DGC 47 Sprachphilosophie Winfried Lechner Universität Athen, WiSe 2011-12 Skriptum, v. 2.0 (2011) #1: SPRACHE UND PHILOSOPHIE 1. WAS IST SPRACHPHILOSOPHIE? 1.1. EINGRENZUNG DES GEBIETES Die Triaden in (1) - (4) listen einige zentrale Fragen der modernen Sprachphilosophie (SP) auf: (1) Philosophie a. Was sind Bedeutungen? b. Beeinflusst Sprache das Denken? c. Gibt es eine Sprache der Gedanken? Sind Gedanken ähnlichen Gesetzen unterworfen wie natürliche Sprache? (2) Linguistik a. Was ist eine natürliche Sprache? b. Wie sind die Gesetze der natürlichen Sprache formal definiert? c. Unterscheiden sich Sprachen in der Art, wie sie Bedeutungen ausdrücken? (3) Logik, Metamathematik, mathematische Linguistik a. Hat jeder formal (syntaktisch) korrekte Satz eine Bedeutung? b. Ist jede Bedeutung sprachlich ausdrückbar? c. Was ist der Unterschied zwischen natürlichen Sprachen und den formalen Sprachen der Logik und Mathematik? Kann man in natürlichen Sprachen das gleiche ausdrücken wie in formalen Sprachen? (4) Kognitionswissenschaft/Biologie/Biolinguistik a. Wie wird Sprache erworben? b. Was sind die biologischen Eigenschaften des Sprachsystems? c. Was ist das Verhältnis zwischen Sprache und anderen mentalen kognitiven Systemen wie dem Sehen, Musik, dem Orientierungssinn, oder den Regeln des Immunsystems? Wie aus (1) - (4) ersichtlich wird, sind einige Fragestellungen der SP weitgehend philosophisch ausgerichtet ((1)), wohin andere sich als eher linguistisch orientiert erweisen ((2)). Daneben befasst sich SP aber ebenso mit Themen, die im Bereich der mathematischen Logik liegen ((3)) sowie mit Problemen, welche die biologischen Grundlagen der menschlichen Sprache betreffen, deren Entwicklung im menschlichen Organismus und die Beziehung zwischen Sprache und anderen kognitiven Fähigkeiten ((4)). Zudem ist es nicht immer möglich, die einzelnen Fragen einem einzigen Gebiet zuzuweisen: (1)a wird z.B. nicht nur in der Philosophie, sondern genauso in der Linguistik diskutiert; mögliche Antworten auf (2)b hängt von linguistischen, aber ebenso von mathematischen und von biologischen Faktoren ab; und (3)c wird sowohl in der mathematischen Linguistik als auch in der theoretischen Linguistik behandelt. Der Begriff der Sprachphilosophie besitzt demnach mehrere, nicht immer genau voneinander abgrenzbare Bedeutungen. Dies stellt aber keinen Grund zur Besorgnis dar. Auch in anderen Wissenschaften ist es nicht immer erforderlich - oder oft gar nicht möglich - präzise anzugeben, welche Fragen in den Aufgabenbereich dieses Gebietes fallen, und welche nicht. Insbesondere in den Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik und Geologie) sind derartige Verhältnisse häufig anzutreffen. Sowohl Chemie als auch Physik untersuchen z.B. die Zusammensetzung der Materie. Durch die Fortschritte in diesen Gebieten in den letzten hundert Jahre kommt es jedoch in vielen Bereichen, etwa bei der Forschung zu der Struktur von Molekülen, häufig zu Überschneidungen. Die Untersuchung des Aufbaus von Molekülen führt etwa zu Fragen, die sowohl für Chemie als auch Physik relevant sind. Eine klare Trennlinie zwischen Chemie und Physik existiert demnach nicht. Ähnlich verhält es sich mit vielen Fragen der Sprachphilosophie, die, wie eingangs bereits erwähnt, oft auch von anderen Gebieten, wie etwa Linguistik, Biolinguistik, Logik, oder den Kognitionswissenschaften, untersucht werden. Da es weder möglich noch notwendig ist, SP mit einer konkreten Gruppe von Problemen oder Erkenntnissen zu identifizieren, wird im Folgenden daher auch nicht versucht werden, eine präzise Definition von ‘Sprachphilosophie’ zu geben. Statt dessen werden im Verlauf dieses Kurses einige wichtige Fragen, die sich in der SP als relevant erwiesen haben, skizziert werden. Im verbleibenden Teil dieses ersten Abschnitt folgen einige Bemerkungen zu Wissenschaft und zum Begriff zu Theorie, die dazu dienen, den allgemeinen Rahmen zu definieren, in dem SP behandelt werden wird. Fragen vs. Antworten: Generell behindern Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Gebieten, wie sie oben beschrieben wurden, den Fortschritt der Forschung nicht, sondern erweisen sich im Gegenteil in vielen Fällen sogar von Vorteil. Der Grund dafür liegt in der Art und Weise, wie Wissenschaft in der Praxis funktioniert, und wie man die moderne wissenschaftliche Methode versteht. Bei Wissenschaft handelt es sich nämlich im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung nicht um eine statische Ansammlung von Daten, Generalisierungen über Daten, oder einen Katalog von Naturgesetzen, Theorien und Analysen, sondern um ein lebendiges, dynamisches Gebilde aus Fragen und Strategien, diese Fragen zu beantworten. Dabei sind die Fragen selbst von größerer Bedeutung als die Antworten. Das ist so, da Fragen, wenn sie sinnvoll gestellt werden können, auf neue Konstellationen von Ideen und Fakten, auf neue Lösungsstrategien, und somit auf neue, mögliche Erkenntnisse verweisen. Ein Beispiel aus der Linguistik verdeutlicht dies: Im Deutschen und im Griechischen gibt es die palatalen und velaren Frikative [ç] und [x]. (5) zeigt, dass die Wahl im Deutschen vom vorangehenden Vokal abhängt. (6) dokumentiert weiters, dass im Griechischen der folgende, und nicht der vorangehende Vokal für diese Entscheidung verantwortlich ist. (5) a. b. c. d. la[x]en le[ç]zen to[x]ter li[ç]ter (6) a. i[x]οs b. o[ç]ι vorausgehender Laut [a] [e] []] [x] [I] [o] folgender Laut [c] [c] [c] [c] [o] [I] Griechische und Deutsch weisen also auf der einen Seite ähnliche Eigenschaften auf - beide Sprachen besitzen zwei Arten von Frikativen, die vom lokalen Kontext abgängig sind unterscheiden sich aber auch systematisch in der Richtung, in der die Eigenschaften eines Lautes die Eigenschaften eines anderen Lautes beeinflussen. Diese Beobachtung ist auf den ersten 3 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Eindruck verwunderlich und stellt daher ein Rätsel dar. Aber sie führt auch zu neuen, potentiell interessanten Fragen. Deutsch und Griechisch unterscheiden sich auch in weiteren phonologischen Eigenschaften, z.B. dem Verhalten von velaren und palatalen Frikativen in nicht vokalischen Kontexten, also nach bzw. vor Konsonanten und an Wortgrenzen. Im Deutschen taucht in diesen Umgebungen der palatale Frikativ auf (Milch, Chemie), im Griechischen dagegen die velare Version (σαχλή, αχ βαχ). Dies wirft offensichtlich die Fragen auf, ob diese beiden sprachspezifischen Unterschiede miteinander in Verbindung stehen, und ob es möglich ist, beide Beobachtungen auf eine gemeinsame, einheitliche Erklärung zurückführen. Weiters ergeben sich aus diesen Überlegungen Themen für mögliche zukünftige Projekte. Gibt es z.B. andere phonologische Prozesse im Griechischen und Deutschen, die ähnliche Unterschiede in der Direktionalität aufweisen? Warum unterscheiden sich die beiden Sprachen genau auf diese Art und Weise? Liegen die Unterschiede in der historischen, diachronen Entwicklung, oder in synchronen Faktoren? Offensichtlich stellt also das Vorhandensein einer noch nicht beantworteten Frage an und für sich kein Problem dar, zumindest dann nicht, wenn diese auf interessante neue Fragen hinweist. Dieses , das auf den ersten Blick kontraintuitive Prinzip gilt ganz allgemein in der Wissenschaft. Und genau aus diesem Grund erweist sich interdisziplinäre Forschung oft stimulierend. Die Untersuchung eines Phänomens in unterschiedlichen Wissenschaften kann nämlich nicht nur neue, bisher unbekannte, Perspektiven eröffnen, sondern auch zu neuen Fragestellungen führen. Wissenschaftliche Theorien: Es wurde bereits erwähnt, dass Wissenschaft dynamisch funktioniert, und keine statische Sammlung von Erkenntnissen darstellt. Dieser dynamische Aspekt spiegelt sich auch in den Eigenschaften jener Einheit, die allen Forschungsprogrammen zugrunde liegen: der Theorie. Theorien sind Modelle eines Ausschnittes aus der Welt, die möglichst präzise darstellen sollen, wie sich dieser Ausschnitt aus der Welt verhält. Man kann sich eine Theorie auch als eine Ansammlung von Strategien vorstellen, die einem erlaubt, unterschiedliche Fragen über die Welt zu beantworten. Etwas spezifischer setzt sich jede Theorie aus zumindest drei Teilen zusammen: (i) einer Menge von Annahmen oder Hypothesen, (ii) einer Menge von Vorhersagen, die aus diesen Annahmen abgeleitet werden können, und (iii) Tests, die eine Methode zur Verfügung stellen, die Richtigkeit oder Korrektheit dieser Vorhersagen zu überprüfen. Die Hypothese, dass Hitze durch Bewegung von Molekülen zustandekommt, macht z.B. die Vorhersage, dass im Vakuum, also an einem Ort ohne Moleküle, keine Hitze existieren kann. Diese Vorhersage lässt sich durch einen Test, etwa durch das Messen der Temperatur im Weltall, überprüfen. Theorien besitzen gegenüber bloßen Beschreibungen den großen Vorteil, von konkreten Fakten unabhängig zu sein. Die gleiche Theorie, die einem erlaubt, die Position eines Schiffes zu bestimmen - die Triangulation in euklidischer Geometrie - kann z.B. auch zur Berechnung der Höhe eines Berges verwendet werden, oder um den Abstand zwischen der Erde und einem beliebigen Stern in der Milchstraße zu messen. Man kann sich eine Theorie daher auch als eine Sammlung von abstrakten Instrumenten vorstellen, die zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden können. Historisch gesehen sind Theorien wichtiger für die Entwicklung eines Gebietes, als die #1: Sprache und Philosophie 4 tatsächlichen Ergebnisse oder konkreten Resultate. Dies zeigt sich auch daran, dass es in vielen Fällen relativ einfach ist, Ergebnisse zu erzielen, da es sich bei diesen um nichts anderes als um die Anwendung des abstrakten Instrumentes, der Theorie handelt. Ein neues Instrument zu gestalten, also das Design einer neuen Theorie, ist dagegen eine viel komplexere Aufgabe, die nach Kunstfertigkeit und Intuition verlangt, sowie nach meist komplexen Überlegungen, oft langwieriger Überprüfung der empirischen Konsequenzen der Theorie und insbesondere viel Ausdauer.1 Wie sich im Verlauf der Ausführungen zeigen wird, steht auch für die moderne SP genauso wie für Formal- und Naturwissenschaften - nicht so sehr die Kategorisierung von Daten, und Katalogisierung von Erkenntnissen im Vordergrund, sondern vielmehr die Suche nach interessanten Konstellationen von Fragen und Antworten, sowie die Untersuchung der Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Hinweis zum Skriptum: Zu Abschluss ein Hinweis zum allgemeinen Vorgehen: mit Ausnahme der Ausführungen auf den nächsten Seiten werden in diesem Skriptum die Geschichte und die Entwicklung des Gebietes der SP nur sehr am Rande behandelt werden. In den meisten Fällen werden die Themen, Probleme und Theorien nicht in ihren historischen Kontext eingebettet, sondern mit den heute verfügbaren Methoden und mit heutigem Vokabular vorgestellt werden. Auf diese Art und Weise wird es leichter, den teilweise komplexen Ideen auf systematische Art und Weise in ihrer Entwicklung zu folgen. Diese Strategie ist auch besser mit der grundlegenden Strategie des Kurses vereinbar. Es sollen nämlich in diesem Seminar die Themen und Probleme nicht einfach aufgelistet, sondern so behandelt werden, wie man dies im wissenschaftlichen Alltag tut. Die Idee ist die gleiche wie bei einem Kochkurs: wenn man Kochen lernen will, muss man Kochen, man darf sich nicht auf das Lesen von Kochbüchern oder das Studium von TVKochsendungen beschränken. Analoges gilt für die SP (und alle Wissenschaften): wenn man wissen will, was SP ist, dann sollte man am besten SP betreiben. 