Turtle Hero – Ein Leben für die Schildkröten Vor knapp 40 Jahren verliebte sich ein kleiner Bub ausgerechnet in – Schildkröten! Die Leidenschaft für gepanzerte Reptilien machte ihn im Lauf der Jahre zu einem der weltweit gefragtesten Schildkröten-Experten. Heute kümmert sich Peter Praschag nicht nur um einzelne Exemplare, vielmehr rettet er ganze Arten vor dem Aussterben: Der Grazer Biologe hat sein Leben den Schildkröten gewidmet, für seine Kollegen ist er der „Turtle Hero“. Mit ihm unternimmt „Universum“ eine Reise vom faszinierenden Grazer „Schildkrötenhaus“ nach Südostasien und Südamerika zu den am schnellsten schwindenden Arten des Planeten. Das "Turtle House" in Graz Die „Universum“-Dokumentation „Turtle Hero – Ein Leben für die Schildkröten“ von Regisseur Jeremy Hogarth gibt Einblick in die Welt der Schildkröten und porträtiert den österreichischen Wissenschafter Peter Praschag mit seiner faszinierenden Arbeit. Im Bild: Peter Praschag Schildkröten-Experte. Aufgewachsen in und um Graz, war Peter Praschags Kindheit von Schildkröten geprägt. Diese Bilder gehören auch zu seinen frühesten Erinnerungen. Immer war es sein Traum, etwas für diese Tiere zu tun, ihre Lebensräume kennenzulernen, vielleicht sein ganzes Leben diesen Kreaturen zu widmen. Dass er eines Tages eine ganze Art vom Aussterben retten würde, so weit gingen allerdings seine Gedanken als Kind noch nicht. Mittlerweile bestimmt die Passion für die Schildkröten Peter Praschags Leben. Er ist ein international renommierter Wissenschafter und SchildkrötenSpezialist, der sich ein besonderes Lebensmotto gestellt hat: die Schildkröten – die am meisten gefährdete Wirbeltier-Gruppe weltweit – zu schützen. Schildkröten gab es schon vor den Dinosauriern. Die Schildkröten haben diese nicht nur überlebt, sondern über Jahrmillionen eine üppige Varianten-Vielfalt herausgebildet. Sie haben bewiesen, dass sie extrem anpassungsfähig sind. Außer auf der Antarktis ist diese Tiergattung auf jedem Kontinent und in nahezu allen Lebensräumen zu finden. Doch die Populationen sind höchst gefährdet und der Rückgang natürlicher Bestände ist gerade in Süßgewässern wie Seen, Flüssen und Sümpfen dramatisch. Seit 1970 haben sich die Populationen in diesen Habitaten um mehr als 80 Prozent verringert, so eine besorgniserregende aktuelle Studie des WWF. Ein Haus am Stadtrand von Graz beinhaltet fast ein Drittel aller Schildkrötenarten der Welt. Bestens versorgt in gut durchfeuchteten Räumen, begleitet vom Brummen der Wasserpumpen und vom Plätschern des Wassers sorgt sich Peter Praschag mit einigen Studenten um seinen „Schatz“. Tatsächlich ist diese Sammlung für den Schutz der Arten unendlich wertvoll. Um die 300 Arten von Süßwasserschildkröten sind weltweit (noch) bekannt, fast ein Drittel dieser Arten sind im „Turtle House“ in Graz zu finden, einem Projekt, das auch von der Stadt Graz unterstützt wird. Viele der Arten im Grazer Schildkrötenhaus sind gefährdet; manche davon sind in ihren ursprünglichen Habitaten ausgerottet und nur mehr in geschützten Bereichen wie Zoos und eben dem „Turtle House“ zu finden. Immer wieder gibt es Anfragen und großes Staunen über die Vielfalt der Spezies. Daher sollen irgendwann einmal die Tiere aus dem Grazer Refugium in eine große Anlage übersiedeln, an einen Platz, der den Bedürfnissen der Schildkröten, aber auch den Erfordernissen von Wissenschaft und interessierten Laien besser entspricht. Die massive Gefährdung der Schildkröten