432: Zum Text des sogenannten ältesten - Hölderlin

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Zum Text des sogenannten ältesten Systemprogramms
des deutschen Idealismus
Von
Dieter Bremer
Nach wechselnden Zuschreibungen an Schelling, Hölderlin und Hegel
scheint sich die Diskussion gegenwärtig auf Hegel als Urheber des
'ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus' zu konzentrieren!
Vielleicht ist es nützlich, ehe erneut Argumente hin- und hergeschoben
und zu den bereits vorliegenden Hunderten von Seiten weitere zur
Diskussion gebracht werden, den in der Handschrift zweiseitigen Text
erneut zu lesen und zu hören - mit der Sorgfalt, die dieser Text verdient.
Der zentrale Satz des Systemprogramms - genau in der Mitte des
überlieferten Manuskripts situiert und das gedankliche Zentrum des
Ganzen bildend - lautet in Hegels Handschrift (Z. 33-36, recto)2: ,,Ich
bin nun überzeugt, daß/ der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie
alle Ideen umfast, ein ästhe- / <sti>tischer Akt ist, und daß Wahrheit und
Güte, nur in der Schönheit ver- / schwistert sind - ". Dieser Satz ist
syntaktisch gestört. Als zentrale Aussage wird üblicherweise angenommen, ,,daß der höchste Akt der Vernunft [...] ein ästhetischer Akt ist".
Diese Aussage ist als Kern der hier vorgetragenen Behauptung dem Satz
dem 1965 bei den Hegel-Tagen in Urbino gehaltenen Vortrag von Otto Pöggeler,
Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. Jetzt in:
Mythologie der Vernunft [wie Anm. 2], 126-143. Für die weitere Forschung wegweisend
die Vorträge der Hegel-Tage Villigst 1969: Das älteste Systemprogramm. Studien zur
Frühgeschichte des deutschen Idealismus, hrsg. von Rüdiger Bubner, Bonn 1973. Eine
komplexe Darstellung der Forschungspositionen seit der Erstpublikation im Jahre 1917
findet sich bei Frank-Peter Hansen, 'Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus'. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989. Beachtenswert ist
die Behutsamkeit in der Beurteilung von Dieter Henrich, der empfiehlt, ,Jn Sachen der
Verfasserfrage die Erörterung nicht mit der Voreile einer weiteren Generation für
abgeschlossen zu halten". So als Nachtrag (1984) zu: Aufklärung der Herkunft des
Manuskripts 'Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus'. In: Mythologie der
Vernunft [wie Anm. 2], 144-169; 162.
2 Text nach der kritischen Edition in: Mythologie der Vernunft. Hegels 'ältestes
Systemprogramm des deutschen Idealismus', hrsg. von Christoph Jamme und Helmut
Schneider, Frankfurt/M. 1984.
1 Seit
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in der vorliegenden Form nicht ohne weiteres zu entnehmen. Gemäß der
Fassung in Hegels Handschrift ist die Aussage „ein ästhetischer Akt ist"
dem mit „der" beginnenden Relativsatz zugehörig: ,,der höchste Akt der
Vernunft, der [...] ein ästhetischer Akt ist". Die eigentliche Behauptung
des Satzes als Überzeugung des Autors - ,,Ich bin nun überzeugt, daß
[...]" - bleibt ohne Fortsetzung. Die angezeigte Störung in einem sonst
syntaktisch störungsfreien Text' erfüllt den Tatbestand einer Korrupte!.
Nach den Gepflogenheiten der Edition, wie sie in der Klassischen
Philologie üblich sind, wäre der Text nach „Vernunft" bis einschließlich
,,Akt ist" mit dem Zeichen für eine crux zu versehen.
Gibt es eine Möglichkeit, die angezeigte crux zu emendieren? Eine
Fortsetzung für die fehlende Aussage des ,daß' -Satzes (,,daß der höchste
Akt der Vernunft [...]") vorzustellen, dürfte nicht leicht fallen - ein
anderer Inhalt der Überzeugung des Autors als die Behauptung, ,,daß der
höchste Akt der Vernunft [...] ein ästhetischer Akt ist", erscheint als
schwer vorstellbar. Wenn man - in Übereinstimmung mit der üblichen
Auslegungstradition - als Fortsetzung des ,daß' -Satzes die Aussage „ein
ästhetischer Akt ist" annimmt, erfordert der Relativsatz eine Ausführung.