1.2. (ÄUSSERSTS) KURZE GESCHICHTE DER MODERNEN SP Obwohl der Terminus Sprachphilosophie selbst erst um die Mitte des 19. Jh geprägt wurde, wurde Sprache schon seit der Antike eine besondere Stellung in der westlichen Philosophie zugesprochen. Anstatt einer systematischen Darstellung der historischen Entwicklungen werden im Folgenden einige wenige zentrale Hypothesen der SP eingeführt werden, die charakteristisch für Fragestellungen und typische Argumentationsstrategien des Gebietes sind. Antike bis 20. Jh. Historisch betrachtet - genauer genommen bevor es im späten 18. Jh. zur Ausformung der Linguistik zu einer eigenständigen Disziplin kam - befasste sich Philosophie mit vielen Eigenschaften der Sprache, die nach heutigem Verständnis nicht in den Bereich der Philosophie, sondern der Sprachwissenschaft fallen würden. So existieren unzählige philosophische Studien über typisch semantische Themen wie Prädikation, Ambiguität, die Bedeutung von Nominalphrasen (Plato, Aristoteles, Philosophen der Stoa), oder den Beitrag von logischen Konstanten wie und, oder und nicht (in der mittelalterliche Scholastik; s.u.). Aber Philosophen arbeiteten auch in anderen Gebieten der Grammatik, sie suchten nach einer 1 Es ist offensichtlich, dass diese einfache Erkenntnis von jenen, die verlangen, dass Wissenschaft immer anwendbar sein muss, nicht verstanden wird. 5 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Definition von Sprache (Johann Gottfried Herder, 1744–1803 oder Wilhelm von Humboldt, 1767-1835), erörterten grundlegende Fragen wie jene der sprachlichen Universalien, oder die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz (Humboldt) und spekulierten über den Sprachursprung (Herder). Im Mittelalter führte des Weiteren die Notwendigkeit, eine große Anzahl griechischer Texte ins Lateinische übersetzen zu müssen, zu einer intensiven Befassung mit grammatischen Phänomenen in beiden Sprachen, aber auch grundsätzlichen Fragen nach der Übersetzbarkeit. Alle diese Themen wurden bis heute immer wieder, und mit teils unterschiedlicher Motivation, durch die SP aufgegriffen. Eine ähnliche Situation war übrigens bis ins 17. Jahrhundert für das Verhältnis zwischen Philosophie und den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Geologie) charakteristisch. Vor dem Entstehen der modernen Physik, das üblicherweise mit dem Erscheinen von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 angesetzt wird, wurden alle Fragen und Forschungen innerhalb der natural philosophy2, also innerhalb der Philosophie, behandelt. Moderne SP und analytische Philosophie: Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert ließen Fortschritte in der historischen Sprachwissenschaft das eigenständige Gebiet der Linguistik im heutigen Sinne des Wortes entstehen. Unabhängig davon kam es um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu wichtigen Entwicklungen in den Gebieten der Logik und Mathematik, die es erstmals möglich machten, präzise Fragen zu der Bedeutung, also den semantischen Eigenschaften von Sprache zu stellen. Diese Entwicklungen führten zur Begründung eines neuen Gebietes innerhalb der Frege Wittgenstein Russell Philosophie, der sogenannten analytische Philosophie. Wichtige Grundsteine für die analytische Philosophie setzten die Logiker und Philosophen Gottlob Freges (1848-1925), Bertrand Russell (1872-1970) und Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Weitere entscheidende Impulse kamen auch von den Mitgliedern des Wiener Kreis, einer Vereinigung von Philosophen um Moritz Schlick (1882-1936) und Rudolf Carnap (1891-1970), die die Richtung des logischen Positivismus vertraten. Ganz allgemein setzt sich die analytische Philosophie zum Ziel, Fragen und Probleme möglichst präzise darzustellen, um diese dann mit möglichst exakten Methoden einer Lösung zuzuführen. Präzision wird dabei häufig durch Formalisierung des Problems in einer formalen Sprache wie Logik oder Mathematik erreicht.3 Formalisierung bietet eine Reihe von Vorteilen: (i) es wird - zumindest im Idealfall - möglich, die eigentliche Natur des Problems deutlicher zutage treten zu lassen; (ii) eine präzise formalisierte Theorie kann besser auf empirische Korrektheit überprüft werden; (iii) durch Formalisierung kann sichergestellt werden, dass eine Theorie konsistent ist, d.h. dass die Theorie keine Widersprüche enthält; (iv) Formalisierung hilft, versteckte Annahmen sichtbar zu machen; (v) schließlich ist es in einer exakt formalisierten 2 Natural philosphy ist nicht zu verwechseln mit der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus, vertreten durch Fichte, Hegel, Kant, Schelling und andere. 3 Wie solche formalen Sprachen konkret aussehen wird später noch eingehend behandelt werden. #1: Sprache und Philosophie 6 Theorie oft einfacher, die einzelnen Schritte, die von der Fragestellung zu möglichen Erklärungen führen, transparent darzustellen und somit nachvollziehbar zu machen. Für die SP waren diese Entwicklungen insofern relevant, als die Domäne der SP danach fast vollständig im Bereich der analytischen Philosophie lag. Das führte dazu, dass ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert4 die wichtigsten Fragen der SP sehr oft mit den formalen Methoden der Logik untersucht worden. Dadurch wurde es in einem größeren Ausmaß möglich, sprachphilosophische Theorien präzise zu formulieren, sowie deren empirische und formale Korrektheit zu überprüfen. Linguistic turn: Das Entstehen der analytischen Philosophie ging mit einem weiteren Entwicklung einher: der steigenden Bedeutung der Untersuchung von natürlicher Sprache in der Philosophie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nämlich offensichtlich, dass viele klassische Probleme der Philosophie mit der Art und Weise zusammenhängen, wie diese Probleme sprachlich präsentiert und formuliert werden. So hoffte man z.B., das bereits seit der Antike bekannte Lügnerparadox auf Eigenschaften von Sprache zurückführen zu lassen.5 Lügnerparadox: Der Satz in (7) illustriert das Lügnerparadoxon. (7) Ich lüge jetzt gerade. Das Paradox besteht darin, dass Satz (7) weder wahr sein kann, noch falsch. Angenommen (7) ist wahr. Dann ist es falsch, dass der Sprecher lügt. Dies widerspricht aber der Behauptung von (7). (7) kann also nicht wahr sein. Angenommen (7) ist falsch. Dann ist es falsch, dass der Sprecher lügt, er/sie spricht also die Wahrheit. Doch dies widerspricht wieder der Aussage von (7). Man gelangt also zum paradoxed Resultat, dass (7) weder wahr noch falsch sein kann. Die Hinwendung der Philosophie zur Analyse von natürlicher Sprache wird auch mit dem Begriff des linguistic turn assoziiert.6 Im Rahmen des linguistic turn kam es auch zu einer Befassung mit den Konsequenzen von sprachlichem Handeln. Wenn ein Sprecher (8) äußert, macht er/sie nicht nur eine Aussage über die Zukunft, sondern gibt auch ein Versprechen ab: (8) Ich werde nie wieder rauchen Der Frage, wie es zu diesem und ähnlichen Effekten kommt, wurde erstmals von John Austin (1911-1960) und John Searle (*1932) nachgegangen. Austin und Searle zählen zu den wichtigsten Repräsentanten der sogenannten Philosophie der Alltagssprache (ordinary language philosophy), deren Untersuchungen insbesondere in die Ausbildung der Sprechakttheorie sowie der linguistischen Disziplin der Pragmatik Eingang fanden. Fragen und Themen der modernen SP: Die weitere Diskussion vorwegnehmend, wird es an 4 Üblicherweise wird der Beginn der modernen SP mit Frege (1884) angesetzt. (Frege, Gottlob. 1884. Die Grundlagen der Arithmetik.) 5 Erste Versionen des Paradoxes wurden von Ευβουλίδης (4. Jh. v. Chr.) und von Επιµενίδης (6. Jh. v. Chr.) formuliert. Die auf SP gesetzte Hoffnung war übrigens verfrüht, das Paradox ist bis heute ungelöst. 6 Linguistic turn ist ein anderer Ausdruck, der nur sehr vage definiert ist, und für unterschiedliche Autoren unterschiedliche Bedeutungen trägt. Einem weiteren Publikum wurde der Begriff Ende der 1960er Jahre durch den Philosophen Richard Rorty gemacht. 7 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 diesem Punkt möglich, die Aufgaben der modernen SP inhaltlich etwas näher zu begrenzen. Im weitesten Sinne versteht man heute unter SP jenen Teilbereich der analytischen Philosophie, in dessen Mittelpunkt das Interesse an der Beziehung zwischen Sprache, Realität und dem Denken steht. Nun wird die Verbindung von Sprache und Welt über Bedeutungen vermittelt. Daraus ergibt sich, dass zumindest die folgenden Fragen in der Geschichte der SP eine zentrale Position einnehmen: " Was sind Bedeutungen? Wie werden sie repräsentiert? Handelt es sich bei Bedeutungen um abstrakte Entitäten7 wie Ideen, Konzepte oder Relationen, oder um abstrakte Dinge in der Welt? " Wo befinden sich Bedeutungen? In der Welt oder in unseren Köpfen? " Erwerb von Bedeutungen: Wie gelangen Bedeutungen - und sprachliches Wissen allgemein - in die Köpfe der Menschen? Wie wird Sprache erworben? " Sprache als kognitives System: Was ist die Beziehung zwischen dem Sprachsystem und dem nicht-sprachlichen Denken? Gibt es mentale Prozesse, die ohne Sprache auskommen? Existiert eine Sprache des Denkens? Was ist die Beziehung zwischen Sprache und anderen mentalen Systemen (Musik, Orientierung, Immunsystem,...)? " Evolution: Wie, wann und warum haben sich Sprache und komplexes Denken in der Entwicklungsgeschichte des Menschen entwickelt? " Sprache - Wirklichkeit: Was ist die Beziehung zwischen Sprache und Realität? Sind beide unabhängig von einander? Hat die Realität einen Einfluss auf die Art, wie das Sprachsystem aufgebaut ist, oder beeinflusst die Sprache unsere Sicht der Welt? Konstruiert Sprache die Wirklichkeit, wie manche behaupten? Durch das Aufkommen des eigenständigen Gebietes der Kognitionswissenschaften, sowie der Computerwissenschaften und der natürlichsprachlichen Semantik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu weiteren leichten Verschiebungen in der zentralen Themenstellung, die grundlegenden Interessen und Fragen der SP blieben jedoch die gleichen. Aus dem oben Gesagten lassen sich fünf größere Themen destillieren, in deren Bereich die zentralen Fragen der modernen SP fallen: (9) a. Darstellung von Bedeutung (Logik, Semantik, Pragmatik) b. Repräsentation von Wissen (Epistemologie, Kognitionswissenschaften, Biologie), insbesondere von sprachlichem Wissen (Kompetenz) c. Fragen nach den ontologischen Grundlagen der Begriffe d. Sprachliches Handeln (Pragmatik) e. Methodologie der Linguistik (Wie argumentiert man in der Linguistik? Wie werden sprachliche Daten interpretiert? Welche formale Eigenschaften besitzen die Theorie?) Dieses Skriptum konzentriert sich auf Fragen der formalen Sprachphilosophie; Themen der Pragmatik und der Methodologie werden nicht weiter behandelt werden. Bevor wir uns einigen zentralen Themen der Sprachphilosophie zuwenden, soll eine 7 Unter einer Entität versteht man in der Philosophie etwas, das existiert. #1: Sprache und Philosophie 8 Übersicht über einige der philosophischen Grundbegriffe gegeben werden, die im weiteren Verlauf dieses Kurses immer wieder auftauchen werden. 