5 Grundbegriffe einer buddhistischen Psychologie 5 Grundbegriffe einer buddhistischen Psychologie Ulrike Anderssen-Reuster, Jörg Meibert 5.1Einleitung In diesem Kapitel soll ein Überblick über wesentliche psychologische Aspekte des Buddhismus gegeben werden, wie sie im Pāli-Kanon vermittelt und von Gelehrten wie Nyanaponika (1993) sowie zeitgenössischen buddhistischen Lehrern wie Thich Nhat Hanh (1999), Jack Kornfield (2008), Han F. de Wit (2001) oder Josef Goldstein (Kornfield u. Goldstein 2006) für westliche Interessierte zugänglich gemacht wurden. Es ist nicht unproblematisch, Begriffe einer 2 500 Jahre alten Bewusstseinsdisziplin (Walsh 1980) und einer seit ca. 100 Jahren bestehenden westlichen Wissenschaft miteinander in Verbindung zu bringen. Während die westliche Psychologie die empirische Nachprüfbarkeit und Objektivität ihrer Paradigmen in den Vordergrund stellt, betont der Buddhismus die Erforschung und Schulung des Geistes und die damit verbundene Ebene der persönlichen Erfahrung (s. auch Kap. 18, S. 263 ff.). Bei Tarab Tulku Rinpoche (2005), einem tibetischen Gelehrten und Meditationsmeister, findet man für die Bezeichnung der psychologischen Aspekte des Buddhismus den Begriff »Wissenschaft vom Bewusstsein«, der Dalai Lama spricht von der »Wissenschaft vom Geist« (Kornfield 2008). Erfahrung, Emotion, Bewusstsein, Geist oder Ego haben in einer buddhistischen Psychologie aber eine völlig andere Bedeutung als in der westlichen Psychologie. »Ihre Verwendung hat ein sehr spezielles Ziel, denn sie verfolgt die Einsicht, wie der nicht erleuchtete Geist entsteht und sich verfestigt und wie der Lotos der Erleuchtung zum Blühen gebracht werden kann« (de Wit 2001, S. 89). Die Prinzipien einer buddhistischen Psychologie können dem Grunde nach nur im Kontext der gesamten buddhistischen Lehre verstanden werden. Diese besteht aus aufeinander bezogenen religiösen, philosophischen und psychologischen Aspekten und ist in der buddhistischen Tradition stets im Sinne dieser Ganzheit gelehrt worden. Als buddhistische Psychologie kann man am ehesten die Aussagen des Buddha über die Struktur und Natur des Geistes sowie die Ursachen des Leidens ansehen, wie sie in den Schriften des Abhidharma (Kompendium des höheren Wissens) niedergeschrieben wurden. Die Lehren des Buddha wurden 59 60 II Begegnung von westlicher Psychotherapie und Buddhismus mit der Aufzeichnung der zuvor mündlich überlieferten Unterweisungen in die sogenannten »drei Körbe« (Sanskrit Tipitaka) eingeteilt. Dies sind die drei kanonischen Lehren: Vinaya Pitaka – Ordenslehren (Ethik), Sūtra Piṭaka – Lehrreden des Buddha, bestehend aus fünf »Sammlungen«, sowie Abhidharma Pitaka – Kompendium buddhistischer Psychologie und Philosophie (FischerSchreiber u. Schuhmacher 1995). Buddhas Bestreben war es nicht, eine in sich schlüssige psychologische Theorie zu vermitteln, sondern einen praktischen Weg aufzuzeigen, wie man sich aus dem Leiden befreien kann. Er vermittelte der Welt einen Weg, den er selbst gegangen ist, und entwickelte Lehren darüber, wie man durch meditative Übung und Geistesschulung selbst frei werden kann. Da er aber dennoch eine konsistente Theorie der menschlichen Psyche entwarf und zudem eine empirisch begründete Methode zur Linderung von Leiden vermittelte, wird in