ADHS im Jugend- und jungen Erwachsenenalter Klinik-Diagnostik-Therapie Referat Kinderklinik Bern 30. Mai 2013 Dr. phil. Markus Stucki Mythen zu Adoleszenz und ADHS • Die ADHS wächst sich bis zur Pubertät aus • In der Adoleszenz dürfen wegen Suchtgefahr keine Medikamente mehr gegeben werden. Gedanken der Jugendlichen • Mich mag niemand • Die Eltern verstehen mich nicht! • Die Eltern nerven! • So schnell wie möglich weg hier. • Die wollen mich mit Drogen vollstopfen! • Ich bin alleine! • Ich habe keine Lust! Gedanken der Eltern • Wann hört das endlich auf! • Wie kann man nur so starrköpfig und aufsässig sein! • Wir halten das nicht mehr aus! • So hat er keine Zukunft! • Wen bringt denn unsere Tochter da mit? Gedanken der Ausbildner • Diese Arbeitshaltung dulde ich nicht mehr lang! • Warum tun die Eltern nichts! • Schade um diesen Jungen Facts aus der Forschung: Risiken von ADHS betroffenen Erwachsenen • • • • • • Spielsucht Unfallrisiko Nikotinabusus Berufliche Probleme Beziehungsprobleme Risiko für Kriminalität Biedermann, J. et al. Am. J. Psychiatry. 2010 Apr; 167 (4) 409-417 Hammermess, P. et. al. J. Pediatr. 2013 Jan 162 (1) 22-27 Kuriyan, AB., et al. J. Abnorm Child Psychol 2013 Jan 41 (1) 27-41 Montano , CB & Young J. Postgrad Med. 2012 Sept. 124 (5) 23-32 Inhalt • • • • • • Klinik Diagnostik Intervention Fälle Wichtig für den Praktiker Fragen / Diskussion Klinik • Häufig Verminderung der Hyperaktivität und Impulsivität • Innere Unruhe und Rastlosigkeit • Ablenkbarkeit • Verstärkung der komorbiden Symptomatik Kernsymptomatik im Wandel: Nach: Stadler, Ch. ADHS und komorbide Störungen bei Jugendlichen. Psychiatrie & Neurologie 2/13 Unaufmerksamkeit Kindesalter: Kurze Konzentration auf Spiel oder Beschäftigung, leichte Ablenkbarkeit, geringe Spielintensität oder Aufmerksamkeitsspanne Jugendalter: Mangelnde Aufmerksamkeit- und Konzentrationsprobleme, deutliche Defizite in der Selbstorganisation Erwachsenenalter: Schlechtes Zeitmanagement, Vermeiden von Aufgaben, Delegieren, Prokrastination, Desorganisation, hohe Stressintoleranz Kernsymptomatik im Wandel: Hyperaktivität Kindesalter: Unvermögen ruhig zu spielen oder sich ruhig zu beschäftigen beschäftigen, nicht still sitzen, motorische Unruhe, exzessives Herumrennen und Klettern Jugendalter: Verminderung der motorischen Unruhe , Gefühl der „inneren Unruhe“ Erwachsenenalter: Häufiges Wippen mit den Füssen, Fingertrommeln, Herumspielen mit Stiften, Teilweise adaptives Verhalten (viele Aktivitäten in Beruf und Freizeit). Kernsymptomatik im Wandel: Impulsivität Kindesalter: Mit Antworten Herausplatzen, nicht warten können, bis man dran kommt, andere stören und unterbrechen. Jugendalter: Mangelnde Selbstregulierungsfähigkeit, deutliche Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle Erwachsenenalter: Affektlabilität und – kontrolle. Impulsives und riskantes Fehlverhalten. Kernsymptomatik im Wandel: Begleitende Schwierigkeiten Kindesalter: soziale Probleme mit Gleichaltrigen, problematische Eltern-KindInteraktion Jugendalter: Ausbleiben von Schulerfolg und komplexe Lernprobleme: Schulverweise, Schuloder Lehrabbrüche hohes Risikoverhalten und hohe Unfallhäufigkeit Erwachsenenalter: Schwierige berufliche Integration und niedriger beruflicher Status, häufig partnerschaftliche Probleme Verstärkung der komorbiden Symptomatik • Selbstwertproblematik • Depressive Verstimmungen • Eingeschränkte Leistungsmotivation • Leistungsängste • Soziale Defizite (z.B. Rückzug) • Drogenabusus • Aggressivität ( z.B. oppositionelles Verhalten, Kriminalität) Diagnostik Primär KLINISCHE Diagnose • Klinisches Bild • Anamnese • Tests, Fragebogen Diagnostisches Vorgehen Diagnostische Schritte Feststellen der aktuellen ADHS-Symptomatik Beurteilen, ob klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen vorhanden sind Leitfragen Liegen aktuell relevante Symptome vor, welche die ADHS-Kriterien (gemäss DSM-IV oder ICD-10) erfüllen? Führen die Symptome zu klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen („impairments“) in mehreren Lebensbereichen (z.B. in der Schule bzw. im Kindergarten / in der Familie / bei Haushaltaufgaben / im Sportverein?) Die Entwicklungsgeschichte der ADHS festhalten Sind (einzelne) ADHS-Symptome bereits vor dem 6. Altersjahr erkennbar? Ausschluss alternativer Störungsursachen sowie Feststellen komorbider Störungen Können die geschilderten ADHS-Symptome besser durch ein anderes Störungsbild erklärt werden? Sind zusätzliche Störungen vorhanden? Diagnostische Kriterien für eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM IV A Entweder (1) oder (2) müssen zutreffen: (1)sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmass vorhanden gewesen: Unaufmerksamkeit (1) beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der oder bei anderen Tätigkeiten Arbeit (2) hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrecht zu erhalten (3) scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen (4) führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder Verständnisschwierigkeiten) (5) hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren (6) vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauerndegeistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben) (7) verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug) (8) lässt sich durch äussere Reize leicht ablenken (9) ist bei Alltagsaktivitäten häufig vergesslich (1)sechs (oder mehr) der folgenden Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmass vorhanden gewesen: (2.)sechs (oder mehr) der folgenden Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmass vorhanden gewesen: Hyperaktivität (1) zappelt häufig mit Händen und Füssen oder rutscht auf dem Stuhl herum (2) steht in der Klasse oder anderen Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird, häufig auf (3) läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben) (4) hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich in Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen (5) ist häufig „auf Achse“ oder handelt oft, wie durch einen Motor angetrieben (6) redet häufig übermässig viel Impulsivität (1) platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist (2) kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist (3) unterbricht und stört andere häufig (platzt z.B. in Gespräche oder Spiele anderer hinein) B Einige Symptome der Hyperaktivität/Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigung verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf. C Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause). D Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Bereichen vorhanden sein. E Symptome treten nicht im Verlauf einer tief greifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder psychotischen Störung auf und können nicht durch eine andere psychische Erkrankung besser erklärt werden (z.B. affektive Störung, Angststörung, dissoziative oder Persönlichkeitsstörung). ADHS in ICD-10 und DMS IV Codiert werden nach DSM-IV und ICD-10 je nach Subtypus: 314.00 Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unaufmerksamer Typus Liegt vor, wenn Kriterium A1, nicht aber Kriterium A2 während der letzten 6 Monate erfüllt war Entspricht ICD-10 F98.8: „Sonstige näher bezeichnete Verhaltensoder emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend / Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität“ 314.01 Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyperaktivimpulsiver Typus Liegt vor, wenn Kriterium A2, nicht aber Kriterium A1 während der letzten 6 Monate erfüllt war Entspricht ICD-10 F90.1: „Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ 314.01 Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus Liegt vor, wenn die Kriterien A1 und A2 während der letzten sechs Monate erfüllt waren Entspricht ICD-10 F90.0, „Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ 314.9 Nicht näher bezeichnete Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung Störungen mit deutlichen Symptomen von Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität/Impulsivität, welche die Kriterien für eine Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperak-tivitätsstörung erfüllen (z.B. Beginn der Störung später als mit 7 Jahren; Verhaltensmuster mit Schwerfälligkeit, Tagträumen und Hypoaktivität) Entspricht ICD-10 F90.9: „Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet“ Bei Personen (besonders Jugendlichen und Erwachsenen), die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Symptome zeigen, aber nicht mehr alle Kriterien erfüllen, wird „teilremittiert“ spezifiziert. Psychologische Test /Fragebogen • IQ: z.B. WISC/ WIE • Aufmerksamkeit: z.B. TAP • Fragebogen: z.B. Brown, Barkley, Wender-UtahRating-Scale (WURS-k) Interventionen • • • • Medikation Psychoedukation Coaching Psychotherapie falls notwendig Psychoedukation • Der Betroffene • Das Umfeld (ev. Inkl. Arbeitgeber) Wichtige Bereiche im Coaching • Finanzen • Zeitmanagement • Lernen Fälle • Jonas JG 94 • Daniel JG 94 Jonas, Diagnose GG 404 mit 8 Jahren Säuglings- und Kindesalter • Termin Zangengeburt • Eher beschleunigte PM Entwicklung (setzt mit 3 Puzzles mit hundert Teilen zusammen, kennt mit 4 die Buchstaben) • Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z.B. Milch) • Ausgeprägte