2. MINIMALE PHILOSOPHIE Der vorliegende Abschnitt stellt in kürzester Form einige grundlegende Strömungen der (westlichen) Philosophie vor. Weitere Ausführungen zu philosophischem Hintergrund folgen an Stellen, an denen die Diskussion dies nötig macht. 2.1. ZWEI PROMINENTE TAXONOMIEN Eine einfache Strategie, einen ersten Eindruck vom Gewerbe der Philosophie zu erlangen, wird durch Taxonomien zur Verfügung gestellt. Taxonomien sind Versuche, eine systematische Einteilung von Objekten oder Phänomenen in Klassen zu finden. Taxonomie I: Einer bekannten Einteilung zufolge lässt sich Philosophie als ein Haus mit drei Regionen darstellen (http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie). Für den vorliegenden Kurs sind insbesondere die folgenden drei Bereiche der Philosophie von Relevanz: Die Logik befasst sich mit der Darstellung von Beziehungen zwischen Bedeutungen wie z.B. Folgerung (s. u. (23)). Die Ontologie/Metaphysik fragt danach, welche Dinge (Entitäten) in der Welt existieren, sowie nach deren Eigenschaften. Typische Fragen sind: gibt es physikalische und abstrakte Objekte, Gedanken, Ideen, Geister, Gott? Was ist Realität? Die Epistemologie (Erkenntnistheorie) untersucht, wie der Mensch Wissen über die Welt erwirbt, auf welche Art und Weise er die Dinge erkennt. Was ist Wissen? Taxonomie II: Immanuel Kant formulierte in der Kritik der Reinen Vernunft (1781/1787) die seiner Meinung nach vier wichtigsten Fragen der Philosophie wie folgt: (10) a. b. c. d. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? (Epistemologie/Erkenntnistheorie, Logik) (Kognitions- und Kulturwissenschaft) Sprachphilosophische Untersuchungen konzentrieren sich vorwiegend auf die Suche nach Antworten zu Fragen aus der ersten und der letzten Gruppe. 2.2. EINIGE HAUPTSTRÖMUNGEN DER PHILOSOPHIE 9 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Philosophische Theorien, die untereinander Ähnlichkeiten aufweisen, bilden philosophische Strömungen oder Richtungen. Im Weiteren Verlauf des Skriptums werden wir einige dieser Strömungen näher kennen lernen, einige wenige davon werden hier kurz synoptisch vorgestellt. Die wichtigsten Strömungen unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie die Welt der konkreten, materiellen Dinge mit der abstrakten Welt, also der Gesamtheit aller Eigenschaften, Begriffe und Ideen, in Verbindung setzen. Dabei spielen insbesondere zwei Repräsentanten aus diesen beiden Welten eine entscheidende Rolle: der menschliche Körper und der menschliche Geist. Des weiteren lassen sich zwei Arten von Fragen unterscheiden, die in der Philosophiegeschichte in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchen: " Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? " Wie kommt die Beziehung zwischen Geist und Körper zustande? 2.2.1. Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Organismen, die ein Bewusstsein besitzen, bestehen aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Teilen: dem Körper und dem Geist. Körper und Geist kommunizieren zwar miteinander, sie können aber nicht direkt miteinander gleichgesetzt werden. Wenn jemand das links stehende Bild von Lucio Fontana betrachtet, dann sind zwei unterschiedliche Phänomene beobachtbar. Auf der einen Seite finden im Auge und im Gehirn biochemische Prozesse statt, wie z.B. die Aktivierung von Neuronen, die gemessen und experimentell untersucht werden können. Auf der anderen Seite entsteht aber auch ein Sinneseindruck des Bildes, eine subjektive mentale Repräsentation. Ähnliches gilt auch für andere Lucio Fontana. 1959. Sinneseindrücke (Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn). In all diesen Concept Spatiale Fällen besteht das Gesamtphänomen aus einer physikalisch messbaren und einer mentalen, nicht direkt quantifizierbaren Komponente. Ein weiteres Beispiel für die Unterscheidung zwischen Körper und Geist bildet die Trennung zwischen physischer und psychischer Gesundheit. Auch in die Analyse von Phänomenen findet diese Dichotomie Eingang. Wird ein Neuropsychologe gefragt, was beim Betrachten des Bildes von Fontana passiert, dann wird diese/r eine völlig andere Antwort geben, als etwa ein Kunstkritiker. Auf Grund dieser Tatsache finden wir oft zwei gänzlich unterschiedliche Erklärungen für ein und das selbe Phänomen. So gibt es z.B. divergierende Antworten zur Frage, was Aggression ist (kulturell bedingtes vs. physiologisch gesteuertes Verhalten), wie gewisse psychische Erkrankungen zu behandeln sind (Psychoanalyse vs. Pharmaka), ob der Mensch einen freien Willen besitzt (ja vs. nein), oder was die grundlegenden Eigenschaften von Sprache sind (dient der Kommunikation vs. formales biologisches System). Diesen Beobachtungen liegt auch die Unterscheidung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zugrunde. Seit 350 Jahren wird in der Philosophie intensiv die Frage diskutiert, wie die beiden Aspekte von Körper und Geist miteinander in Beziehung stehen. Die wichtigsten Positionen sind Dualismus und Monismus, die jeweils wieder in unterschiedlichen Formen vertreten wurden. (Ontologischer) Dualismus: Dualistische Theorien nehmen an, dass die mentalen Prozesse in #1: Sprache und Philosophie 10 unserem Hirn von grundlegend anderer Natur sind als die Welt. Zu den wichtige Vertreter zählen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Rene Descartes (1596-1650). Nach Descartes interagieren Körper und Geist an einem ganz spezifischen Ort, der Zirbeldrüse (επίφυση). Der Dualismus steht im Gegensatz zu Monismus und Pluralismus. Monismus: Geist und Körper sind Ausformungen einer einzigen Entität. Steht im Gegensatz zum Dualismus und Pluralismus. Es existieren unterschiedliche Arten des Monismus, darunter die zwei wichtigesten Vertreter: " Physikalismus oder Materialismus: Die Realität besteht aus Materie, d.h. aus physikalischen Entitäten, und aus nichts anderem. (Für weitere Details s.u.) " Idealismus. Allen Dingen liegen mentale Vorgänge zugrunde. Nur der Geist ist real (s.u.). Monismus steht im Gegensatz zum Dualismus und Pluralismus. Pluralismus: Vertritt die Ansicht, dass mehr als zwei Arten von Entitäten gibt. Neben Geist und Körper werden, je nach Theorie, Bewusstsein, Zahlen oder Bedeutungen als weitere abstrakte Entitäten postuliert. Pluralismus steht im Gegensatz zum Dualismus und Monismus. 2.2.2. Wie entsteht die Beziehung zwischen Geist und Körper? Auf die Frage, wie die Beziehung zwischen Geist und Körper zustandekommt, also wie Wissen und abstrakte Ideen in das menschliche Gehirn gelangt, wurden in der Geschichte der Philosophie im Grunde zwei (Gruppen von) Antworten gegeben. Rationalismus - Wissen ist angeboren: Rationalisten vertreten die Ansicht, dass Erkenntnis, Wissen und die Fähigkeit zu Denken auf angeborenen Eigenschaften des Geistes basieren, und nicht nur auf Erfahrungen (s. Empirismus). Descartes, Leibniz, Baruch Spinoza und (teils) Immanuel Kant waren prägende Repräsentanten im 17-18 Jh. Heute prominent vertreten durch Noam Chomsky (MIT) und Jerry Fodor (Rutgers Universität, NY). Steht im Gegensatz zum Empirismus. Empirismus - Wissen ist erlernt: Steht im Gegensatz zum Rationalismus. Dem Empirismus zufolge basiert alle Erkenntnis auf Erfahrungen, die ein Individuum in der Welt macht. Radikale Ausformungen des Empirismus nehmen an, dass Wissen ausschließlich durch Erfahrung erworben werden kann. Historisch wurde der Empirismus im 17.Jh durch die schottischenglischen Philosophen Francis Bacon, George Berkley, Thomas Hobbes, David Hume und John Locke vertreten. Wird im 20. Jh. insbesondere mit dem Wiener Kreis (Rudolf Carnap, Moritz Schlick,..), den psychologischen Behavioristen (John Watson, Burrhus F. Skinner) und dem Philosophen Willard v. O. Quine assoziiert. Zu den wichtigsten neueren empiristische Theorien zählt der Konnektionismus (David Rumelheart, James McClelland, Patricia Churchland, Paul Smolensky) der zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehender behandelt werden wird. Zwei Warnungen & Online Info: Erstens gibt es eine große Anzahl an philosophischen Richtungen, die miteinander in einer sehr komplexen Relation stehen. Man kann daher nur in den seltensten Fällen sagen, dass Hypothese X oder Annahme Y mit einer einzigen Richtung kompatibel ist. Zweitens werden die Termini von unterschiedlichen Schulen und zu unterschiedlichen Epochen teilweise unterschiedlich interpretiert. Begriffe wie Idealismus sind 11 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 z.B. ambig. Idealismus bei Hegel bedeutet etwas anderes als der Idealismus Platos. Bei Verwirrung empfiehlt es sich am besten, die Begriffe nachzuschlagen. Die beste Quellen im Netz stellt die Stanford Encyclopedia of Philosophie (http://plato.stanford.edu/contents.html) zur Verfügung. Dort findet man Artikel zur Sprachphilosophie genauso wie zur Philosophie der Linguistik (s. Eintrag zu Philosophy of Linguistics). Gute Online-Information auf Deutsch bietet im Allgemeinen auch Wikipedia (http://de.wikipedia.org). Ein recht ausführliches OnlineLexikon der Philosophen findet sich hier: http://www.philosophenlexikon.de/index.htm. 2.3. SPRACHLICHES W ISSEN UND SPRACHPHILOSOPHIE Wie hängen nun diese unterschiedlichen Hypothesen bezüglich der Beziehung von Geist und Körper mit Sprache und Sprachphilosophie zusammen? Welchen Unterschied macht es, ob man das Sprachsystem als Dualist, Rationalist oder als Empirist verstehen will? Im Folgenden soll ein konkretes Beispiel eine kurze Vorschau auf diesen Zusammenhang ermöglichen. Satz (11) kann so wie in (11)a oder so wie in (11)b interpretiert werden. Dies zeigt, dass das Modalverb können sowohl das höhere Prädikat (gewinnen; (11)a) oder das eingebettete Prädikat (tanzen; (11)b) modifizieren kann (die Beispiele und Diskussion folgen Berwick et. al 2011)8. (11) Hunde die tanzen können gewinnen a. Hunde, die tanzen, können gewinnen b. Hunde, die tanzen können, gewinnen In (12) wird aus Satz (11) eine Entscheidungsfrage gebildet. Interessanterweise kann diese Frage nun jedoch nur so wie in (12)a beantwortet werden; (12)b ist keine passende Antwort auf (12): (12) Können Hunde die tanzen, gewinnen? a. Ja, das stimmt. Hunde, die tanzen, können gewinnen b. *Ja, das stimmt. Hunde, die tanzen können, gewinnen Daraus kann gefolgert werden, dass können nur aus dem Hauptsatz verschoben werden kann. (13)a ist eine mögliche Struktur des Satzes, (13)b jedoch nicht: (13) a. Können Hunde [CP die tanzen] gewinnen __? b. *Können Hunde [CP die tanzen __] gewinnen? Diese Beschränkung gilt nun nicht nur in Sätzen wie (12) und in Sprachen wie dem Deutschen, sondern ganz generell. Werden in einer Sprache Entscheidungsfragen durch Bewegung des Verbs an die erste Stelle gebildet, so kann immer nur das strukturell höchste Verb verschoben werden. Man nennt dieses Generalisierung auch die Kopfbewegungsbeschränkung (head movement constraint, kurz HMC). Ein qualitativ ähnliche Beschränkung kann in (14) beobachtet werden. Bei den Sätzen in (14) handelt es sich um Konjunktionen, in denen zwei Sätze mit einander durch die Konjunktion und miteinander verbunden werden. (14)b belegt, dass das Objekt im zweiten Konjunkt durch das Pronomen es ersetzt werden kann. Das Pronomen bezieht sich dabei auf das Huhn, was durch 8 Robert C. Berwick, Paul Pietroski, Beracah Yankama & Noam Chomsky. 