Zum Text des sogenannten ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus Von Dieter Bremer Nach wechselnden Zuschreibungen an Schelling, Hölderlin und Hegel scheint sich die Diskussion gegenwärtig auf Hegel als Urheber des 'ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus' zu konzentrieren! Vielleicht ist es nützlich, ehe erneut Argumente hin- und hergeschoben und zu den bereits vorliegenden Hunderten von Seiten weitere zur Diskussion gebracht werden, den in der Handschrift zweiseitigen Text erneut zu lesen und zu hören - mit der Sorgfalt, die dieser Text verdient. Der zentrale Satz des Systemprogramms - genau in der Mitte des überlieferten Manuskripts situiert und das gedankliche Zentrum des Ganzen bildend - lautet in Hegels Handschrift (Z. 33-36, recto)2: ,,Ich bin nun überzeugt, daß/ der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfast, ein ästhe- / <sti>tischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit ver- / schwistert sind - ". Dieser Satz ist syntaktisch gestört. Als zentrale Aussage wird üblicherweise angenommen, ,,daß der höchste Akt der Vernunft [...] ein ästhetischer Akt ist". Diese Aussage ist als Kern der hier vorgetragenen Behauptung dem Satz dem 1965 bei den Hegel-Tagen in Urbino gehaltenen Vortrag von Otto Pöggeler, Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. Jetzt in: Mythologie der Vernunft [wie Anm. 2], 126-143. Für die weitere Forschung wegweisend die Vorträge der Hegel-Tage Villigst 1969: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, hrsg. von Rüdiger Bubner, Bonn 1973. Eine komplexe Darstellung der Forschungspositionen seit der Erstpublikation im Jahre 1917 findet sich bei Frank-Peter Hansen, 'Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus'. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989. Beachtenswert ist die Behutsamkeit in der Beurteilung von Dieter Henrich, der empfiehlt, ,Jn Sachen der Verfasserfrage die Erörterung nicht mit der Voreile einer weiteren Generation für abgeschlossen zu halten". So als Nachtrag (1984) zu: Aufklärung der Herkunft des Manuskripts 'Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus'. In: Mythologie der Vernunft [wie Anm. 2], 144-169; 162. 2 Text nach der kritischen Edition in: Mythologie der Vernunft. Hegels 'ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus', hrsg. von Christoph Jamme und Helmut Schneider, Frankfurt/M. 1984. 1 Seit 432 in der vorliegenden Form nicht ohne weiteres zu entnehmen. Gemäß der Fassung in Hegels Handschrift ist die Aussage „ein ästhetischer Akt ist" dem mit „der" beginnenden Relativsatz zugehörig: ,,der höchste Akt der Vernunft, der [...] ein ästhetischer Akt ist". Die eigentliche Behauptung des Satzes als Überzeugung des Autors - ,,Ich bin nun überzeugt, daß [...]" - bleibt ohne Fortsetzung. Die angezeigte Störung in einem sonst syntaktisch störungsfreien Text' erfüllt den Tatbestand einer Korrupte!. Nach den Gepflogenheiten der Edition, wie sie in der Klassischen Philologie üblich sind, wäre der Text nach „Vernunft" bis einschließlich ,,Akt ist" mit dem Zeichen für eine crux zu versehen. Gibt es eine Möglichkeit, die angezeigte crux zu emendieren? Eine Fortsetzung für die fehlende Aussage des ,daß' -Satzes (,,daß der höchste Akt der Vernunft [...]") vorzustellen, dürfte nicht leicht fallen - ein anderer Inhalt der Überzeugung des Autors als die Behauptung, ,,daß der höchste Akt der Vernunft [...] ein ästhetischer Akt ist", erscheint als schwer vorstellbar. Wenn man - in Übereinstimmung mit der üblichen Auslegungstradition - als Fortsetzung des ,daß' -Satzes die Aussage „ein ästhetischer Akt ist" annimmt, erfordert der Relativsatz eine Ausführung. Aber abgesehen davon, daß eine wenn auch nur kurze Fortführung des Dieter Henrich, Systemprogramm? Vorfragen zum Zurechnungsproblem. In: Das älteste Systemprogramm, hrsg. von