Aber abgesehen davon, daß eine wenn auch nur kurze Fortführung des
Dieter Henrich, Systemprogramm? Vorfragen zum Zurechnungsproblem. In: Das
älteste Systemprogramm, hrsg. von Rüdiger Bubner [wie Anm. l], 5-15; 9, sagt in der
Beschreibung des Textes: ,,Er enthält zwar unvollständige Sätze, aber nur von der Art, wie
sie in schnell geschriebenen Briefen häufig eingehen." Die Annahme, daß der Text
„unvollständige Sätze" enthalte, bestätigt sich bei einer Überprüfung nicht. Und wie steht
es mit der folgenden Kennzeichnung: ,,Sorgfältig ist aber nur die Abschrift, nicht der Text
gefaßt"? (Ebd.) Das Manuskript zeigt eine Fülle von Kürzeln und Abkürzungen, die auf
eine schnelle Niederschrift schließen lassen. Dagegen ist die Diktion, trotz der Unausgewogenheit im Sinne einer streng organisierten Komposition, im ganzen wie im einzelnen
sprachlich und syntaktisch wohlüberlegt ausformuliert - bei aller Spontaneität in der
Gedanken- und Wortfolge. Der vorhergehende Satz ,,Zulezt die Idee, die alle vereinigt, die
Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sifie genomen." (Z. 32 f, recto)
bietet eine syntaktische Verkürzung, die als Ellipse ein rhetorisches Ausdrucksmittel der
Gedanken-Emphase ist; sie könnte in dieser elliptischen Form in jeder ausgefeilten
Abhandlung stehen und stellt keinen unvollständigen Satz dar - im Gegenteil: Jede
Ergänzung, von der Art ,Zuletzt kommt die Idee ... ', wäre eine gedankliche und stilistische
Verschlechterung. Der Satz ist in seiner inhaltlich hervorgehobenen Position als Eröffnung
des Gedanken-Gipfels auch stilistisch von der Reihe ,,Endlich komen d[ie] Ideen von einer
moral[ischen] Welt[ ...]" (Z. 26, recto) abgehoben - durch die Ellipse und die gedankliche
Abhebung, die im Absatz ihren graphischen Ausdruck findet. Das Faktum der Absätze
weist übrigens darauf hin, daß ein ausgearbeiteter Text vorliegt - und vermutlich als
Vorlage einer Abschrift bzw. Nachschrift zugrunde gelegen hat.
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Relativsatzes nach „umfast" eine kompliziert verschachtelte Periode
ergäbe, stellt sich hier ein sachliches Problem - ,,der höchste Akt der
Vernunft" ist nicht „ein ästhetischer Akt" dadurch, daß die Vernunft alle
Ideen in sich umgreift bzw. laut Text „indem sie alle Ideen umfast". Die
sachliche Problematik hängt offensichtlich an der modalen Konjunktion
,indem'.
Die Konjekturalkritik hat zur Emendation der Textkorruptel bei dem
inkriminierten Wort anzusetzen. Konjekturalkritik kann bei antiken
Texten davon ausgehen, daß die Abtrennung der einzelnen Wörter auf
der Entscheidung des Herausgebers beruht, insofern nämlich die
handschriftliche Überlieferung eine durchlaufende Buchstabenfolge bietet.
Diese Erfahrung gibt eine gewisse Freiheit beim Herstellen von
sinnvollen Texten, deren Authentizität durch Abschreibfehler gestört ist.
Im vorliegenden Fall bietet sich neben dem Schreibfehler auch die
Möglichkeit des Hörfehlers an. Dazu sei folgendes Experiment mitgeteilt:
Es wurde in einem kleinen Kreis von Klassischen Philologen, die über
keine Spezialkenntnisse des deutschen Idealismus verfügten, der in Frage
stehende Satz vorgetragen; dabei wurde nach zweimaligem Hören die
Korrupte} so korrigiert, daß statt der Modalkonjunktion ,indem' der
4
Relativanschluß ,in dem' gehört wurde. Die vom Schreiber dieses
Textes erzeugte Korrupte} läßt sich also auf die denkbar einfachste Weise
emendieren. Dabei ist nicht nur statt der Modalkonjunktion ,indem' der
Relativanschluß ,in dem' zu lesen, sondern im Zusammenhang damit das
vorhergehende ,der' nicht als Relativpronomen, sondern als explikative
Apposition zu verstehen. Zur Erläuterung des höchsten Aktes der
Vernunft steht „der, in dem sie alle Ideen umfast" als exegetische
Ergänzung, die sich wie folgt paraphrasieren läßt: d.h. derjenige [Akt],
in welchem sie [nämlich die Vernunft] alle Ideen umfaßt.