2011. Poverty of the Stimulus Revisited. Cognitive Science 35.7:1207-1242. #1: Sprache und Philosophie 12 Verwendung des selben Subskripts (die Zahl ‘2’) an der NP das Huhn und am Pronomen angezeigt wird. (14)c demonstriert, dass es möglich ist, beide Objekte gleichzeitig zu bewegen. Durch den Kontrast zwischen (14)c und (14)d wird schließlich offensichtlich, dass in diesem Fall das Objekt nicht durch das Pronomen es ersetzt werden darf: (14) a. b. c. d. Maria hat das Huhn gekauft und Peter hat das Huhn gekocht. Maria hat das Huhn2 gekauft und Peter hat es2 gekocht. Was hat Maria __ gekauft und hat Peter __ gekocht. *Was hat Maria __ gekauft und hat Peter es gekocht. Man beachte, dass (14)d semantisch wohlgeformt ist, der Satz besitzt also eine klar definierbare Interpretation, die so wie in (15) angegeben werden kann: (15) Sag mir den Namen des Objekts x7, sodass Maria es7 gekauft hat, und Peter es7 gekocht hat. Der Grund für die Ungrammatikalität von (14)d liegt also nicht daran, dass (14)d keine Bedeutung zugewiesen werden könnte. Erwähnenswert ist weiters, dass in dieser Paraphrase zweimal das Pronomen es auftaucht. Dies belegt, dass die Bedeutung des Pronomens es in (14)d im Prinzip von der Bedeutung des Fragewort was abhängen kann. Aus diesen Überlegungen folgt, dass es also ein syntaktisches Prinzip geben muss, das die Bildung von (14)d verbietet. Da dieses Prinzip in koordinierten Sätzen gilt, nennt man es auch den Coordinate Structure Constraint (CSC). (Wie genau CSC formuliert wird, ist hier nicht relevant). Eine wichtige Frage, die sich an diese Beobachtung anschließt, ist, wie Kinder HMC und CSC erlernen. Offensichtlich lernen Kinder diese Prinzipien nicht im selben Sinne, wie sie Schreiben lernen, oder das Spielen eines Musikinstruments - nur die wenigesten Eltern sind sich der Existenz von HMC und CSC bewußt. Dennoch machen Kinder systematisch keine Fehler, die auf eine Verletzung von HMC oder CSC hinweisen würden. Kein Kind produziert z.B. Sätze wie (14)d. Doch wie erwerben Kinder dieses Wissen? Da HMC und CSC ein Teil der Grammatik sind und die mentale Grammatik ein Teil des (unbewussten) Wissens, hängt diese Frage mit der generellen Frage nach dem Erwerb von Wissen zusammen. Unter anderem wurden zu diesen Fragen folgende Antworten gegeben. Dabei unterstützt jede dieser Antworten eine unterschiedliche philosophische Position: (16) a. HMC und CSC werden - genauso wie weite Bereiche der Grammatik - erlernt. Diese Hypothese steht mit den Annahmen des Empirismus im Einklang. b. HMC und CSC sind angeboren. Dies ist eine typische Annahme des Rationalismus. c. HMC und CSC existieren als unabhängige, abstrakte Beschränkungen; sie existieren also unabhängig von den konkreten Sätzen, in denen sie auftreten. Diese Sichtweisunterstützt Dualismus und Pluralismus. d. HMC und CSC existieren nur in den sprachlichen Äußerungen, den konkreten Sätzen. Diese Hypothese ist am bestem mit dem Physikalismus kompatibel. Im Verlauf des Kurses wird noch im Detail gezeigt werden, wie man aus linguistischen Beobachtungen Argumente für unterschiedliche philosophische Positionen gewinnen kann. Dabei werden auch die einzelnen philosophischen Begriffe klarer und präziser formuliert werden. Schließlich wird erklärt werden, welche Bedeutung diese Ergebnisse für so zentrale Probleme 13 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 der Philosophie, wie die Suche nach der Natur des Denken, haben. (16) listet einige Möglichkeiten auf, wie sprachliches Wissen erworben wird. Wissen stellt nun eine abstrakte Entität dar. Doch bisher wurde noch nicht darauf eingegangen, worum es sich bei abstrakten Objekten überhaupt handelt, welche Eigenschaften sie besitzen, wo sich diese befinden, oder wie Abstraktheit zustande kommt - wenn es sie überhaupt gibt. Der nächste Abschnitt wendet sich daher dem Konzept der Abstraktheit in der (Geschichte der) Philosophie zu, und führt einige zentrale Positionen zu diesem Thema ein. 3. PLATO: IDEEN, SPRACHE UND WIRKLICHKEIT Das Erkennen von Regelmäßigkeit in der Natur stellt eine notwendige Strategien zum Überleben dar. Wer gelernt hat, dass das Aussehen von gewissen Pflanzen und Tieren systematisch mit deren Eigenschaften (essbar, giftig, verwendbar als Kleidung, ...) zusammenhängt, besitzt entscheidende Vorteile bei der Nahrungsbeschaffung, bei der Vermeidung von Gefahr und in anderen Bereichen. Eine Spezies, die über das Konzept TIGER verfügt, braucht nicht jeden einzelnen Tiger als solchen zu kennen, um zu wissen, dass Tiger eine Gefahr darstellen. Analog dazu bietet die Kenntnis des Konzepts APFELBAUM wichtige Vorteile bei der Suche nach Nahrung. Ideen erlauben es also, von einzelnen Individuen auf eine allgemeine Regelmäßigkeit zuschließen. Offensichtlich verfügt der Mensch über eine Vielzahl solcher Konzepte als Teil seiner kognitiven Grundausstattung. 3.1. PLATOS IDEENWELT Doch wie identifiziert man nun ein konkretes Tier als Tiger, eine spezifische Schlange als Kobra oder einen Baum als Apfelbaum? Eine mögliche Antwort lautet: indem man das Konzept (17)a kennt, und dann den Schluss in (17)b anwendet: (17) a. Das Konzept TIGER (z.B. die Summe aller Eigenschaften, die für Tiger charakteristisch sind - vier Beine, größer als ein Mensch, gelb, schwarze Streifen,...). b. Das konkrete Individuum9, das vor mir steht, weist (17)a auf. Die in (17)a gespeicherte konzeptuelle Information kann auch als eine Idee im Sinne Platons (3./4. Jh. v. Chr.) verstanden werden.10 Plato verwendete etwas unterschiedliche Argumente, sowie ein anderes Vokabular, aber der Grundgedanke des Platonismus ist der selbe. Er sieht so aus. Die Welt besteht nicht nur aus physikalischen Entitäten, sondern enthält eine Vielzahl von abstrakten Ideen, also raum- und zeitlose Entitäten. Diese unterscheiden sich von konkreten 9 In der Philosophie und in der Logik wird jedes Objekt, egal ob es belebt ist oder nicht, als Individuum bezeichnet. Diese Individuen können konkret sein (Albert Einstein, die Erde) oder abstrakt (Pegasus, die größte Zahl, das 20. Jahrhundert). Das wichtigste Kriterium, das festlegt ob etwas ein Individuum ist oder nicht, ist, dass sie voneinander getrennte Einheiten darstellen. Diese Eigenschaft wird Individuation genannt. Albert Einstein oder ein konkreter Tiger sind z.B. individuierbar; auf einen Tigerzahn zusammen mit dem linken Fuß Einsteins trifft dies nicht zu. 10 Idee wird hier als Fachausdruck verwendet, und sollte nicht mit Idee in der Bedeutung ‘Einfall’ oder ‘Gedanke’ (Ich habe eine Idee!) verwechselt werden. #1: Sprache und Philosophie 14 Individuen wie einem Stein, einem Tiger oder der Stadt Athen nur dadurch, dass sie nicht durch unsere Sinne direkt wahrnehmbar sind. Ideen sind demnach realer Bestandteil unseres Universums, und umgeben uns genauso, wie die Dinge des sichtbaren Universum. Weiters korrespondieren Ideen mit diesen stofflichen Objekten auf systematische Art und Weise, da sie zwischen uns und der Welt vermitteln. Diese Verbindung stellt laut Plato sogar die einzige Möglichkeit dar, um die eigentliche Realität zu erkennen, da das Aussehen der Dinge irreführend sein kann. Will man das Wesen der Dinge erkennen, muss man daher die Ideen analysieren. Daraus folgt, dass alle Erkenntnis von der Existenz von Ideen abhängig ist. Gibt es keine Ideen, so kann man die Realität auch nicht erkennen. Diese epistemologische Dimension des Platonismus wurde im Höhlengleichnis ausgedrückt. (18) Kurzfassung Höhlengleichnis: Die Menschheit ist in einer Höhle gefangen, unser Blick vermag nur die Schatten der Dinge wahrzunehmen. Die wahre Realität ist jedoch vor unseren Augen verborgen, sie ist in den Ideen versteckt. Und diese Ideen offenbaren sich ausschließlich durch philosophische Analyse. Ideen können also als abstrakte Repräsentationen von Objekten in der Welt aufgefasst werden, die uns in die Lage versetzen, die Realität zu erkennen. In unserem Vokabular entsprechen Ideen den Konzepten.11 3.2. EINORDNUNG DES PLATONISMUS Zu diesem Zeitpunkt ist es sinnvoll, kurz auf die Einordnung des Platonismus in Bezug auf andere Strömungen der Philosophie, sowie auf mögliche Alternativen einzugehen. Alle drei unten skizzierten Theorien tragen den Präfix ‘ontologisch’, da es sich um Theorien der Wirklichkeit handelt und da somit Hypothesen über die Realität formuliert werden. Im Anschluss daran wird dann der sprachphilosophisch wichtigste Teil von Platos Weltbild vorgestellt werden die Diskussion um die Richtigkeit von Wörtern. (Ontologischer) Realismus: Platonismus stellt eine Form des ontologischen Realismus dar, der davon ausgeht, dass die Realität von den mentalen Vorgängen in unserem Kopf vollständig getrennt ist. Welt und Geist sind unabhängig von einander. Die Welt existiert auch dann, wenn sie nicht von uns wahrgenommen werden kann. Man stelle sich vor, dass es die Menschheit nicht geben würde. Für ontologische Realisten ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Welt existiert. Eine der möglichen Gegenposition ist der Solipsismus, demzufolge die Wirklichkeit ausschließlich in unseren Vorstellungen zu finden ist. (Ontologischer) Idealismus/Konzeptualismus: Die Wirklichkeit besteht ausschließlich aus Ideen oder Konzepten. Wird nicht mehr ernsthaft von jemandem vertreten. Davidson 11 Lewis (Ontologischer) Materialismus/Physikalismus: Alles, was Genauer gesagt sind die beiden Begriffe nicht vollkommen synonym, aber für unsere Zwecke sind die Unterschiede irrelevant. 15 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 existiert, besteht aus Materie, und unsere Wahrnehmung kann sich daher nur auf physikalisch existente Objekte beziehen. Dieses Weltbild wurde in der Moderne insbesondere durch Donald Davidson (1917-2003) und David Lewis (1941-2001) geprägt, die beide zu den wichtigsten Sprachphilosophen der Gegenwart zählten. Im Physikalismus ist, was immer wir an physikalischer Realität beobachten, auf genau eine physikalische Konstellation zurückzuführen. Daher erscheint uns die Welt deterministisch, und die Realität wird erklärbar. Genau aus diesem Grund kann z.B. ein Bild, etwa jenes von Davidson, nur dann in ein anderes Bild, etwa jenes von Lewis, übergehen, wenn die physikalischen Eigenschaften des Bildes selbst sich ändern. Umgekehrt gibt es jedoch viele Methoden, Lewis oder Davidson zu repräsentieren. Ein Foto, ein Druck, eine Skizze oder eine abstrakte Darstellung vermögen das gleiche. Der Welt steht also mehr als eine Methode zur Verfügung steht, ein und das selbe Objekt abzubilden, aber jede Konstellation von Daten und Sinneseindrücken entspricht genau einem physikalischen Objekt (oder Vorgang). Der Physikalismus ist insbesondere deswegen wichtig, da er ein geeignetes Weltbild für die wissenschaftliche Methode bereitstellt, auf der seit Galileo Galilei (1564-1642) alle Erkenntnis über die physikalische Umwelt basiert. Eine weitere Konsequenz des Physikalismus ist, dass etwas über das offensichtliche Vorhandensein von abstrakten, nicht-stofflichen, nichtphysikalische Dingen - wie etwa das menschliche Bewusstsein - gesagt werden muss. Der Mensch nimmt z.B. bewusst köperlichen Schmerz wahr. Schmerz ist weiters als Aktivierung von gewissen Nervenzellen im Gehirn messbar. Aber Schmerz ist nicht das selbe wie die Aktivierung dieser Zellen. Er ist also nicht allein als ein elektrochemischer Prozess erklärbar. Ähnliche unklar ist der Status von Konzepten, Zahlen, sprachlichen Bedeutungen und anderen abstrakten Entitäten, die wir nur in unserem Bewusstsein wahrnehmen. Ohne eine vollständige Antwort zu geben, nur so viel: es gibt Prozesse, mit deren Hilfe aus rein physikalischen Entitäten, etwa aus elektrochemischer Aktivierung von Nerven, in unserem Bewusstsein nicht-physikalische Zustände wie Schmerz entstehen. Dieser Prozess, der als Supervenienz bekannt ist, spielt insbesondere in der aktuellen neurologischen, biologischen, (sprach)philosophischen und auch linguistischen Forschung zu Bewusstsein, Geist und Kognition eine wichtige Rolle. 