Finanzmathematik Vorlesung SS 2005 Jürgen Dippon Institut für Stochastik und Anwendungen Universität Stuttgart Homepage der Vorlesung: www.isa.uni-stuttgart.de/lehre/fm Version vom 29. Juli 2005 J. Dippon 1 1. Einführung Die klassische Finanzmathematik beschäftigt sich in erster Linie mit grundlegenden Finanzinstrumenten oder Anlageformen (basic securities) • Aktien (stocks) • festverzinsliche Wertpapiere (bonds) • Währungen (foreign exchange) • Rohstoffe (commodities) • Energie J. Dippon 2 Die moderne Finanzmathematik untersucht derivative Finanzinstrumente (derivatives, derivative securities, contingent claims), die von einfacheren Finanzinstrumenten (underlyings) abgeleitet werden. Beispiele für Derivate: • Optionen (options, contingent claims) • Forwards • Futures J. Dippon 3 Geschichte • 17. Jahrhundert in den Niederlanden: Put-Optionen auf Tulpen • 18. Jahrhundert in London: Problem — kein gesetzlicher Rahmen beim Ausfall eines Vertragspartners • 1930: Gesetzliche Regulierung • 1970: Bedeutende Zunahme von Termingeschäften • 1973: Gründung der Chicago Board Options Exchange • 1990: Deutsche Terminbörse (DTB) nimmt Handel mit Optionen auf • 1998: Fusion der DTB mit der SDFEX (Schweizerische Terminbörse) zur EUREX J. Dippon 4 Wissenschaftliche Untersuchung • 1900: Louis Bachelier modelliert in seiner Dissertation “Theorie de la spéculation” den Aktienkurs als Brownsche Bewegung • 1965: Paul Samuelson modelliert den Aktienkurs als geometrische Brownsche Bewegung • 1973: Fischer Black und Myron Scholes geben explizite Formeln zur Optionspreisbewertung an — unabhängig davon auch Robert Merton • 1981: M. Harrison und S. Pliska führen Martingalmethoden in die Optionspreisbewertung ein • 1997: Ökonomie-Nobelpreis für Scholes und Merton (Black 1995 gestorben) J. Dippon 5 Quantitative Fragen • Bewertung (pricing) von Derivaten • Hedging Strategien für Derivate (Absicherung) • Risikomanagement von Portfolios • Portfoliooptimierung • Modellwahl und Kalibrierung J. Dippon 6 Aktuelle Fragestellungen • Verbesserung der Modellierung der Underlyings: Lévy Prozesse, fraktale Brownsche Bewegung, Sprünge in den Aktienkursen, InsiderInformation, stochastische Volatilitäten, . . . • Modellierung des Korrelationsrisikos in großen Portfolios • Bewertungsmethoden für hochdimensionale und pfadabhängige Auszahlunsprofile in komplexeren Modellen • Energiederivate • Modellierung der Marktliquidität und des Ausfallrisikos J. Dippon 7 Grundbegriffe Finanzinstrumente: • primäre Finanzinstrumente: Basisgüter • sekundäre Finanzinstrumente: Derivate Definition 1.1. Ein Derivat ist ein Finanzinstrument, dessen Wert zum Verfallszeitpunkt T (expiry date) vom Wert eines einfacheren Finanzinstruments (underlying) zum Zeitpunkt T (oder auch vom Werteverlauf bis zum Zeitpunkt T ) abhängt. J. Dippon 8 Beispiele für Basisgüter (underlying securities) • Aktien (stocks) • Zinsraten (interest rates) • Währungen (currencies) • Rohstoffe • Wetter • Indizes wie DAX, Dow Jones, CAT-Index (catastrophe losses) Die Preisentwicklung eines Basisgutes wird üblicherweise mit S = (St) = {St | t ≥ 0} bezeichnet. J. Dippon 9 Festverzinsliche Wertpapiere Startkapital zum Zeitpunkt t = 0: B0 Bei jährlicher Zinsausschüttung mit Zinsrate r per annum: Kapital nach t = n Jahren Bn(1) = B0(1 + r)n Zinsausschüttung nach Kapital nach n Jahren 1 k Jahren und Zinsrate Bn(k) = B0 r k pro 1 k Jahre: r nk 1+ k Bei stetiger Verzinsung mit sog. short rate r: Kapital nach n Jahren Bn := lim Bn(k) = B0enr k→∞ J. Dippon 10 Märkte: • Börsen • OTC (Over-the-Counter) Typen von Händlern: • Hedgers versuchen ihre Institution gegen Risiken abzusichern • Spekulanten versuchen durch “Wetten” Profit zu machen • Arbitrageure versuchen durch simultane Transaktionen auf verschiedenen Märkten Profit aus Kursdifferenzen zu ziehen J. Dippon 11 Modellannahmen (perfekter Finanzmarkt) • reibungsloser Markt: keine Transaktionskosten, keine Steuern, keine Einschränkungen für short sales, Kaufs- und Verkaufspreise sind identisch • kein Ausfallrisiko, Soll- und Habenzinsen sind identisch • Wettbewerbsmarkt: der Preis wird vom Markt und nicht von einzelnen Marktteilnehmern festgelegt • Kapitalanlagen sind beliebig teilbar • NO ARBITRAGE!!! J. Dippon 12 Short Selling ist eine Handelsstrategie, bei der der Investor Objekte, z.B. Aktien, die ihm nicht selbst gehören, von einem Partner für eine gewisse Zeit ausleiht, diese verkauft, später wieder zurückkauft und an den Partner zurückgibt. In der Zwischenzeit anfallende Erträge des Objekts (z.B. Dividenden) muss der Investor an den Partner erstatten. Short Selling ist nur dann für den Investor interessant, wenn der Rückkaufswert St (deutlich) kleiner als der Verkaufswert S0 ist. Short Selling ist in der Praxis zahlreichen Restriktionen unterworfen. Ein Portfolio ist eine Kombination mehrerer Finanzinstrumente, deren Wertentwicklung als Ganzes gesehen wird. J. Dippon 13 Finanzmärkte bieten • risikolose Anlagen (z.B. festverzinsliche Wertpapiere) • risikobehaftete Anlagen (z.B. Aktien) Ein Anleger ist nur bereit, in risikoreichere Anlagen zu investieren, wenn er die Möglichkeit sieht, einen höheren Profit als in risikoärmeren Anlagen zu erzielen. Arbitrage ist die Möglichkeit, ohne Kapitaleinsatz einen risikolosen Profit zu erzielen (formale Definition später). Würde diese Möglichkeit bestehen, so könnte man damit risikolos riesige Geldsummen erwirtschaften. Märkte im Gleichgewicht neutralisieren solche Arbitrage-Möglichkeiten. Es wird sich zeigen, dass die No-Arbitrage-Annahme direkt zu einer Methode zur Bewertung von Derivaten führt. J. Dippon 14 Beispiel eines einfachen Derivates: Definition 1.2 Ein Forward-Kontrakt (Terminkontrakt) vereinbart den Kauf oder Verkauf eines Finanzgutes zu einem festen zukünftigen Zeitpunkt T (delivery date) zu einem festen Preis K, dem sog. Terminkurs (delivery price, strike price). Der Wert VK,T (St, T − t) des Forward zur Zeit t hängt von dem aktuellen Wert St des zugrundeliegenden Finanzgutes, der Restlaufzeit T − t, dem Terminkurs K und dem Laufzeitende T ab. Der Forward-Preis Ft ist definiert als derjenige Terminkurs, welcher den Wert VFt,T (St, T − t) des Forward-Kontraktes (zum Zeitpunkt t, Spot-Preis St und Restlaufzeit T − t) zu Null macht: VFt,T (St, T − t) = 0 Bei Vertragsabschluss (t = 0) wählt man als Terminkurs K häufig den J. Dippon 15 Forward-Preis zum Zeitpunkt t = 0: K = F0 long position: Eingehen des Kaufkontraktes short position: Eingehen des Verkaufskontraktes J. Dippon 16 K St T T −t VK,T (St, T − t) Ft J. Dippon Terminkurs (delivery price) Spot-Preis (spot price) des Finanzgutes (zum Zeitpunkt t) Fälligkeit (delivery date, expiration date, maturity) Restlaufzeit (time to maturity) Wert des Forward zum Zeitpunkt t Forward-Preis 17 Beispiel Ein Investor erwirbt am 1. September einen Forward-Kontrakt mit dem Inhalt, in 90 Tagen 106 e zum Umtauschkurs von 0.9 US $ zu kaufen. Falls der Kurs nach Ablauf der 90 Tage auf 0.95 $ gestiegen ist, gewinnt der Investor 5 · 104 $, da 106 e dann am Markt für 0.95 · 106 $ verkauft werden können. Hier also t = 1. September T − t = 90 Tage T = 30. November K = 0.9 · 106 $ J. Dippon 18 Pay-off-Profil (Auszahlungsprofil) eines Forward-Kontraktes zur Zeit T : payoff long position K ST short position Pay-off eines Forward-Kontraktes zum Laufzeitende T : Pay-off eines Forward-Verkaufskontraktes zum Laufzeitende T : J. Dippon ST − K K − ST 19 Problem: Bestimmung des “richtigen” Forward-Wertes, damit FT einen “fairen” Terminkurs darstellt Wir zeigen: Es liege ein perfekter Markt vor, die Zinsrate r sei während der Laufzeit konstant und das Objekt werfe weder Erträge ab noch verursache Kosten. Dann gilt für den Wert V (s, T − t) des Forwards zur Zeit t und aktuellem Kurs St = s des zugrundeliegenden Objektes und Restlaufzeit T − t: V (St, T − t) = VK,T (St, T − t) = St − Ke−r(T −t) Für den Forward-Preis gilt also Ft = Ster(T −t) Beachte: Es wurden keine Annahmen über die Kursentwicklung von (St) gemacht! J. Dippon 20 Forwards sind nicht standardisiert und bergen das Risiko in sich, dass eine Vertragsseite ausfällt (default risk). Sie werden deshalb an Börsen kaum gehandelt, sondern nur “over the counter” (OTC). Eine Variante sind Futures, welche in standardisierter Form an Börsen gehandelt werden. Hierbei wird, z.B. täglich, die Wertveränderung des Futures (aufgrund von Wertänderungen des zugrundeliegenden Finanzgutes) zwischen den Vertragsparteien ausgeglichen, so dass der Wert des Futures anschließend wieder gleich Null ist. Unter schwachen Voraussetzungen stimmen Terminkurse (delivery prices) von Forwards und Futures überein. Futures werden z.B. an der CBOT gehandelt. J. Dippon 21 Ein etwas komplizierteres Derivat: Definition 1.3 Eine Option gibt dem Käufer das Recht, ein bestimmtes Finanzgut bis zu einem zukünftigen Verfallszeitpunkt T (expiry, maturity) zu einem vereinbarten Ausübungspreis K (strike price) zu kaufen oder verkaufen. Der Optionskontrakt beinhaltet im Unterschied zum Forward oder Future jedoch nicht die Pflicht zur Ausübung. Beim Kaufrecht wird die Option als Call (Kaufoption), beim Verkaufsrecht als Put (Verkaufsoption) bezeichnet. Ist die Ausübung der Option nur zum Verfallszeitpunkt T möglich, so spricht man von einer europäischen Option. Kann die Option jederzeit bis zum Zeitpunt T ausgeübt werden, wird diese amerikanische Option genannt. Der Käufer befindet sich in einer long position, der Verkäufer befindet sich in einer short position. J. Dippon 22 Pay-off einer long position bei einem Call zum Verfallszeitpunkt T payoff K ST Pay-Off = (ST − K)+ = max{ST − K, 0} = max{ST , K} − K J. Dippon 23 Sei t ≤ T . S(t) < K : die Option ist out of the money S(t) = K : die Option ist at the money S(t) > K : die Option ist in the money Problem: Wie lautet der “faire” Preis C0 und P0 für eine Call- bzw. Put-Option? J. Dippon 24 Gewinn (yield) einer long position bei einer Call-Option yield K −C0 J. Dippon K+C0 ST 25 Beispiel Markt mit drei Anlagemöglichkeiten: • (risikoloser) Bond B • Aktie S • europäische Call-Option mit Strike K = 1 und Expiry t = T auf die Aktie S Investition zum Zeitpunkt t = 0 mit Preisen (in e) • B(0) = 1 • S(0) = 1 • C(0) = 0.2 J. Dippon 26 Zum Zeitpunkt t = T soll sich die Welt (der Markt) in nur zwei möglichen Zuständen befinden können: u (= up) oder d (= down) mit Preisen (in e) B(T, u) = 1.25, S(T, u) = 1.75, also C(T, u) = 0.75 und B(T, d) = 1.25, S(T, d) = 0.75, also C(T, d) = 0 Startkapital sei 25 e. J. Dippon 27 Portfolio A : t = 0 Anlage Bond Aktie Call Anzahl 10 10 25 Betrag in e 10 10 5 25 Portfolio A : t = T Anlage Bond Aktie Call J. Dippon up 12.5 17.5 18.75 48.75 down 12.5 7.5 0 20.0 28 Portfolio B : t = 0 Anlage Bond Aktie Call Anzahl 11.8 7 29 Betrag in e 11.8 7 5.8 24.6 Portfolio B : t = T Anlage Bond Aktie Call J. Dippon up 14.75 12.25 21.75 48.75 down 14.75 7.5 0 20.0 29 Offensichtlich existiert in diesem Markt eine Arbitrage-Möglichkeit, da Portfolio A und Portfolio B denselben Gewinn erwirtschaften — Portfolio B jedoch mit einem geringeren Einsatz! =⇒ Call-Option besitzt falschen Preis! Stelle zum Zeitpunkt t = 0 das Differenzportfolio C auf: Portfolio C := Portfolio B − Portfolio A = (11.8, 7, 29) − (10, 10, 25) = (1.8, −3, 4) J. Dippon 30 Portfolio C zum Zeitpunkt t = 0: Anlage Bond Aktie Call Aktion Kaufe 1.8 Einheiten Verkaufe 3 geliehene Einheiten, welche zum Zeitpunkt t = T wieder zurückgegeben werden kaufe 4 Einheiten -1.8 3 -0.8 0.4 Dies ergibt zum Zeitpunkt t = 0 einen Gewinn von 0.4 e. Portfolio C zum Zeitpunkt t = T : Anlage Bond Aktie Call J. Dippon Aktion Verkaufe 1.8 Einheiten Kaufe 3 Einheiten zurück Option ausüben, falls sinnvoll up 2.25 -5.25 3 0 down 2.25 -2.25 0 0 31 Zum Zeitpunkt t = T ist das Portfolio C also ausgeglichen. Zum Zeitpunkt t = 0 wurde damit ein risikoloser Gewinn von 0.4 e realisiert. Weitere Beobachtung: Mit 1.8 Bonds und 3 Aktien short kann die Wirkung der Call-Option zum Zeitpunkt t = T neutralisiert werden. Man sagt: Die Bond- und die Aktienposition bilden einen Hedge gegen die Position des Calls. Dies gilt unabhängig davon, wie groß die Wahrscheinlichkeiten für den Zustand up/down der Welt sind! J. Dippon 32 Effekte der Parameter auf den Wert einer europäischen Option Vergrößern des Parameters Aktienpreis S(T ) Ausübungspreis K Volatilität Σ Zinsrate r Verfallsdatum T J. Dippon Call ↑ ↓ ↑ ↑ ↑ Put ↓ ↑ ↑ ↓ ↑ 33 Put-Call-Parität Seien St der Spot-Preis einer Aktie, Ct und Pt die Werte von auf der Aktie definierten europäischen