Durch diese Lesung des Textes ist nicht nur die Korrupte} behoben; der
Satz gewinnt, so verstanden, überhaupt erst einen philosophisch
befriedigenden Sinn. Daß der höchste Vernunftakt dadurch, daß die
Vernunft alle Ideen umfaßt, zum ästhetischen Akt wird, ist nicht mehr
und nicht weniger als philosophischer Halbunsinn. Dagegen erscheint es
argumentativ durchaus sinnvoll, wenn nicht geradezu geboten, daß ,der
höchste Akt der Vernunft' zunächst definitorisch expliziert wird, ehe über
ihn eine Aussage gemacht werden kann. Die in der Tat nicht nur
sinnvolle, sondern sachlich notwendige Erläuterung des höchsten
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Von Niels Christian Dührsen.
Vernunftaktes als desjenigen Aktes, in welchem die Vernunft alle Ideen
umfaßt, geht von einer Bestimmung aus, mit der von Cusanus bis
Nietzsche das Wirken des höchsten Wesens als kontuitiv bezeichnet
wird.5 In der Gegenwendung gegen Kant und nicht ohne Rückbeziehung
auf Spinoza verwenden Schelling und Hölderlin den entsprechenden
Begriff der intellektualen Anschauung. Ein derartiger Vernunftakt, der als
der höchste bezeichnet werden darf, insofern nämlich in ihm - ähnlich
wie in der intellektualen Anschauung oder in der kontuitiven Erkenntnis
des höchsten Wesens - alle Ideen umgriffen sind, wird hier als ,ein
ästhetischer Akt' bestimmt.
Wenn denn auf diese Weise die syntaktische Störung beseitigt und der
Text in seinem Sinn voll verständlich geworden ist, erheben sich alsbald
weitere Fragen. Zunächst sei eine weitere Textstelle herangezogen, an der
es heißt (Z. 22-25, verso): ,,So müssen endlich aufgeklärte u[nd] Unauf/ geklärte sich d[ie] Hand reichen, die Myth[ologie] muß philosophisch
werden, und / das Volk vernünftig, u[nd] d[ie] Phil[osophie] muß
mythologisch werden, um die Philo- / sophen siiilich zu machen." Der
Satz steht in einem Kontext, der die wechselseitige Durchdringung der
Gegensätze von Mythologie und Vernunft im Hinblick auf die Verbindung von Volk und Philosophen vorzeichnet. Der in Frage stehende
Satz stellt diese Verschränkung besonders prägnant dar, und zwar in
exakter Korrespondenz der gegensätzlichen Momente: ,,die Mythologie
muß philosophisch werden [...] und die Philosophie muß mythologisch
werden", lautet die eine Entsprechung; die andere muß lauten „um das
Volk vernünftig" bzw. ,,um die Philosophen sinnlich zu machen". Mit
vollem Recht ist daher bereits von Ludwig Strauß in dem Passus „und
' Der durch Spinoza an die deutschen Idealisten vermittelte Begriff einer scientia
intuitiva stammt aus der cusanisch-neuplatonischenTradition und reicht bis ans Ende der
Metaphysikbei Nietzsche, und zwar dort in der Orientierung an der All-Einheit und i~ der
Verbindung mit dem Ästhetischen - und nicht zufällig in Beziehung auf Heraklit. In
seinem frühen Entwurf 'Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen' schreibt
Nietzsche Heraklit eine „aesthetische Grundperceptionvom Spiel der Welt" (S. 327) zu,
in der „Nothwendigkeitund Spiel, Widerstreit und Harmonie" (S. 325) zusammengehen:
So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an" (S. 324) - ähnlich dem „contuitiven
Gott; für ihn läuft alles Widerstrebendein eine Harmonie zusammen [...]" (ebd.). Wie im
Idealismus die intellektuale Anschauung von Gott auf den Menschen übertragen und mit
dem Ästhetischenverbundenwird, spricht Nietzschediese Anschauungsformauch Heraklit
zu - ,.die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung".Friedrich Nietzsche,Werke. Kritische
Gesamtausgabe,begr. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, hrsg. v. Wolfgang MüllerLauter und Karl Pestalozzi, Bd. III, 2, Berlin 1973, 324-327 bzw. 317.
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das Volle vernünftig" das ,und' durch Konjektur in ,um' verbessert
worden; in seiner Hölderlin-Edition hat sich Friedrich Beißner dieser
Konjektur angeschlossen. 6
Die in der Handschrift gegebene Lesart „und" ist nun aber keineswegs
7
ein bloßer „Schreibfehler Hegels" • Der Schreiber hat sich nicht
gedankenlos verschrieben; er hat sich vielmehr sehr wohl etwas dabei
gedacht und einen sinnvollen Satz produziert - er konnte allerdings nur
das reproduzieren, was er hörte. Es handelt sich um einen typischen
Hörfehler: Solange der ganze Satz noch nicht gehört wird, ist es nicht nur
naheliegend, sondern - aufgrund der Herstellung von sinnvollen
Satzelementen im Hören - geradezu notwendig, ,und' zu schreiben.