Rüdiger Bubner [wie Anm. l], 5-15; 9, sagt in der Beschreibung des Textes: ,,Er enthält zwar unvollständige Sätze, aber nur von der Art, wie sie in schnell geschriebenen Briefen häufig eingehen." Die Annahme, daß der Text „unvollständige Sätze" enthalte, bestätigt sich bei einer Überprüfung nicht. Und wie steht es mit der folgenden Kennzeichnung: ,,Sorgfältig ist aber nur die Abschrift, nicht der Text gefaßt"? (Ebd.) Das Manuskript zeigt eine Fülle von Kürzeln und Abkürzungen, die auf eine schnelle Niederschrift schließen lassen. Dagegen ist die Diktion, trotz der Unausgewogenheit im Sinne einer streng organisierten Komposition, im ganzen wie im einzelnen sprachlich und syntaktisch wohlüberlegt ausformuliert - bei aller Spontaneität in der Gedanken- und Wortfolge. Der vorhergehende Satz ,,Zulezt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sifie genomen." (Z. 32 f, recto) bietet eine syntaktische Verkürzung, die als Ellipse ein rhetorisches Ausdrucksmittel der Gedanken-Emphase ist; sie könnte in dieser elliptischen Form in jeder ausgefeilten Abhandlung stehen und stellt keinen unvollständigen Satz dar - im Gegenteil: Jede Ergänzung, von der Art ,Zuletzt kommt die Idee ... ', wäre eine gedankliche und stilistische Verschlechterung. Der Satz ist in seiner inhaltlich hervorgehobenen Position als Eröffnung des Gedanken-Gipfels auch stilistisch von der Reihe ,,Endlich komen d[ie] Ideen von einer moral[ischen] Welt[ ...]" (Z. 26, recto) abgehoben - durch die Ellipse und die gedankliche Abhebung, die im Absatz ihren graphischen Ausdruck findet. Das Faktum der Absätze weist übrigens darauf hin, daß ein ausgearbeiteter Text vorliegt - und vermutlich als Vorlage einer Abschrift bzw. Nachschrift zugrunde gelegen hat. 3 433 Relativsatzes nach „umfast" eine kompliziert verschachtelte Periode ergäbe, stellt sich hier ein sachliches Problem - ,,der höchste Akt der Vernunft" ist nicht „ein ästhetischer Akt" dadurch, daß die Vernunft alle Ideen in sich umgreift bzw. laut Text „indem sie alle Ideen umfast". Die sachliche Problematik hängt offensichtlich an der modalen Konjunktion ,indem'. Die Konjekturalkritik hat zur Emendation der Textkorruptel bei dem inkriminierten Wort anzusetzen. Konjekturalkritik kann bei antiken Texten davon ausgehen, daß die Abtrennung der einzelnen Wörter auf der Entscheidung des Herausgebers beruht, insofern nämlich die handschriftliche Überlieferung eine durchlaufende Buchstabenfolge bietet. Diese Erfahrung gibt eine gewisse Freiheit beim Herstellen von sinnvollen Texten, deren Authentizität durch Abschreibfehler gestört ist. Im vorliegenden Fall bietet sich neben dem Schreibfehler auch die Möglichkeit des Hörfehlers an. Dazu sei folgendes Experiment mitgeteilt: Es wurde in einem kleinen Kreis von Klassischen Philologen, die über keine Spezialkenntnisse des deutschen Idealismus verfügten, der in Frage stehende Satz vorgetragen; dabei wurde nach zweimaligem Hören die Korrupte} so korrigiert, daß statt der Modalkonjunktion ,indem' der 4 Relativanschluß ,in dem' gehört wurde. Die vom Schreiber dieses Textes erzeugte Korrupte} läßt sich also auf die denkbar einfachste Weise emendieren. Dabei ist nicht nur statt der Modalkonjunktion ,indem' der Relativanschluß ,in dem' zu lesen, sondern im Zusammenhang damit das vorhergehende ,der' nicht als Relativpronomen, sondern als explikative Apposition zu verstehen. Zur Erläuterung des höchsten Aktes der Vernunft steht „der, in dem sie alle Ideen umfast" als exegetische Ergänzung, die sich wie folgt paraphrasieren läßt: d.h. derjenige [Akt], in welchem sie [nämlich die Vernunft] alle Ideen umfaßt. Durch diese Lesung des Textes ist nicht nur die Korrupte} behoben; der Satz gewinnt, so verstanden, überhaupt erst einen philosophisch befriedigenden Sinn. Daß der höchste Vernunftakt dadurch, daß die Vernunft