Call- bzw. Put-Optionen mit Verfallsdatum T und Ausübungspreis K. Πt bezeichne den Wert eines Portfolios bestehend aus einer Aktie, einem Put und einer short position in einem Call: Πt = St + Pt − Ct Satz 1.1 Für europäische Call- und Put-Optionen Ct und Pt auf der zugrunde gelegten Aktie St (ohne Dividendenzahlung) gilt die Put-CallParität Π(t) = St + Pt − Ct = Ke−r(T −t) ∀ 0≤t≤T J. Dippon 34 Beispiel: Aktie der Deutschen Bank (alle Preise in DM) t = 23. Juni 1997, T = 18. Juni 1998, K = 80.00, r = 3.15% p.a. Aktie Call Put S(t) C(t) P (t) S(t) + P (t) − C(t) = = = = 97.70 23.30 4.16 78.66 Diskontierter Strike-Preis: K 80 = = 77.56 1 + r 1.0315 Ursachen für Differenz: Dividendenzahlung vor T , Nachfrageeffekte, ... J. Dippon 35 Schranken für Optionen Satz 1.2 Für europäische und amerikanische Call-Optionen gilt: ∀ −r(T −t) C(t) ≥ S(t)) − e K + t∈[0,T ] ∀ C(t) ≤ S(t) t∈[0,T ] Satz 1.3 Es ist nicht sinnvoll, eine amerikanische Call-Option vor ihrem Verfallsdatum auszuüben, da ∀ CA(t) = CE (t) t∈[0,T ] J. Dippon 36 Satz 1.4 (i) Für zwei Call-Optionen auf denselben Basiswert, mit demselben Verfallsdatum, aber unterschiedlichen Ausübungspreisen K1 < K2, gilt für alle t ∈ [0, T ] (a) CK1 (t) ≥ CK2 (t) (b) CK1 (t) − CK2 (t) ≤ e−r(T −t)(K2 − K1) (c) ∀ λ∈[0,1] CλK1+(1−λ)K2 (t) ≤ λCK1 (t) + (1 − λ)CK2 (t) (ii) Für zwei Call-Optionen auf denselben Basiswert, mit demselben Ausübungspreis, aber unterschiedlichen Verfallsdaten T1 und T2, gilt T1 ≤ T2 =⇒ C(T1) ≤ C(T2) J. Dippon 37 Satz 1.5 Für amerikanische Optionen gilt die folgende Put-CallBeziehung: ∀ S(t) − K ≤ CA(t) − PA(t) ≤ S(t) − Ke−r(T −t) t∈[0,T ] J. Dippon 38 Ein-Perioden-Marktmodelle 1 Aktie mit Preis S(0) = 150 1 Bond mit Preis B(0) = 1 mit Zinsrate r im Zeitraum T Aktienpreis S(T ) Bondpreis B(T ) Zustand ω1 mit W p 180 1+r Zustand ω2 mit W 1 − p 90 1+r Gesucht: Preis einer europäischen Call-Option mit Verfallsdatum T und Ausübungspreis K = 150 J. Dippon 39 Auszahlung ( 30 falls ω = ω1 + X(T )(ω) = (S(T ) − K) (ω) = 0 falls ω = ω2 Erwartungswert von X(T ) E(X(T )) = 30p Mögliche Definition des Call-Preises zum Zeitpunkt t = 0 X(0) = E J. Dippon X(T ) 1+r = 30p 1+r 40 Spezialfall: Für p = 1 2 und r = 0 folgt X(0) = 15 Wir zeigen: Unter Verwendung der Arbitragebewertungsmethode erhält man jedoch X(0) = 20 Replikationsstrategie Zum Zeitpunkt t = 0: Verkaufe die Option zum Preis Kaufe 13 der Aktie zum Preis von Kreditaufnahme (r = 0) Bilanz J. Dippon 150 3 X(0) −50 30 X(0) − 20 41 Zum Zeitpunkt t = T : Zustand ω1 (Wert der Aktie S(T ) = 180) Option wird (gg. uns) ausgeübt Verkaufe 13 Aktie Rückzahlung des Kredits −30 60 −30 0 Zustand ω2 (Wert der Aktie S(T ) = 90) Option wertlos Verkaufe 31 Aktie Rückzahlung des Kredits Deshalb: X(0) = 20(=: C(0)) ist der Preis, der keine Arbitrage zulässt. Analog: Bei Zinssatz r ist X(0) = J. Dippon 20 1+r der arbitragefreie Preis. 42 0 30 −30 0 Man sagt, das o.g. Portfolio repliziert zu jedem Zeitpunkt die CallOption. Mit dieser Replikationsstrategie kann • der arbitragefreie Preis der Option ermittelt werden • die die Option ausstellende Institution sich gegen Preisrisiken absichern (Hedging) J. Dippon 43 Anwendung der Methode der risikoneutralen Bewertung auf unser Beispiel: (i) Ersetze p durch p∗ so, dass der diskontierte Aktienpreisprozess ein faires Spiel ist: S(T ) S(0) = E∗ 1+r Hier: 150 = 1 1+r (p∗ · 180 + (1 − p∗) · 90) Für r = 0 folgt p∗ = 2 3 (ii) Berechne den fairen Preis der Option bzgl. E∗ ∗ X(0) := E X(T ) 1+r 30p∗ = 1+r Für r = 0 folgt X(0) = 20 J. Dippon 44 Definition des Ein-Perioden-Modells: Der Finanzmarkt kennt nur die beiden Zeitpunkte t = 0 und t = T . Es werden d + 1 Finanzgüter gehandelt mit Preisen zu den Zeitpunkten t=0: t=T : S0(0) .. ∈ Rd+1 S(0) = + Sd(0) S0(T ) .. S(T ) = Sd(T ) Rd+1 + -wertige ZV wobei Si(T ), i ∈ {0, . . . , d}, R+-wertige Zufallsvariablen auf dem endlichen Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P) mit |Ω| = N, F = P(Ω) und P({ω}) > 0 für alle ω ∈ Ω = {ω1, . . . , ωN } Hier: R+ := [0, ∞) J. Dippon 45 Kauf und Verkauf der Finanzgüter zum Zeitpunkt t = 0 gemäß der Handelsstrategie ϕ0 ϕ = .. ∈ Rd+1 ϕd Zum Zeitpunkt t = 0 Investition der Summe S(0)0ϕ = d X ϕiSi(0) ∈ R i=0 Zum Zeitpunkt t = T liegt das vom Zufall abhängige Kapital vor: S(T )0ϕ = d X ϕiSi(T ) reellwertige ZV i=0 J. Dippon 46 Definition 1.4 Der (oben definierte) Finanzmarkt lässt eine Arbitrage-Möglichkeit zu, falls es ein Portfolio ϕ ∈ Rd+1 gibt, so dass eine der beiden (für endliche WRe äquivalente) Bedingungen gilt: (i) S(0)0ϕ < 0 und ∀ S(T, w)0ϕ ≥ 0 ∀ S(T, w)0ϕ ≥ 0 und w∈Ω (ii) S(0)0ϕ ≤ 0 und w∈Ω ∃ S(T, w)0ϕ > 0 w∈Ω Gibt es kein solches ϕ, so heißt der Finanzmarkt arbitragefrei. J. Dippon 47 Satz 1.6 Der (oben definierte) Finanzmarkt ist genau dann arbitragefrei, falls es einen sogenannten Zustandspreis-Vektor ψ ∈ RN mit ψi > 0 für alle i ∈ {1, . . . , N } gibt, so dass Sψ = S(0), wobei S0(T, w1) · · · .. S= Sd(T, w1) · · · S0(T, wN ) .. Sd(T, wN ) Kurz: Der Markt ist genau dann arbitragefrei, wenn es einen Zustandspreis-Vektor (state price vector, pricing kernel) gibt. J. Dippon 48 Sei ψ ein solcher Zustandspreis-Vektor. Mit ψ0 := N P ψi gilt für qj := i=1 ψj ψ0 N X ∈ (0, 1] qj = 1 j=1 d.h. durch (q1, . . . , qN ) wird ein W -Maß Q auf Ω definiert. Damit N Si(0) X = Si(T, ωj )qj = EQ(Si(T )) ψ0 j=1 Unter Q sind die mit ψ0 standardisierten Preise der Finanzgüter i ∈ {0, . . . , d} deshalb risikoneutral. J. Dippon 49 Ist i ein Finanzgut mit Si(T, ωj ) > 0 für alle j ∈ {1, . . . , N }, so können die Preise der anderen Finanzgüter als Vielfaches von Si(T, ωj ) ausgedrückt werden. Das Finanzgut i wird dann Numéraire gennant. Sei z.B. Finanzgut i = 0 ein risikoloser Bond mit ∀ ω∈Ω S0(T, ω) = 1 Damit N N X S0(0) X = qj S0(T, wj ) = qj = 1 ψ0 j=1 j=1 Ist r die Zinsrate pro Zeiteinheit, dann gilt S0(0) = ψ0 = (1 + r)−T J. Dippon 50 Damit ergibt sich der Preis von Finanzgut i zum Zeitpunkt t = 0 zu Si(0) = N X j=1 d.h. qj Si(T, ωj ) Si(T ) = E Q (1 + r)T (1 + r)T Si(0) Si(T ) = E Q (1 + r)0 (1 + r)T In der Sprache der Wahrscheinlichkeitstheorie: Der stochastische Prozess Si(t) : t ∈ {0, T } (1 + r)t ist ein Q-Martingal Im allgemeinen ist dieser Prozess kein P -Martingal für ein von Q verschiedenes W -Maß P , welches z.B. die Einschätzung eines Anlegers widerspiegelt. J. Dippon 51 Da für alle ω ∈ Ω • P ({ω}) > 0 (nach Annahme) und • Q({ω}) > 0 (wie gezeigt) sind P und Q zwei sog. äquivalente Maße. Also ist Q ein zu P ein äquivalentes Martingalmaß. Damit: Der Markt ist genau dann arbitragefrei, wenn es ein äquivalentes Martingalmaß gibt J. Dippon 52 Bewertung eines neu eingeführten Finanzinstrumentes mit vom Zufall abhängigen Auszahlungen δ(T ) zum Zeitpunkt t = T durch δ(0) = EQ δ(T ) (1 + r)T mit einem äquivalenten Martingalmaß Q. Problem: Der Preis δ(0) ist nur eindeutig, falls Q eindeutig. J. Dippon 53 Definition 1.5 Der (oben definierte) Finanzmarkt heißt vollständig, falls es zu jedem Finanzinstrument δ(T ) (das ist eine auf Ω = {ω1, . . . , ωN } definierte reellwertige Zufallsvariable) ein aus den d + 1 Basisinstrumenten bestehendes Portolio ϕ ∈ Rd+1 gibt, das δ(T ) repliziert, d.h. falls ∃ ∀ d X ϕ∈Rd+1 ω∈{ω1 ,...,ωN } Si(T, ω)ϕi = δ(T, ω) i=0 oder — kompakter — falls ∃ ϕ∈Rd+1 J. Dippon δ(T, ω1) .. S0ϕ = δ(T, ωN ) 54 Ein Finanzmarkt ist also genau dann vollständig, wenn die (d + 1) Vektoren S0(T, ω1) Sd(T, ω1) .. .. ,..., S0(T, ωN ) Sd(T, ωN ) den gesamten RN aufspannen. Satz 1.7 Der (oben definierte) Finanzmarkt sei arbitragefrei. Dann ist dieser Markt genau dann vollständig, wenn es einen eindeutigen ZustandspreisVektor ψ gibt. J. Dippon 55 Eine Kombination der Sätze 1.6 und 1.7 ergibt: Ein Finanzmarkt ist genau dann vollständig und arbitragefrei, wenn es einen eindeutigen Zustandspreis-Vektor gibt. Probabilistische Interpretation unserer Ergebnisse: • Ein Finanzmarkt ist genau dann arbitragefrei, wenn ein äquivalentes Martingalmaß existiert. • Ein arbitragefreier Finanzmarkt ist genau dann vollständig, wenn genau ein äquivalentes Martingalmaß existiert. J. Dippon 56 Beispiel: Binäres Einperiodenmodell d+1=2 Ω = {ω1, ω2} r=0 Basisinstrumente Raum der möglichen Zustände Zinsrate S0(0) 1 S(0) = = S1(0) 150 1 S0(T ) = , 1 Also S= J. Dippon S1(T ) = 1 1 180 90 180 90 57 Zustandspreis-Vektor ψ ∈ R2+ : Sψ = S(0) 1 1 180 90 ψ= 1 150 wird (in eindeutiger Weise) gelöst durch ψ= 2/3 1/3 (=⇒ ψ0 = ψ1 + ψ2 = 1) Also existiert (zu jedem nichtdegenerierten W-Maß P ) ein eindeutiges äquivalentes Martingalmaß Q mit ψ1 2 Q(ω1) = = ψ0 3 J. Dippon und ψ2 1 Q(ω2) = = ψ0 3 58 Der oben definierte Finanzmarkt ist vollständig, da zu jedem (neuen) Finanzinstrument δ(T ) mit Zahlungen δ(T, ω1) und δ(T, ω2) ein replizierendes Portfolio ϕ ∈ R2 existiert, d.h. S0ϕ = δ(T ) da die Spalten von S0 den Rd+1 = RN aufspannen. Sei δ(T ) die im letzten Beispiel genannte europäische Call-Option ( 30 für ω = ω1 + δ(T, ω) = (S(T, ω) − K) = 0 für ω = ω2 Dann wird J. Dippon 1 3 ϕ0 30 = ϕ1 0 (eindeutig) gelöst. 1 180 1 90 durch ϕ0 = −30 und ϕ1 = 59 2. Bedingte Erwartungen und Martingale Eine gut lesbare Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie: J. Jacod and P. Protter. Probability Essentials. 2nd Ed. Springer 2004. Ein herrliches Buch zur Einführung in die Martingal-Theorie: D. Williams. Probability with Martingales. Cambridge 1991. Ein schönes Lehrbuch, das einen weiten Bogen von der Maßtheorie bis zur Stochastischen Analysis schlägt: D. Meintrup, S. Schäffler, Stochastik — Theorie und Anwendungen. Springer 2005. J. Dippon 60 Im Folgenden sei (Ω, F, P ) immer ein Wahrscheinlichkeitsraum. (Eingeführt durch Andrey Nikolaevich Kolmogorov (1903-1987), Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1933 ) Definition. Zwei auf derselben σ-Algebra F definierten Maße P und Q heißen absolutstetig, falls Q(A) = 0 =⇒ P (A) = 0 ∀ A∈F In Zeichen: P Q Satz von Radon-Nikodým. Seien P und Q zwei auf derselben σAlgebra F definierte endliche Maße. Es gilt P Q genau dann, wenn es eine F − B-messbare nichtnegative Funktion f gibt mit Z ∀ A∈F J. Dippon P (A) = f dQ A 61 Satz 2.1. Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). σ-Algebra C ⊂ F. Dann existiert eine ZV Z : (Ω, F, P ) → (R, B) mit folgenden Eigenschaften: (∗) (∗∗) Z ist integrierbar und C-B-messbar Z Z X dP = Z dP ∀ C∈C C C Z ist eindeutig bis auf die Äquivalenz “= P |C -f.ü.”. Definition 2.1. (Andrey Nikolaevich Kolmogorov (1903–1987)) Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). σ-Algebra C ⊂ F. Die Äquivalenzklasse (im eben definierten Sinne) der ZVn Z: (Ω, F, P ) → (R, B) mit (∗) und (∗∗) — oder auch ein Repräsentant dieser Äquivalenzklasse — heißt bedingte Erwartung von X bei gegebenem C. In Zeichen: E(X | C) J. Dippon 62 Häufig wird ein Repräsentant dieser Äquivalenzklasse als eine Version von E(X | C) bezeichnet. E(X | C) ist eine “Vergröberung” von X. Bemerkung 2.4. Geometrische Interpretation des bedingten Erwartungswertes: Es sei L2(Ω, F, P ) der Hilbertraum der Äquivalenzklassen quadratisch integrierbarer reeller Zufallsvariablen auf (Ω, F, P ) und C eine Teil-σ-Algebra von F. J. Dippon 63 • Es sei M der lineare Teilraum von L2(Ω, F, P ), dessen Elemente als Repräsentanten C-B-messbare Zufallsvariablen haben. Man kann zeigen, dass M abgeschlossen ist. b ∈ L2(Ω, F, P ) mit Repräsentanten X und Y := E(X | C) • Sei X mit zugehöriger Äquivalenzklasse Yb . Man kann zeigen, dass Yb b auf M ist und das Proximum die orthogonale Projektion von X (bestapproximierendes Element im Sinne der L2(Ω, F, P )-Norm) in b darstellt. Mit anderen Worten: Y := E(X | C) minimiert M zu X unter allen C-B-messbaren Zufallsvariablen den Ausdruck E|X − Y |2 • Unter Verwendung eines Stutzungargumentes kann diese Definition auch auf die Klasse der integrierbaren Zufallsvariablen fortgesetzt werden. J. Dippon 64 Beispiele • C = F . . . E(X | C) = X f.s. • C = {∅, Ω} . . . E(X | C) = EX • C = {∅, B, B c, Ω} mit 0 < P (B) < 1. Z 1 X dP =: E(X | B), ω ∈ B P (B) ZB (E(X | C))(ω) = 1 c X dP, ω ∈ B P (B c) B c E(X | B) heißt Hypothese B J. Dippon bedingter Erwartungswert von X unter der 65 Satz 2.2. X, Xi integrierbar; σ-Algebra C ⊂ F; c, α1,2 ∈ R. Z a) E(X | C)dP = ∀ C∈C Z C X dP C b) X = c P-f.s. =⇒ E(X | C) = c f.s. c) X ≥ 0 P-f.s. =⇒ E(X | C) ≥ 0 f.s. d) E(α1X1 + α2X2 | C) = α1E(X1 | C) + α2E(X2 | C) f.s. e) X1 ≤ X2 P-f.s. =⇒ E(X1 | C) ≤ E(X2 | C) f.s. f) X C-B-messbar =⇒ X = E(X | C) f.s. g) X integrierbar, Y C-B-messbar, XY integrierbar =⇒ E(XY | C) = Y E(X | C) f.s. J. Dippon 66 g’) X, X 0 integrierbar, XE(X 0 | C) integrierbar =⇒ E(XE(X 0 | C) | C) = E(X | C)E(X 0 | C) f.s. h) σ-Algebra C1,2 mit C1 ⊂ C2 ⊂ F, X integrierbar E(E(X | C1) | C2) = E(X | C1) f.s. E(E(X | C2) | C1) = E(X | C1) f.s. Hier f.s. im Sinne von P |C2 -f.s. bzw. P |C1 -f.s. J. Dippon 67 Definition 2.2. σ-Algebra C ⊂ F. A ∈ F. P (A | C) := E(χA | C) heißt bedingte Wahrscheinlichkeit von A bei gegebenem C. Bemerkung 2.1. Zu Definition 2.2. Z P (A | C) dP = P (A ∩ C). ∀ C∈C C Beispiel. C = {∅, B, B c, Ω} mit 0 < P (B) < 1. P (A ∩ B) =: P (A | B), ω ∈ B P (B) (P (A | C))(ω) = c P (A ∩ B ) c c =: P (A | B ), ω ∈ B . c P (B ) J. Dippon 68 Definition 2.3. a) Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). ZV Y : (Ω, F, P ) → (Ω0, F 0). E(X | Y ) := E(X | Y −1(F 0)) | {z } [kleinste σ-Algebra in Ω, bzgl. der Y messbar ist . . . F(Y )(⊂ F)] . . . bedingte Erwartung von X bei gegebenem Y b) Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). ZVn Yi: (Ω, F, P ) → (Ω0i, Fi0) (i ∈ I) C(⊂ F) sei die kleinste σ-Algebra in Ω, bzgl. der alle Yi messbar sind [C = F( ∪ Yi−1(Fi)) . . . F(Yi, i ∈ I)] i∈I E(X | (Yi)i∈I ) := E(X | C) . . . bedingte Erwartung von X bei gegebenem Yi, i ∈ I J. Dippon 69 c) A ∈ F; ZV Y : (Ω, F, P ) → (Ω0, F 0). P (A | Y ) := E(χA | Y ) . . . bedingte Wahrscheinlichkeit von A bei gegebenem Y Bemerkung 2.2. Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). a) σ-Algebra C in F (X −1(B), C) unabhängig =⇒ E(X | C) = EX f.s. b) ZV Y : (Ω, F, P ) =⇒ (Ω0, F 0) (X, Y ) unabhängig =⇒ E(X | Y ) = EX f.s. J. Dippon 70 Satz 2.3. Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). ZV Y : (Ω, F, P ) → (Ω0, F 0). Dann ex. Abb. g: (Ω0, F 0) → (R, B) mit E(X | Y ) = g ◦ Y . g ist die sog. Faktorisierung der bedingten Erwartung. g ist eindeutig bis auf die Äquivalenz “= PY -f.ü. ”. Definition 2.4. Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B) bzw. A ∈ F. ZV Y : (Ω, F, P ) → (Ω0, F 0). Sei g bzw. gA eine — bis auf Äquivalenz “= PY - f.ü.” eindeutig bestimmte — Faktorisierung von E(X|Y ) bzw. von P (A|Y ). E(X | Y = y) := g(y) . . . bedingte Erwartung von X unter der Hypothese Y = y P (A | Y = y) := gA(y) . . . bed. Wahrscheinlichkeit von A unter der Hypoth. Y = y E(X | Y = ·) = g P (A | Y = ·) = gA J. Dippon 71 Satz 2.4. Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B) bzw. A ∈ A. ZV Y : (Ω, F, P ) → (Ω0, F 0) a) ∀ A0 ∈F 0 R A0 E(X | Y = y) PY (dy) = insbesondere b) ∀ 0 A ∈F 0 R A0 Ω0 Y −1 (A0 ) X dP , E(X | Y = y) PY (dy) = EX . P (A | Y = y) PY (dy) = P (Y −1(A0) ∩ A) , insbesondere J. Dippon R R R Ω0 P (A | Y = y) PY (dy) = P (A) . 72 Beispiel. X bzw. A sowie Y wie zuvor. Sei y ∈ Ω0 mit {y} ∈ F 0 und PY ({y}) > 0. a) E(X | Y = y) = E(X | [Y = y]) | {z } | {z } s. Def. 2.4. s. Beispiel nach Def. 2.1. b) P (A | Y = y) = P (A | [Y = y]) | {z } | {z } s. Def. 2.4. J. Dippon s. Beispiel nach Def. 2.2. 73 Satz 2.5. Integrierbare ZV X: (Ω, F, P ) → (R, B). ZV Y : (Ω, F) → (Ω0, F 0). a) X = c f.s. =⇒ E(X | Y = ·) = c PY -f.ü. b) X ≥ 0 f.s. =⇒ E(X | Y = ·) ≥ 0 PY -f.ü. c) E(αX1 + βX2 | Y = ·) = αE(X1 | Y = ·) + βE(X2 | Y = ·) PY f.ü. d) X1 ≤ X2 f.s. =⇒ E(X1 | Y = ·) ≤ E(X2 | Y = ·) PY -f.ü. J. Dippon 74 Definition 2.6. Eine Folge (Xn)n∈N von integrierbaren ZVn Xn: (Ω, F, P ) → (R, B) heißt bei gegebener monoton wachsender Folge (Fn)n∈N von σ-Algebren Fn ⊂ F mit Fn-B-Messbarkeit von Xn [wichtiger Fall Fn = F(X1, . . . , Xn) (n ∈ N)] a) ein Martingal bzgl. (Fn), wenn ∀ n∈N E(Xn+1 | Fn) = Xn f.s. Z [d.h. ∀ J. Dippon Xn+1 dP = ∀ n∈N C∈Fn Z C Xn dP ] , C 75 b) ein Submartingal bzgl. (Fn), wenn ∀ n∈N E(Xn+1 | Fn) ≥ Xn f.s. Z [d.h. ∀ Xn+1 dP ≥ ∀ n∈N C∈Fn Z C Xn dP ] , C c) ein Supermartingal bzgl. (Fn), wenn (−Xn) ein Submartingal bzgl. (Fn) ist. Die in Definition 2.6 genannte Folge von aufsteigenden σ-Algebren wird auch als Filtration bezeichnet (P.A. Meyer). Bemerkung 2.3. Ein Martingal (Xn) bzgl. (Fn) ist auch ein Martingal bzgl. (F(X1, . . . , Xn)). Entsprechend für Sub-, Supermartingal. J. Dippon 76 Die Herkunft der Bezeichnung Martingal (engl. martingale) scheint nicht genau zu geklärt zu sein. • Teil des Zaumzeuges, um die Kopfbewegung des Pferdes zu kontrollieren • Eine Seil, um den Klüverbaum zu verspanen • Ein Wettsystem, bei dem nach einem Verlust der Einsatz verdoppelt wird Der Begriff des Martingals im mathematischen Sinne wird J. Ville (1939) zugeschrieben. Paul Lévy (1886–1971) und J.L. Doob (1911–2004) lieferten wichtige Beiträge zur Martingal-Theorie. J. Dippon 77 Beispiele für Martingale: Pn 1. Partialsummenfolge ( i=1 Vi)n∈N zu einer unabhängigen Folge (Vn)n∈N von integrierbaren reellen ZVn mit Erwartungswerten 0. 2. Aktienpreise: Sn = S0ξ1 · · · ξn mit unabhängigen Zufallsvariablen ξi mit endlichem erstem Moment. 3. Sammeln von Information über eine Zufallsvariable (Williams 1991): Sei ξ eine Zufallsvariable mit endlichem erstem Moment und (Fn) eine Filtration in F. Dann wird durch Mn := E(ξ | Fn) ein Martingal definiert. Mit den nachfolgend vorgestellten Martingalkonvergenzsätzen kann gezeigt werden, dass Mn → M∞ := E(ξ | F∞) f.s. und in L1 S∞ wobei F∞ := σ( n=1 Fn) die sogenannte Doomsday-σ-Algebra. J. Dippon 78 Satz 2.6 (Martingalkonvergenzsatz von Doob) Ist X ein L1-beschränktes Sub- oder Supermartingal, d.h. sup E(|Xn|) < ∞, n so existiert eine Zufallsvariable X∞ mit Xn → X∞ J. Dippon f.s. (n → ∞) 79 Satz 2.7 (Konvergenzsatz für UI-Martingale) Für ein Martingal X sind äquivalent: (i) Xn konvergiert in L1 (ii) X ist L1-beschränkt und der f.s.-Limes X∞ erfüllt Xn = E(X∞ | Fn) (iii) X ist gleichgradig integrierbar (uniformly integrable), d.h. lim sup E(|Xn| · 1[|X|>K]) = 0 K→∞ n J. Dippon 80 Definition 2.7. Eine auf einem gemeinsamen W-Raum definierte Familie von Zufallsvariablen X = {Xi | i ∈ I} mit Indexmenge I heißt stochastischer Prozess. Im Folgenden wird häufig I = {0, 1, . . . , T } oder I = {0, 1, 2, . . .} gewählt. Definition 2.8. Der stochastische Prozess X = (Xn)∞ n=0 heißt zur Filtration (Fn)∞ n=0 adaptiert, falls ∀ n∈N Xn ist Fn-messbar Sei Xn − Xn−1 der zufällige Gewinn pro Einheit des Wetteinsatzes in Spiel n (n ∈ N) in einer Serie von Spielen. Ist X = (Xn) ein Martingal, d.h. E (Xn − Xn−1 | Fn−1) = 0, so kann dieses Spiel als fair bezeichnet werden. J. Dippon 81 Definition 2.9. Ein stochastischer Prozess C = (Cn)n∈N heißt vorhersagbar (predictable, previsible), falls Cn ist Fn−1-messbar für alle n ∈ N (C0 existiert nicht). J. Dippon 82 Ist Cn der Wetteinsatz in Spiel n, so ist die Entscheidung über die Höhe von Cn ausschliesslich auf die bis zum Zeitpunkt n − 1 verfügbare Information gegründet. Gewinn zum Zeitpunkt n: Cn(Xn − Xn−1) Gewinn bis einschließlich Zeitpunkt n: Yn = n X Ck (Xk − Xk−1) =: (C • X)n k=1 Sinnvoll: (C • X)0 := 0 Klar: Yn − Yn−1 = Cn(Xn − Xn−1) J. Dippon 83 Definition 2.10. Der durch C •X = ((C •X)n) definierte stochastische Prozess heißt Martingal-Transformation von X unter C (D.L. Burkholder). Dies ist das diskreteRAnalogon zum später noch zu definierenden stochastischen Integral C dX. Satz 2.8. Sei C ein beschränkter vorhersagbarer stochastischer Prozess, d.h. es gibt eine reelle Zahl K mit |Cn(ω)| ≤ K für alle n und alle ω, und X ein Martingal. Dann ist C • X ein Martingal mit (C • X)0 = 0. Satz 2.9. Eine zur Filtration F = (Fn)n∈N0 adaptierte Folge M = (Mn)n∈N0 von Zufallsvariablen ist genau dann ein Martingal, wenn für jede beschränkte vorhersagbare Folge H = (Hn)n∈N0 ∀ n∈N J. Dippon E n X ! Hk ∆Mk =0 k=1 84 Stoppzeiten Definition 2.11 Eine Zufallsvariable T mit Werten in {0, 1, 2, . . . , ∞} heißt Stoppzeit, falls [T ≤ n] := {ω | T (ω) ≤ n} ∈ Fn ∀ n∈{0,1,2,··· ,∞} oder — äquivalent — ∀ [T = n] ∈ Fn n∈{0,1,2,··· ,∞} Eine Stoppzeit kann z.B. dazu verwendet werden zu entscheiden, ob ein Spiel zum Zeitpunkt n abgebrochen oder fortgeführt wird. Hierbei wird nur die Information verwendet, die bis einschließlich Zeitpunkt n vorliegen kann. Wird z.B. beim Verkauf einer Aktie Insiderwissen verwendet, ist die vorgenannte Eigenschaft verletzt. J. Dippon 85 Satz 2.10 (Doob’s Optional Stopping Theorem) Sei T eine Stoppzeit und X = (Xn) ein Supermartingal. Ist T oder X beschränkt, so ist XT integrierbar und EXT ≤ EX0 Ist X ein Martingal, dann gilt sogar EXT = EX0 J. Dippon 86 Proposition 2.1 Stoppen der Folge X = (Xn) zur (zufälligen) Zeit T : X T := (XnT ) := (Xn∧T ). Dann gilt: • Ist (Xn) adaptiert und T eine Stoppzeit, so ist auch die gestoppte Folge (Xn∧T ) adaptiert. • Ist (Xn) ein (Super-) Martingal und T eine Stoppzeit, so ist auch die gestoppte Folge (Xn∧T ) ein (Super-)Martingal. Ein faires Spiel bleibt fair, wenn es ohne Vorkenntnis über ein zukünftiges Ereignis gestoppt wird. J. Dippon 87 Pn Beispiel: Einfache Irrfahrt (simple random walk) Sn := i=1 Xi mit unabhängigen Zufallsvariablen Xi, wobei Xi = 1 mit W. p = 1/2 und Xi = −1 mit W. p = 1/2. Sei T := inf{n | Sn = 1}, d.h., wir hören auf zu spielen, sobald wir eine Geldeinheit gewonnen haben. Man kann zeigen, dass P (T < ∞) = 1. Beachte: S = (Sn) ist ein Martingal und T eine Stoppzeit Mit obiger Proposition: E(ST ∧n) = E(S0) = 0 für jedes n. Jedoch: 1 = E(ST ) 6= E(S0) = 0 Also kann auf die Beschränktheitsbedingungen in Satz 2.10 nicht gänzlich verzichtet werden! Man kann zeigen, dass weder T noch der Verlust vor dem ersten NettoGewinn beschränkt sind. Dieses Spiel kann in der Praxis also nicht realisiert werden! J. Dippon 88 Die Snell-Einhüllende Definition 2.12 Ist Z = (Zn)N n=0 eine Folge von zur Filtration (Fn ) adaptierten Zufallsvariablen, so heißt die durch UN := ZN Un := max{Zn, E(Un+1 | Fn)} (n ≤ N ) definierte Folge U = (Un)N n=0 die Snell-Einhüllende von Z. Satz 2.11 Die Snell-Einhüllende (Un) von (Zn) ist das kleinste Supermartingal, welches die Folge (Zn) dominiert (d.h. Un ≥ Zn für alle n). Proposition 2.2 T0 := inf{n ≥ 0 | Un = Zn} ist eine Stoppzeit und die gestoppte Folge (UnT0 ) ist ein Martingal. J. Dippon 89 Satz 2.12 Sei Tn,N eine Familie von Stoppzeiten mit Werten in {n, . . . , N }. Dann löst die Stoppzeit T0 das optimale Stoppproblem für Z: U0 = E(ZT0 | F0) = sup{E(ZT | F0) | T ∈ T0,N } Soll die Stoppzeit erst zur Zeit n anstatt zur Zeit 0 starten, gilt analog für Tn := inf{j ≥ n | Uj = Zj }: Un = E(ZTn | Fn) = sup{E(ZT | Fn) | T ∈ Tn,N } Bei der Bewertung von amerikanischen Optionen soll zu dem Zeitpunkt die Option ausgeübt werden, zu dem die Auszahlung maximal ist. Die beiden letzten Aussagen zeigen, dass T0 bzw. Tn die hierfür optimalen Zeitpunkte liefern bei Verwendung der bis zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Information (ohne Vorgriff aus zukünftige Ereignisse). J. Dippon 90 Der folgende Satz zeigt, dass die oben definierte Stoppzeit T0 die kleinste optimale Stoppzeit für (Zt) ist. Satz 2.13 Eine Stoppzeit T ist genau dann optimal für die Folge (Zt), falls die beiden folgenden Bedingungen gelten: (i) ZT = UT (ii) U T ist ein Martingal Satz 2.14 (Doobsche Zerlegung von Submartingalen) Sei (Xn)n∈N ein Submartingal bezüglich einer Folge (Fn)n∈N von wachsenden σAlgebren. Dann existieren ein Martingal (Mn)n∈N und ein wachsender vorhersagbarer Prozess (An)n∈N (d.h. An+1 ≥ An f.s., An+1 Fnmessbar) so, dass Xn = X0 + Mn + An, wobei M0 = A0 = 0, für alle n ∈ N. Diese Zerlegung ist f.s. eindeutig. J. Dippon 91 3. Finanzmarktmodelle in diskreter Zeit Wir betrachten folgenden Finanzmarkt M: • (Ω, F, P ) W-Raum mit |Ω| < ∞ • F0 ⊆ F1 ⊆ . . . ⊆ FT ⊆ F aufsteigende Folge F von in F enthaltenen σ-Algebren • F0 = {∅, Ω}, • ∀ FT = F = P(Ω) P ({ω}) > 0 ω∈Ω • d + 1 Finanzgüter mit Preisen S0(t), S1(t), . . . , Sd(t) zum Zeitpunkt t ∈ {0, 1, . . . , T }, welche Ft-messbare Zufallsvariable seien J. Dippon 92 Dann ist S0(t) S(t) = .. Sd(t) ein Ft-messbarer Zufallsvektor mit mit Werten in Rd+1 Definition 3.1. Ein Numéraire ist ein Preisprozess (Xt)t∈{0,1,...,T } (also ein stochastischer Prozess), welcher strikt positiv ist für alle t ∈ {0, 1, . . . , T }. Das mit i = 0 indizierte Finanzinstrument wird als Numéraire verwendet und ist meist eine risikolose Kapitalanlage mit S0(0) = 1 Ist r der während einer Zeitperiode (t → t + 1) gewährte Zins, so gilt S0(t) = (1 + r)t Damit definieren wir den Diskont-Faktor β(t) := 1/S0(t) J. Dippon 93 Definition 3.2 Eine Handelsstrategie (oder dynamisches Portfolio) ist ein vorhersagbarer Rd+1-wertiger stochastischer Prozess ϕ0(t) ϕ1(t) ϕ= .. ϕd(t) t∈{0,1,...,T } d.h. eine Folge von T + 1 Zufallsvektoren mit Werten in Rd+1. ϕi(t) ist die Anzahl von Anteilen des Finanzgutes i, basierend auf den Informationen zum Zeitpunkt t − 1. Die Adjustierung des Portfolios fand also ”kurz” nach Bekanntgabe der Preise S0(t − 1), . . . , Sd(t − 