3.3. IDEEN/KONZEPTE: KONSEQUENZEN, PROBLEME UND HERAUSFORDERUNGEN Aus der Annahme, dass unser Bewusstsein Ideen und/oder Konzepte zu verarbeiten in der Lage ist, ergibt sich eine Vielzahl von Fragen, die in unterschiedlicher Form immer wieder im Laufe der Philosophiegeschichte aufgetaucht sind. (19) listet die wichtigsten dieser Fragen auf, zu einigen Themen werden wir im Laufe des Kurses wieder zurückkehren. #1: Sprache und Philosophie (19) 16 a. Was sind Ideen oder Konzepte, wie sehen sie aus, wie werden sie repräsentiert? i. Ideen sind mentale Bilder. ii. Konzepte stellen Definitionen dar. iii. Es handelt sich um Algorithmen, zur Individuation (s. Fußnote 9 und Handout #2) b. Problem der Inflation: Gibt es für alles eine Idee oder ein Konzept? i. Existieren Ideen, die für Dinge stehen, die nicht existieren (Pegasus)? ii. Gibt es auch Ideen von Ideen (oder Ideen von Ideen von Ideen,...) iii. Kann ein einzelnes Ding durch zwei unterschiedliche Ideen repräsentiert werden? c. Ontologie: Wo befinden sich Ideen oder Konzepte? i. Ideen sind Teil der Welt, die uns umgibt (Platonismus). ii. Konzepte sind Teils unseres Geist, also befinden sich in unseren Köpfen (Konzeptualismus). iii. Es gibt keine Ideen/Konzepte; es handelt sind dabei um Konstrukte in unserem Geist oder Bewusstsein, die jedoch mittels Supervenienz auf rein physikalische Eigenschaften reduzierbar sind. (Physikalismus) Neben diesen drei Reaktionen sind auch hybride Antworten möglich. d. Kompositionalität: Wie werden Ideen oder Konzepte kombiniert? Gibt es komplexe Konzepte wie JUNGER TIGER oder ANGEBLICHER TIGER, DER SICH ALS GEFÄRBTER HUND HERAUSSTELLTE? e. Können sich Ideen oder Konzepte über die Zeit verändern? Wenn ja, wie? Die Punkte in (19) sind insbesondere deswegen für unsere Zwecke relevant, da die Diskussion für oder gegen spezifische Positionen in sehr vielen Fällen mittels sprachphilosophischer Argumente geführt wurde. Wie immer werden sich die Ausführungen auf einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der Meinungen beschränken. Im Folgenden wird kurz zu Plato zurückgekehrt werden, zu dessen Dialog Kratylos, in der Plato die Verbindung zwischen Ideen und Sprache untersucht. Im Anschluss wenden wir uns den so genannten Universalien und schließlich deren Beziehung zu Prädikaten zu. 3.4. DER KRATYLOS DIALOG Im Dialog Κratylos (Κρατύλος) diskutiert Κratylos mit Hermogenes über die Frage, wie die Dinge zu ihren Namen kommen. Während Κratylos die Auffassung vertritt, dass jedes Ding seinen von Natur aus richtigen Namen besitzt (φύσει), argumentiert Hermogenes für die These, dass alle Wörter durch Übereinkunft zwischen den Sprechern, durch Konvention, interpretiert werden (θέσις). Kratylos plädiert also für das, was häufig als Naturalismus (oder Analogismus) bezeichnet wird, während Hermogenes These für den Konventionalismus (Anomalismus) typisch ist. Für Naturalisten ist Sprache regelmäßig, für Konventionalisten ist dagegen das Unregelhafte, die Abweichung für Sprache charakteristisch. Beginnen wir mit der zweiten Richtung. 3.3.1. Konventionalismus Definition: Die Namen für chemische Elemente nicht willkürlich. S bezeichnet z.B. Schwefel, O steht für Sauerstoff, und C für Kohlenstoff. Auch die Verbindungen sind reglementiert: CO2 steht für Kohlendioxid, nicht etwa OCO oder COO, obwohl alle drei Namen die gleiche 17 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Information beinhalten (ein Kohlenstoffatom und zwei Sauerstoffatome). Diese Regelungen waren jedoch nicht immer gültig, sie wurden erst Ende des 19. Jh. eingeführt. Früher waren daher viele Verbindungen unter anderen Namen oder Symbolen bekannt. CO2 wurde z.B. auch ‘COO’ geschrieben, etc... Die Anhänger des Konventionalismus vertreten die Ansicht, dass die Verbindung zwischen Form und Inhalt bei Worten ähnlich geartet ist. Die Bedeutung eines Wortes wird demnach durch Übereinkunft, also durch eine Konvention festgelegt. Der Gedanke kann auch auf die Syntax erweitert werden; so wie nicht COO, sondern CO2, geschrieben wird, heißt es das Haus und nicht Haus das. Probleme für Konventionalismus: Konventionalismus kann, zumindest in seiner reinen, radikalsten Form, nicht korrekt sein, da er zumindest mit folgenden Problemen konfrontiert wird: " Ursprung: Wer hat diese Konventionen begründet? Einzelne Personen? Dann sollte die Konvention nicht für alle gelten. Die gesamte Sprachgemeinschaft? Dann stellt sich die Frage, wie und wann sie dies getan hat. Wurde etwa gewählt und über den Namen des Konzepts TIGER abgestimmt? Oder kam die Konvention von oben, von Gott? " Neue Namen: Jeder kann Dingen neue Namen geben. Dies geschieht z.B. ständig in der Werbung. Dennoch sind diese neuen Namen nicht durch Konvention zustande gekommen. Es kann also nicht korrekt sein, dass alle Dinge ihren Namen durch Konvention erhalten. " Produktivität/Rekursivität: Ein und das selbe Ding kann unterschiedliche Namen tragen. Der Präsident der USA im Jahre 2010 und Barack Obama referieren auf das selbe Individuum. Genaugenommen ist die Anzahl der Namen, die jedem Ding zugewiesen werden kann unendlich groß, da jede NP durch einfache Mittel rekursiv verlängert werden kann: der Präsident der USA im Jahre 2010, der in Washington wohnt; der Präsident der USA im Jahre 2010, der in Washington wohnt und auf Hawaii geboren wurde,... sind alles NPs mit Obama als Referenten. Dies würde bedeuten, dass für jede einzelne dieser NPs eine Konvention existieren müßte - also unendlich viele Konventionen, nur um die möglichen Namen eines einzigen Individuums zu erklären. " Nicht alle Wörter bezeichnen Dinge, nicht alle Wörter referieren. Wie kommen nichtreferenzielle Ausdrücke wie und, nicht, wenn....dann, kein Schüler, jeder Kritiker oder viele Bilder zu ihrer Bedeutung? Man beachte auch, dass die Bedeutung dieser Ausdrücke - mit Ausnahme einer kleinen Gruppe mit Ausbildung in formaler Semantik - kaum jemandem bekannt sein dürfte (jeder Kritike denotiert die Menge der Eigenschaften, die jeder Kritiker besitzt). Wie können dann diese Bedeutungen mittels Konvention festgelegt werden? " Nehmen wir an, alle diese Probleme könnten umgangen werden. Dennoch bleiben weitere, unüberwindliche Hindernisse für einen reinen Konventionalismus. Die Bedeutung vieler Ausdrücke variiert nämlich entweder mit dem Kontext oder mit anderen Ausdrücken im Satz. Wenn es in einer Situation 100 Kritiker gibt, müssen mindestens 50 das Buch gelesen haben, um (20) wahr zu machen; die meisten Kritiker bezieht sich also auf 50 oder mehr Individuen in der Welt mit gewissen Eigenschaften. Sind es aber 500 Kritiker, so steigt die Anzahl jener, die das Buch gelesen haben müssen auf 251. Bedeutet dies, dass zwei Konventionen existieren, eine für Situationen mit 100 Kritikern und eine für Situationen mit 500 Kritikern? Und was passiert mit Situationen mit 51 oder 52 oder 8,712 oder 10 אKritikern? Es müßte also eine unendliche Anzahl #1: Sprache und Philosophie 18 von Konventionen geben, nur um das Subjekt von (20) zu interpretieren. Ähnliches gilt für (21): (20) Die meisten Kritiker haben das Buch gelesen. (21) Keiner1 konnte seine1 Bilder verkaufen. Fazit: Radikaler Konventionalismus kann zentrale Eigenschaften von Sprache nicht erklären, und ist daher nicht haltbar. 3.3.2. Naturalismus Definition: Jedes Ding besitzt seinen Namen aufgrund der Eigenschaften, die es besitzt. Dergestalt kann jedem Ding der richtige Name zugewiesen werden. Hermogenes verweist auf Analogien mit der physikalischen Welt, wo man auch für jedes Objekt die passende Substanz wählt. [Die Beispiele stammen von mir; WL]. Zur Anfertigung eines Pfeiles nimmt man z.B. ein langes, rundes und leichtes Objekt; das am besten geeignete Grundmaterial für eine Presse stellt dagegen ein schwerer, flacher Gegenstand dar. Genauso sollte es mit der Sprache sein. Jedes Wort dient einem Zweck, und daher sollte die Form des Wortes diesem Zweck so gut wie möglich folgen. (22) macht einige versteckte Annahmen des Arguments sichtbar: (22) a. Ein Wort ist eine Wortform, als besteht aus einer lautlichen Form ohne Inhalt. b. Wörter dienen einem Zweck, sie erfüllen eine Funktion - dies ist ihre Bedeutung. c. Die Funktion der Wörter ist der Funktion von Objekten vergleichbar, die der Mensch angefertigt hat. Y Wortformen werden durch Konvention mit ihrer Bedeutung verbunden. Anmerkung: das Symbol Y signalisiert die logische Folgebeziehung. Sie wird auch logische Folgerung oder Implikation genannt. Wird ein Symbol verwendet, so wie in (23)b, sprechen wir von symbolischer Darstellung. (23) a. A folgt aus B (oder A impliziert B), genau dann, wenn es nicht möglich ist, dass A wahr ist und B falsch ist. b. Symbolisch: A Y B Beispiel: Wenn (24)a wahr ist, muss auch (24)b wahr sein. Es ist nicht möglich, sich eine Situation vorzustellen, in der (24)a wahr, aber (24)b falsch ist. (24) a. Maria und Hans arbeiteten. b. Y Maria arbeitete. (25) a. Jeder Teilnehmer schläft. b. Y Mindestens ein Teilnehmer schläft. (Einige) Probleme mit Naturalismus: Naturalismus stößt in seiner radikalen Form auf ebenso unüberwindbare Probleme wie der Konventionalismus. Einige der ungelösten Fragen sind: " Welches Prinzip bestimmt, was der korrekte Name ist? Wird dies durch ein Naturgesetz festgelegt? Warum besitzen dann Dinge unterschiedliche Namen in unterschiedlichen Sprachen? (Naturgesetze sollten im ganzen Universum gültig sein.) " Es existieren viele Objekt mit mehr als einem Namen (s. Obama Beispiel weiter oben). Warum hat nicht jedes Ding nur einen Namen, nämlich den am besten geeigneten? 19 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 " Wörter verändern sich im Laufe der Zeit, während die Dinge konstant bleiben. Die Zahlwörter für 5 und 10 haben sich etwa wie folgt aus dem Althochdeutschen/Gotischen entwickelt. Die Zahlen selbst unterliefen natürlich keine Veränderung. (26) Althochdeutsch/Gotisch Neuhochdeutsch [fimf] [téxum] [fymf] [tse:n] > > ‘fünf’ ‘zehn’ Diese und viele ähnliche Beobachtungen widersprechen offensichtlich der Grundannahme des Naturalismus, da die Beziehung zwischen Name und Zahl entweder im Althochdeutschen nicht optimal war, oder aber heute nicht korrekt ist. Fazit: Radikaler Naturalismus kann zentrale Eigenschaften von Sprache nicht erklären, und ist daher nicht haltbar. 