott höchstselbst hatte das Regiment übernommen, so die Vorstellung der Menschen. Und Rom stand Kopf. Seine Oberschicht, sonst soldatischen Tugenden und einer strengen Moral huldigend, gestattete nicht nur unbekümmerten Frohsinn – sie beteiligte sich selbst daran. Leben und leben lassen lauteepoc.de te das Motto, und sogar – Freiheit und Gleichheit für jedermann. Denn der Legende nach war Latium unter der Herrschaft Saturns ein Paradies gewesen – ohne gesellschaftliche Unterschiede. Für die Dauer des Festes kehrte Rom in jenen Urzustand zurück: Niemand arbeitete, sprach Recht oder machte Politik. Die Schranken zwischen Herren und Sklaven wurden aufgehoben – in manchen Haushalten mehr, in anderen weniger. Senatoren streiften ihre Togen ab, jenes Statussymbol, das wie kein anderes das Römersein betonte, und trugen stattdessen öffentlich ihre syntheses, eine legere Hauskleidung, die sonst nur zu den Mahlzeiten im eigenen Heim gestattet war. Ihre Köpfe bedeckten sie mit dem pilleus, der Filzkappe freigelassener Sklaven. Die Maskerade, das Schlüpfen in die Rolle des sozial jeweils anders Gestellten, war geradezu ein Charakteristikum der Saturnalien. Herren und Sklaven tauschten die Rollen, eine »verkehrte Welt« entstand, wie der stoische Philosoph Seneca treffend formulierte. Und der griechische Satiriker Lukianos von Samosata (etwa 120 – 180 n. Chr.) beschrieb die befris­ tete Aufhebung von Konventionen und Nor- Die Saturnalien waren auch die hohe Zeit der Straßen­ musikanten. (Mosaik aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.) Indische Saturnalien Touristen, Vorsicht: Im Monat Phalaguna (Februar-März) feiern Hindus das Fest Holi. Ausgelassen bewirft man sich mit Farbpulver oder Wasser, Frauen geben sich lasziv, Kastengrenzen werden überschritten. 69 Zeit der Narren Maskerade, Rollentausch, Grenzüberschreitung – die Wesensmerkmale des Saturnalienfestes erinnern an unsere »Fünfte Jahreszeit«, den Karneval, der traditionell am 11. 11. eingeläutet wird. Der niederländische Humanist Erasmus von Rotterdam (1467 – 1536) erkannte darin »Spuren alten Heidentums«, und tatsächlich spielten wohl alte Bräuche der Winteraustreibung in die Entstehung des Karnevals hinein. Eine weitere – katholische – Wurzel sind die Narrenfeste des Mittelalters: Persiflagen auf Heilige Messen, in denen der niedere Klerus mit seinen Vorgesetzten die Rollen tauschte. Diese Feste galten als Zeit des Teufels, ihr Ende mit dem Aschermittwoch als Symbol für den unangefochtenen Sieg Gottes. Schon die Babylonier kannten Feste, in denen die vertraute Ordnung auf dem Kopf stand. Sieben Tage lang, so heißt es in einer Inschrift vom Ende des 3. Jahrtausends v. Chr., wurde unter dem Priesterkönig Gudea von Babylon die Hochzeit des Gottes Marduk gefeiert. Während dieser Zeit wurden Unter­ gebene auf eine Stufe mit ihrem Herrn gestellt: »Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleich geachtet.« men: »Es ist mir nicht gestattet, etwas Ernsthaftes oder Wichtiges zu tun, sondern bloß, zu trinken, zu lärmen, zu scherzen und Würfel zu spielen, Festkönige zu wählen, die Sklaven zu bewirten, nackend zu singen und mit Ruß bestrichen in einen kalten Brunnen getaucht zu werden.