alle Ideen umfaßt, zum ästhetischen Akt wird, ist nicht mehr und nicht weniger als philosophischer Halbunsinn. Dagegen erscheint es argumentativ durchaus sinnvoll, wenn nicht geradezu geboten, daß ,der höchste Akt der Vernunft' zunächst definitorisch expliziert wird, ehe über ihn eine Aussage gemacht werden kann. Die in der Tat nicht nur sinnvolle, sondern sachlich notwendige Erläuterung des höchsten 4 434 Von Niels Christian Dührsen. Vernunftaktes als desjenigen Aktes, in welchem die Vernunft alle Ideen umfaßt, geht von einer Bestimmung aus, mit der von Cusanus bis Nietzsche das Wirken des höchsten Wesens als kontuitiv bezeichnet wird.5 In der Gegenwendung gegen Kant und nicht ohne Rückbeziehung auf Spinoza verwenden Schelling und Hölderlin den entsprechenden Begriff der intellektualen Anschauung. Ein derartiger Vernunftakt, der als der höchste bezeichnet werden darf, insofern nämlich in ihm - ähnlich wie in der intellektualen Anschauung oder in der kontuitiven Erkenntnis des höchsten Wesens - alle Ideen umgriffen sind, wird hier als ,ein ästhetischer Akt' bestimmt. Wenn denn auf diese Weise die syntaktische Störung beseitigt und der Text in seinem Sinn voll verständlich geworden ist, erheben sich alsbald weitere Fragen. Zunächst sei eine weitere Textstelle herangezogen, an der es heißt (Z. 22-25, verso): ,,So müssen endlich aufgeklärte u[nd] Unauf/ geklärte sich d[ie] Hand reichen, die Myth[ologie] muß philosophisch werden, und / das Volk vernünftig, u[nd] d[ie] Phil[osophie] muß mythologisch werden, um die Philo- / sophen siiilich zu machen." Der Satz steht in einem Kontext, der die wechselseitige Durchdringung der Gegensätze von Mythologie und Vernunft im Hinblick auf die Verbindung von Volk und Philosophen vorzeichnet. Der in Frage stehende Satz stellt diese Verschränkung besonders prägnant dar, und zwar in exakter Korrespondenz der gegensätzlichen Momente: ,,die Mythologie muß philosophisch werden [...] und die Philosophie muß mythologisch werden", lautet die eine Entsprechung; die andere muß lauten „um das Volk vernünftig" bzw. ,,um die Philosophen sinnlich zu machen". Mit vollem Recht ist daher bereits von Ludwig Strauß in dem Passus „und ' Der durch Spinoza an die deutschen Idealisten vermittelte Begriff einer scientia intuitiva stammt aus der cusanisch-neuplatonischenTradition und reicht bis ans Ende der Metaphysikbei Nietzsche, und zwar dort in der Orientierung an der All-Einheit und i~ der Verbindung mit dem Ästhetischen - und nicht zufällig in Beziehung auf Heraklit. In seinem frühen Entwurf 'Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen' schreibt Nietzsche Heraklit eine „aesthetische Grundperceptionvom Spiel der Welt" (S. 327) zu, in der „Nothwendigkeitund Spiel, Widerstreit und Harmonie" (S. 325) zusammengehen: So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an" (S. 324) - ähnlich dem „contuitiven Gott; für ihn läuft alles Widerstrebendein eine Harmonie zusammen [...]" (ebd.). Wie im Idealismus die intellektuale Anschauung von Gott auf den Menschen übertragen und mit dem Ästhetischenverbundenwird, spricht Nietzschediese Anschauungsformauch Heraklit zu - ,.die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung".Friedrich Nietzsche,Werke. Kritische Gesamtausgabe,begr. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, hrsg. v. Wolfgang MüllerLauter und Karl Pestalozzi, Bd. III, 2, Berlin 1973, 324-327 bzw. 317. 435 das Volle vernünftig" das ,und' durch Konjektur in ,um' verbessert worden; in seiner Hölderlin-Edition hat sich Friedrich Beißner dieser Konjektur angeschlossen. 