Die Welt der Schildkröten ist gekennzeichnet durch eine bunte Vielfalt an Verhaltensweisen, Lebensräumen, Formen, Farben und Größen; selbst die Knochenpanzer, die allein rund 30 Prozent ihres Gewichts ausmachen, bestechen durch unterschiedlichste Varianten und Muster. Der Panzer, ein lebender Teil ihres Körpers, ist das anatomisch auffälligste Merkmal dieser Reptilien. Kein anderes Wirbeltier hat einen solchen Panzer. Er schützt die Schildkröten und besteht aus Rückenpanzer und Bauchpanzer – ein Stück Evolution, das uns 220 Millionen Jahre zurückblicken lässt: Bei Schildkröten hat sich im Gegensatz zu anderen Wirbeltieren der Schulter- und Beckengürtel in den Rippenbogen verlagert und einen weitgehend starren Knochenkörper gebildet, der die wichtigen Organe dieser Kriechtiere umschließt. Bei manchen Schildkrötenarten ist der Knochenpanzer mit Hornschilden aus Keratin besetzt, bei sogenannten Weichschildkröten ist er von einer lederartigen Hautschicht überzogen. Viele Arten der Weichschildkröten, die vorwiegend in Sümpfen und Gewässern leben, sind durch massiven Lebensraumverlust höchst gefährdet. Peter Praschag ist gerade für Weichschildkröten ein absoluter Spezialist. Sie sind im Wasser extrem schnell – und viel aggressiver als andere Schildkrötenarten. Mit Peter Praschag trifft das „Universum“Team in Brasilien auf eine Schildkrötenart, die Arrau-Schildkröte, die eine vorher nicht für möglich gehaltene Bindung zwischen Schildkrötenmüttern und ihrem Nachwuchs zeigt: Die Schildkrötenmütter warten in den Flüssen auf den Schlupf der Winzlinge, um sie dann mit einer Art Gesang in die weit entfernten Futtergründe zu lotsen. Moderne wissenschaftliche Methoden machen diese „Gesänge“ nun auch für den Menschen hörbar. Im Amazonasgebiet warten die Arrau-Schildkröten im Fluss auf den richtigen Moment der Eiablage. Die Weibchen richten die Ablage der Eier nach dem Wasserstand der Flüsse. Die über hundert Eier nehmen ein beachtliches Volumen der Leibeshöhle ein und die Weibchen drängen zum Niststrand, um die Eier in größeren Gruppen abzulegen: keine einfache Aufgabe für das „Universum“-Team, nahe genug an die Nester heranzukommen. Als nach zwei Monaten die ersten Eier schlüpfen, ist die Trockenzeit vorbei und die Wasserspiegel der Flüsse sind bereits wieder angestiegen. Dennoch, die Nester sind nicht überflutet, und es ist zu beobachten, dass die erstgeschlüpften Tiere auf die anderen warteten, um gemeinsam ins Wasser zu eilen; denn in der Gruppe ist es für die Kleinen sicherer, die Strecke über den trockenen Flusssand zum Wasser zurückzulegen. Überall lauern Vögel und andere Räuber auf die Winzlinge. Forschungsarbeiten in Brasilien Die brasilianische Forscherin Camila Ferrara arbeitet im Team des amerikanischen Wissenschafters Richard Vogt. Ihm ist die bahnbrechende Erkenntnis der „Vokalisation“ geschuldet: der Nachweis, dass Schildkrötenmütter im Wasser mit ihrem Nachwuchs im Sand (und zum Teil noch im Ei) kommunizieren. Sie warten zwei Monate ohne Nahrungsaufnahme auf die Kleinen und begleiten sie dann anschließend zu den weit entfernten Futtergründen. Und Camila Ferrara arbeitet daran, die kaum hörbaren Töne, die sie dabei von sich geben, zu erforschen und zu verstehen. Erst jetzt, nachdem viele Schildkrötenarten am Aussterben bedroht sind, hat man die soziale Intelligenz dieser Tiere erkannt. Immer wieder hat es Ansätze gegeben, Schildkröten genauer zu erforschen, doch ihre vermeintliche Langsamkeit