3.3.3. Das Urteil des Sokrates/Plato Sokrates, der als Stellvertreter Platos eingreift, bringt weitere Einwände sowohl gegen die Positionen des Konventionalismus, als auch gegen Naturalismus vor. Konkret vertritt er die Meinung, dass die Wirklichkeit bekannt sein muss, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage festzustellen. Um zu wissen, ob Der Mt. Everest ist der höchste Berg wahr ist, muss man wissen, wie ein Teil der Welt beschaffen ist. Die Kenntnis der Realität ist demnach Voraussetzung, wenn die Korrektheit oder Angemessenheit eines Namens oder eines Wortes überprüft werden soll. Daraus folgt, dass Wörter und Sätze - sowie Sprache allgemein - nichts über die Welt direkt aussagen. Die Frage, ob Wörter ‘richtig’ verwendet werden oder nicht, ist daher laut Plato nicht beantwortbar. Plato kommt also zum Schluss, dass es nicht möglich ist, Konzepte oder Ideen aus der sprachlichen Form alleine, also aus der Lautgestalt der Worte, abzuleiten. Dies hat wichtige Konsequenzen für die gesamte platonische Philosophie. Wahre Einsicht in die Natur der Welt kann nur durch Denken gewonnen werden, nicht jedoch durch Analyse der Lautgestalt, Untersuchung der Wortformen oder Etymologie. Interpretation - was wäre, wenn Plato Saussure gekannt hätte? Zur Zeit Platos war das Wort eine nicht-analysierbare Einheit; der Begriff des Zeichens (Saussure12), das Inhalt und Form beinhaltet, war noch nicht bekannt. Die Form konnte also niemals von der Bedeutung eines Wortes getrennt betrachtet werden. Daher war es natürlich auch nicht möglich, nur den semantischen Gehalt des Wortes - ohne dessen Form - mit der Idee in Zusammenhang zu bringen. Dies führt zu den in (27) dargestellten Verhältnissen: (27) Plato - ohne Zeichentheorie: TigerWort TigerObjekt in der Welt TIGER Idee/Konzept 12 Für Hintergrund s. http://vivaldi.sfs.nphil.uni-tuebingen.de/~nnsle01/SemIntro2010%2001.pdf #1: Sprache und Philosophie 20 Aus heutiger Sicht ist bekannt, dass Wörter als symbolische Zeichen zu interpretieren sind. Die Bedeutung kann also von der Form abgespalten, getrennt werden. Diese wichtige Erkenntnis macht es möglich, Wörter wieder mit der Welt in Verbindung zu bringen. So wie in der grafischen Darstellung (28) etwas vereinfacht gezeigt, steht die Denotation des Wortes auf der einen Seite durch die Denotationsfunktion ƒ.„ mit dem Konzept (in der Semantik auch Intension genannt), und auf der anderen Seite mit dem Objekt in der Welt (Extension) in Verbindung.13 (28) Mit Zeichentheorie: Form: [tI:gX] Bedeutung: ƒTiger„ TigerObjekt in der Welt Wort TIGER Idee/Konzept Nach heutigem sprachphilosophischen Wissen fungieren also Wörter sozusagen als Namen für Ideen oder Konzepte. Die Analyse der Wörter - und von Sprache im Allgemeinen - wäre damit nicht nur hilfreich bei der Suche nach den Ideen, sondern sogar äußerst eng mit der Analyse von Ideen und Konzepten, also nach Plato den essentiellen Entitäten, verbunden. Vorschau: " " " " Universalien Die Kopula sein bei Plato: Identität vs. Prädikation Prädikate als ‘Universalien’ Universale Eigenschaften in der Grammatik (Chomsky vs. Skinner) Anmerkung zum Skriptum: Dieses Skriptum entwickelt sich mit dem Kurs. Kommentare aller Art sind jederzeit willkommen! Sollten Sie (i) Teile unverständlich oder schwierig finden, (ii) Fragen, Vorschläge oder Anregungen (auch zur Übersetzung ins Griechische) haben, oder (iii) Fehler irgendwelcher Art (Rechtschreibung, inhaltlich, ...) entdecken, wäre ich dankbar, wenn Sie mir ein kurzes Email zukommen lassen könnten ([email protected]). 13 Für jeden Ausdruck α gilt, dass ƒα„ die Denotation, also die Bedeutung, von α darstellt. #2: 31/2 X UNIVERSALEin Grundthema, dass sich durch die ganze Philosophiegeschichte, und insbesondere auch durch die Sprachphilosophie verfolgen läßt, ist der Konflikt zwischen Einheit und Vielfalt oder, etwas anders formuliert, zwischen Regelmäßigkeit und Arbitrarität. Eine Manifestation dieses Konflikts wurde bereits in Handout #1 angetroffen. Während etwa Naturalisten (auch Analogisten genannt), die Meinung vertreten, dass Sprache auf Regelmäßigkeit basiert, also dass es zugrundeliegende unveränderliche Prinzipien gibt, die Sprache steuern, verteidigen Konventionalisten (oder Anomalisten) die Auffassung, dass Sprache in ihrem Wesen inhärent chaotisch sei, also nicht durch Regeln zu erklären ist. (Wie immer stelle ich die Positionen extremer dar, als dies von den Vertretern der beiden Richtungen getan werden würde.) Naturalisten betonen die Einheit, die Regelmäßigkeit, wogegen Konventionalisten die Auffassung vertreten, dass Sprache durch nicht reduzierbare Vielfalt und Arbitrarität charakterisiert wird. Doch der Konflikt Einheit vs. Vielfalt nimmt viele weitere Formen an, er zieht sich wie ein roter Faden als Leitmotiv durch einige der wichtigsten Themen der Sprachphilosophie. Dabei wird eine Partei - jene, die Einheit vertritt - sehr oft mit Hypothesen oder Theorien verbunden, die auf dem Morphem universal- aufbauen.14 Konkret spielen dreieinhalb Interpretationen des Präfixes universal- in der Sprachphilosophie eine bedeutende Rolle: () Universal 1 Universalien als universale Eigenschaften Universal 2 Universalsprache als ein allgemeine Sprache, um Auseinandersetzungen, Dispute und offenen Probleme der Wissenschaft und Religion zu lösen (Descartes, Leibniz) Universal 21/2 Universalsprache zur internationalen Kommunikation (Latein, Griechisch, Esperanto,...) Universal 31/2 Sprachliche Universalien: Alle menschlichen Sprachen zeichnen sich durch Gemeinsamkeiten aus, die auf fundamentale Eigenschaften des Sprachsystems hinweisen. Die Gegner dieser ‘universalen’ Positionen sind die Anhänger der Vielfalt, also der Idee, dass Arbitrarität mehr Bedeutung besitzt als Regelmäßigkeit. In diesem Kurs werden vor allem zwei Gegenpositionen genauer behandelt werden, nämlich jene zu Universal 1 und Universal 31/2 () Gegenposition zu Universal 1 Es gibt keine Universalien im philosophischen Sinne. Gegenposition zu Universal 31/2 Es gibt keine sprachlichen Universalien. Sprache ist erlerntes Verhalten (Behaviorismus) Das vorliegende Handout behandelt Universalien, also Universal 1, Universalsprache und sprachliche Universalien werden zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert werden. 14 Diese Beobachtung basiert zwar sicher auf Zufall - es gibt keine allgemeine Schule der universalPhilosophen. Die Existenz der zwei allgemeinen Tendenzen in der Philosophie ist aber real. #2: Universal- 22 1. INDIVIDUEN UND EIGENSCHAFTEN Eine Beobachtung, die niemand bestreiten wird, ist, dass Entitäten untereinander Ähnlichkeiten aufweisen können. Alle Hunde haben z.B. Eigenschaften gemeinsam, die sie von Katzen oder Tischen unterscheiden. Das selbe gilt für alle roten Objekte, oder für alle essbaren, oder für Individuen deren Name mit V beginnt oder für Ideen, die mir interessant erscheinen. Oft können wir nicht genau angeben, welche Eigenschaften diese Objekte teilen - was sind interessante Ideen? - aber dennoch wissen wir, wenn wir ausreichend Information besitzen, ob zwei Entitäten in die selbe Klasse fallen oder nicht.15 Obwohl wir die Konstellation in (3) wahrscheinlich noch nie gesehen haben, wird beim Betrachten der Objekte sofort deutlich, welche rund sind, welche schwarz, welche nahe zueinander liegen, welche Noten darstellen, oder welche sich links oder rechts auf dieser Seite befinden: () !1 !2 !3 !4 j1 j2 j3 + * Es muß daher eine Verbindung existieren zwischen jedem einzelnen Objekt und den Eigenschaften, die es mit anderen Objekten teilt. Individuelle Objekte sind demnach nicht nur einzelne, von der Welt getrennte Entitäten, die sich unter einander unterscheiden (Vielfalt), sondern stehen auch zur dieser Welt auf regelmäßige Art und Weise in Beziehung (Einheit). Die Boxen in (4), sowie die Verbindungslinien zu (3) machen dies auf ein wenig naive Art und Weise sichtbar. (3) () !1 !2 !3 !4 oy!r schwarz j1 j2 j3 ... ! ! ! p sternförmig rechts ... Noten ... Doch was sind eigentlich diese Eigenschaften in (4)? Um welche Art von Objekten oder Individuen handelt es sich dabei? Oder sind Universalien überhaupt Entitäten, d.h. existieren sie überhaupt? Könnte man nicht genauso argumentieren, dass es z.B. SCHWARZ16 als eine getrennte Eigenschaft gar nicht gibt, sondern dass SCHWARZ nichts anderes ist, als die Menge aller schwarzen Dinge? Und wie stehen Eigenschaften zu den Objekten in Beziehung? Ontologie: Viele dieser Fragen stellt die Ontologie (oft mit der Metaphysik ident). Dieser Teilbereich der Philosophie versucht festzustellen, welche Dinge real sind und welche nur zu existieren scheinen. Dabei kann auf Methoden aus allen Wissenschaften zurückgegriffen werden. Vor ca. 350 Jahren glaubten z.B viele, dass alle brennbaren Materialen einen Stoff beinhalten, der bei der Verbrennung freigesetzt wird. Dieser Stoff, von dem angenommen wurde, dass er die beiden Eigenschaften des Feuers produziert (Hitze und Licht), wurde Phlogiston genannt. Heute 15 Natürlich existieren auch Grenzfälle, etwa rot-blaue Objekte. Diese Probleme der Vagheit oder Unterdeterminiertheit werden momentan ignoriert werden. 16 Im Folgenden werden Eigenschaften, Universalien, Ideen und Konzepte durch KAPITÄLCHEN gekennzeichnet werden - zumindest wenn dies für das Verständnis wichtig ist. Metasprachliche Verwendung von Ausdrücken wird kursiv markiert. Das Adjektiv schwarz drückt daher die Eigenschaft/das Konzept SCHWARZ aus. 23 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 ist es offensichtlich, dass es Phlogiston nicht geben kann, und dass Verbrennung nicht durch Verlust von Phlogiston, sondern durch Zufuhr von Sauerstoff zustande kommt17. Es konnte dadurch gezeigt werden, dass Phlogiston nicht existiert. Sowohl das Problem als auch die Lösung sind typisch für die Aufgaben der (modernen) Ontologie, in der derartige Erkenntnisse zu neuen Einsichten über den ontologischen Status von Phänomenen führen. Zu der Beziehung zwischen Individuen und Eigenschaften zurückkehrend, können die oben gestellten Fragen daher auch so wie in (5) formuliert werden: (5) Was ist der ontologische Status von Eigenschaften? Diese und verwandte Fragen liegen dem Universalienstreit zugrunde, der seit Platos Zeit geführt wird und auch heute noch zu intensiven philosophischen Debatten Anlass gibt. Was kommt: Universalien werden vorgestellt und deren Bedeutung erklärt. Dabei spielt Sprache eine wichtige Rolle. Im Anschluss wenden wir uns den unterschiedlichen philosophischen Positionen in bezug auf Universalien zu. Wie bereits eingangs erwähnt, lassen sich die zwei wichtigsten Strömungen durch die beiden Begriffe Einheit und Vielfalt charakterisieren. 2. UNIVERSALIEN = UNIVERSALE EIGENSCHAFTEN Universalien werden oft als Allgemeinbegriffe beschrieben. Nach dieser Definition ist z.B. APFEL, TISCH, WASSER, oder ASTRONAUT eine Universalie, genauso wie RUND, STERNFÖRMIG, oder TOT. Dabei ist es irrelevant, ob diese Eigenschaften konkret (APFEL, RUND...) ist oder aber abstrakt (ZEIT, GERECHTIGKEIT, WAHRHEIT, LUSTIG, INTERESSANT, ..). Prädikate vs. Eigenschaften: Semantisch gesehen handelt es sich bei allen oben genannten Ausdrücken in erster Linie um Prädikate. Ein Prädikat denotiert in einer spezifischen Situation eine Menge von Individuen. ASTRONAUT bezeichnet in s die Menge aller Astronauten in s, TOT bezeichnet z.B. in einer beliebigen Situation s die Menge aller toten Individuen in s, etc... Eigenschaften im Sinne der formalen Semantik fassen alle diese unterschiedlichen Bedeutungen eines Prädikats zusammen. Diese Mengen können von Situation zu Situation variieren. Unter Eigenschaften kann man sich demnach so etwas wie eine Tabelle vorstellen, die für jede Situation angibt, welche Menge das Prädikat in dieser Situation bezeichnet. (6) illustriert dies mit den Denotationen der beiden Eigenschaften ASTRONAUT und TOT: (6) a. ASTRONAUT b. TOT s1950 {} {Joyce, Joseph Roth, ...