« Eine »inszenierte Anarchie« nennt der Kölner Psychologe Wolfgang Oelsner das närrische Treiben der Saturnalien, bei dem volkstümliche Ausgelassenheit und karneva­ les­ker Schabernack den Ton angaben. Selbst gestrenge Naturen wie Cato der Ältere (234 – 149 v. Chr.) sprangen vorübergehend über ihren Schatten. So zeigte sich der als geizig verschriene Gutsbesitzer für seine Verhältnisse großzügig – und genehmigte seinen Sklaven eine Extraration Wein. In anderen Haushalten ging es aber weitaus fröhlicher zu. Dort räkelten sich die Haussklaven auf den Liegen des Speiseraums und ließen sich von ihren Herren Speisen und Getränke auftragen. Die sonst Rechtlosen genossen regelrecht Narrenfreiheit, der römische Satiriker Horaz sprach von der libertas Decembris, »der Freiheit des Dezember«. Mit raffinierten Regieanweisungen heizte der Saturnalicus princeps die Stimmung an 70 Sie gestattete es Sklaven sogar, ihre Meinung frei zu äußern, ihren Besitzern ungestraft die Leviten zu lesen, sie zu maßregeln, zu verspotten. Auch Horaz blieb davon nicht verschont, als einer seiner Sklaven während der Saturna­ lien seinen Hang zu Schlendrian und amourösen Ausschweifungen auf die Schippe nahm. Apropos, neben den sozialen Schranken fielen im Alkoholrausch auch die sittlichen. Moral und Prüderie hatten an jenen »feuchtfröhlichen Tagen im Dezember« in der Tibermetropole nichts verloren, polterte Martial. Dafür sorgte vor allem der Saturnalicus princeps, eine Art Karnevalsprinz, dem die ehrenvolle Aufgabe zukam, das närrische Regiment beim rituellen Mahl zu führen. Mit immer raffinierteren Regieanweisungen an die ausgelassene Runde heizte er die Stimmung an. Martial war Augenzeuge, wie der Saturnalicus princeps Festteilnehmer zum Saufen aufforderte, Personen von Stand anwies, nackt ein Lied anzustimmen und leicht geschürzte Flötenspielerinnen im ganzen Haus herumzutragen – um sie anschlie­ ßend in einen Bottich mit kaltem Wasser zu werfen. Klerikern ein Dorn im Auge Doch offenbar akzeptierten es die Herren der ehrenwerten Gesellschaft, dass sie für die Dauer des heiligen Festes als Zielscheibe für allerlei Späße dienten. Wahrscheinlich hat mancher von ihnen sogar insgeheim das Spiel genossen. Ganz sicher aber wollte keiner das Risiko eingehen, die Götter erneut zu erzürnen. Die Saturnalien, die jeweils am 24. Dezember zu Ende gingen, erfreuten sich noch zu Zeiten des ersten christlichen Kaisers Konstantin (um 280 – 337) großer Beliebtheit. Doch das heidnische Fest war Klerikern ein Dorn im Auge. Gern wird darüber gemutmaßt, Weihnachten sei damals gezielt in die gleiche Zeit gelegt worden, die Feier der Geburt Christi habe Papst Liberius (amtierte 352 – 366 n. Chr.) aus taktischen Gründen auf den 25. Dezember festgesetzt. Doch das sind letztlich Spekulationen. Am Ende setzte sich der Christengott durch und schlug Saturn erneut in Fesseln. Oder etwa nicht? Auch wenn es wohl keine direkte Verbindung durch Überlieferung und Tradition gibt: Wer anders als dieser Gott könnte Menschen im Treiben unseres Karnevals verleiten, sich zu maskieren und ihre Rollen zu tauschen? Ÿ Theodor Kissel ist Althistoriker in Mainz. epoc 06/2008 & HSBEDFMTJVTIBLFOVOEFJOEVOOFTTFJM VOEEBTHFGVIMEJFFJHFOFBOHTU[VVCFSXJOEFO JTUFJOGBDIVOCFTDISFJCMJDI XJFHJHBOUJTDIXJSEFTFSTUHBO[PCFOTFJO & & ENTDECKEN, WAS DAHINTER STECKT. WISSENSCHAFT HERAUSFORDERUNG ZUKUNFT GRÜNER PLANET EXTREME JOBS ABENTEUER MEILENSTEINE MEHR INFORMATIONEN ZUM PROGRAMM UND ABONNEMENT FINDEN SIE UNTER http://info.discovery.de