diesem Kontext von einer »buddhistischen Psychologie« gesprochen. Stets voller Furcht ist dieses Herz, Stets voll Besorgnis ist der Geist Durch Nöte, welche droh’n und solche, welche sind. Furchtfreies Leben, gibt es solches denn? O künd’ es an, von mir befragt! Wirrsal innen, Wirrsal außen – In Wirrsal ist verwirrt das Volk. Dies frag’ ich nun, o Gotama: Wer kann die Wirrsal wohl entwirren? (Nyanaponika 1993) Diese Zeilen, welche vermutlich vor 2 500 Jahren – zu Buddhas Zeiten – in Indien verfasst wurden, zeigen, dass Menschen schon immer unter Sorgen, Ängsten und Nöten gelitten haben (Nyanaponika 1993). Sie fühlten sich auch damals verwirrt von inneren und äußeren Bedrängnissen und haben nach einem Weg gesucht, welcher ihnen verhelfen könnte, aus diesen belastenden Erfahrungen herauszufinden. Der Buddha hatte diesen Weg gefunden und – motiviert von dem Wunsch, den Lebewesen zu helfen – entschied er sich, seine Erkenntnisse weiterzugeben. Obwohl sich der Buddhismus später in unterschiedliche Lehren und Traditionslinien aufgespaltet hat und auch jeweils sehr stark von der Kultur mitgeprägt wurde, in welcher er sich entwickelte, gibt es doch einige Grundaussagen und Kernbotschaften, die für alle buddhistischen Strömungen bindend sind (vgl. auch Goldstein 2004). In den folgenden Abschnitten wird eine begrenzte, aber wesentliche Auswahl dieser grundlegenden buddhistischen Lehren vorgestellt. 5 Grundbegriffe einer buddhistischen Psychologie 5.2 Die Zwei Wahrheiten »Unser Leben hat sowohl eine universelle als auch eine persönliche Dimension. Beide müssen respektiert werden, wenn wir frei und glücklich sein wollen«, formuliert es Kornfield (2008, S. 119). Der Buddhismus ist eine nicht theistische Lehre mit der Betonung auf der Unterscheidung zwischen einer relativen bzw. konventionellen Wahrheit (skrt. samuti sacca) und einer absoluten Wahrheit (skrt. paramattha sacca). Die relative Wahrheit, die bei Kornfield als »persönliche Dimension« bezeichnet wird, bezieht sich auf die Wahrnehmung der Welt, so wie sie uns im Alltag erscheint. Diese Wahrnehmung ist geprägt durch die Verwendung von Begriffen und Konzepten. Die absolute Wahrheit, die Kornfield »universelle Dimension« nennt, bezieht sich auf die uns im Alltag normalerweise verborgene Wirklichkeit, »die die gegenseitige Abhängigkeit aller Erscheinungen bzw. ihre Leerheit (shunyata) ausmacht« (von Brück 2007, S. 143). In der buddhistischen Psychologie sind das Verständnis und das Durchdringen dieser Lehre von den beiden Wahrheiten essenziell und es wird davon ausgegangen, »dass Heilung dann stattfindet, wenn wir uns aus der Welt der Begriffe lösen und in die direkte Erfahrung eintreten. Unsere geistigen Konzepte und Vorstellungen über Dinge, Menschen oder Gefühle sind statisch. […] die Realität der Erfahrung aber ist ein stets sich wandelnder Fluss. Die direkte Wahrnehmung greift unter die Schicht der Namen und Begriffe, die wir den Dingen geben, und legt deren geheimnisvolle, flüchtige Natur offen« (Kornfield 2008, S. 131). 