} s2010 {Gargarin, Armstrong, Collins,...} {Artmann, Beckett, Joyce, ...} Als Astronauten gilt ein Menschen, der schon einmal im Weltall gewesen ist. Wie man in (6)a sieht, variiert zwar die Denotation des Prädikats Astronaut zwar von Situation zu Situation. 1950 17 Ein frühes Argument gegen Phlogiston war die Beobachtung, dass Stoffe bei Verbrennung nicht leichter werden, sondern Masse gewinnen. Dies zeigt, dass bei der Verbrennung nicht etwas verloren geht (Phlogiston), sondern dass ein neuer Stoff (Sauerstoff) zum ursprünglichen Material hinzugefügt wird. #2: 31/2 x Universal- 24 gab es, zumindest in unserer Welt, noch kein Individuum, auf das die Bezeichnung Astronaut zutraf. 2010 war dies anders, zu diesem Zeitpunkt gab es bereits ca. 500 Individuen, die alle Kriterien eines Astronauten erfüllt haben. Die Eigenschaft ASTRONAUT selbst blieb jedoch immer konstant, die Bedeutung hat sich nicht auf relevante Art und Weise verändert18. Das selbe gilt für TOT - das Adjektiv bedeutete 1950 genau das selbe wie 2010. Dennoch sind die Toten von 2010 nicht die selben wie jene im Jahre 1950. Eigenschaften sind daher allgemeiner als Prädikate. Extension vs. Intension: Man nennt die Menge, die ein Prädikat in einer Situation beschreibt auch die Extension des Prädikats, sowie die Eigenschaft selbst die Intension.19 In (6)a ist z.B. die Extension der Eigenschaft ASTRONAUT in s1950 die leere Menge, in s2010 jedoch die Menge {Gargarin, Armstrong, Collins,...}. Die grauen Zellen der Tabelle in (6) stellen die Intension von ASTRONAUT dar. Die Intension gibt die allgemeine Bedeutung eines Ausdrucks an, und ist unabhängig von Situation in der dieser Ausdruck gebraucht wird. Die Extension kann sich dagegen von Situation zu Situation ändern. Universale vs. partikuläre Eigenschaften: Universale sind nun nichts anderes als Eigenschaften um genauer zu sein, eine besondere Art von Eigenschaften, wie wir gleich sehen werden. Im Prinzip existieren zwei Möglichkeiten, Eigenschaften zu analysieren. Diese beiden Varianten unterscheiden sich darin, ob Eigenschaften als individuelle - man sagt partikuläre Entitäten behandelt werden, oder als Einheiten, die mit mehr als einem Individuum in Beziehung stehen können. (7) faßt die beiden Standpunkte zusammen: (7) a. Eigenschaften sind partikulär: Eigenschaften sind, genauso wie andere Entitäten, einfache, partikuläre Individuen. Zwei rote Äpfel besitzen daher zwei unterschiedliche Eigenschaften der Röte. Partikuläre Eigenschaften heissen Tropen. b. Eigenschaften sind universal: Ein und die selbe Eigenschaft kann durch unterschiedliche Individuen instanziert werden. Zwei rote Äpfel besitzen daher exakt die selbe Eigenschaft Rot. Universalien sind nun universale Eigenschaften in dem in (7) definierten Sinn. Man beachte, dass in (7) wieder die Unterscheidung zwischen Vielfalt ((7)a) vs. Einheit ((7)b) auftaucht. Wenn angenommen wird, dass Eigenschaften partikulär sind, und 200 rote Äpfel auf dem Boden liegen, dann muß es auch 200 partikuläre Eigenschaften des Rotseins geben (Vielfalt). Im alternativen Modell (7)b werden diese Äpfel dagegen durch eine einzige universale Eigenschaft APFEL charakterisiert (Einheit). Universalien oder universale Eigenschaften ermöglichen es, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen Individuen zu erfassen. Doch worin besteht nun der Streit? 18 Das Wort wurde um 1930 zum ersten Mal im heutigen Sinn verwendet. 19 Die Unterscheidung Extension vs. Intension geht auf den Philosophen Rudolf Carnap (1891-1970) zurück. Achtung! Intension sollte nicht mit Intention (.Absicht) verwechselt werden. 25 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 3. DER UNIVERSALIENSTREIT Was Philosophen seit der Antike an Universalien interessierte, war die Tatsache, dass es Universalien zwar zu geben scheint, dass aber unklar ist, wo sie zu suchen sind. Wo befinden sich Universalien? In den Dingen, die sie charakterisieren? In den Köpfen, also im Verstand oder Geist? Oder aber handelt es sich um unabhängige abstrakte Entitäten, die z.B. von den Göttern erschaffen wurden? Alle diese Ansichten wurden von unterschiedlichen Gruppen vertreten. Im Folgenden werden die drei wichtigsten Positionen kurz skizziert. 3.1. Realismus Für den Realismus sind Universalien in der Welt existierende abstrakte Entitäten. Man unterscheidet zwischen zwei Richtungen: Platonismus und die von Aristoteles vertretene Metaphysik. Um die Unterschiede zwischen diesen beiden Positionen zu verstehen, ist es sinnvoll, sich vorher einer weiteren Unterscheidung zuzuwenden, die bisher noch nicht eingeführt worden ist - jener zwischen immanenten und transzendenten Eigenschaften. Immanenz vs. Transzendenz: Als immanent bezeichnet man Eigenschaften, die in einem Individuum existieren, und dessen Existenz von der Existenz des Individuum abhängig sind. Meine Füße sind z.B. in mir immanent, da sie von meiner Existenz abhängig sind. Transzendente Eigenschaften befinden sich dagegen außerhalb des Individuums, und beziehen sich auf dieses Individuum. Die transzendenten Eigenschaften führen also ein eigenes Leben, immanente Begriffe tun dies nicht, sie sind in den Individuen gefangen. Transzendenz läßt sich anhand von Dingen, die einem Objekt fehlen, veranschaulichen. Fehlt z.B. in einem Auto ein Rad, so gibt es das Rad auf irgend eine Art und Weise, da wir ja darüber sprechen können: (8) Peter bemerkte das fehlende Rad am Sonntag in der Früh, als er die Zeitung holte Offensichtlich existiert dieses Rad zumindest nicht nur für Peter, da es nicht Teil der Situation ist, die Peter, das Auto und seine direkte Umgebung umfaßt. Das Rad ist demnach transzendent, in dem Sinne dass es für Peter nicht erfassbar ist. Damit ist das Rad aber auch unabhängig von Peter. Generell sind transzendente Entitäten für uns nicht direkt erkennbar oder erfassbar - auf der anderen Seite sind sie freier und unabhängiger als die Objekte der für uns direkt erkennbaren Welt. Genauso verhält es sich mit transzendenten Eigenschaften und platonischen Ideen. 3.1.1. Platonismus/Platonischer Realismus Der Platonismus geht davon aus, dass Universalien transzendent sind, also unabhängig von den Dingen existieren. Eine andere Art, das selbe auszudrücken, ist zu sagen, dass es sich bei Universalien um geistexterne Ideen handelt. Auch wenn es kein einziges rotes Objekt gibt, würde es dieser Ansicht nach die Idee oder die Universale Rot geben. Dass dies nicht völlig unplausibles ist, läßt sich ersehen, wenn man an nicht-existente, fiktive Objekte und deren Eigenschaften denkt. Für die Universale SUPERHELD existiert z.B. kein Individuum, auf welches das Prädikat Superheld referieren könnte - zumindest nicht in unserer Realität. Da Universale als transzendente Ideen konstruiert werden, nennt diese Ausrichtung des Realismus daher auch transzendenten #2: 31/2 x Universal- 26 Universalienrealismus. Drei Eigenschaften von Ideen: Konkret werden platonischen Universalien die drei Eigenschaften in (9) zugesprochen: (9) Eigenschaften von Ideen/Universalien a. zeit- und ortsunabhängig b. nicht wahrnehmbar c. keine direkte kausale Beziehung zur Umwelt (9)a bedeutet, dass Universale immer und überall konstant bleiben und sich nicht verändern. Sie sind so wie Ideen ewig und überall. (9)b ist trivial - Ideen haben weder Form noch Farbe noch Geruch, etc... Aus (9)c folgt schließlich, dass Universalien nichts direkt bewirken oder verändern können. Universalen unterscheiden sich in dieser Hinsicht von anderen abstrakten Entitäten, wie etwa Ereignissen. Im Folgenden wird gezeigt werden (i) was Ereignisse sind, (ii) dass Ereignisse direkte kausale Beziehungen zur Umwelt unterhalten können, sowie (iii) dass Ideen sich von Ereignissen abgrenzen lassen. Ereignisse vs. Ideen: Ereignisse stellen zeitlich und örtlich begrenzte abstrakte Objekte dar, die sprachlich unter anderem durch Ereignisnomen (s. (10)a) beschrieben werden können. Nomen, die nicht in diese Klasse fallen werden hier als Individuennomen bezeichnet werden.20 (10) a. Ereignisnomen: das Rennen, der Krieg, die Besteigung des Mt. Everest, die Zerstörung Roms, ... b. Individuennomen: das Auto, der Soldat, die Schuhe, die Ruinen, ... Durch den engen Zusammenhang zwischen Ereignissen im philosophischen Sinn und der linguistischen Kategorie der Ereignisnomen ist es auch möglich, einen einfachen Test zu formulieren, der nachweist, was ein Ereignis ist, und was nicht. Konkret liegt ein Ereignis immer dann vor, wenn eine NP in den Kontext NP dauerte x eingesetzt werden kann. Dieses Kriterium trifft, wie (11) zeigt, auf die Ereignisnomen in (10)a zu, aber nicht auf die Individuennomen in (10)b. Die Ausdrücke in (12) sind nicht wohlgeformt. Es kann daher geschlossen werden, dass die Nomen in (10)a Ereignisse bezeichnen, jene in (10)b jedoch nicht. (11) a. Das Rennen dauerte 3 Stunden b. Der Krieg dauerte 1 Jahr (12) a. #Das Auto dauerte 3 Stunden b. #Der Soldat dauerte 1 Jahr Die ursprüngliche Frage lautete, ob es einen direkten kausalen Zusammenhang gibt zwischen Ideen und der Welt. Zur Beantwortung untersuchen wir, ob Ereignisse direkte kausale Beziehungen mit der Realität eingehen, und vergleichen dann Ideen mit Ereignissen, um festzustellen, ob sich die beiden gleich verhalten oder nicht. Wie (13) belegt, sind die Ereignisse, die durch die NPs das Rennen oder der Krieg 20 Dies ist nicht ganz korrekt, da auch Ereignisse als Individuen aufgefasst werden können. Individuennomen sind also Nomen, die Individuen denotieren und keine Ereignisse denotieren. 27 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 ausgedrückt werden, imstande, die Realität direkt zu verändern. Das ist so, da Ereignisse örtlich und zeitlich lokalisierbar sind. Sie können daher andere Ereignisse in ihrer Umgebung verursachen, ähnlich wie eine Billardkugel, die an eine andere Kugel stößt, und dadurch eine direkte Veränderung ihrer Umgebung bewirkt: (13) a. Das Rennen in der Stadtmitte verursachte ein Verkehrschaos. b. Der Krieg in Afghanistan führt zu Hunger und Korruption. Ideen verhalten sich in dieser Hinsicht anders. Als zeit- und ortsunabhängige Entitäten (s. (9)a), die in der von uns getrennten platonischen Welt der Ideen existieren, sind Ideen nicht örtlich oder zeitlich lokalisierbar. Sie sind daher nicht in der Lage, spezifische Veränderungen an einem spezifischen Ort zu einer spezifischen Zeit auslösen. Die universalen Eigenschaften, die reinen platonischen Ideen - RENNEN oder KRIEG - stehen also, im Gegensatz zu Ereignissen, nicht direkt kausal mit der Realität in Beziehung. Ideen sind keine Billardkugeln.21 3.1.2. Die Kritik Aristoteles In seiner Kritik von Plato wies Aristoteles auf einige Schwächen der platonischen Version des Realismus hin. Ideen verändern sich: Aristoteles zeigte, dass Platonismus aufgrund der Annahme (9)a nicht erklären kann, warum sich Universalien oder Ideen verändern können. Dass zumindest die Extension von Universalien zeitabhängig ist wurde bereits in (6) gezeigt. Eine weitere Illustration: Es existiert eine Universalie, die sprachlich durch PRÄSIDENT DER USA ausgedrückt wird.22 Plato zufolge können wir ohne diese Universalie das, was PRÄSIDENT DER USA bedeutet, nicht erfassen. Denn nur Ideen erlauben uns, die Realität zu verstehen. Doch die Universalie PRÄSIDENT DER USA variiert in ihrer Bedeutung zumindest alle acht Jahre. 