Einschlafstörungen, die bis in die Adoleszenz persistieren • Ab 2 ½ Jahren ausgeprägte ADHS-Symptome • Erzieherisch extrem schwierig (kaum führbar) • Ausgeprägte Probleme im Sozialkontakt (zerstört den andern Kindern Spielsachen • Mit 6 Jahren Suicidäusserungen Jugendalter und Adoleszenz • • • • Exzessiver PC-Spiel und TV-Konsum Episoden von exzessivem Alkoholkonsum Cannabisabusus Weder Zuhause noch im Heim tragbar wegen extremem oppositionellem Verhalten, deshalb immer wieder Wechsel des Settings • Comorbide Symptomatik: psychotische Episode, Zwänge und Ängste (Leistungsängste, Angst nicht normal zu sein) • Mobbingopfer und Mobbingtäter Leiden der Eltern und des Bruders • Die Eltern sind beide sehr engagiert • Die Mutter reagiert mit Aktivismus und schliesslich mit einer Depression auf die Situation • Der Vater reagiert mit einer schweren Depression • Die Eltern trennen sich • Der 3 Jahre jüngere Bruder wird häufig von Jonas geplagt, bekommt durch die Problematik des Bruders zu wenig Zuwendung und wird später selbst auffällig. Fachpersonen • • • • • Kinderärzte Psychiater Heilpädagogen Psychologen Sozialpädagogen Therapien • Medikamente (Methyphenidat-Päparate, Noveril, Melatonin u.a.) • Kinesiologie • Ergotherapie • Bioresonanztherapie • Psychotherapie • Heilpädagogische Unterstützung Schulen/Institutionen • • • • • • Bis zur 5. Klasse in der öffentlichen Schule Sonderschulheim (2 Jahre) Abklärung Tagesklinik Neuhaus Kleine Privatschule (1 Jahr) Privatschule (2 Jahre) Berufsausbildung als Informatiker an einer Informatikschule Situation heute • Besucht die Informatikschule nun im 3. Jahr erfolgreich, erbringt gut Schulleistungen und erledigt schon selbständig Kundenaufträge • Wohnt beim Vater • Psychotherapie im 2010 abgebrochen • Wird immer noch medikamentös behandelt (mit Stimulanzien) Meine Rolle (Einstieg als Jonas 10 Jahre alt ist) • Beratung der Eltern und der involvierten Institutionen • Initiieren von weiteren Abklärungen und Umplazierungen • Psychotherapie mit Jonas vor allem Arbeit an den Ängsten und Zwängen Daniel, Diagnose GG 404 mit 6 Jahren Säuglings- und Kindesalter • • • • • • • Unauffällige Schwangerschaft und Säuglingsalter Braucht wenig Schlaf Persistierende Enuresis nocturna Erhält schon im Vorschulalter Musikunterricht Einschulung über Einführungsklasse Fällt durch grosses Allgemeinwissen auf Orthographieschwäche, Ablenkbarkeit, rasche Ermüdbarkeit, auditive Merk- und Differenzierungsfähigkeit, IQ 120 • Ergotherapie und medikamentöse Therapie mit Methylphenidat Jugendalter und Adoleszenz • In der Sek sind die Leistungen extrem schwankend • Ist weiter Einzelgänger und leidet darunter • Wenn irgendwo ein Streich gespielt wird oder ein Auseinandersetzung stattfindet ist Daniel immer dabei • Spielt neu Gitarre und hat grossen Erfolg • Landet nach Konsum von mit Cannabis versetzten Biskuits auf der Notfallstation • In Abwesenheit der Eltern fährt er mit einem Verwandten den Töff seines Vater und wird von der Polizei erwischt • In einem 10. Schuljahr an einer Privatschule stürzt er völlig ab. • Beim Schnuppern in einem Fachgeschäft ist er unzuverlässig. • Vorlehre als FaGe Eltern • Die Mutter ist extrem engagiert bis überprotektiv • Vater ist bodenständig und vermittelt manchmal zwischen Sohn und Mutter Situation heute • Absolviert eine Lehre als FaGe • Probleme mit den Finanzen • Das Gitarrenspiel ist wichtiger Ausgleich Meine Rolle (Einstieg als Daniel 8 war) • Beratung der Eltern und Lehrkräfte • Therapie /Coaching: Auseinandersetzung mit dem Anders-Sein, Zeitmanagement, Verhalten in sozialen Situation, Umgang mit Geld, Vermitteln bei Konflikten mit der Mutter • Die Behandlung dauert an, Termine in unregelmässigen Abständen Zusammenfassung „Clinicians should focus on early diagnosis and treatment of adolescent ADHD because it ist a major predictor of an array of physical, mental, work, and financial problems in adulthood.“ Brook JS., Brook, DW., Zhang, C., Seltzer, N., Finch, SJ. (2013). Journal of Pediatrics, Jan 131(1), 5-13 Daraus folgt • • • • Bescheid wissen Aktiv Begleiten Beraten und Aufklären Weichen stellen Literatur / Internet • • • • • Aust-Claus, E. & Hammer, P.-M. Das A-D-S – Buch. Ratingen: Oberstebrink 1999. Döpfner M., Fröhlich J. & Lehmkuhl G. Ratgeber hyperkinetische Störungen. Göttingen: Hogrefe 2000 Hallowell E. M. & Ratey J. J. Zwanghaft zerstreut. ADD – Die Unfähigkeit aufmerksam zu sein. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998. Neuhaus C. Hyperaktive Jugendliche und ihre Probleme. Berlin: Urania 1999 Internet: ADHS.ch /SFG-ADHS.ch