5.3 Den Geist erkennen, formen und befreien Das Dhammapada, eines der bekanntesten Bücher des buddhistischen Kanons, beginnt mit den Zeilen: »Vom Geiste gehen die Dinge aus, sind geistgeboren, geistgeführt …« (Nyanaponika 1993, S. 14). Es ist der eigene Geist, in welchem unsere Vorstellungen entstehen – Vorstellungen von der Welt, Vorstellungen von uns selbst. Wenn wir an diesen Vorstellungen leiden, so ist es möglich, sie zu verändern. »Die Buddha-Botschaft als Lehre vom menschlichen Geist lehrt ein Dreifaches: den Geist zu erkennen, ihn, der so nahe ist und doch so unbekannt; den Geist zu formen, ihn, der so widersetzlich ist und doch so willfährig; den Geist zu befreien, ihn, der so vielfach gefesselt ist und doch frei sein kann: hier und jetzt.« (Nyanaponika 1993) 61 II Begegnung von westlicher Psychotherapie und Buddhismus 62 In der ersten Phase, der Phase des Erkennens, lernt man seinen Geist und damit sich selbst kennen. Im zweiten Schritt geht es darum, den Geist zu zähmen, zu formen und zu zügeln, »der so widersetzlich ist und doch so willfährig«. Diese Phase bedarf der kontinuierlichen Bemühung und Praxis. Man lernt langsam, die eigenen Impulse wahrzunehmen, ihnen aber mit Achtsamkeit zu begegnen und nicht jedem emotionalen oder körperlichen Drang nachzugeben. In dieser Phase wird Selbstbeherrschung und Selbstführung eingeübt. Diese sind schließlich Voraussetzung für die Befreiung des Geistes »der so vielfach gefesselt ist und doch auch frei sein kann: hier und jetzt«. Darunter wird verstanden, dass es möglich ist, den Bereich des diskursiven Denkens – zumindest zeitweise – hinter sich zu lassen und in einem Gewahrsein zu ruhen, das frei von Bewertung und dualistischem Unterscheiden ist. Diese Erfahrung geht mit der Einsicht einher, dass man mit der Mit- und Umwelt untrennbar verbunden ist und in einem Netz von Bezogenheiten und Beziehungen verflochten ist. Alleinsein und Trennung finden in unserem Erleben statt – tatsächlich sind wir immer Teil eines größeren Ganzen, selbst wenn wir das nicht direkt wahrnehmen können. In der buddhistischen Terminologie wird diese Tatsache als das »abhängige Entstehen« benannt, Thich Nhat Hanh spricht in diesem Kontext von »Intersein« (Erber 2011). 5.4 Der mittlere Weg Siddharta, der spätere Buddha, wurde um 560 v. Chr. als Sohn eines Fürsten im nördlichen Indien, dem heutigen Nepal, geboren. Es wird berichtet, dass seine Mutter früh verstarb. Er wuchs sehr behütet im Palast seines Vaters und den umgebenden Parks und Ländereien auf. Er sollte nicht zu früh mit der äußeren Welt und deren Gefahren in Kontakt kommen und durfte deshalb das eingegrenzte und beschützte Areal nicht verlassen. Offenbar hat er eine sorgfältige Erziehung genossen und die Philosophien und religiösen Lehren seiner Zeit gekannt. Die Legende berichtet, dass er sich im Alter von 29 Jahren erstmalig durch das Verlassen des vom Vater geschützten Raumes, durch mehrere heimliche Ausfahrten aus seinem Palast, mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert sah. Er erlebte bewusst einen schwer kranken Mann, dann einen uralten, von den Jahren gezeichneten Menschen und schließlich sogar einen Toten. Diese Erfahrung erschütterte ihn zutiefst und er verstand, dass ein angenehmes Leben, Jugend, Gesundheit und das Leben selbst vergänglich sind und unweigerlich irgendwann Krankheit, Alter und Tod auftreten werden. Ab diesem Zeitpunkt befasste er sich mit der Frage, wie es möglich sein kann, trotz dieser universellen Gegebenheiten, vor welchen ihn sein Vater unbedingt bewahren