Behandlung des akuten Koronarsyndroms in der Zentralschweiz – Positionspapier der Arbeitsgruppe Akutes Koronarsyndrom Florim Cuculi, Peiman Jamshidi, Stefan Toggweiler, Raymond Mury und Richard Kobza aus dem Herzzentrum, Luzerner Kantonsspital – im Namen der Arbeitsgruppe Akutes Koronarsyndrom LUKS und Partnerspitäler Weitere Autoren (alphabetisch geordnet): 1Urs Bucher, 2Joannis Chronis, 3Chris Heimgartner, 4Thomas Kaeslin, 5George S. Nager, 1Roman Netzer, 6Bernhard Niggli, 7Jörg Nossen, 8Martin Peter, 2Ian Russi, 6Christian Schüpfer, 9René Simon, 10Christoph Stähli, 4Yves Suter, 11Walter A. Wuillemin, 5Se-Il-Yoon 1Hirslanden Klinik St. Anna, Luzern; 2Herzzentrum Luzern, Luzerner Kantonsspital, 3Kreisspital für das Freiamt Muri; 4Kantonsspital Obwalden; 5Niedergelassene Kollegen; 6Kantonsspital Nidwalden; 7Luzerner Kantonsspital, Sursee; 8Luzerner Kantonsspital, Wolhusen; 9Kantonsspital Uri, Altdorf; 10Spital Schwyz; 11Abteilung für Hämatologie, Luzerner Kantonsspital, Luzern Einführung Die Arbeitsgruppe Akutes Koronarsyndrom LUKS und Partnerspitäler wurde 2014 gegründet, um die Therapie des akuten Koronarsyndroms (ACS) in der Zentralschweiz zu koordinieren und eine möglichst einheitliche Handhabung in der Behandlung dieser Patienten zu erreichen. Am 30. November 2015 traf sich die Arbeitsgruppe zum zweiten Mal zu einem Roundtablemeeting. Die wichtigsten Beschlüsse dieses Treffens, sind in diesem Artikel zusammengefasst. keine Statin-Behandlung haben, erhalten sie in der Regel ein Statin (Bsp. Atorvastatin 40-80 mg per os). Ticagrelor oder Prasugrel beim ACS Ticagrelor (Brilique) und Prasugrel (Efient) bieten entscheidende Vorteile gegenüber Clopidogrel (1) (2). Clopidogrel ist ein sogenanntes Prodrug, das in der Leber variabel metabolisiert wird. Der Wirkungseffekt von Clopidogrel kann (im Gegensatz zu Ticagrelor und Prasugrel) schlechter vorausgesagt werden. Dazu kommt, dass die Wirkung von Ticagrelor und Prasugrel innerhalb von 30 Minuten einsetzt, während Clopidogrel 2–6 Stunden braucht. Dies macht die beiden neueren Medikamente für Patien- Initialbehandlung des ACS Initiale Behandlung des Patienten mit einem ACS Patienten, die sich neu mit einem ACS präsentieren und nicht mit Aspirin vorbehandelt sind, erhalten 500 mg Aspirin i.v. und bei fehlenden Kontraindikationen 5000 E Heparin intravenös. Hat der Patient einen ST-Hebungsinfarkt (STEMI) wird eine Behandlung mit 180 mg Ticagrelor (Brilique) oder 60 mg Prasugrel (Efient) p.o. empfohlen. Bei Patienten mit einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) sollte die medikamentöse Therapie und der Zeitpunkt der invasiven Diagnostik mit dem diensthabenden Kardiologen diskutiert werden. Grundsätzlich gilt, dass Patienten mit persistierenden Beschwerden und/oder persistierender ST-Senkung im EKG mit Ticagrelor/ Prasugrel geloadet und einer dringenden invasiven Diagnostik und Therapie zugeführt werden sollten. Falls die Patienten 16 Luzerner Arzt 105/2016 Bemerkung: Prasugrel kontraindiziert bei folgenden Patienten-Populationen Körpergewicht < 60 kg oder Alter > 75 Jahre oder St. n. zerebrovaskulärem Insult oder St. n. Blutung. ten mit einem ACS sehr attraktiv und die Überlegenheit von Ticagrelor und Prasugrel gegenüber Clopidogrel wurde in zwei grossen, prospektiv randomisierten Studien bewiesen. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) favorisiert klar Ticagrelor und Prasugrel gegenüber Clopidogrel bei Patienten mit ACS (Empfehlung IB). Falls die Patienten mit einem ACS weder Ticagrelor noch Prasugrel tolerieren oder eine orale Antikoagulation brauchen, können sie auch mit Clopidogrel behandelt werden (IB) (3). Obwohl Vergleichsstudien bisher fehlen, bietet Ticagrelor gegenüber Prasugrel gewisse Vorteile in wichtigen Subpopulationen. Während Prasugrel bei Patienten mit St. n. Hirnschlag, Untergewichtigen (< 60 kg) und Patienten > 75 Jahren dosisadaptiert gegeben werden sollte (5 mg/ Tag), bestehen für Ticagrelor praktisch keine Kontraindikationen. Die Nachteile von Ticagrelor sind die zweimalige Gabe und die relativ häufige Dyspnoe (bis 20% der Patienten) (4). Die Frage, ob wir in Zukunft Ticagrelor oder Prasugrel favorisieren wollen, wurde eingehend diskutiert. Die Arbeitsgruppe entschied, dass die Entscheidung, ob mit Ticagrelor oder Prasugrel behandelt wird, beim behandelnden Arzt liegen soll. In der Regel legt der invasive Kardiologe die Therapie nach der durchgeführten Koronarangiographie/PTCA fest. Treten im weiteren Verlauf neue Aspekte auf (Bsp. Blutungskomplikationen, Dyspnoe, Notwendigkeit einer oralen Antikoagulation usw.), kann die Therapie in Rücksprache mit dem behandelnden Kardiologen modifiziert werden. Wird ein Medikament in den ersten 30 Tagen nach ACS umgestellt, empfehlen wir ein erneutes Loading (Bsp. Wechsel von Ticagrelor auf Prasugrel ➔ erste Dosis 60 mg, danach 10 mg einmal täglich). Doppelte Antiplättchentherapie – Wie lange ist gut genug? Die doppelte Antiplättchen-Therapie (DAPT) wurde initial etabliert, um bis zur Endothelialisierung des frisch implantierten Stents ischämische Events (vor allem Stentthrombose) zu verhindern. Die Koronarstents sind in den letzten Jahren besser geworden und die Stentthrombose-Raten sind unter 1% gesunken, weshalb die ESC bei Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK) eine doppelte Antiplättchen-Therapie von 6 Monaten (statt früher 12 Monaten) empfiehlt (5). Beim ACS geht der Trend in die Gegenrichtung. Patienten mit ACS haben ein deutlich höheres Risiko für erneute ischämische Events im Vergleich zu Patienten mit stabiler KHK und eine doppelte Antiplättchen-Therapie scheint eine 18 Luzerner Arzt 105/2016 gute Sekundärprophylaxe zu sein. Zwei randomisierte Studien haben die längerdauernde Behandlung (> 12 Monate) mit einer doppelten Antiplättchen-Therapie untersucht. Die DAPT-Studie randomisierte Patienten die im ersten Jahr nach einer perkutanen koronaren Behandlung (PCI) event-frei geblieben waren, zu 18 Monate Aspirin + Placebo vs. 18 Monate Aspirin + Clopidogrel/Prasugrel (6). Die PEGASUS-TIMI 54 Studie randomisierte Patienten 1–3 Jahre nach einem Myokardinfarkt zu Aspirin + Ticagrelor (90 mg zweimal täglich und 60 mg zweimal täglich) und Aspirin + Plazebo (7). Beide Studien zeigten, dass man mit einer länger dauernden doppelten Antiplättchen-Therapie ischämische Events wie Stent-Thrombose, Myokardinfarkt und Stent-Thrombose verhindern kann. Wie erwartet, traten bei den Patienten mit der länger dauernden doppelten Antiplättchen-Therapie mehr Blutungen auf. In der PEGASUS-Studie war die Inzidenz der relevanten Blutungen 2.6% in der Gruppe mit Ticagrelor 90 mg zweimal pro Tag und 1.06 % in der Plazebo-Gruppe (p<0.001). Eine Reduktion der Mortalität konnte mit einer längerdauernden DAPT-Therapie nicht gezeigt werden. Eine längerdauernde Therapie ist im Einzelfall (hohes Ischämie- aber tiefes Blutungsrisiko) empfohlen (ESC Empfehlung IIb) (3). Eine solche Empfehlung sollte im Koronarangiographie- oder Austrittsbericht notiert und idealerweise zu einem späteren Zeitpunkt nochmals mit dem Patienten diskutiert werden. Triple- oder DoubleTherapie bei Patienten mit oraler Antikoagulation Eine Triple-Therapie mit Aspirin, Clopidogrel und oraler Antikoagulation (OAK) kann in > 25% der Patienten zu einer relevanten Blutung führen (8). Während gastrointestinale Blutungen glücklicherweise meist ohne Langzeitfolgeschäden therapiert werden können, sind intrakranielle Blutungen potentiell gefährlicher