hat sie offensichtlich unbedeutend gemacht. Für diese Reptilien gibt es keinen Grund schnell zu sein, ihr Schild ist ihnen Schutz genug. Es gibt aber auch Ausnahmen wie die Engmaul-Weichschildkröte. Ihr Beutefangverhalten ist eine der schnellsten Bewegungen im Tierreich. Das „Universum“Team konnte diese Bewegung nur mit einer High-Speed Kamera, die 3.000 Bilder/Sekunde aufnehmen kann, sichtbar machen. Eine weitere Schildkrötenart, die Tempelschildkröte, war nur noch an einem Platz in Bangladesch bekannt, dank Peter Praschag konnten weitere Exemplare in indischen Tempelteichen und auch erstmals in freier Wildbahn nachgewiesen werden. Doch eine Schildkrötenart ist für Peter Praschag zu einer wahren Obsession geworden, nicht nur, weil sie die größte unter den Süßwasserschildkröten ist, sondern weil sie das mittlerweile wohl seltenste Tier unseres Planeten ist: Nur mehr drei Exemplare der YangtseRiesenweichschildkröte sind bekannt; zwei Tiere in einem chinesischen Zoo, ein weiteres in Vietnam. „Universum“ begleitet den „Turtle Hero“ bei seiner bisher größten Herausforderung – dem Wettlauf gegen die Zeit beim Versuch, diese Spezies vor dem Aussterben zu retten: Zu Beginn der Dreharbeiten im Frühjahr 2015 waren vier lebende Exemplare dieses Tiers bekannt, zwei in China und zwei in Vietnam. Die berühmteste dieser Schildkröten starb jedoch im Lauf des Jahres 2016: „Cu Rua“ (Großvater), wie das Tier genannt wurde, lebte im Zentrum von Hanoi, im Hoan-Kiem-See. Ein riesiges Männchen, weit über 100 Jahre alt, 170 Kilogramm schwer und ein hochverehrtes Tier in Vietnam. Nur eine einzige weitere Schildkröte dieser Art existiert noch in Vietnam, und zwar im Dong-Mo-See. Wer das Tier allerdings in dem großen unüberschaubaren Gewässer finden will, begibt sich auf die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Peter Praschag arbeitet hier mit anderen Forschern zusammen, um das Tier zu finden und an einen sicheren Platz zu bringen. Das Tier im Dong-Mo-See ist tatsächlich eine große Hoffnung für die Spezies: Könnte man diese Riesenschildkröte fangen, bestünde Hoffnung, sie durch Tierschutzgruppen oder Forschungsstellen zu schützen, aber vor allem, sie mit den Tieren in den chinesischen Zoos paaren zu können, um Nachwuchs zu haben. Die Jagd auf die Riesenweichschildkröte Der österreichische Biologe Gerald Kuchling möchte die Spezies durch künstliche Besamung retten. Sein Hoffnungsanker sind die beiden Yangtse-Riesenweichschildkröten, die in chinesischen Tiergärten leben – Männchen und Weibchen. Das Weibchen legt regelmäßig Eier ab, doch sie sind unbefruchtet. Daher versucht ein internationales Forscherteam rund um Gerald Kuchling eine künstliche Besamung. Sollte sie gelingen, wäre das nicht nur eine Weltpremiere, sondern auch ein wichtiger Durchbruch, um diese Schildkrötenart vor dem Aussterben zu retten. Doch leider, die Spermien des alten Männchens sind wahrscheinlich nicht mehr zur Vermehrung geeignet oder die Besamungsmethode unzureichend. In Graz trifft Peter Praschag daher mit Thomas Hildebrandt aus Berlin zusammen. Professor Hildebrandt ist einer der führenden Reproduktionsbiologen weltweit. Sie entnehmen einer Tempelschildkröte Spermien und frieren sie ein. Das ist zwar nichts Ungewöhnliches, doch nie zuvor ist es gelungen, nach dem Einfrieren die Spermien auftauen zu können und sie am Leben zu erhalten: Die Enzymstruktur des Schildkrötenspermas ist besonders und was bei Säugetieren längst Routine