Sofern man nicht einen Hörfehler, sondern einen Schreibfehler voraussetzt, muß man folgenden Sachverhalt annehmen: Der Schreiber hat zwar
gedacht und einen sinnvollen Satz hergestellt, aber er hat zu kurz
gedacht; es müßte sich um einen Abschreiber handeln, der nur die
kürzeste Sinneinheit, nicht das Satzganze im Gedanken hat.
Die konjekturalen Veränderungen des in Hegels Handschrift überlieferten Textes stellen Berichtigungen dar, die aufgrund der präzisen
Entsprechungen von Wörtern und Begriffen philologisch geboten sind. Im
Bereich von antiken Texten, die nicht in Form von Autographen
überliefert sind, würden derartige Konjekturen allgemeine Anerkennung
finden. Einen zweifelsfrei als authentisch autorisierten Text eines
Originalmanuskripts allerdings würde kaum ein Philologe konjektural zu
berichtigen wagen - selbst wenn er der Meinung wäre, durch diese
Konjektur den Text zu verbessern. Solange die Verfasserschaft des in
Frage stehenden Textes nicht eindeutig geklärt ist, kann dieser Text in
der vorliegenden Fassung aber nicht als zweifelsfrei autorisiert gelten. Im
Falle einer evidenten Verbesserung darf also konjiziert werden.
Bei den angezeigten Konjekturen handelt es sich um Emendationen,
durch die der jeweilige Textpassus evident verbessert wird: im ersten Fall
syntaktisch berichtigt und philosophisch präzisiert, im zweiten stilistisch
so parallelisiert, daß die Kongruenz des sprachlichen Ausdrucks und die
gegensätzlich verschränkte Korrespondenz der Argumentation einander
entsprechen. Sofern man die beiden Konjekturen anzuerkennen geneigt
ist, erscheint die Textlage in neuem Licht: In beiden Fällen liegt ein
handschriftlicher Befund zugrunde, der am einfachsten als Hörfehler zu
6
7
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StA IV, 299.
So Beißner: StA IV, 426.
erklären ist und nicht als Schreibfehler. Schon bei normaler Diktion, erst
recht aber bei schnellem oder dialektgefärbtem Sprechen ist ,in dem' von
indem' nicht zu unterscheiden - ebensowenig ,um das' von ,und das'.
Was sich an Folgerungen für die Form und die Umstände der Abfassung
des Manuskripts aus dieser Feststellung ergibt, bleibt zu untersuchen.
Zunächst ist zu klären, wie sich die nahegelegte Vermutung eines nach
Diktat mitgeschriebenen Manuskripts zu den Besonderheiten der
Handschrift verhält. Aufgrund des andersartigen Erscheinungsbildes der
Erstentwürfe von Hegels Hand könnte es sich bei der in Frage stehenden
Handschrift entweder um eine Reinschrift des Verfassers nach vorliegenden Skizzen und Notizen handeln; oder um eine Abschrift nach der
Vorlage eines anderen Autors; oder aber um die Nachschrift eines
vorgetragenen Textes. Im ersten wie auch im dritten Fall sind spontane
Textveränderungen nicht auszuschließen. Die Streichung von „enthalten"
und dessen Ersetzung durch „seyn" (Z. 4-5, recto) ist in beiden letztgenannten Fällen denkbar. Die Streichung von „Aberglaubens" und
dessen Ersetzung durch ,,Afterglaubens" (Z. 27, recto) läßt sich verstehen
als Ausdrucksverstärkung, und zwar im ersten Fall als Veränderung durch
den Autor im Zuge seiner Reinschrift oder im dritten Fall als Vorschlag
des Diktierenden bzw. des Mitschreibenden. Der Satzanfang „Man" nach
gestrichenem ,,M" (Z. 2, verso) ist nicht als Nachbildung einer ,,Eigen8
tümlichkeit seiner Vorlage" durch den Schreiber zu verstehen , sondern
drückt vielmehr ein momentanes Suchen nach einem alternativen
Satzbeginn aus. Die übrigen Veränderungen des Manuskripts sind
unspezifisch bzw. lassen sich im Sinne jeder der drei oben genannten
Möglichkeiten deuten. Doch ist noch auf eine orthographische Besonderheit hinzuweisen, die sich am zwanglosesten aus einem Hörakt
erklären läßt - die Junktur „aufgeklärte u[nd] Unauf- /_geklärte" (Z. 2223, verso): Der Mitschreibende des diktierten Textes hat beim Anhören
des ersten der antithetischen Wörter noch keinen Anlaß zur Großschreibung, wohl aber beim Hören des zweiten nach Erfassen der
vollständigen Wortverbindung. 9 Insgesamt weist der Befund auf eine
8 So die abwegige Vennutung von Franz Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm
des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund (1917). In: Mythologie der Vernunft
[wie Anm. 2], 79-125; 86.