1) statt. J. Dippon 94 Definition 3.3. Der Wert des Portfolios zum Zeitpunkt t ist gegeben durch Vϕ(0) = ϕ(1)0S(0) und Vϕ(t) := ϕ(t)0S(t) = d X ϕi(t)Si(t), t ∈ {1, . . . , T } i=0 Der dadurch definierte stochastische Prozess Vϕ heißt Wertprozess der Handelsstrategie ϕ. Vϕ(0) ist das Anfangskapital des Investors. Definition 3.4. Der Zuwachsprozess Gϕ der Handelsstrategie ϕ ist gegeben durch Gϕ(t) := t X τ =1 ϕ(τ )0(S(τ ) − S(τ − 1)) = t X ϕ(τ )0∆S(τ ) τ =1 für t ∈ {1, . . . , T }. J. Dippon 95 e = (1, β(t)S1(t), . . . , β(t)Sd(t))0 der auf den Zeitpunkt t = 0 Sei S(t) abdiskontierte Preisvektor. Ähnlich: Abdiskontierter Wertprozess e Veϕ(t) = βtϕ(t)0S(t) = ϕ(t)0S(t) für t ∈ {1, . . . , T }. Abdiskontierter Zuwachsprozess e ϕ(t) = G t X e ) ϕ(τ )0∆S(τ τ =1 für t ∈ {1, . . . , T }. J. Dippon 96 Definition 3.5 Eine Handelsstrategie ϕ heißt selbstfinanzierend, falls ∀ ϕ(t)0S(t) = ϕ(t + 1)0S(t) t∈{1,...,T −1} Interpretation: zum Handelszeitpunkt t werden die neuen Preise S(t) bekannt. Das Portfolio hat dann den Wert ϕ(t)0S(t). Aufgrund der Kenntnis der neuen Preise S(t) schichtet der Investor sein Portfolio mit Anteilen ϕ(t) zu einem Portfolio mit ϕ(t + 1) Anteilen um – ohne jedoch Kapital abzuziehen oder einzubringen. J. Dippon 97 Behauptung 3.1. Sei X(t) ein Numéraire. Eine Handelsstrategie ϕ ist genau dann selbstfinanzierend bzgl. S(t), falls ϕ selbstfinanzierend bzgl. S(t)/X(t) ist. Also ist eine Handelsstrategie ϕ genau dann selbstfinanzierend bzgl. e ist. S(t), falls ϕ selbstfinanzierend bzgl. S(t) Behauptung 3.2. Eine Handelsstrategie ϕ ist genau dann selbstfinanzierend, wenn ∀ t∈{0,1,...,T } J. Dippon e ϕ(t) Veϕ(t) = Veϕ(0) + G 98 Die nächste Behauptung zeigt, dass der Wert des Portfolios vollständig durch das Anfangsvermögen und die Handelsstrategie (ϕ1(t), . . . , ϕd(t))t∈{1,...,T } bestimmt ist — vorausgesetzt der Investor folgt einer selbstfinanzierenden Strategie. Behauptung 3.3. Für jeden vorhersagbaren Prozess (ϕ1(t), . . . , ϕd(t))t∈{1,...,T } und jedes F0-messbare V0 existiert genau ein vorhersagbarer Prozess (ϕ0(t))t∈{1,...,T }, so dass die Handelsstrategie ϕ0(t) ϕ1(t) ϕ= .. ϕd(t) selbstfinanzierend und V0 = Vϕ(0) der Anfangswert des Portfolios ist. J. Dippon 99 Definition 3.6. Eine selbstfinanzierende Strategie ϕ heißt ArbitrageStrategie, falls Vϕ(0) = 0 mit Wahrscheinlichkeit 1 Vϕ(T ) ≥ 0 mit Wahrscheinlichkeit 1 Vϕ(T ) > 0 mit Wahrscheinlichkeit > 0 Der (oben definierte) Finanzmarkt M heißt arbitragefrei, falls es keine Arbitrage-Strategie in der Klasse aller Handelsstrategien gibt. Definition 3.7. Ein zu P äquivalentes Wahrscheinlichkeitsmaß P ∗ auf (Ω, FT ) heißt ein Martingalmaß für den stochastischen Prozess Se , falls Se ein P ∗-Martingal bezüglich der Filtration F = (Ft)t∈{0,1,...,T } ist. e bezeichne die Klasse aller äquivalenten Martingalmaße (für S). e P(S) J. Dippon 100 Behauptung 3.4. Sei P ∗ ein äquivalentes Martingalmaß und ϕ eine selbstfinanzierende Handelstrategie. Dann ist der Wertprozess Veϕ(t) ein P ∗-Martingal bezüglich der Filtration F. Behauptung 3.5. Existiert ein äquivalentes Martingalmaß, dann ist der Markt M arbitragefrei. Setze X + := {X : Ω → R+ 0 | X ist eine Zufallsvariable} Γ := {X ∈ X + | ∀ ω∈Ω X(ω) ≥ 0 und ∃ X(ω) > 0} ω∈Ω Γ ist ein Kegel. J. Dippon 101 Ist M ein arbitragefreier Markt, so gilt für jede selbstfinanzierende Strategie ϕ Vϕ(0) = 0 =⇒ Veϕ(T ) 6∈ Γ e ϕ(T ) 6∈ Γ Mit Behauptung 3.2 folgt: G e ϕ(T ) 6∈ Γ immer noch gilt, falls Das nächste Lemma zeigt, dass G ϕ∗ = (ϕ1, . . . , ϕd) ein vorhersagbarer Prozess ist und ϕ0 so gewählt wird, dass die Strategie ϕ = (ϕ0, . . . , ϕd) das Startkapital V0 = 0 besitzt und selbstfinanzierend ist. Lemma 3.1. In einem arbitragefreien Markt erfüllt jeder vorhersagbare Prozess ϕ∗ = (ϕ1, . . . , ϕd) die Relation e ϕ∗ (T ) 6∈ Γ G J. Dippon 102 Behauptung 3.6. Ist der Markt M arbitragefrei, dann existiert ein zu P äquivalentes Martingalmaß P ∗. Eine Kombination der Behauptungen 3.5 und 3.6 liefert Satz 3.1 (No-Arbitrage-Satz). Der Finanzmarkt M ist genau dann arbitragefrei, wenn es ein zu P äquivalentes Martingalmaß P ∗ gibt, unter dem der diskontierte Preisprozess Se ein P ∗-Martingal ist. J. Dippon 103 Risikoneutrale Bewertung von Finanzderivaten Definition 3.8. Ein Finanzderivat mit Verfallszeitpunkt T ist eine nichtnegative FT -messbare Zufallsvariable X. Das Derivat heißt erreichbar (attainable), falls es eine das Derivat replizierende Handelsstrategie ϕ gibt, die selbstfinanzierend ist und für die gilt, dass Vϕ(T ) = X Zwei Handelsstrategieen werden als äquivalent angesehen, wenn sie denselben Wertprozess besitzen. X ist meist eine Funktion des Preisprozesses S: X = f (S) Beispiel: X := (ST − K)+ für eine europäische Call-Option mit Ausübungspreis K und Ausübungszeitpunkt T Behauptung 3.7. Ist M ein arbitragefreier Finanzmarkt, dann ist jedes erreichbare Finanzderivat X eindeutig in M replizierbar. J. Dippon 104 Grundidee der Arbitrage-Bewertung von Derivaten: Da der Wert eines erreichbaren Derivates X zu einem Zeitpunkt t ≤ T eindeutig sein sollte (sonst existiert eine Arbitragemöglichkeit), muss der Preis des Derivates zum Zeitpunkt t ≤ T mit dem Wert Vϕ(t) des Portfolios zur replizierenden Handelsstrategie ϕ zum Zeitpunkt t übereinstimmen. Deshalb ist folgende Definition sinnvoll: Definition 3.9. Der Finanzmarkt M sei arbitragefrei und X ein erreichbares Derivat mit Verfallszeitpunkt T . Dann ist der Arbitragepreisprozess (πX (t))t∈{0,...,T } gegeben durch den Wertprozess der X replizierenden Strategie ϕ. J. Dippon 105 Da die Arbitrage-Bewertungsmethode offensichtlich unabhängig vom zugrundeliegenden Maß P ist — also unabhängig vom Modell, das sich ein Investor vom weiteren Kursverlauf macht — sollte ein Investor, welcher statt dem Maß P das risikoneutrale Maß P ∗ zugrundelegt, das Derivat mit demselben Preis bewerten. Behauptung 3.8. Der Finanzmarkt M sie arbitragefrei. Dann ist der Arbitragepreisprozess (πX (t))t∈{0,...,T } jedes erreichbaren Finanzderivats X durch die Formel der risikoneutralen Bewertung ∀ t∈{0,...,T } πX (t) = β(t)−1E∗(β(T )X | Ft) gegeben, wobei E∗ die Erwartung bezüglich eines (zu P ) äquivalenten Martingalmaßes P ∗ (für den auf den Zeitpunkt t = 0 abgezinsten Preisprozess) darstellt. Frage: Unter welchen Bedingungen ist jedes Finanzderivat erreichbar, also mittels einer Handelsstrategie replizierbar? J. Dippon 106 Vollständige Märkte Definition 3.10. Der Finanzmarkt M heißt vollständig, wenn jedes Derivat erreichbar ist, also für jede nichtnegative FT -messbare Zufallsvariable X ∈ X + eine replizierende selbstfinanzierende Handelsstrategie ϕ mit Vϕ(T ) = X existiert. Satz 3.2 (Vollständigkeitssatz). Ein arbitragefreier Finanzmarkt M ist genau dann vollständig, wenn es genau ein zu P äquivalentes Martingalmaß gibt (unter welchem der abgezinste Preisprozess S ein Martingal ist). J. Dippon 107 Die Kombination des No-Arbitrage- und des Vollständigkeitssatzes (Sätze 3.1 und 3.2) ergibt den Fundamentalsatz der Preistheorie für Derivate: In einem arbitragefreien vollständigen Finanzmarkt M existiert genau ein äquivalentes Martingalmaß P ∗. Ferner mit Behauptung 3.8: In einem arbitragefreien vollständigen Finanzmarkt M ergibt sich der arbitragefreie Preis πX (t) eines Derivates X als (bedingter) Erwartungswert des Derivates unter dem risikoneutralen (d.h. äquivalenten Martingal-) Maß P ∗: ∀ t∈{0,...,T } J. Dippon πX (t) = β(t)−1E∗(β(T )X | Ft) 108 Das Cox-Ross-Rubinstein-Modell Wir betrachten folgenden Finanzmarkt M mit T Handelsperioden: • risikolose Anlage B (Bond) mit B(t) = (1 + r)t, t ∈ {0, . . . , T } • risikobehaftete Anlage S (z.B. Aktie) mit ( uS(t) mit W p, S(t + 1) = dS(t) mit W 1 − p, t ∈ {0, . . . , T } wobei 0 < d < u und S0 ≥ 0 • Die Veränderung S(t+1) S(t) ∈ {u, d} ist unabhängig von S(0), . . . , S(t) für alle t ∈ {0, . . . , T } J. Dippon 109 S(2)=uuS(0) p S(1)=uS(0) p 1−p S(2)=udS(0) S(0) 1−p p S(1)=dS(0) 1−p S(2)=ddS(0) T=0 T=1 T=2 Die ersten beiden Handelsperioden eines Binomialmodells J. Dippon 110 Explizite Konstruktion eines geeigneten Wahrscheinlichkeitsraumes (Ω, P, F) und einer Filtration F: T • Ω := × Ω̃t wobei Ω̃t := Ω̃ := {u, d}, also Ω = {u, d}T t=1 • F := P(Ω) T • P := ⊗ P̃t wobei P̃t := P̃ mit P̃ ({u}) := p und P̃ ({d}) := 1 − p, t=1 also P ({ω}) = T Y P̃t({ωi}) t=1 mit ω = (ω1, . . . , ωT ) und ωt ∈ {u, d} J. Dippon 111 • F = (Ft)t∈{0,...,T } mit F0 := {∅, Ω} Ft := σ(S(1), . . . , S(t)), t ∈ {1, . . . , T − 1} FT := F = P(Ω) die relative Preisänderung der Bemerkung. Sei Z(t + 1) := S(t+1) S(t) risikobehafteten Anlage vom Zeitpunkt t zum Zeitpunkt t + 1 (t ∈ {0, . . . , T − 1}). Dann folgt aus den Modellannahmen: • S(t) = S(0) t Q Z(τ ), t ∈ {1, . . . , T − 1} τ =1 • Z(0), . . . , Z(T ) sind unabhängige Zufallsvariablen J. Dippon 112 Definition 3.11. Der oben definierte Finanzmarkt M heißt Cox-RossRubinstein-Modell (CRR-Modell). Behauptung 3.9. Im CRR-Modell existiert genau dann ein äquivalentes Martingalmaß Q, wenn d<1+r <u Existiert ein äquivalentes Martingalmaß Q, so ist dieses eindeutig und durch 1+r−d q= u−d festgelegt, es gilt also T Q = ⊗ Q̃t t=1 mit Q̃t({u}) = q und Q̃t({d}) = 1 − q J. Dippon 113 Behauptung 3.10. Das CRR-Modell ist arbitragefrei. Behauptung 3.11. Das CRR-Modell ist vollständig. Behauptung 3.12. Das CRR-Modell ist genau dann vollständig, wenn jedes darin enthaltene Einperioden-Modell vollständig ist. J. Dippon 114 Behauptung 3.13. Im CRR-Modell ist der Arbitragepreis eines Derivates X durch ∀ t∈{0,...,T } πX (t) = B(t)E∗(X/B(T ) | Ft) gegeben, wobei E∗ die Erwartung bezüglich des eindeutigen (zu P ) äquivalenten Martingalmaßes P ∗ (für den auf den Zeitpunkt t = 0 abgezinsten Preisprozess) darstellt, welches durch p∗ = über ∗ 1+r−d u−d T P = ⊗ Q̃t t=1 mit Q̃t({u}) = p∗ und Q̃t({d}) = 1 − p∗ festgelegt ist. J. Dippon 115 Behauptung 3.14. Der Arbeitragepreis einer europäischen Call-Option mit Verfallsdatum T und Ausübungspreis K, basierend auf einer Aktie S, ist im CRR-Modell gegeben durch ∀ t∈{0,...,T } −(T −t) C(t) = (1 + r) T −t X j=0 J. Dippon T − t ∗j p (1 − p∗)T −t−j (S(t)uj dT −t−j − K)+ j 116 Behauptung 3.15. Im CRR-Modell ist die eine europäischen CallOption mit Verfallsdatum T und Ausübungspreis K replizierende Handelsstrategie ϕ = (ϕ0(t), ϕ1(t))0t∈{1,...,T } gegeben durch C(t, St−1u) − C(t, St−1d) ϕ1(t) = St−1(u − d) uC(t, St−1d) − dC(t, St−1u) ϕ0(t) = (1 + r)t(u − d) J. Dippon 117 Binomialapproximation Modellierung von Preisprozessen in stetiger Zeit mittels • eines stochastischen Prozesses in stetiger Zeit • einer Approximation mit einer Folge stochastischer Prozessen in diskreter Zeit J. Dippon 118 Jetzt: Approximation der Preisprozesse in stetiger Zeit t ∈ [0, T ] mittels einer Folge von CRR-Modellen in diskreter Zeit mit kn Handelszeitpunkten, wobei (kn) eine wachsende Folge aus N sei Teile [0, T ] in kn Teilintervalle der Länge ∆n = T kn Handel nur in den Zeitpunkten: tn,j = j∆n, j ∈ {0, . . . , kn} Modellierung des Bonds: Sei rn der risikolose Zins Preisentwicklung des Bonds: B(tn,j ) = (1 + rn)j , j ∈ {0, . . . , kn} Im zeitstetigen Modell: B(t) = ert mit stetiger Zinsrate r > 0 Falls für rn gilt 1 + rn = er∆n folgt (1 + rn)j = erj∆n = ertn,j J. Dippon 119 Modellierung der risikobehafteten Anlage: S(t ) Sei Zn,i = S(tn,i+1 ∈ {un, dn} die relative Veränderung in der Handeln,i ) speriode i → i + 1 (i ∈ {0, . . . , kn − 1}) mit P (Zn,i = un) =: pn = 1 − P (Zn,i = dn) mit einem noch zu bestimmenden pn ∈ (0, 1) Aktienpreisprozess im n-ten CRR-Modell (mit kn Handelsperioden) Sn(tn,j ) = Sn(0) j Y Zn,i , j ∈ {0, . . . , kn} i=1 J. Dippon 120 Annahme: Für jedes feste n gilt: Zn,1, . . . , Zn,kn unabhängige ZV’n Nach Behauptung 3.9 ist das n-te CRR-Modell genau dann arbitragefrei, wenn dn < 1 + rn < un Dieses ist in eindeutiger Weise charakterisiert durch p∗n 1 + rn − d n = un − dn Damit ist das n-te CRR-Modell bis aus die Parameter un und dn festgelegt. J. Dippon 121 Wir wählen √ σ ∆n un = e √ −σ ∆n und dn = e Das risikoneutrale Maß für das n-te CRR-Modell ist dann gegeben durch √ rn ∆n −σ ∆n 1 + rn − d n e −e √ p∗n = = √ σ ∆ −σ ∆n n un − dn e −e Mögliche Preise der Aktie S zum Zeitpunkt T : S(0)ujndknn−j , j ∈ {0, . . . , kn} Mit Behauptung 3.13 folgt der Arbitragepreis Cn(0) des europäischen Calls auf die Aktie S mit Strike K und Expiry T im n-ten CRR-Modell: C(0) = (1 + rn)−kn E∗(S(T ) − K)+ kn X + kn ∗j j kn −j −kn ∗ kn −j −K S(0)undn = (1 + rn) pn (1 − pn) j j=0 J. Dippon 122 Mit an = min{j ∈ N0 | S(0)ujndknn−j > K} folgt kn X kn ∗j −kn ∗ kn −j j kn −j Cn(0) = (1 + rn) pn (1 − pn) S(0)undn −K j j=an j k −j kn ∗ X (1 − p∗n)dn n kn pn u n = S(0) 1 + rn 1 + rn j j=an kn X k n ∗ kn −j (1 + rn)−kn K p∗j (1 − p n n) j j=an ∗ pn u n = Sn(0) 1 − Bin , kn (an − 1) 1 + rn − K(1 − rn)−kn {1 − Bin (p∗n, kn) (an − 1)} Bemerkung: 0 < J. Dippon p∗n un 1+rn <1 123 Satz 3.3 (Black-Scholes-Formel für den Preis einer europäischen Call-Option). Mit obiger Notation gilt: C(0) := lim Cn(0) = S(0)Φ(d1(S(0), T ) − Ke−rT Φ(d2(S(0), T )) n→∞ wobei 2 log(s/K) + (r + σ2 )t √ d1(s, t) = σ t 2 log(s/K) + (r − σ2 )t √ d2(s, t) = d1(s, t) − σ t = σ t √ und Φ die Verteilungsfunktion der Standardnormalverteilung bezeichne. Der Preis für die europäische Put-Option ergibt sich sofort über die Put-Call-Parität. Dieses Resultat wurde 1997 mit dem Nobelpreis für Ökonomie gewürdigt. J. Dippon 124 Bemerkung: Sei t ∈ [0, T ] mit t/T rational, also gibt es a, b ∈ N0 mit t = ab T Wähle jn := na, kn := nb und ∆n = T kn Dann gilt t = tn,jn = jn∆n Wir betrachten den Preisprozess Sn im n-ten CRR-Modell Sn(tn,j ) = Sn(0) j Y Zn,i , j ∈ {0, . . . , kn} i=1 Also gilt speziell Sn(t) = Sn(tn,jn ) = Sn(0) jn Y Zn,i i=1 J. Dippon 125 Mit Methoden wie im Beweis zu Satz 3.3 kann gezeigt werden: D Sn(t) → S(t) := S(0) · exp(tr) · exp tσ 2 Z − 1 2 (n → ∞) mit einer N (0, 1)-verteilten Zufallsvariablen Z Der stochastische Prozess S = (St)t∈T (Q∩[0,1]) kann zu einem stochastischen Prozess in stetiger Zeit t ∈ [0, T ] fortgesetzt werden. Dieser Prozess ist dann eine sogenannte geometrische Brownsche Bewegung mit Drift r St ist lognormalverteilt mit Erwartungswert t(r − σ 2/2) und Varianz tσ 2 von log(St/S0) J. Dippon 126 Schätzung der Volatilität σ unter Verwendung • der historischen Werte des Aktienkurses S • der ab der Börse notierten Preise ähnlicher Optionen J. Dippon 127 Schätzung der Volatilität σ aus historischen Aktienkursen Man beschaffe sich historische Aktienkurse der gewünschten Aktie, z.B. über das Finanzportal finance.yahoo.com Berechnung z.B. mit dem Statistikpaket R, frei erhältlich über www.Rproject.org kurse <- read.csv("table.csv") attach(kurse) ## Aktienpreisprozess plot(Close) lines(Close) ## log-Returns n <- length(Close) J. Dippon 128 R <- log(Close[2:n]/Close[1:(n-1)]) plot(R) lines(R) ## Schätzung der Volatilität sqrt(var(R)*n) q() Dann: Berechnung des Preises eines europäischen Calls über einen Optionspreisrechner, z.B. Online-Rechner der Vorlesung oder Numa Financial Systems J. Dippon 129 Bewertung amerikanischer Optionen Betrachte ein allgemeines Mehrperioden-Marktmodell. Der Besitzer einer amerikanischen Option kann diese zu jedem Zeitpunkt t ∈ {0, 1, . . . , T } ausüben und erhält die Geldsumme f (St). Gesucht: Selbstfinanzierende Handelsstrategie ϕ, so dass für den dazugehörigen Wertprozess Vϕ gilt: Vϕ(0) = x (Startkapital) Vϕ(t) ≥ f (St) ∀t ∈ {0, 1, . . . , T } Ein solches Portfolio ist minimal, falls es eine Stoppzeit τ : Ω → {0, 1, . . . , T } gibt mit Vϕ(τ ) = f (Sτ ) Problem: Existenz und (gegebenenfalls) Konstruktion einer solchen Stoppzeit J. Dippon 130 Das Marktmodell (Ω, F, F, P ) sei vollständig und P ∗ das eindeutige zu P äquivalente Martingalmaß. Dann gilt für jede Hedging-Strategie ϕ, dass Mt = Ṽϕ(t) = β(t)Vϕ(t) ein P ∗-Martingal ist. Also folgt mit Satz 2.10, dass für jede Stoppzeit τ Vϕ(0) = M0 = E ∗(Ṽϕ(τ )) Da aus den Annahmen über ϕ folgt, dass Vϕ(τ ) ≥ f (Sτ ) für jede Stoppzeit gelten muss, erhalten wir für das Startkapital x ≥ sup E ∗(β(τ )f (Sτ )) τ ∈T J. Dippon 131 Sei jetzt τ ∗ eine Stoppzeit mit Vϕ(τ ∗) = f (Sτ∗). Dann ist die Handelsstrategie ϕ minimal und es gilt x = E ∗(β(τ ∗)f (Sτ∗)) = sup E ∗(β(τ )f (Sτ )) τ ∈T Diese Relation (erstes Gleichheitszeichen) ist also eine notwendige Bedingung für die Existenz einer minimalen Handelsstrategie. Wir werden zeigen, dass dies zugleich auch eine hinreichende Bedingung darstellt. Der Preis x heißt rationaler Preis einer amerikanischen Option. J. Dippon 132 Berechnung des Optionspreises Zum Zeitpunkt T muss der Wert des Portfolios mindestens so groß sein wie der Pay-Off der Option: Vϕ(T ) ≥ f (ST ) Zum Zeitpunkt T − 1 kann der Besitzer der Option diese entweder ausüben und den Geldbetrag f (ST −1) einstreichen oder die Option bis zum Verfallsdatum behalten, wobei im letzteren Falle das Portfolio den Betrag βT−1−1E ∗(βT f (ST ) | FT −1) absichern muss. Also muss das Portfolio der die Option ausstellenden Seite den folgenden Wert haben: Vϕ(T − 1) = max{f (ST −1), βT−1−1E ∗(βT f (ST ) | FT −1)} J. Dippon 133 Mittels Rückwärtsinduktion zeigt man für t ∈ {1, . . . , T } Vϕ(t − 1) = max{f (St−1), β(t − 1)−1E ∗(βtVϕ(t) | Ft−1)} und für die diskontierten Werte Ṽϕ(t − 1) = max{f˜(St−1), E ∗(Ṽϕ(t) | Ft−1)} Also ist (Z̃t) := (Ṽϕ(t))t∈{0,...,T } (f˜(St))t∈{0,...,T } J. Dippon die Snell-Einhüllende von 134 Nach Satz 2.12 gilt, dass Z̃t = sup E ∗(f˜(Sτt ) | Ft) τt ∈Tt und die Stoppzeit τt∗ := min{s ≥ t : Z̃s = f˜(Ss)} optimal ist und dass Z̃t = E ∗(f˜(Sτt∗ ) | Ft) Speziell kann im Fall t = 0 die Stoppzeit τ0∗ := min{s ≥ 0 : Z̃s = f˜(Ss)} verwendet werden und x = Z̃0 = E ∗(f˜(Sτ0∗ )) = sup E ∗(f˜(Sτ0 )) τ0 ∈T0 ist der rationale Preis der amerikanischen Option. J. Dippon 135 Konstruktion des Hedging-Portfolios Da Z̃ ein Supermartingal ist, existieren nach dem Zerlegungssatz 2.14 von Doob ein Martingal M̃ und ein wachsender vorhersagbarer Prozess à mit Z̃ = M̃ − à Setze Mt := M̃t/βt und At := Ãt/βt. Da der zugrundeliegende Finanzmarkt vollständig ist, existiert eine selbstfinanzierende Handelsstrategie ϕ mit M̃t = Ṽϕ(t) (Betrachte den Positiv- und den Negativteil von MT jeweils als ein Derivat.) Dann Zt := Z̃t/βt = Vϕ(t) − At Damit ist der Zeichner der Option in der Lage, sich perfekt zu hedgen: Durch den Verkauf der Option zum Preis von Z0 = Vϕ(0) kann er unter Verwendung der Handelsstrategie ϕ zu jedem Zeitpunkt t ein Kapital J. Dippon 136 Vϕ(t) erwirtschaften, welches größer oder gleich Zt ist, und damit auch größer oder gleich dem zum Zeitpunkt t eventuell fälligen Pay-Off Z̃t. J. Dippon 137 Aus Sicht des Käufers der Option ist die Ermittlung des optimalen Ausübungszeitpunktes von elementarem Interesse: Der Ausübungszeitpunkt ist aus der Menge der Stoppzeiten auszuwählen. Es ist nicht sinnvoll, die Option zu einem Zeitpunkt t mit Zt > f (St) auszuüben, da durch den Verkauf der Option ihr Wert Zt erlöst werden kann, wohingegen die Ausübung der Option nur f (St) erbringt. Für einen optimalen Ausübungspunkt τ gilt also Zτ = f (Sτ ) Andererseits ist es auch nicht sinnvoll, die Option nach dem Zeitpunkt τmax := inf{n : An+1 6= 0} (= inf{n : Ãn+1 6= 0}) auszuüben, da ein Verkauf der Option zum Zeitpunkt τmax und Anlage des Erlöses gemäß der Handelsstrategie ϕ ein für alle nachfolgenden J. Dippon 138 Zeitpunkte τmax +1, τmax +2, . . . , T strikt größeres Kapital Vϕ einbringt als der Verkauf der Option zu ihrem Wert Z. Dann gilt für alle Stoppzeiten τ mit τ ≤ τmax, dass (Z̃tτ )t = (Z̃τ ∧t)t ein Martingal bzgl. P ∗ ist. Damit sind nach Satz 2.13 optimale Ausübungszeiten auch optimale Stoppzeiten für die Folge (f˜(St))t∈{0,1,...,T }. Daraus folgt: Verwendet der Zeichner der Option die oben konstruierte Handelsstrategie ϕ zum Hedgen und übt der Käufer der Option diese zu einer nicht optimalen Stoppzeit τ aus, so gilt Zτ > f (Sτ ) oder Aτ > 0. In beiden Fällen macht der Zeichner der Option einen risikolosen Gewinn Vϕ(τ ) − f (Sτ ) = Zτ + Aτ − f (Sτ ) > 0. J. Dippon 139 Bewertung eines amerikanischen Puts im CRR-Modell Teile das Zeitintervall [0, T ] in N Teilintervalle der Länge ∆ Risikofreie Zinsrate im Intervall ∆ sei ρ Die zugehörige stetige Zinsrate berechnet sich aus: 1 + ρ = er∆ Wähle u und d gemäß √ σ ∆ u=e √ −σ ∆ und d = e Das risikoneutrale W-Maß für die dazugehörigen Einperioden-Modelle berechnet sich aus p∗ = J. Dippon 1+r−d = u−d √ r∆ −σ ∆ e −e √ √ σ ∆ −σ ∆ e −e 140 Die Aktie mit Startwert S(0) ist nach i Schritten aufwärts und j Schritten abwärts S(0)uidj Einheiten wert Es gibt dann N + 1 mögliche Preise und 2N mögliche Pfade durch das Baumdiagramm. Aus rechen- und finanztechnischen Gründen wird N häufig in der Größenordnung von 30 gewählt. Wie in der dynamischen Optimierung (Richard Bellman), wird eine Rückwärtsrekursion gewählt, um sowohl die Preise als auch die optimale Ausübungsstrategie zu ermitteln: 1. Zeichne das Baumdiagramm, beginnend mit dem Startwert (Zeitpunkt 0) und den N +1 Endwerten (Zeitpunkt N ) (wie in der Einführung zu den CRR-Modellen). 2. Trage am Knoten (i, j), der nach i Aufwärts- und j Abwärtsbewegungen erreicht wird, den Preis S(0)uidj = S(0)ui−j ein. J. Dippon 141 3. Trage an den Endknoten unter die Endpreise die Pay-Offs A fi,j = max{K − S(0)uidj , 0} ein. 4. Angenommen, die Werte der Option liegen an den Knoten (i + 1, j) und (i, j + 1) bereits vor. Dann berechnet sich der Wert am Knoten (i, j) zu −r∆ ∗ A ∗ A fi,j = e p fi+1,j + (1 − p )fi,j+1 Wird die Option am Knoten (i, j) ausgeübt, so ist ihr Wert (K − S(0)uidj )+ Der Wert des amerikanischen Puts im Knoten (i, j) ist nun das Maximum dieser beiden Werte: A fi,j = max{fi,j , K − S(0)uidj } J. Dippon 142 5. Der Wert PA(0) des amerikanischen Puts zum Zeitpunkt 0 ist dann am linken Wurzelkonten abzulesen: f0,0. 6. Befindet man sich an einem inneren Knoten (i, j), so ist es rational, die Option vorzeitig auszuüben (early exercise), falls die Ausübung der Option einen höheren Erlös bietet als der Verkauf der Option um den Wert fi,j . J. Dippon 143 4. Stochastische Prozesse in stetiger Zeit Schöne und leicht zu lesende Einführungen in die Theorie der stochastischen Prozesse: • Brzezniak Z, Zastawniak T. Basic Stochastic Processes. Springer 1999. • Grimmett G, Stirzaker D. Probability and Random Processes. 3rd ed. Oxford University Press 2001. Eine Einführung in die Theorie der stochastischen Differenzialgleichungen auf mittlerem Niveau: • Øksendal B. Stochastic Differential Equations: An Introduction with Applications. 5th ed. Springer 1998. J. Dippon 144 4.1 Grundbegriffe (Ω, F, P ) mit Filtration F = (Ft)t≥0 Ein stochastischer Prozess X = (Xt)t≥0 mit Indexbereich [0, ∞) ist eine Familie von Zufallsvariablen auf (Ω, F, P ). Der Prozess X heißt (zur Filtration F) adaptiert, falls ∀ t≥0 J. Dippon Xt ist Ft-messbar 145 Seien t1, . . . , tn ∈ [0, ∞). Der Zufallsvektor (Xt1 , . . . , Xtn ) besitzt Werte in Rn. Durch PX1,...,Xtn (B) := P ((Xt1 , . . . , Xtn ) ∈ B) , B ∈ B n wird eine endlich dimensionale Verteilung von X definiert. Die Menge aller endlich dimensionalen Verteilungen von X erfüllen die folgenden Konsistenzbedingungen von Kolmogorov: • Für jede Permutation (s1, . . . , sn) von (t1, . . . , tn) gilt PXt1,...,Xt (At1 × . . . × Atn ) = PXs1 ,...,Xsn (As1 × . . . × Asn ) n (Ati ∈ B 1) • Für jedes A ∈ B n−1 gilt PXt1 ,...,Xtn (A × R) = PXt1 ,...,Xtn−1 (A) J. Dippon 146 Man kann auch folgende Umkehrung zeigen: Zu jeder konsistenten Familie K von endlich dimensionalen Verteilungen existiert ein Wahrscheinlichkeitsmaß Q auf (R[0,∞), B(R[0,∞))), dessen Menge der endlich dimensionalen Randverteilungen die Familie K umfasst. Sei ω ∈ Ω. Die Abbildung ( [0, ∞) → R X.(ω) : t 7→ Xt(ω) heißt Trajektorie oder Pfad von X. Die Zufallsvariable τ mit Werten in [0, ∞] heißt Stoppzeit, falls ∀ t≥0 J. Dippon [τ ≤ t] = {ω ∈ Ω : τ (ω) ≤ t} ∈ Ft 147 In der Theorie der Stochastischen Prozesse in stetiger Zeit treten u.a. folgende Probleme auf: • Pfadregularität • überabzählbare Operationen wie supt∈[0,1] Xt J. Dippon 148 4.2 Klassen von Prozessen 1. Martingale. Ein adaptierter stochastischer Prozess X mit E(|Xt|) < ∞ für alle t ≥ 0 ist ein • Submartingal, falls ∀ t,s≥0 t > s =⇒ E(Xt | Fs) ≥ Xs • Supermartingal, falls ∀ t > s =⇒ E(Xt | Fs) ≤ Xs ∀ t > s =⇒ E(Xt | Fs) = Xs t,s≥0 • Martingal, falls t,s≥0 J. Dippon 149 Beispiele: (Standard-) Brownsche Bewegung, kompensierter PoissonProzess. 2. Semimartingale. Prozesse, welche sich aus einem vorhersagbaren und einem vollständig unvorhersagbaren Teil — modelliert durch ein Martingal — zusammensetzen. Formale Definition später. 