ist, wäre bei Schildkröten eine Premiere und zugleich eine wissenschaftliche Sensation. Und die gelingt: Bei diesem Versuch können erstmals Schildkrötenspermien wieder aufgetaut und für künstliche Inseminationen bereitgestellt werden. Große Gebiete in Nordvietnam waren früher Verbreitungsgebiet der Riesenweichschildkröten, doch in Vietnam hat sich wie in allen anderen südostasiatischen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten vieles verändert. Das „Universum“-Team begleitet Peter Praschag in diese Regionen. Wo früher sumpfige Wildnis war – idealer Lebensraum für Süßwasserschildkröten –, finden sich jetzt Kautschukplantagen und riesige Ananasfelder, wo mit intensivem Pestizideinsatz gearbeitet wird. In diesem Umfeld trifft Peter Praschag einen alten Schildkrötenjäger. Der 74-Jährige beschreibt, wie sich früher die Jagd auf Schildkröten abgespielt hat: vom Boot aus geködert und aufgrund der Luftblasen, die an die Wasseroberfläche drangen, lokalisiert, sodann mit einem langen Speer durch den Panzer am Boden fixiert, hat man gewartet, bis die Schildkröte ertrunken war; die größten von ihnen waren so schwer, dass man sie mit Wasserbüffeln aus dem Wasser ziehen musste. Das ist heute Vergangenheit. Vor 16 Jahren hat der Jäger seine letzte Riesenschildkröte harpuniert – und seitdem keine mehr zu Gesicht bekommen. Die Rettung der Batagur-Schildkröten Peter Praschag ist entschlossen, weiterhin alles zu tun, um den Tieren seines Herzens Lebensräume zu sichern und Strategien gegen den rasenden Artenverlust auszuarbeiten. Schildkröten – ob Meeres- oder Süßwasserschildkröten – sind ein untrüglicher Indikator: Nur in gesunden Ökosystemen kann ihr Überleben garantiert werden. Und das ist Peter Praschags großes Ziel. In Bangladesch hat Peter Praschag eine Aufzuchtstation zur Rettung der BatagurSchildkröte initiiert. Diese Schildkrötenart gilt als dritte höchst gefährdete Art. Nach den Dreharbeiten in Österreich, Brasilien, Vietnam, China und Indien begleitete das Filmteam den „Turtle Hero“ auch nach Bangladesch. Als Praschag das Projekt startete, gab es noch neun Tiere dieser Art. Er konnte mit den Tieren in Gefangenschaft aber große Zuchterfolge erzielen, sodass er in einem ersten Schritt elf Batagur-Schildkröten aufziehen konnte. In Kooperation mit dem Tiergarten Schönbrunn wurde ein Zuchtprogramm gestartet, das einen Teil der Jungtiere auswildert. Bestückt mit Satellitensendern sollen sie den Wissenschaftern Daten über ihre Lebensweisen und bevorzugten Eiablagegebiete liefern. Jede noch so kleine Information über das Verhalten dieser Tiere ist wichtig, denn man weiß kaum etwas über sie, und es soll eine Strategie entwickelt werden, die ihr Überleben in der Wildnis sicherstellt. In vielen mythologischen Darstellungen Asiens spielen Schildkröten eine wichtige Rolle; Schildkröten tragen dabei die Last der Welt auf ihrem gepanzerten Rücken. Am Ende des Films entlässt Peter Praschag ein Schildkrötenpaar in die Wildnis. Auf den Panzern sind Satellitensender angebracht. Das Bild hat Symbolkraft: Diese Schildkröten tragen die große Hoffnung auf ihrem Rücken, dass es für diese Spezies eine Zukunft auf diesem Planeten gibt. Die „Universum“-Dokumentation „Turtle Hero – Ein Leben für die Schildkröten“ ist eine Produktion von dreiD.at, hergestellt in Koproduktion mit ORF, ARTE, BR, BMB und ORF-Enterprise, gefördert von Cinestyria und Stadt Graz. Quelle: http://tv.orf.at/program/orf2/20161122/760677001/story