6 Die in der Handschrift gegebene Lesart „und" ist nun aber keineswegs 7 ein bloßer „Schreibfehler Hegels" • Der Schreiber hat sich nicht gedankenlos verschrieben; er hat sich vielmehr sehr wohl etwas dabei gedacht und einen sinnvollen Satz produziert - er konnte allerdings nur das reproduzieren, was er hörte. Es handelt sich um einen typischen Hörfehler: Solange der ganze Satz noch nicht gehört wird, ist es nicht nur naheliegend, sondern - aufgrund der Herstellung von sinnvollen Satzelementen im Hören - geradezu notwendig, ,und' zu schreiben. Sofern man nicht einen Hörfehler, sondern einen Schreibfehler voraussetzt, muß man folgenden Sachverhalt annehmen: Der Schreiber hat zwar gedacht und einen sinnvollen Satz hergestellt, aber er hat zu kurz gedacht; es müßte sich um einen Abschreiber handeln, der nur die kürzeste Sinneinheit, nicht das Satzganze im Gedanken hat. Die konjekturalen Veränderungen des in Hegels Handschrift überlieferten Textes stellen Berichtigungen dar, die aufgrund der präzisen Entsprechungen von Wörtern und Begriffen philologisch geboten sind. Im Bereich von antiken Texten, die nicht in Form von Autographen überliefert sind, würden derartige Konjekturen allgemeine Anerkennung finden. Einen zweifelsfrei als authentisch autorisierten Text eines Originalmanuskripts allerdings würde kaum ein Philologe konjektural zu berichtigen wagen - selbst wenn er der Meinung wäre, durch diese Konjektur den Text zu verbessern. Solange die Verfasserschaft des in Frage stehenden Textes nicht eindeutig geklärt ist, kann dieser Text in der vorliegenden Fassung aber nicht als zweifelsfrei autorisiert gelten. Im Falle einer evidenten Verbesserung darf also konjiziert werden. Bei den angezeigten Konjekturen handelt es sich um Emendationen, durch die der jeweilige Textpassus evident verbessert wird: im ersten Fall syntaktisch berichtigt und philosophisch präzisiert, im zweiten stilistisch so parallelisiert, daß die Kongruenz des sprachlichen Ausdrucks und die gegensätzlich verschränkte Korrespondenz der Argumentation einander entsprechen. Sofern man die beiden Konjekturen anzuerkennen geneigt ist, erscheint die Textlage in neuem Licht: In beiden Fällen liegt ein handschriftlicher Befund zugrunde, der am einfachsten als Hörfehler zu 6 7 436 StA IV, 299. So Beißner: StA IV, 426. erklären ist und nicht als Schreibfehler. Schon bei normaler Diktion, erst recht aber bei schnellem oder dialektgefärbtem Sprechen ist ,in dem' von indem' nicht zu unterscheiden - ebensowenig ,um das' von ,und das'. Was sich an Folgerungen für die Form und die Umstände der Abfassung des Manuskripts aus dieser Feststellung ergibt, bleibt zu untersuchen. Zunächst ist zu klären, wie sich die nahegelegte Vermutung eines nach Diktat mitgeschriebenen Manuskripts zu den Besonderheiten der Handschrift verhält. Aufgrund des andersartigen Erscheinungsbildes der Erstentwürfe von Hegels Hand könnte es sich bei der in Frage stehenden Handschrift entweder um eine Reinschrift des Verfassers nach vorliegenden Skizzen und Notizen handeln; oder um eine Abschrift nach der Vorlage eines anderen Autors; oder aber um die Nachschrift eines vorgetragenen Textes. Im ersten wie auch im dritten Fall sind spontane Textveränderungen nicht auszuschließen. Die Streichung von „enthalten" und dessen Ersetzung durch „seyn" (Z. 4-5, recto) ist in beiden letztgenannten Fällen denkbar. Die Streichung von „Aberglaubens" und dessen Ersetzung durch ,,Afterglaubens" (Z. 27, recto) läßt sich verstehen als Ausdrucksverstärkung, und zwar im ersten Fall als Veränderung durch den Autor im Zuge seiner Reinschrift oder im dritten Fall als Vorschlag des Diktierenden bzw. des Mitschreibenden. Der Satzanfang „Man" nach gestrichenem ,,M" (Z. 2, verso) ist nicht als Nachbildung einer ,,Eigen8 tümlichkeit seiner Vorlage" durch den Schreiber zu verstehen , sondern drückt vielmehr ein momentanes Suchen nach einem alternativen Satzbeginn aus. Die übrigen Veränderungen des Manuskripts sind unspezifisch bzw. lassen sich im Sinne jeder der drei oben genannten Möglichkeiten deuten. Doch ist noch auf eine orthographische Besonderheit hinzuweisen, die sich am zwanglosesten aus einem Hörakt erklären läßt - die Junktur „aufgeklärte u[nd] Unauf- /_geklärte" (Z. 2223, verso): Der Mitschreibende des diktierten Textes hat beim Anhören des ersten der antithetischen Wörter noch keinen Anlaß zur Großschreibung, wohl aber beim Hören des zweiten nach Erfassen der vollständigen Wortverbindung. 