und führen häufiger zum Tod. Die WOEST-Studie (1/3 der Patienten hatten ein ACS) zeigte, dass nach einer Stent-Implantation bei Patienten mit oraler Antikoagulation auf Aspirin verzichtet werden kann und eine sogenannte Double-Therapie mit OAK + Clopidogrel genügend ist, um ischämische Events zu verhindern (9). Basierend auf die Resultate der WOEST-Studie entschied die Arbeitsgruppe im 2014 auf eine routinemässige Triple-Therapie zu verzichten und stattdessen die Indikation individuell zu überprüfen. Überwiegt das Blutungsrisiko wird auf eine Triple-Therapie verzichtet und eine Double-Therapie mit Clopidogrel + Marcoumar oder einem direkten oralen Antikoagulans (DOAK) etabliert. Die Patienten werden in einem Register erfasst und nach 3- sowie 12 Monaten nachbefragt. Es wurden in der Periode September 2014 bis November 2015 insgesamt 122 Patienten im Register erfasst und bei 80% eine Double-Therapie mit (D)OAK + Clopidogrel durchgeführt. Die Resultate dieses Registers wurden am Roundtablemeeting diskutiert und werden in den nächsten Monaten publiziert. Wir beobachteten zwei Stent-Thrombosen, die beide innerhalb von Tagen auftraten und whs. eine mechanische Ursache hatten. Die Resultate des Registers bestärken uns im Vorgehen weiterhin jeden einzelnen Fall zu überprüfen und nicht routinemässig eine Triple-Therapie zu etablieren. Bei Patienten folgender Kategorien wird weiterhin eine Triple-Therapie empfohlen: St. n. StentThrombose, PCI aller 3 Koronararterien, Patienten mit starken Verkalkungen und angiographisch nicht optimales Resultat nach PCI. Eine Kombination von Ticagrelor oder Prasugrel mit OAK/DOAK wird nicht empfohlen. Nach Ablauf der empfohlenen Zeitdauer (meistens 12 Monate) kann Clopidogrel gestoppt und bei Patienten mit einer KHK nur mit einer OAK/DOAK Therapie weitergefahren werden. Zurzeit empfiehlt die Arbeitsgruppe Rivaroxaban (Xarelto) oder Apixaban (Eliquis) bei der Behandlung der Patienten mit einer KHK, die eine OAK brauchen. Antikoagulation in der Initialphase des ACS: die Rolle von Fondaparinux Fondaparinux (Arixtra) wird von der ESC zur Behandlung des NSTEMI empfohlen (IB) und wurde 2014 im LUKS Luzern neu eingeführt. Für die Durchführung einer PCI ist das verabreichte Fondaparinux nicht genügend und es muss zusätzlich im Katheterlabor unfraktioniertes Heparin gegeben werden. Da die meisten Patienten, die sich mit einem ACS präsentieren nur wenige Stunden auf die Koronarangiographie warten, empfehlen wir primär die Gabe von unfraktioniertem Heparin. Die Wirkung des Heparins kann relativ einfach im Katheterlabor gemessen und allenfalls Heparin nachgegeben werden. Bei Patienten, die nicht am gleichen Tag invasiv untersucht bzw. primär konservativ behandelt werden, kann Fondaparinux weiter gegeben werden. Zusammenfassung Patienten mit einem ACS erhalten Aspirin 500 mg i.v. und ein Statin. STEMIPatienten werden so früh wie möglich mit Ticagrelor 180 mg oder Prasugrel 60 mg p.o. geloadet und möglichst schnell ins Herzkatheterlabor transferiert. Bei NSTEMI Patienten wird die Gabe von Ticagrelor/Prasugrel sowie der Zeitpunkt der invasiven Diagnostik mit dem Dienstarzt Kardiologie besprochen. In der Regel werden beim NSTEMI nichtbeschwerdefreie Patienten oder solche mit persistierenden ischämischen EKGVeränderungen mit Ticagrelor 180 mg oder Prasugrel 60 mg vorbehandelt und möglichst bald einer invasiven Diagnostik und Therapie zugefügt. Antiplättchen-Therapie nach ACS Normalfall – Ticagrelor (Brilique) 90 mg zweimal täglich für 12 Monate ODER – Prasugrel (Efient) 10 mg einmal täglich für 12 Monate – Umstellen auf Prasugrel 10 mg einmal täglich Ticagrelor Unverträglichkeit – Bei St. nach Blutung, Alter > 75 Jahre alt oder Gewicht (Bsp. Dyspnoe) < 60 kg ➔ Umstellen auf Clopidogrel 75 mg einmal täglich – Erfolgt die Umstellung in den ersten 30 Tagen, dann erneut Loaden mit 60 mg Prasugrel oder 600 mg Clopidogrel DAPT > – Hohes ischämisches Risiko (Bsp. schwere koronare Herz­- 12 Monate erkrankung im jungen Alter, St. n. wiederholtem ACS usw.) und tiefes Blutungsrisiko ➔ In Einzelfällen DAPT-Therapie bis 3 Jahre nach ACS empfohlen Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Florim Cuculi Leitender Arzt und Leiter Akutkardiologie Herzzentrum Luzern, Luzerner Kantonsspital Tel. +41 41 205 21 34 [email protected] Patienten mit – Einzelfall-Assessment, ob Triple-Therapie notwendig nach oraler eingehender Prüfung des Risikos: Blutung vs. Ischämie Antikoagulation – Kombination Marcoumar + Clopidogrel oder DOAK + Clopidogrel für 12 Monate – Triple-Therapie für 1 Monat bei Patienten mit St. n. Stent- Thrombose, nach PCI aller 3 Koronararterien, Patienten mit nicht optimalen angiographischem Resultat (schwere Verkalkungen) – Falls Triple-Therapie dann: Marcoumar oder (DOAK) + Clopidogrel + Aspirin cardio für 1 Monat, danach (D)OAK + Clopidogrel für 12 Monate weiter. – Nach Ablauf von 12 Monaten: Marcoumar oder (D)OAK Dauertherapie • DAPT = Doppelte Antiplättchen-Therapie • DOAK = Direkte orale Antikoagulantien: zurzeit empfiehlt die Arbeitsgruppe Rivaroxaban (Xarelto) oder Apixaban (Eliquis) bei ACS und Notwendigkeit einer oralen Antikoagulation. Referenzen 1. Wiviott SD, Braunwald E, McCabe CH et al. Prasugrel versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. N Engl J Med 2007;357:2001-15. 2. Wallentin L, Becker RC, Budaj A et al. Ticagrelor versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. N Engl J Med 2009;361:1045-57. 3. Roffi M, Patrono C, Collet JP et al. 2015 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation: Task Force for the Management of Acute Coronary Syndromes in Patients Presenting without Persistent ST-Segment Elevation of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2016;37:267-315. 4. Unverdorben M, Parodi G, Pistolesi M, Storey RF. Dyspnea related to reversibly-binding P2Y12 inhibitors: A review of the pathophysiology, clinical presentation and diagnostics. Int J Cardiol 2016;202:167-73. 5. Authors/Task Force m, Windecker S, Kolh P et al. 2014 ESC/EACTS Guidelines on myocardial revascularization: The Task Force on Myocardial Revascularization of the European Society of Cardiology (ESC) and the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS)Developed with the special contribution of the European Association of Percutaneous Cardiovascular Interventions (EAPCI). Eur Heart J 2014;35:2541-619. 6. Mauri L, Yeh RW, Kereiakes DJ. Duration of dual antiplatelet therapy after drug-eluting stents. N Engl J Med 2015;372:1373-4. 7. Bonaca MP, Bhatt DL, Cohen M et al. Longterm use of ticagrelor in patients with prior myocardial infarction. N Engl J Med 2015;372:1791-800. 8. Paikin JS, Wright DS, Crowther MA, Mehta SR, Eikelboom JW. Triple antithrombotic therapy in patients with atrial fibrillation and coronary artery stents. Circulation 2010;121:2067-70. 9. Dewilde WJ, Oirbans T, Verheugt FW et al. Use of clopidogrel with or without aspirin in patients taking oral anticoagulant therapy and undergoing percutaneous coronary intervention: an open-label, randomised, controlled trial. Lancet 2013;381:1107-15. +++ Clever einkaufen +++ www.doxmart.ch +++ Clever einkaufen +++ www.doxmart.ch +++ Die aktive Einkaufsgemeinschaft von Ärzten für Ärzte für Medikamente, Praxiszubehör, Röntgenfilme, Büromaterial, etc. U n ser Z iel : c l ev er ein k au fen ! Infos unter www.doxmart.ch +++ Clever einkaufen +++ www.doxmart.ch +++ Clever einkaufen +++ www.doxmart.ch +++ 20 Luzerner Arzt 105/2016