3. Markov-Prozesse. Ein adaptierter stochastischer Prozess X heißt Markov-Prozess, falls für jede beschränkte messbare Funktion f : R → R gilt ∀ t,s>0 E(f (Xt+s) | Ft) = E(f (Xt+s) | Xt) Intuitive Deutung: Zukünftige Werte von X hängen nur von der Gegenwart, nicht jedoch von der Vergangenheit ab. Gilt obige Eigenschaft auch dann noch, wenn die deterministische Zeit t durch eine Stoppzeit τ ersetzt wird, so heißt X starker Markov-Prozess. J. Dippon 150 4. Diffusionen. Eine Diffusion ist ein starker Markov-Prozess X mit stetigen Pfaden, für den für alle t ≥ 0 und alle x ∈ R die folgenden Grenzwerte existieren: 1 µ(t, x) := lim E(Xt+h − Xt | Xt = x) h→0 h 1 2 2 σ (t, x) := lim E (Xt+h − Xt) | Xt = x h→0 h µ(t, x) heißt Drift von X, σ 2(t, x) heißt Diffusionskoeffizient von X. Beispiele: Brownsche Bewegung, Lösungen stochastischer Differenzialgleichungen. J. Dippon 151 5. Punktprozesse und Poisson-Prozesse. Punktprozesse sind stochastische Prozesse, deren Realisierungen nicht Pfade, sondern Zählmaße sind. Seien z.B. τ0 < τ1 < . . . die zufälligen Zeitpunkte von gewissen Ereignissen. Der dazugehörige Punktprozess (Nt)t≥0 ist gegeben durch Nt := sup{n | τn ≤ t}, t ≥ 0 Die Zufallsvariable Nt gibt die Anzahl der Ereignisse bis zum Zeitpunkt t an. J. Dippon 152 Poisson-Prozesse sind spezielle Punktprozesse: Y1, Y2, . . . unabhängige exp(λ)-verteilte ZVn τn := n X Yj j=1 τn ist also die Zeit bis zum n-ten Ereignis und Yn ist die Wartezeit zwischen den Ereignissen zu den Zeitpunkten τn−1 und τn Nt := sup{n | τn ≤ t} definiert dann einen Poisson-Prozess mit Rate λ > 0. Eigenschaften: • P (Nt = k) = • ∀ ∀ s<t u>0 e−λt (λt) k! k , k ∈ N0 , t ≥ 0 Nt+u−Nt unabhängig von Ns (unabhängige Zuwächse) • Nt+u − Nt ∼ π(λu) (stationäre Zuwächse) J. Dippon 153 • Der sog. kompensierte Poisson-Prozess M mit Mt := Nt − λt ist ein Martingal; speziell gilt ENt = λt Man kann zeigen, dass jeder stochastische Prozess (Nt) mit Werten von Nt in N0, der die ersten drei obigen Eigenschaften erfüllt, ein Poisson-Prozess ist. Stochastische Prozesse mit unabhängigen Zuwächsen heißen Lévy-Prozesse. J. Dippon und stationären 154 4.3 Brownsche Bewegung • 1830 Robert Brown, schottischer Botaniker • 1900 Louis Bachelier • 1905 Albert Einstein • 1923 Norbert Wiener J. Dippon 155 Definition 4.1. Ein stochastischer Prozess W = (Wt)t≥0 auf (Ω, F, P ) heißt standardisierte 1-dimensionale Brownsche Bewegung oder Wiener-Prozess, falls • W0 = 0 P -f.s. • W hat unabhängige Zuwächse: ∀ Wt+u − Wt ist unabhängig von Ws ∀ s<t u≥0 • W hat stationäre normalverteilte Zuwächse: ∀ t,u≥0 Wt+u − Wt ∼ N (0, u) • W hat stetige Pfade J. Dippon 156 Bemerkungen zu Definition 4.1: • Wt = Wt − W0 ∼ N (0, t) • cov(Wt, Ws) = min{s, t}, da ∀ t>s cov(Wt, Ws) = E(WtWs) = E((Wt − Ws)Ws) + E(Ws2) = E(Wt − Ws)E(Ws) + s = s Definition 4.2. Eine standardisierte Brownsche Bewegung in Rd ist ein ddimensionaler Prozess Wt = (Wt1, . . . , Wtd) mit unabhängigen standardisierten Brownschen Bewegungen in R. Satz 4.1. Der in Definition 4.1 (und 4.2) definierte Prozess existiert. J. Dippon 157 Behauptung 4.1. Seien W = (Wt)t≥0 eine standardisierte Brownsche Bewegung und Ft := σ(Ws : s ≤ t). Dann sind (Wt)t≥0 und (Wt2 − t)t≥0 Martingale bzgl. der Filtration F = (Ft)t≥0. Nachfolgend legen wir das endliche Zeitintervall [0, T ] für unser Modell zugrunde. Definition 4.3. Die Menge der Zeitpunkte t0 = 0 < t1 < . . . < tn = T definiert eine Partition τ := {t0, . . . , tn} von [0, T ]; |τ | := sup{|ti − ti−1| : 1 ≤ i ≤ n} heißt Feinheitsgrad von τ . Definition 4.4. Die Totalvariation der Funktion X : [0, T ] → R ist definiert durch X Var(X) := sup |X(ti) − X(ti−1)| : τ ist eine Partition von [0, T ] t ∈τ i J. Dippon 158 Falls Var(X) < ∞, sagt man, X sei von endlicher Variation. Bemerkung. Die Variation Var(f ) einer Funktion f darf nicht mit der Varianz var(Y ) einer Zufallsvariablen Y verwechselt werden. Definition 4.5. Sei X : [0, T ] → R eine Funktion und (τn) eine Folge von Partitionen des Intervalls [0, T ] mit |τn| → 0 für n → ∞. Die quadratische Variation von X über dem Intervall [0, t] ≤ [0, T ] entlang der Partition τn ist definiert durch Vt2(X, τn) := X 2 (X(ti) − X(ti−1)) ti ∈τn ∪{t}, ti ≤t Existiert hXit := lim Vt2(X, τn) für alle t ∈ [0, T ], — und zwar n→∞ unabhängig von der speziellen Wahl der Partitionen τn — so heißt die dadurch auf [0, T ] definierte Funktion t 7→ hXit quadratischer Variationsprozess hXi von X. J. Dippon 159 Behauptung 4.2. Ist X : [0, T ] → R stetig und von endlicher (erster) Variation, so ist die quadratische Variation hXit = 0 für alle t ∈ [0, T ]. Korollar 4.1. Ist X : [0, T ] → R stetig und ist der quadratische Variationsprozess t 7→ hXit streng monoton wachsend, so ist X auf jedem Intervall [a, b] ⊆ [0, T ] von unendlicher Totalvariation. Behauptung 4.3. Sei X : [0, T ] → R stetig mit stetigem quadratischem Variationsprozess. Ferner sei A : [0, T ] → R stetig und von endlicher Totalvariation. Dann ist die durch Y (t) := X(t) + A(t) definierte Funktion Y : [0, T ] → R von stetiger quadratischer Variation mit hY it = hXit für alle t ∈ [0, T ]. Also ist die quadratische Variation eines stetigen Semimartingals gleich der quadratischen Variation des Martingalanteils. J. Dippon 160 Satz 4.2. Für alle t ∈ [0, T ] gilt: E Vt2(W, τn) −t 2 →0 (n → ∞) für jede Folge von Partitionen τn des Intervalls [0, T ] mit limn |τn| = 0. Korollar 4.2. Es gibt eine Folge von Partitionen τn von [0, T ] mit limn |τn| = 0 so, dass P -f.s. ∀ t∈[0,T ] J. Dippon lim Vt2(W, τn) = t n 161 Eine Kombination von Satz 4.2 und Korollar 4.2 liefert Korollar 4.3. Fast alle Pfade der Brownschen Bewegung sind von unendlicher Totalvariation. Zusammenfassung: Die Brownsche Bewegung ist ein Martingal mit stetigen Pfaden und quadratischer Variation hW it = t P -f.s. Es gilt jedoch auch umgekehrt Satz 4.3. (Charakterisierung der Brownschen Bewegung von Lévy). Ist M ein quadratisch integrierbares Martingal mit stetigen Pfaden, M0 = 0 und hM it = t für alle t, dann ist M eine Brownsche Bewegung. J. Dippon 162 Das Itô-Integral f : R → R und X : R+ → R seien C 1-Funktionen (d.h. stetig differenzierbar). Dann gilt nach dem Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnng Zt f (X(t)) − f (X(0)) = 0 f 0(X(s))X 0(s) ds = Zt f 0(Xs) dXs 0 Die Voraussetzung, dass X eine C 1-Funktion ist, kann auf stetige Funktionen X mit endlicher Totalvariation abgeschwächt werden, wie nachfolgend gezeigt wird. J. Dippon 163 Behauptung 4.4. X : [0, T ] → R stetig und von endlicher Totalvariation, f : R → R eine C 1-Funktion. Sei (τn) eine Folge von Partitionen von [0, T ] mit limn |τn| = 0. Dann existiert lim n→∞ X f 0(Xti−1 )(Xti − Xti−1 ) =: ti ∈τn ∪{t},ti ≤t Zt f 0(Xs) dXs 0 und es gilt Zt f (Xt) − f (X0) = f 0(Xs) dXs 0 Diese Behauptung ist ein Spezialfall der Itô-Formel (Satz 4.4). J. Dippon 164 Bis auf Weiteres sei X : [0, T ] → R immer eine stetige Funktion mit stetigem quadratischem Variationsprozess hXi = (hXit)t∈[0,T ]. Dies gilt z.B. für die Pfade der Brownschen Bewegung W (Korollar 4.2) und — allgemeiner — für die Pfade jedes stetigen Semimartingals mit stetigem quadratischem Variationsprozess. Rt Da t 7→ hXit monoton wachsend in t, ist das Integral 0 g(s) dhXis für jede stetige Funktion g : [0, T ] → R im Riemann-Stieltjes-Sinne definiert. Da t 7→ hXit stetig ist, ist dieses Integral eine stetige Funktion der oberen Grenze t. J. Dippon 165 Satz 4.4 (Itô-Formel). X : [0, T ] → R stetig mit stetigem quadratischem Variationsprozess hXi. F : R → R eine C 2-Funktion. Dann gilt Z F (Xt) − F (X0) = ∀ t∈[0,T ] 0 t 1 F 0(Xs) dXs + 2 Z t F 00(Xs) dhXis 0 wobei der Grenzwert Z t 0 F (Xs) dXs := lim 0 n→∞ X F 0(Xti−1 )(Xti − Xti−1 ) ti ∈τn ∪{t},ti ≤t für jede zu dem quadratischen Variationsprozess hXi führende Folge (τn) von Partitionen des Intervalls [0, T ] mit limn |τn| = 0 (gemäß Definition 4.5). Rt 0 Das Integral 0 F (Xs) dXs heißt Itô-Integral. J. Dippon 166 Bemerkungen. 1) IstR X von endlicher Totalvariation, verschwindet der Korrekturterm 1 t 00 2 0 F (Xs ) dhXis (da hXi ≡ 0 nach Behauptung 4.2). Dies liefert die klassische Behauptung 4.4. 2) Kurzform der Itô-Formel: 1 00 dF (Xt) = F (Xt) dXt + F (Xt) dhXit 2 0 J. Dippon 167 3) Man beachte, dass in den Summen, deren Grenzwerte das Itô-Integral liefern, der Integrand F 0(Xs) am linken Intervallende von [ti−1, ti] ausgewertet wird. 4) Sei X jetzt allgemeiner ein stochastischer Prozess (hinge also zusätlich noch vom Zufall ab), dessen Pfade die einer Brownschen Bewegung W sind. Dann kann in Satz 4.4 zur Definition des ItôIntegrals die nach Korollar 4.2 existierende pfadunabhängige Folge von Partitionen verwendet werden. Der Grenzwert ist bis auf eine P -Nullmenge eindeutig. 5) Die hier gewählte pfadweise Definition des Itô-Integrals geht auf Hans Föllmer (1981) zurück. Allgemeinere Integranden der Form Ys anstelle von F 0(Xs) werden in der stochastischen Analysis behandelt. Solche allgemeinere Integranden tauchen in unserer Vorlesung Finanzmathematik jedoch nicht auf. J. Dippon 168 Beispiele • F (x) = xn. Mit Itô-Formel Xtn − X0n = n Z 0 t n(n − 1) n−1 Xs dXs + 2 kurz: dXtn = nXtn−1 dXt Z t Xsn−2 dhXis 0 n(n − 1) n−2 + Xt dhXit 2 Ist X speziell der Pfad einer Brownschen Bewegung W mit W0 = 0, so gilt Wt2 = 2 Z t Z dhW is Ws dWs + 0 Z =2 t 0 t Ws dWs + t 0 J. Dippon 169 Also Z t 0 1 t Ws dWs = Wt2 − 2 2 • F (x) = ex. Mit Itô-Formel eXt − eX0 = Z 0 oder kurz J. Dippon t 1 Xs e dXs + 2 Z t eXs dhXsis 0 1 deXt = eXt dXt + eXt dhXit 2 170 Speziell für X = W folgt eWt Z t =1+ 0 Z t =1+ 0 Z 0 Z t Ws e 0 J. Dippon Z 1 eWs dWs + 2 Z t Ws e =1+ Also 1 Ws e dWs + 2 t eWs dhW is 0 t eWs ds 0 1 Wt 0 dWs + e − e 2 1 Wt dWs = e −1 2 171 Behauptung 4.5. Sei F : R → R eine C 1- Funktion. Dann bestitzt die Funktion t 7→ F (Xt) den quadratischen Variationsprozess Z t 2 (F 0(Xs)) dhXis 0 Korollar 4.4. Für jedes f ∈ C 1(R) ist das Itô-Integral t Z f (Xs) dXs It := 0 wohldefiniert und besitzt den quadratischen Variationsprozess Z hIit = t f 2(Xs) dhXis 0 J. Dippon 172 Beispiel. Für X = W gilt Wt2 = Z t 2Ws dWs + t 0 Mit It := Rt 0 2Ws dWs folgt hW 2it = hIit = Z t 4Ws2 ds 0 J. Dippon 173 Bisher haben wir nur analytische Eigenschaften des Integrators X verwendet. Sei M ein Martingal mit stetigen Pfaden und stetiger quadratischer Variation und f eine C 1-Funktion. Frage: Überträgt sich die Martingal-Eigenschaft des Integrators M auf das Itô-Integral Zt f (Ms) dMs I = It := 0 J. Dippon ? t≥0 174 Definition 4.6. Ein stochastischer Prozess M heißt lokales Martingal, falls es Stoppzeiten T1 ≤ T2 ≤ . . . gibt mit ∀ ω∈Ω ∀ n lim Tn(ω) = ∞ n→∞ (MTn∧t)t≥0 ist ein Martingal Klar: Jedes Martingal ist ein lokales Martingal. Die Umkehrung ist jedoch falsch! J. Dippon 175 Satz 4.5. Sei M ein Martingal mit stetigen Pfaden und stetiger quadratischer Variation hM i, ferner f ∈ C 1(R). Dann gilt Zt It := f (Ms) dMs 0 ist ein lokales Martingal t≥0 Behauptung 4.6. Sei M ein lokales Martingal mit stetigen Pfaden. Äquivalent sind: (i) M ist ein Martingal mit EMt2 < ∞ für alle t ≥ 0 (ii) ∀ t≥0 EhM it < ∞ Im Falle von (i) oder (ii) gilt ∀ t≥0 J. Dippon EMt2 = EhM it 176 Behauptung 4.7. Sei M ein lokales Martingal mit stetigen Pfaden und quadratischer Variation hM it = 0 f.s. (t ≥ 0). Dann gilt ∀ t≥0 Mt = M0 f.s. Korollar 4.5. Sei M ein lokales Martingal mit stetigen Pfaden von endlicher Totalvariation. Dann gilt ∀ t≥0 Mt = M0 f.s. Definition 4.7. Ein stochastischer Prozess X mit Xt = Mt + At mit einem lokalen Martingal M und einem adaptierten Prozess A mit linksseitig stetigen Pfaden von endlicher Totalvariation heißt Semimartingal. J. Dippon 177 Bemerkungen. 1) Die linksseitige Stetigkeit von A hat zur Folge, dass der Wert von At bei Kenntnis der Werte As, s < t, vorhergesagt werden kann. 2) Die Zerlegung eines Semimartingals X in einen Martingalanteil und einen Anteil A von endlicher Totalvariation ist eindeutig. Ist X stetig, so ist auch M (und somit A) stetig. 3) In der allgemeinen Theorie der Semimartingale wird A als vorhersagbar angenommen, was etwas schwächer ist als die Forderung, dass A adaptiert ist und die Pfade von A linksseitig stetig sind. J. Dippon 178 Definition 4.8. Sei (τn) eine Folge von Partitionen des Intervalls [0, T ] mit |τn| → 0. X und Y seien stetige Funktionen mit stetiger quadratischer Variation entlang der Folge (τn). Existieren die Grenzwerte ∀ t≥0 hX, Y it := lim n→∞ X (Xti − Xti−1 )(Yti − Yti−1 ), ti ∈τn ,ti ≤t so heißt hX, Y i := (hX, Y it)t≥0 Kovariation von X und Y . Satz 4.6. hX, Y it existiert genau dann, wenn hX + Y it existiert. In diesem Fall gilt die Polarisationsgleichung hX, Y it = J. Dippon 1 (hX + Y it − hXit − hY it) 2 179 Bemerkungen. 