9 Insgesamt weist der Befund auf eine 8 So die abwegige Vennutung von Franz Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund (1917). In: Mythologie der Vernunft [wie Anm. 2], 79-125; 86. 9 Die übliche Erklärung der Verschreibung „Lehrerinder <Geschichte>Menschheit" (Z. 9, verso) als irrtümliche Vorwegnahme des Wortes „Geschichte" aus der nachfolgenden Zeile kann wie für einen Abschreiber ebenso für einen Diktierenden gelten, der seinen Irrtum nicht sofort korrigiert. 437 gewisse Bereitschaft zu spontaner Änderung von Formulierungen, allerdings nur im Detail und nicht im ganzen. Die sich ergebende Wahrscheinlichkeit für die Mitschrift eines mündlich vorgetragenen Textes ist größer als die für die Reinschrift eigener Notizen und Entwürfe. Die vorgelegten Hinweise lassen es als unwahrscheinlich erscheinen daß Hegel der Urheber dieses Textes gewesen ist. Wenn aber Hegel nich; als der Verfasser des 'ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus' gelten darf - wer dann? Über diese seit nunmehr achtzig Jahren 10 heftig diskutierte Frage ist vielleicht erneut nachzudenken. Dazu demnächst Dieter Bremer, Schönheit und Dialektik. Hölderlins ästhetischer Weltentwurf und das griechische Denken. 10 438 Zu einem Brief Neuffers an Hölderlin Von Christoph Prignitz Am 19. März 1789 durfte Christian Ludwig Neuffer das Stift vorzeitig verlassen und in die Osterferien nach Stuttgart reisen. Von dort aus schrieb er Hölderlin einen nur noch als Bruchstück erhaltenen Brief nach Tübingen (StA VII 1, 12-16), in dem zunächst von Schubart die Rede ist. Dann heißt es: ,,Stäudlin ist wirklich wegen Processen verreißt, er wird aber dieser Tage hier ankommen. Weil ich ihn nicht antraf, so habe ich meine alte Bekandtschaft mit seinen Schwestern wieder fortgesezt, bei denen ich wieder das Amt eines lectoris ordinari werde übernehmen müssen." (StA VII 1, 12 f.) Neuffer wollte also als ,wohlbestallter Vorleser' bei Gotthold Friedrich Stäudlins Schwestern Charlotte, Rosine, die später seine Verlobte werden sollte, und Nannette fungieren. In der zitierten Form ist die Textstelle in der Stuttgarter Ausgabe abgedruckt. Im Kommentar wird darauf hingewiesen, in der Handschrift heiße es „eindeutig" ,,ornari". Ein „Schreibfehler" sei „sicher", deshalb sei die Konjektur „ordinari" angebracht, zumal die Kontraktion des i im Genitiv legitim sei. Für „lector ordinarius", so der Kommentar weiter, habe sich kein Beleg finden lassen. (StA VII 1, 16) Einen solchen Beleg gibt es allerdings sehr wohl, und zwar in Johann Gottwerth Müllers Roman 'Siegfried von Lindenberg'. Der gebürtige Hamburger Müller, der sich nach seinem Domizil im holsteinischen Itzehoe Müller von Itzehoe nannte, brachte seinen ungemein erfolgreichen satirischen Roman erstmals 1779 in Hamburg heraus und erweiterte ihn in der zweiten Auflage (1781/82) stark. Die vierte rechtmäßige Ausgabe erschien in vier Teilen in Leipzig bei Carl Fr. Schneider, die fünfte folgte bereits im Jahr 1790. ( Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert.) In diesem Text werden die Abenteuer und Schicksale Siegfrieds, eines pommerschen Junkers, geschildert. Zu Beginn der Handlung bekommt der Dorfschulmeister den Auftrag, seinem Herrn, der ebenso stolz auf seine adlige Herkunft wie einfältig und ungebildet ist, verschiedene spannende Bücher vorzulesen. Im 16. Kapitel des zweiten Teils entwickelt sich dann zwischen dem Herrn von Lindenberg und dem Schulmeister der folgende Dialog. 439