9 Die übliche Erklärung der Verschreibung „Lehrerinder <Geschichte>Menschheit"
(Z. 9, verso) als irrtümliche Vorwegnahme des Wortes „Geschichte" aus der nachfolgenden Zeile kann wie für einen Abschreiber ebenso für einen Diktierenden gelten, der
seinen Irrtum nicht sofort korrigiert.
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gewisse Bereitschaft zu spontaner Änderung von Formulierungen,
allerdings nur im Detail und nicht im ganzen. Die sich ergebende
Wahrscheinlichkeit für die Mitschrift eines mündlich vorgetragenen
Textes ist größer als die für die Reinschrift eigener Notizen und
Entwürfe.
Die vorgelegten Hinweise lassen es als unwahrscheinlich erscheinen
daß Hegel der Urheber dieses Textes gewesen ist. Wenn aber Hegel nich;
als der Verfasser des 'ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus' gelten darf - wer dann? Über diese seit nunmehr achtzig Jahren
10
heftig diskutierte Frage ist vielleicht erneut nachzudenken.
Dazu demnächst Dieter Bremer, Schönheit und Dialektik. Hölderlins ästhetischer
Weltentwurf und das griechische Denken.
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Zu einem Brief Neuffers an Hölderlin
Von
Christoph Prignitz
Am 19. März 1789 durfte Christian Ludwig Neuffer das Stift vorzeitig
verlassen und in die Osterferien nach Stuttgart reisen. Von dort aus
schrieb er Hölderlin einen nur noch als Bruchstück erhaltenen Brief nach
Tübingen (StA VII 1, 12-16), in dem zunächst von Schubart die Rede ist.
Dann heißt es: ,,Stäudlin ist wirklich wegen Processen verreißt, er wird
aber dieser Tage hier ankommen. Weil ich ihn nicht antraf, so habe ich
meine alte Bekandtschaft mit seinen Schwestern wieder fortgesezt, bei
denen ich wieder das Amt eines lectoris ordinari werde übernehmen
müssen." (StA VII 1, 12 f.) Neuffer wollte also als ,wohlbestallter
Vorleser' bei Gotthold Friedrich Stäudlins Schwestern Charlotte, Rosine,
die später seine Verlobte werden sollte, und Nannette fungieren. In der
zitierten Form ist die Textstelle in der Stuttgarter Ausgabe abgedruckt.
Im Kommentar wird darauf hingewiesen, in der Handschrift heiße es
„eindeutig" ,,ornari". Ein „Schreibfehler" sei „sicher", deshalb sei die
Konjektur „ordinari" angebracht, zumal die Kontraktion des i im Genitiv
legitim sei. Für „lector ordinarius", so der Kommentar weiter, habe sich
kein Beleg finden lassen. (StA VII 1, 16)
Einen solchen Beleg gibt es allerdings sehr wohl, und zwar in Johann
Gottwerth Müllers Roman 'Siegfried von Lindenberg'. Der gebürtige
Hamburger Müller, der sich nach seinem Domizil im holsteinischen
Itzehoe Müller von Itzehoe nannte, brachte seinen ungemein erfolgreichen satirischen Roman erstmals 1779 in Hamburg heraus und erweiterte
ihn in der zweiten Auflage (1781/82) stark. Die vierte rechtmäßige
Ausgabe erschien in vier Teilen in Leipzig bei Carl Fr. Schneider, die
fünfte folgte bereits im Jahr 1790. ( Nach dieser Ausgabe wird hier
zitiert.) In diesem Text werden die Abenteuer und Schicksale Siegfrieds,
eines pommerschen Junkers, geschildert. Zu Beginn der Handlung
bekommt der Dorfschulmeister den Auftrag, seinem Herrn, der ebenso
stolz auf seine adlige Herkunft wie einfältig und ungebildet ist, verschiedene spannende Bücher vorzulesen. Im 16. Kapitel des zweiten Teils
entwickelt sich dann zwischen dem Herrn von Lindenberg und dem
Schulmeister der folgende Dialog.
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