1) X stetige Funktion mit stetiger Variation hXi, A stetige Funktion mit endlicher Totalvariation. Dann gilt hX + Ait = hXit und damit hX, Ait = 0 2) Für zwei unabhängige Brownsche Bewegungen B (1) und B (2) gilt ∀ t≥0 J. Dippon hB (1), B (2)it = 0 180 3) X stetige Funktion mit stetiger quadratischer Variation, f, g ∈ C 1(R), Zt Zt Yt := f (Xs) dXs, Zt := g(Xs) dXs 0 0 Dann gilt Zt hY, Zit = f (Xs)g(Xs) dhXis 0 Dies folgt aus der Polarisationsgleichung und Zt hY + Zit = (f + g)2(Xs) dhXis 0 Zt = hY it + hZit + 2 f (Xs)g(Xs) dhXis 0 J. Dippon 181 Satz 4.7 (d-dimensionale Itô-Formel). Sei X = (X 1, . . . , X d) : [0, T ] → Rd stetig mit stetigen Kovariationen ( hX k it, falls k = l k l hX , X it = 1 k l k l falls k 6= l 2 hX + X it − hX it − hX it , Ferner sei F ∈ C 2(Rd, R). Dann gilt F (Xt) − F (X0) = d Z X i=1 0 t d Zt X ∂ 1 ∂2 i F (Xs) dXs + F (Xs) dhX i, X j is ∂xi 2 i,j=1 ∂xi∂xj 0 In Kurzform: d X d X 1 dF (Xt) = Fxi (Xt) dXti + Fxi,xj (Xt) dhX iX j it 2 i,j=1 i=1 J. Dippon 182 Beispiel. Sei W = (W 1, . . . , W d) eine d-dimensionale Brownsche Bewegung. Also ( t, falls k = l hW k , W lit = 0, falls k 6= l Mit obiger Itô-Formel F (Wt) − F (W0) = d Z X i=1 0 J. Dippon t Fxi (Ws) dWsi + d Z X 1 2 i=1 t Fxi,xi (Ws) ds 0 183 Korollar 4.6 (Itôsche Produktformel). Seien X und Y stetige Funktionen mit stetiger quadratischer (Ko-)Variation hXi, hY i bzw. hX, Y i. Dann gilt Zt XtYt = X0Y0 + Zt Ys dXs + hX, Y it Xs dYs + 0 0 Kurzschreibweise: d(XY )t = Xt dYt + Yt dXt + dhX, Y it J. Dippon 184 Korollar 4.7 (Itô-Formel für zeitabhängige Funktionen). Sei X eine stetige Funktion mit stetiger quadratischer Variation hXi und F : (t, x) 7→ f (t, x) mit F ∈ C 1,2. Dann gilt F (t, Xt) Zt Zt = F (0, X0) + Ft(s, Xs) ds + 0 Fx(s, Xs) dXs + 1 2 0 Zt Fxx(s, Xs) dhXis 0 Kurzschreibweise: 1 dFt = Ft dt + Fx dXt + Fxx dhXit 2 J. Dippon 185 Beispiel. W Brownsche Bewegung, S0 > 0 Startwert, µ ∈ R, σ > 0 Konstanten Der durch 1 2 St = S0 exp σWt + µ − σ t , t ≥ 0 2 definierte stochastische Prozess S heißt geometrische Brownsche Bewegung. Herleitung einer Itô-Integralgleichug für S: Xt = σWt 1 2 Yt = µ− σ t 2 Klar: hXit = σ 2t und hY it = hX, Y it = 0 J. Dippon 186 Für F (x, y) := S0 exp(x + y) gilt Fx = Fy = Fxx = F Wegen St = F (Xt, Yt) folgt Zt St = S0 + Zt F (Xs, Ys) dXs + 0 1 F (Xs, Ys) dYs + 2 0 Zt Zt 0 F (Xs, Ys) dhXis 0 F (Xs, Ys)σ dWs + = S0 + Zt 1 F (Xs, Ys) µ − σ 2 2 ds 0 + 1 2 Zt F (Xs, Ys)σ 2 ds 0 Zt = S0 + σSs dWs + 0 J. Dippon Zt µSs ds 0 187 In Kurzform: dSt = µSt dt + σSt dWt Falls µ = 0, ist Zt St = S0 + σSs dWs 0 nach Satz 4.4 ein lokales Martingal. Wegen Zt EhSit = E σ 2Ss2 dhW is 0 = σ 2E Zt 1 Ss2 ds = σ 2E (St3 − S03) < ∞ 3 0 für alle t ≥ 0, ist S nach Behauptung 4.6 sogar ein Martingal. J. Dippon 188 5. Zeitstetige Finanzmärkte Marktmodell M • WR (Ω, F, P ) • Filtration F von aufsteigenden in F enthaltenen σ-Algebren mit F0 = {∅, Ω} und FT = F • d + 1 Finanzgüter mit Preisprozessen S0, S1, . . . , Sd, welche zu F adaptiert und streng positiv seien J. Dippon 189 Weitere technische Regularitätsvoraussetzungen (abhängig z.B. davon, wie allgemein das stochastische Integral sein soll und was man beweisen will): • F ist P -vollständig • F0 enthält alle P -Nullmengen • F ist rechtsstetig, d.h. ∀ t∈[0,T ] Ft = \ Fs s>t • S0, S1, . . . , Sd sind stetige Semimartingale J. Dippon 190 Zur Erinnerung: Per definitionem lässt sich ein stetiges Semimartingal S = (St)t∈[0,T ]) in ein stetiges (lokales) Martingal M und einen stetigen adaptierten Prozess A mit (lokal) beschränkter Variation zerlegen. Ein vorhersagbarer Prozess H = (Ht)t∈[0,T ] ist ein stochastischer Prozess H : Ω × [0, T ] → R, welcher messbar ist bezüglich der vorhersagbaren σ-Algebra, welche von den adaptierten Prozessen mit linksseitig stetigen Pfaden erzeugt wird. J. Dippon 191 Definition 5.1. Ein Numéraire ist ein Preisprozess X = (Xt)t∈[0,T ] mit Xt > 0 P − f.s. ∀ t∈[0,T ] Definition 5.2. Der Rd+1-wertige stochastische Prozess ϕ ist eine Handelsstrategie oder dynamisches Portfolio, falls ϕ(t) = (ϕ0(t), . . . , ϕd(t)) , t ∈ [0, T ] ein vorhersagbarer lokal beschränkter Prozess ist. Unter diesen Bedingungen Rt 0 ϕ(u) dS(u). 0 existiert das stochastische Integral ϕi(t) bezeichnet die Anteile des Finanzgutes i im Portfolio zum Zeitpunkt t. ϕi(t) basiert auf der Information, welche vor dem Zeitpunkt t erhältlich ist. J. Dippon 192 Definition 5.3 (i) Der Wertprozess Vϕ = (Vϕ(t))t∈[0,T ] des Portfolios ϕ ist gegeben durch Vϕ(t) := ϕ(t)0S(t) = d X ϕi(t)0Si(t), t ∈ [0, T ] i=0 (ii) Der Zuwachsprozess Gϕ = (Gϕ(t))t∈[0,T ] ist gegeben durch Z t Gϕ(t) := ϕ(u)0 dS(u) = 0 d Z X i=0 t ϕi(u)0 dSi(u) 0 (iii) Die Handelsstrategie ϕ heißt selbstfinanzierend, falls ∀ Vϕ(t) = Vϕ(0) + Gϕ(t) t∈[0,T ] J. Dippon 193 Behauptung 5.1. Ein selbstfinanzierendes Portfolio bleibt nach einem Wechsel des Numéraires X selbstfinanzierend. Sei S0 der risikolose Bond. S̃ := 1, SS10 , . . . , SSd0 Diskontierter Preisprozess: Diskontierter Wertprozess: d X Vϕ = ϕ0 + ϕ0iS̃i Ṽϕ := S0 i=1 Diskontierter Zuwachsprozess G̃ϕ: G̃ϕ(t) := d Z X i=1 J. Dippon t ϕi(u) dS̃i(u), t ∈ [0, T ] 0 194 Behauptung 5.2. Sei ϕ eine Handelsstrategie. ϕ ist genau dann selbstfinanzierend, wenn Ṽϕ(t) = Ṽϕ(0) + G̃ϕ(t) ∀ t∈[0,T ] Es gilt Vϕ(t) ≥ 0 genau dann, wenn Ṽϕ(t) ≥ 0. Definition 5.4. Eine selbstfinanzierende Handelsstrategie ermöglicht Arbitrage, falls Vϕ(0) = 0 P (Vϕ(T ) ≥ 0) = 1 P (Vϕ(T ) > 0) > 0 J. Dippon 195 Definition 5.5. Das auf (Ω, F) definierte Wahrscheinlichkeitsmaß Q wird (stark) äquivalentes Martingalmaß genannt, falls Q ∼ P und der diskontierte Preisprozess S̃ ein lokales Martingal (Martingal) bzgl. Q ist. Die Menge der zu P äquivalenten Martingalmaße werde mit P bezeichnet. Definition 5.6. Eine selbstfinanzierende Handelsstrategie ϕ heißt zahm (tame), falls Vϕ(t) ≥ 0 ∀ t∈[0,T ] Die Menge der zahmen Handelsstrategien werde mit Φ bezeichnet. Behauptung 5.3. Sei ϕ ∈ Φ. Dann ist Ṽϕ unter jedem Q ∈ P ein nichtnegatives lokales Martingal und ein Supermartingal. Satz 5.1. Existiert ein zu P äquivalentes Martingalmaß (d.h. P 6= ∅), dann existiert keine Handelsstrategie aus Φ, welche Arbitrage ermöglicht. J. Dippon 196 Bemerkung. Um in zeitstetigen Märkten eine auch hinreichende Bedingung für die Existenz eines äquivalenten Martingalmaßes zu finden, muss der Begriff der Arbitragefreiheit noch verschärft werden. J. Dippon 197 Risikoneutrale Bewertung Annahme: Im Weiteren exisitiere immer ein zu P stark äquivalentes Martingalmaß P ∗, unter welchem der diskontierte Preisprozess S̃ ein Martingal ist. Nach Satz 5.1 findet man dann in Φ keine Handelsstrategie, welche in M Arbitrage ermöglicht. Im Folgenden werden nur Derivate X mit X ∈ L1(F, P ∗) S0(T ) betrachtet. J. Dippon 198 Definition 5.7. Eine selbstfinanzierende Handelsstrategie ϕ heißt P ∗zulässig, falls der diskontierte Zuwachsprozess G̃ϕ mit Z G̃ϕ(t) = t ϕ(u) dS̃(u) 0 ein P ∗-Martingal ist. Die Menge dieser Handelsstrategien wird mit Φ(P ∗) bezeichnet. Es wird nicht vorausgesetzt, dass eine P ∗-zulässige Handelsstrategie auch zahm ist. Satz 5.2. Eine P ∗-zulässige Handelsstrategie ermöglicht keine Arbitrage in M. Existieren keine Arbitrage-Möglichkeiten, so kann das Problem der Bewertung und des Hedgings von Derivaten auf die Existenz das Derivat replizierender selbstfinanzierender Handelsstrategien zurückgeführt werden. J. Dippon 199 Definition 5.8. (i) Eine Derivat X heißt erreichbar, falls es eine P ∗-zulässige Handelsstrategie ϕ gibt mit Vϕ(T ) = X In diesem Fall wird ϕ die das Derivat X replizierende Handelsstrategie genannt. (ii) Der Finanzmarkt M heißt vollständig, falls jedes Derivat erreichbar ist. J. Dippon 200 Bemerkungen. • Erreichbarkeit und Vollständigkeit hängen von der betrachteten Klasse von Handelsstrategien ab! • Erreichbarkeit und Vollständigkeit hängen nicht von der Wahl des Numéraires ab. • Die Eigenschaft einer Handelsstrategie, ein Derivat zu replizieren, bleibt bei einem Wechsel des Portfolios erhalten. Ist das Derivat X erreichbar, kann es durch ein Portfolio ϕ ∈ Φ(P ∗) repliziert werden. Für den Preisprozess ΠX = (ΠX (t))t∈[0,T ] des Derivates muss deshalb gelten ΠX (t) = Vϕ(t) J. Dippon 201 Satz 5.3. Der sogenannte arbitragefreie Preisprozess ΠX jedes erreichbaren Derivates X ist gegeben durch die Formel der risikoneutralen Bewertung ∀ ΠX (t) = S0(t) E t∈[0,T ] P∗ X | Ft S0(T ) Was passiert, wenn es zwei verschiedene Portfolios gibt, die X replizieren? Korollar 5.1. Für zwei das Derivat X replizierende Portfolios ϕ und ψ gilt Vϕ(t) = Vψ (t) ∀ t∈[0,T ] J. Dippon 202 Für Fragen der Bewertung ist es hinreichend, ein stark äquivalentes Martingalmaß zu finden. Aus der Sicht des Risikomanagements ist es jedoch wichtig, das das Derivat replizierende Portfolio zu finden. Lemma 5.2 Das diskontierte Derivat X/S0(T ) sei P ∗-integrierbar. Besitzt das durch X | Ft S0(T ) M (t) = EP ∗ definierte P ∗-Martingal eine Integral-Darstellung M (t) = x + d Z X i=1 t ϕi(u) dS̃i(u), 0 mit vorhersagbaren und lokal beschränkten Prozessen ϕ1, . . . , ϕd, so ist X erreichbar. J. Dippon 203 Den folgenden Vollständigkeitssatz werden wir nicht beweisen: Satz 5.4. Ist das starke Martingalmaß P ∗ das einzige Martingalmaß für den Finanzmarkt M, dann ist M vollständig in dem eingeschränkten Sinne, dass jedes Derivat X mit X ∈ L1(F, P ∗) S0(T ) erreichbar ist. Im Beweis wird ein sogenannter Martingaldarstellungssatz benötigt. J. Dippon 204 Das Black-Scholes-Modell Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Preisprozesses S der risikobehafteten Anlage zu modellieren Bachelier (1900): Brownsche Bewegung mit Drift µ und Volatilität σ St = S0 + σWt + µt mit Konstanten µ ∈ R, σ > 0 Wegen St ∼ N (S0 + µt, σ 2) wird St < 0 mit Wahrscheinlichkeit 1 Nach Itô ist dieser Prozess Lösung der stochastischen Differenzialgleichung dSt = µ dt + σ dWt J. Dippon 205 Samuelson (1965): Geometrische Brownsche Bewegung mit Drift µ und Volatilität σ 1 2 St = S0 exp σWt + (µ − σ )t 2 Hier St > 0 mit Wahrscheinlichkeit 1 Nach Itô ist dieser Prozess Lösung der stochastischen Differenzialgleichung dSt = St (µ dt + σ dWt) oder J. Dippon dSt = µ dt + σ dWt St 206 Für die GBB gilt: St+h St d.h. ist lognormalverteilt St+h ∼N St da für den sog. log-Return log 1 (µ − σ 2)h, σ 2h 2 St+h σ2 log = log St+h − log St = σ(Wt+h − Wt) + µ − h St 2 gilt und damit N ((µ − σ2 2 )h, σ h)-verteilt 2 ist. Die relativen Preisveränderungen sind also lognormalverteilt. Ferner: Die log-Returns zu sich nicht überlappenden Zeitintervallen sind stochastisch unabhängig. J. Dippon 207 Wird die geometrische Brownsche Bewegung zur Modellierung des Preisprozesses der risikobehafteten Anlage gewählt, so spricht man auch von einem Black-Scholes-Modell. Warum wird die geometrische Brownsche Bewegung häufig zur Modellierung des Aktienpreisprozesses verwendet? • (Häufig) gute Übereinstimmung mit empirischen Daten • GBB führt zu expliziten Bewertungsformeln für viele Derivate • Wenn der wahre Preisprozess von der GBB nicht “zu sehr” abweicht, liefern die auf dem BS-Modell beruhenden Hedging-Strategien gute Ergebnisse • das BS-Modell ist arbitragefrei und vollständig J. Dippon 208 Marktmodell M: • WR (Ω, F, P ) mit Filtration F (wie oben) • Bond B mit Preisprozess Bt = B0 exp(rt), t ∈ [0, T ] mit stetigem Zinssatz r > 0 und Startkapital B0 = 1. • Aktie S mit Aktienpreisprozess einer geometrische BB mit Trend µ und Volatilität σ, d.h. 1 St = S0 exp σWt + (µ − σ 2)t , 2 J. Dippon t ∈ [0, T ] 209 Wähle den Bond als Numéraire Diskontierter Preisprozess der Aktie S̃t = 2 σ St = S0 exp σWt + (µ − r − )t Bt 2 Mit Itô dS̃t = S̃t ((µ − r) dt + σ dWt) Falls µ 6= r ist (S̃t) kein Martingal bzgl. P . PROBLEM: Gibt es ein zu P äquivalentes Maß Q so, dass der diskontierte Preisprozess (S̃t)0≤t≤T ein Martingal bzgl. Q ist? J. Dippon 210 (S̃t)0≤t≤T ist ein Q-Martingal ⇐⇒ σWt + (µ − r)t ist bzgl. Q eine BB ohne Drift ⇐⇒ Wt + µ−r t ist bzgl. Q eine Standard BB σ } | {z =:γ Betrachte bzgl. P die BB mit Drift γ W̃t := Wt + γt, 0≤t≤T Berechne Ef (W̃t1 , . . . , W̃tn ) für 0 < t1 < . . . < tn ≤ T und f : Rn → R beschränkt und Borelmessbar J. Dippon 211 Ausnützen der Unabhängigkeit der Zuwächse: Die durch g(x1, x2 − x1, . . . , xn − xn−1) := f (x1, . . . , xn) definierte Funktion g : Rn → R ist Borel-messbar und beschränkt Setze t0 := 0, x0 := 0. Dann gilt: {P -Dichte von (Wt1 , Wt2 − Wt1 , . . . , Wtn − Wtn−1 )} n 2 Y (xi − xi−1) 1 p exp − = 2(ti − ti−1) 2π(ti − ti−1) i=1 n Y 2 1 ((xi − xi−1) − γ(ti − ti−1)) p = exp − 2(ti − ti−1) 2π(ti − ti−1) i=1 n 2 Y γ · exp −γ(xi − xi−1) + (ti − ti−1) 2 i=1 ! n o γ2 = P -Dichte von (W̃t1 , W̃t2 − W̃t1 , . . . , W̃tn − W̃tn−1 ) · exp(−γxn + tn) 2 J. Dippon 212 Damit E(f (Wt1 , . . . , Wtn )) = E(g(Wt1 , Wt2 − Wt1 , . . . , Wtn − Wtn−1 )) 1 2 = E g(W̃t1 , W̃t2 − W̃t1 , . . . , W̃tn − W̃tn−1 ) · exp(−γ W̃tn + γ tn) 2 1 2 = E(f (W̃t1 , . . . , W̃tn ) · exp(−γ W̃tn + γ tn) ) | {z } | {z 2 } Ftn −messbar =E(exp(−γ W̃T + 12 γ 2 T )|Ftn ) 1 2 = E E f (W̃t1 , . . . , W̃tn ) · exp(−γ W̃T + γ T ) | Ftn 2 1 2 = E f (W̃t1 , . . . , W̃tn ) · exp(−γWT − γ T ) {z 2 } | =:MT J. Dippon 213 Durch QT (A) := W -Maß definiert: R A MT dP , A ∈ FT wird auf FT ein zu P äquivalentes • MT > 0 • QT (Ω) = EMT = E exp(−γWT − 21 γ 2T ) = 1 • QT σ-additiv auf FT Da für alle beschränkten messbaren Funktionen f : Rn → R EQ(f (W̃t1 , . . . , W̃tn )) = E(f (Wt1 , . . . , Wtn )) gilt, ist W̃ = (W̃t)t∈[0,T ] bezüglich dem Wahrscheinlichkeitsmaß Q eine standardisierte Brownsche Bewegung und damit ein Q-Martingal! J. Dippon 214 Satz von Girsanov (für Brownsche Bewegungen mit konstantem Drift). Ist W eine Standard-BB bzgl. P und W̃ mit W̃t = Wt + γt, t ∈ [0, T ], eine Brownsche Bewegung mit Drift γ ∈ R, dann ist W̃ eine StandardBB bzgl. QT (ohne Drift!), wobei Z ∀ A∈FT QT (A) := E(1AMT ) = MT dP A und 1 2 Mt := exp(−γWt − γ t), 2 ein Martingal M bzgl. P darstellt. t ∈ [0, T ] Bemerkung. Man kann zeigen, dass dieses Martingalmaß das einzige äquivalente Martingalmaß ist! J. Dippon 215 Anwendung des Satzes von Girsanov auf unser Ausgangsproblem: W̃t = Wt + µ−r t, σ t ∈ [0, T ], ist bzgl. QT mit µ−r 1 QT (A) := exp − WT − σ 2 A Z ∀ A∈FT 2 ! µ−r T dP σ eine Standard-BB. Also ist S̃t = S̃0 exp σWt − µ − r − σ2 2 t , t ∈ [0, T ], ein QT -Martingal — also eine geometrische BB ohne Drift bzgl. QT ! J. Dippon 216 Satz 5.5. Im Black-Scholes-Modell mit Bond-Preisprozess Bt = B0 exp(rt), t ∈ [0, T ] (B0 = 1, r > 0) und Aktien-Preisprozess 1 2 St = S0 exp σWt + µ − σ t , 2 t ∈ [0, T ] (S0 > 0, µ ∈ R, σ > 0) ist das W-Maß QT mit P -Dichte dQT 1 2 = MT := exp −γWT − γ T dP 2 ein äquivalentes Martingalmaß. Das Black-Scholes-Modell ist also (nach Satz 5.1/5.2) arbitragefrei bzgl. den QT -zulässigen Handelsstrategien. J. Dippon 217 P -Dynamik von S : dSt = St(µ dt + σ dWt) P -Dynamik von S̃ : dS̃t = S̃t((µ − r) dt + σ dWt) Wegen dW̃t = µ−r σ dt + dWt folgt: Q-Dynamik von S: dSt = St(r dt + σ dW̃t) Q-Dynamik von S̃: dS̃t = S̃t(0 dt + σ dW̃t) Unter Q wird die Drift µ der Aktie zur Zinsrate r! J. Dippon 218 Zur Formel von Black und Scholes mittels risikoneutraler Bewertung Payoff der europäischen Call-Option X = (ST − K)+ Wert der europäischen Call-Option zum Zeitpunkt t = 0 −rT (ST − K) −rT ST 1[ST >K] − e−rT KQ(ST > K) C0 = EQ e = EQ e + =: I1 + I2 wobei Q das nach Satz 5.5 spezifizierte äquivalente Martingalmaß ist. J. Dippon 219 Zu Term I2: Mit 1 St = S0 exp σWt + (µ − )t 2 µ−r Wt = W̃t − t σ folgt Q(ST > K) = Q(log ST > log K) σ2 = Q(σWT + (µ − )T > log K − log S0) 2 2 σ = Q σ W̃T + r − T > log K − log S0 2 ! σ2 log K − log S0 − (r − 2 )T σ W̃T √ √ =Q > σ T σ T J. Dippon 220 Da W̃ √T T ∼ N (0, 1) unter Q, folgt 2 log K − log S0 − (r − σ /2)T √ Q(ST > K) = Φ − σ T log(S0/K) + (r − σ 2/2)T √ =Φ σ T Zu Term I1: Es gilt 2 σ e−rT ST = S0 exp σWT + (µ − r − )T 2 2 σ = S0 exp σ W̃T − T 2 =: S0MT J. Dippon 221 Definition eines neuen Maßes Q̂ mittels Damit −rT EQ e dQ̂ dQ = MT ST 1[ST >K] = S0EQ MT 1[ST >K] = S0EQ̂(1[ST >K]) = S0Q̂(ST > K) = S0Q̂(log ST > log K) Mit Satz von Girsanov: Ŵt := W̃t − σt, t ∈ [0, T ] ist unter Q̂ eine BB ohne Drift! J. Dippon 222 Wegen σ W̃T = σ ŴT + σ 2T I = Q̂(log ST > log K) σ2 = Q̂(log S0 + σWT + (µ − )T > log K) 2 σ2 = Q̂(log S0 + σ W̃T + (r − )T > log K) 2 σ2 = Q̂(log S0 + σ ŴT + (r + )T > log K) 2 ! S0 σ2 − log K − (r + 2 )T σ ŴT √ = Q̂ √ > σT} σT | {z ∼N (0,1) =Φ J. Dippon log S0 K + (r + √ σT σ2 2 )T ! 223 Also: Satz 5.6. Der arbitragefreie Preis des europäischen Calls mit Ausübungspreis K und Laufzeitende T im Black-Scholes-Modell mit Volatilität σ und stetiger Zinsrate r ist gegeben durch ∀ C(t) = StΦ(d1) − e−r(T −t)KΦ(d2) t∈[0,T ] mit log St/K + (r + 21 σ 2)(T − t) √ d1 = σ T −t J. Dippon √ und d2 = d1 − σ T − t 224 Vollständigkeit des klassischen Black-Scholes Modells Zur Konstruktion eines Hedging-Portfolios benötigen wir den folgenden Satz 5.7 (Martingal-Darstellungssatz) Sei F = (Ft)t∈[0,T ] die von der Brownschen Bewegung W = (Wt)t∈[0,T ] erzeugte vollständige Filtration und M = (Mt)t∈[0,t] ein zu dieser Filtration adaptiertes Martingal mit E(MT2 ) < ∞. Dann gibt es einen (bis auf Modifikation) eindeutig bestimmten vorhersagbaren adaptierten Prozess H = (Ht)t∈[0,T ] mit ! Z T Hs2 ds E <∞ 0 so dass für alle t ∈ [0, T ] gilt: Z Mt = M0 + t Hs dWs f.s. 0 J. Dippon 225 Wir wissen bereits, dass der klassische BS-Markt ein eindeutiges zu P äquivalentes Martingal-Maß P ∗ mit dP ∗ −γWT −γ 2 /2 =e dP besitzt, wobei γ = (µ − r)/σ (Marktpreis des Risikos). Sei X ∈ L1(P ), dann gilt auch X ∈ L1(P ∗), also existiert das P ∗Martingal Mt = EP ∗ (e−rT X | Ft), t ∈ [0, T ] Unter Verwendung des Martingal-Darstellungssatzes 5.7 folgt, dass es einen adaptierten vorhersagbaren Prozess H = (Ht)t∈[0,T ] gibt, so dass unter P ∗ Z t Mt = M0 + Hs dW̃s f.s. 0 J. Dippon 226 Da für die P ∗-Dynamik von S̃ dS̃t = S̃tσ dW̃t gilt, folgt Z t ϕ1(s) dS̃s Mt = M0 + f.s. 0 wobei ϕ1(t) := Ht σ S̃t Mit Ht σ wird (ϕ(t))t∈[0,T ] = (ϕ0(t), ϕ1(t))t∈[0,T ], zu einer seibstfinanziererenden (vorhersagbaren lokalbeschränkten) Handelsstrategie, welche e−rT X repliziert. ϕ0(t) := Mt − ϕ1(t)S̃t = Mt − J. Dippon 227 Also: X ist erreichbar Da X beliebig aus L1(P ), ist der klassische BS-Markt vollständig. Damit ist zwar die Existenz einer selbstfinanzierenden replizierenden Handelsstrategie gesichert, ihre explizite Konstruktion aber noch offen! J. Dippon 228 Zur Black-Scholes-Formel mittels einer No-Arbitrage-Bewertung Wir betrachten wieder das Marktmodell M: • WR (Ω, F, P ) mit Filtration F (wie oben) • Bond B mit Preisprozess Bt = B0 exp(rt), t ∈ [0, T ] mit stetigem Zinssatz r > 0 und Startkapital B0 = 1. • Aktie S mit Aktienpreisprozess einer geometrische BB mit Trend µ und Volatilität σ, d.h. 1 St = S0 exp σWt + (µ − σ 2)t , t ∈ [0, T ] 2 J. Dippon 229 und ein Portfolio (ϕ, ψ) = (ϕt, ψt)t∈[0,T ], welches zum Zeitpunkt t ϕt Einheiten der Aktie und ψt Einheiten im Bond beinhaltet Wert des Portfolios zum Zeitpunkt t: V (t, St) := Vt = ψtBt + ϕtSt J. Dippon 230 Im Folgenden betrachten wir der Einfachheit halber nur Derivate der Form X = h(ST ) (die europäische Call-Option ist von diesem Typ). Satz 5.8. Sei V : [0, T ] × R+ → R eine stetige Funktion, welche die PDG 1 2 2 Vt(t, s) + σ s Vss(t, s) + rsVs(t, s) = rV (t, s), 2 (t, s) ∈ [0, T ) × R+ löst. Dann ist die Handelsstrategie (ϕ, ψ) mit ϕ(t, St) = ϕt = Vs(t, St) und Wertprozess V (t, St) (t ∈ [0, T ]) selbstfinanzierend. Erfüllt V die Randbedingung V (T, ST ) = h(ST ), ist (ϕ, ψ) eine das Derivat X replizierende Handelsstrategie. Der faire Wert des Derivats X ist V (t, St) (t ∈ [0, T ]). J. Dippon 231 Payoff der europäischen Call-Option: h(ST ) = (ST − K)+ Bestimmung der dazugehörigen Lösung der PDG in Satz 5.8: Lemma 5.3. Seien τ (t) = σ 2(T −t) und z(t, s) = log s−( 21 σ 2 −r)(T − t). Die Funktion u(t, z) : [0, T ] × R → R löse die Wärmeleitungsgleichung ut = 21 uzz mit Anfangsbedingung u(0, z) = (ez − K)+. Dann löst C(t, s) := e−r(T −t)u(τ (t), z(t, s)) das Randwertproblem für den Preis des europäischen Calls. J. Dippon 232 Satz 5.9. Der arbitragefreie Preis des europäischen Calls mit Ausübungspreis K und Laufzeitende T im Black-Scholes-Modell mit Volatilität σ und stetiger Zinsrate r ist gegeben durch ∀ C(t) = StΦ(d1) − e−r(T −t)KΦ(d2) t∈[0,T ] mit log St/K + (r + 21 σ 2)(T − t) √ d1 = σ T −t √ und d2 = d1 − σ T − t Das dazugehörige Hedge-Portfolio besteht aus • ϕt = ∂ ∂s C(t) = Φ(d1) ∈ (0, 1) Einheiten der Aktie und • ψt = (C(t) − Φ(d1)St)/ert = −e−rtKΦ(d2) < 0 Einheiten des Bonds J. Dippon 233 Risikokennziffern im Black-Scholes-Modell Hedgeratio oder Delta: ∂C = . . . = Φ(d1) ∈ (0, 1) ∆ := ∂s Interpretation des Wertes Ct eines europäischen Calls als Portfolios bestehend aus ϕt Einheiten der zugrundeliegenden Aktie und ψt Einheiten des Bonds (short!) Ct = Φ(d1) ·St + (−Ke−r(T −t)Φ(d2)) ·1 | {z } | {z } Hedgeratio Kassa-Hedge =:ϕt ∈(0,1) =:ψt ∈(−∞,0) (ϕt, ψt) Portfolio zur Duplizierung des europäischen Calls J. Dippon 234 Gamma-Faktor: ∂ 2C 1 √ γ := = . . . = φ(d1) 2 ∂S −t } |Stσ T {z monoton wachsend in S >0 =⇒ mit steigendem Aktienkurs wächst die Hedgeratio Theta-Faktor Θ := σ ∂C = . . . = −Ke−σ(T −t) √ ∂t 2 T −t Φ(d2) + rΦ(d2) < 0 =⇒ Wert des europäischen Calls ist wachsend in der Restlaufzeit (T −t) J. Dippon 235 Rho-Faktor ∂C ρ := = . . . = (T − t)Ke−r(T −t)Φ(d2) > 0 ∂r =⇒ Wert des Calls steigt mit wachsendem Zins Omega- oder auch Vega-Faktor √ ∂C ω := = . . . = T − t Stφ(d1) > 0 ∂σ =⇒ Wert des europäischen Calls steigt mit wachsender Volatilität J. Dippon 236 Hedging-Strategien Beispiel: Europäischer Call Aktueller ZP t Laufzeit T Restlaufzeit τ = T − t Stetiger Jahreszins r Jahresvolatilität σ aktueller Aktienkurs St Ausübungspreis K 6 Wochen 26 Wochen 20 Wochen = 0.3846 a 5% p.a. 20% 98 e 100 e Bank verkauft europäischen Call auf 105 Aktien für Wert nach Black-Scholes ”Risikoprämie” (≈) 6.0 · 105 e 4.8 · 105 e 1.2 · 105 e Wir betrachten im Folgenden verschiedene Risikomanagementstrategien J. Dippon 237 1. Ungedeckte Position (naked position): Nichts tun Falls ST = 120 e entstehen für die Bank Kosten in Höhe von 105 · (ST − K)+ = 2 · 106 e 6 · 105 e | {z } 20 Euro Falls ST ≤ 100 e beträgt der Gewinn der Bank 6 · 105 e J. Dippon 238 2. Gedeckte Position (covered position) Nach Verkauf der Option zum Zeitpunkt t kauft die Bank sofort 105 Aktien zum Preis von 105 · 98 e = 9.8 · 106 e Falls ST > K, Lieferung der Aktien zum Zeitpunkt T zum Preis von 105 · 100 e = 107 e Dieser Betrag wird abgezinst auf den Zeitpunkt t und beträgt dann ≈ 9.8 · 106 Der Gewinn der Bank beträgt in diesem Fall also ≈ 6 · 105 e Falls ST ≤ K, z.B. ST = 80 e, entsteht ein Kursverlust in Höhe von 105 · 18 e = 106 · 1.8 e 6 · 105 e J. Dippon 239 Ergo: Die beiden Strategien 1 und 2 sind unbefriedigend! Nach Black-Scholes entstehen im Mittel Kosten von 4.8 · 105 e J. Dippon 240 3. Stop-Loss-Strategie Kauf der Aktien sobald St0 > K Verkauf der Aktien sobald St0 < K =⇒ Kosten entstehen nur, falls S0 > K =⇒ Kosten für Stop-Loss-Hedgen: max(S0 − K, 0) {z } | <C(S0 ,T )! Arbitrage-Möglichkeit? • Transaktionskosten nicht berücksichtigt • Zinsverluste durch Kapitalbindung • Verluste durch Einkaufspreis K + δ und Verkaufspreis K − δ für ein δ>0 J. Dippon 241 4. Delta-Hedgen Mache Wert des Portfolios unempfindlich gegen kleine Schwankungen der zugrundeliegenden Aktie innerhalb kleiner Zeitintervalle ∆t: Kaufe ∆C ≈ ∆S · ∂C ∂S |{z} Anteile an Aktie Delta-/Hedgeratio J. Dippon 242 Beispiel: Bank verkaufe europäischen Call auf 2000 Aktien zum Preis von C = 10 e/Aktie Ferner sei ∆ = 0.4 Zum Hedgen kauft die Bank ∆ · 2000 = 800 Aktien Aktie steigt um 1 e =⇒ Wert des Portfolios steigt um 800 e =⇒ Wertsteigerung des Calls auf 1 Aktie: ∆C = ∆ · ∆S = 0.4 e =⇒ Wertsteigerung aller Calls 0.4 e · 2000 = 800 e ( = Verlust für die Bank) Also nimmt die Bank eine sog. ∆-neutrale Position ein. J. Dippon 243 5. Dynamisches Hedgen Umstrukturierung des Portfolios gemäß der die Option duzplizierenden Handelsstrategie Probleme: • Transaktionskosten • Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis der Aktien J. Dippon 244 6. Verfeinerung des Delta-Hedgens ∆C = (S + ∆S, t + ∆t) − C(S, t) ∂C ∂C 1 ∂ 2C 2 = +0(∆t) ·∆S + ·∆t + ∆S |{z} 2 ∂S ∂t 2 |{z} ∂S ∼∆t |{z} |{z} ∆ Also Θ Zeitverfall Γ 1 ∆C ≈ ∆ · ∆S + Θ · ∆t + Γ · ∆S 2 2 Liegt beim Verkäufer der Call-Option ein bereits ∆-neutrales Portfolio vor, so kann dieses durch Kauf oder Verkauf von Derivaten auch Γneutral gemacht werden (Aktien oder Terminkontrakte sind dazu nicht geeignet, da diese ein konstantes ∆ besitzen, also Γ = 0). J. Dippon 245 Schätzung der Volatilität • aus historischen Daten Probleme: – log-Returns sind nicht unabhängig – Volatilität zeitlich nicht konstant • mittels impliziter (implizierter) Volatilität Beobachtung: implizite Volatilität hängt vom Strike K und der Restlaufzeit τ = T − t ab (bei demselben Underlying). J. Dippon 246 Die Wahrscheinlichkeit von Börsencrashs wie 1987 ist bei Annahme des BS-Modells praktisch gleich Null =⇒ linke Tails (Flanken) der rechtsschiefen Lognormalverteilung zu dünn Die tatsächlich höher liegende Wahrscheinlichkeit eines Crashs wird durch eine Erhöhung der angenommenen Volatility in der Bewertung von Optionen mit niedrigem Strike K vom Markt vorgenommen J. Dippon 247 0 −2 −1 W_t 1 2 Brownsche Bewegung 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 t ←J. Dippon 248 1.0 0.0 0.5 G_t 1.5 2.0 Geometrische Brownsche Bewegung 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 t ←J. Dippon 249 Interessante Links Börsenlexikon der FAZ Börsenlexikon bei Yahoo Ein Börsenlexikon in den Sprachen D-E-F-I J. Dippon 250