1970 war die Extension der Eigenschaft Richard Nixon, 2010 ist es Barack Obama. Für Plato stellt dies ein Rätsel dar: wie kann eine zeitlich unabhängige Idee - Ideen sind ewig - sich ändern? Das Dritte Mann Argument: Ein zweites Problem für Plato stammt aus der Beobachtung des Aristoteles, dass Platonismus zu einem Universum führt, das voller abstrakter Entitäten stecken müßte. Doch ein derart gefülltes Universum widerspricht, wie wir sehen werden, einer anderen Grundannahme der aristotelischen Philosophie. Konkret verläuft das Argument folgendermaßen. Für jedes Paar von Entitäten E1 und E2 gibt es auch eine Idee I1. Nehmen wir an, dass die Verhältnisse so wie in (14) aussehen: (14) a. E1 = b. E2 = c. I1 = Richard Nixon Barack Obama PRÄSIDENT DER USA Es wurde angenommen, dass sowohl E1 als auch E2 die in I1 ausgedrückte Eigenschaft besitzt. E1 21 Natürlich können Ideen die Welt indirekt beeinflussen, und dies passiert ständig. Aber diese kausale Beziehung ist indirekt, da es einen zusätzlichen, dritten Faktor geben muss, der zwischen der Idee (z.B. die Idee KRIEG) und der Welt, ausgedrückt durch tote Menschen, vermittelt. 22 Aristoteles und vor ihm Plato verwendeten natürlich andere Beispiele, aber das tut, wie immer, nichts zur Sache. #2: 31/2 x Universal- 28 und E2 und I1 repräsentieren also die Idee PRÄSIDENT DER USA. Daher sollte es auch möglich sein, so argumentiert Aristoteles, eine zweite Idee I2 zu generieren, die alle drei Beteiligten an (14) - E1 und E2 und I1 - beschreibt. (14)d stellt diese Idee I2 explizit dar. Aber mit I2 läßt sich nun, zusammen mit E1 und E2 und I1, wiederum eine neue Idee - I3 - bilden (siehe (14)e), die man zusammen mit den anderen Entitäten erneut in eine Idee I4 zusammenfassen kann (siehe (14)f), und so weiter und so fort, bis in alle Unendlichkeit. (14) d. I2 e. I3 f. I4 ... In = = = E1 und E2 und I1 E1 und E2 und I1 und I2 E1 und E2 und I1 und I2 und I3 = E1 und E2 und I1 und I2 und I3 ... In-1 Mit dieser Methode erzeugt man also aus nur zwei Objekten eine unendliche Anzahl von Ideen. Da in dem Beispiel, das Plato und Aristoteles wählten - genau so wie oben - männliche Vertreter der Spezies Mensch als Werte für E1 und E2 verwendet wurden, und auch die Ideen wieder Männer beschreiben, nennt man diesen Einwand gegen den Platonismus auch das Dritte Mann Argument.23 Sobald zwei Männer im Raum sind, gibt es auch einen dritten, nämlich die Idee, welche diese beiden umfaßt. Aus dem oben Gesagten folgt auch, dass es nicht eine einzige Idee PRÄSIDENT DER USA geben kann, sondern dass eine unendliche Anzahl von diesen Ideen existieren muss. Doch Aristoteles glaubte ganz allgemein nicht an die Existenz von unendlichen Entitäten.24 Ein radikal platonisches Weltbild ist daher nicht mit der aristotelischen Metaphysik kompatibel25. Das Argument hat auch heute noch seine Gültigkeit, in vielen Gebieten (Mathematik, Ethik,...) wirft man dem Platonismus vor, zu einem Universum mit einer unglaublich großen Anzahl von abstrakten Ideen oder Universalien zu führen (deflationäres Universum). Rekursive Ideen: Es gibt auch einen weiteren möglichen Einwand gegen die platonische Sichtweise, wie sie oben dargelegt wurde. Viele Ideen treffen aus pragmatischen Gründen nur auf wenige Individuen zu. Prototypische Fälle sind KÖNIGIN, PAPST, PRÄSIDENT DER USA,.... Warum sollte es dann so viele unterschiedliche Arten geben, diese Individuen zu beschreiben? Hier zeigt jedoch eine linguistische Beobachtung, dass dieser zweite Punkt - Warum gibt es so viele Ideen für den Präsidenten der USA? - eigentlich gar kein Problem darstellt. Ideen sind nämlich rekursiv, sie können auf sich selbst angewendet werden, und produzieren dabei wieder neue Ideen. Es kann also eine Idee über eine Idee über eine Idee,.... gebildet werden. Diese Art von Rekursion stellt auch eine grundlegende Eigenschaft der Sprache dar, wie man am Paradigma 23 Der Terminus geht auf Aristoteles zurück, das Argument selbst wurde aber bereits von Plato in Parmenides besprochen. 24 Aristoteles trennte zwischen potentieller und aktualer Unendlichkeit. Potentielle Unendlichkeit liegt z.B. in der Regel (i) vor, die jeder Zahl x die Zahl 1 hinzufügt: (i) x ÿ x +1 Die Regel (i) selbst ist natürlich endlich. Wird sie unendlich oft angewendet, resultiert sie jedoch in einer unendlichen Menge. Aktuale Unendlichkeit würde vorliegen, wenn man z.B. zeigen könnte, dass all diese Zahlen, die durch (i) generiert werden können, tatsächlich existieren - was sehr schwer ist. 25 A ist mit B kompatibel, genau dann, wenn A wahr sein kann und B wahr sein kann. 29 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 in (15) nachvollziehen kann. Die AP schön bildet nicht nur ein Prädikat, das auf Individuen angewendet werden kann, wie etwa in (15)a. Der Ausdruck kann genauso als ein Prädikat von Prädikaten verwendet werden, wie (15)b zeigt; oder als ein Prädikat von Prädikaten von Prädikaten, wie dies in (15)c geschieht, etc... (15) a. b. c. d. Diese Blume ist schön Dass diese Blume schön ist, ist schön. Dass es schön ist, dass diese Blume schön ist, ist schön. Dass es schön ist, dass es schön ist, dass diese Blume schön ist, ist schön. .... Natürliche Sprache zeigt also, dass Eigenschaften rekursiv sind. Da wir gesehen haben, dass Ideen und Eigenschaften zumindest so nahe miteinander verwandt sind, dass uns die Unterschiede für diesen Kurs nicht interessieren müssen, folgt auch, dass Ideen rekursiv sind. Frage: Bedeutet dies nicht, dass es eine unendliche Anzahl von Prädikaten (.Ideen) schön geben muß? Gilt hier nicht der Einwand von Aristoteles gegen Unendlichkeit? Mögliche Reaktionen: (i) Nicht alle Ideen sind rekursiv. (ii) Vielleicht schreitet Rekursion nur bis zu einem gewissen Grad voran? Könnte es nicht sein, dass (15)d und vielleicht noch etwas komplexere Ideen existieren, aber z.B. keine Ideen10,000 d.h. Ideen über Ideen über Ideen, etc... wobei die PP [PP über Ideen] 10,000 mal wiederholt werden müsste? 3.1.3. Aristotelischer Realismus Artistoteles argumentiert, dass es Universalien niemals in Isolation geben kann, sondern nur in den Objekten, in welchen diese Universalien auftreten. Er vertritt also die Ansicht, dass Universalien immanent sind und daher niemals ohne die Objekte existieren (immanenter Universalienrealismus). Verschwinden die Objekte, so tun dies auch die Universalien. Diese Annahme löst beide oben besprochenen Probleme. Erstens kann die Anzahl der Ideen niemals die Anzahl der physikalischen Objekte übersteigen. Daher enthält das Universum auch keine Unendlichkeiten. Zweitens ist die Idee immer im Individuum. Daher verändert sich die Idee auch ändern, wenn sich die Individuen ändern. Die Idee PRÄSIDENT DER USA ist also 1970 eine andere als 2010. Von Aristoteles zur Scholastik: Wie wir gesehen haben, wurde die ersten Theorien von Universalien wurden also in der Antike entwickelt. Einen Höhepunkt erreichte die Debatte jedoch erst in der frühen Scholastik.26 Dass es gerade in der Frühscholastik, also um das 12. Jahrhundert, zu einem gesteigerten Interesse an dem Thema kam, war kein Zufall, sondern lag daran, dass in dieser Periode die Werke Aristoteles wieder in Europa zugänglich wurden (oft in Übersetzungen aus dem Arabischen). Mit diesem Wissen erhielt die Scholastik sowohl eine ontologische als auch eine logische Basis, die das Formulieren von präzisen Theorien und die Überprüfung derer Konsequenzen überhaupt erst ermöglichte. In der Scholastik nimmt Aristoteles daher eine äußerst 26 Unter Scholastik versteht man allgemein die Philosophie des Mittelalters, die in ihrer Argumentation teils stark von religiösen Konzepten geprägt war. Wichtige Vertreter inkludieren Thomas von Aquin (13 Jh.), Peter Abelaerd (12 Jh.), Roger Bacon (13 Jh.), Duns Scotus (13 Jh.), Wilhem von Ockham (14 Jh.) und viele andere. #2: 31/2 x Universal- 30 wichtige Position ein, und viele der zentralen scholastischen Werke beziehen sich auf ihn. Die einflußreiche Stellung Aristoteles in der Scholastik und die Auseinandersetzung mit seinem Werk hatte einen weiteren Effekt - es kam zu einer Explosion von neuen Ideen und Hypothesen, die mit Hilfe der aristotelischen Philosophie definiert werden konnten. Einige dieser Ideen wandten sich natürlich auch gegen Aspekte der ursprünglichen aristotelischen Philosophie. Einer dieser Gegenentwürfe wurde von den Anhängern des Nominalismus formuliert 3.2. NOMINALISMUS Die Nominalisten, prominent vertreten durch Roscelin (11 Jh.) und Wilhelm von Ockham (ca. 1290 - 1350), lehnten Allgemeinbegriffe generell ab. Es gibt keine Universalien, sondern nur Dinge, die Eigenschaften besitzen. Der Begriff Nominalismus (lat. nomen bedeutet ‘Name’) stammt aus der Auffassung, dass Wörter, die auf Universalien verweisen, nur einfache Namen sind, hinter diesen sich keine ontologisch unabhängigen Entitäten verstecken. Nominalismus vs. Realismus - historische und politische Aspekte: In der Scholastik wurden Universalien auch auf religiöse Konzepte wie die Trinität, oder die Unveränderlichkeit und Universalität Gottes angewendet. Für Nominalisten wie Roscelin bestand z.B. die Trinität nicht aus drei real existierenden Individuen (Gott, Jesus und der heilige Geist), sondern fungierte nur als Name für nicht näher spezifizierte Eigenschaften Gottes. Diese unorthodoxe, ketzerische Auffassung führte erwartungsgemäß zu starken Reaktionen aus der Kirche. Die Frage, ob Universalien existieren, hatte weitere, weitreichende philosophische, theologische und politische Auswirkungen. Wenn es Universalien gibt, dann bedeutet dies, dass eine allgemeine Eigenschaft wie ROT in den unterschiedlichsten roten Individuen anzutreffen ist, es muß also etwas Umfassendes, Vereinendes geben, das allen roten Dingen gemeinsam ist. Dies weist auf die Existenz einer Einheit der Dinge hin, die Nominalisten nicht anerkennen. Insbesondere die platonische Version des Realismus steht daher dem Gedanken von einem universalen Gott sehr nahe, der in allen Dingen existiert. Wieder verteidigen hier die Realisten den konservativen Standpunkt, während man die Nominalisten als Vertreter der modernen, aufgeklärten Tendenzen sehen kann. Schließlich wurde der Realismus vielfach mit der ‘richtigen’, ‘korrekten’ Art und Weise der Argumentation verbunden, nämlich mit jener, die mit den Lehren der Kirche übereinstimmt. Diese Überzeugung stammt aus folgenden Überlegungen. So wie der Platonismus, ist die Scholastik durch die Meinung geprägt, dass Universalien die ursprünglichen Entitäten der Welt bilden. Es wurde z.B. angenommen, dass Universalien in der (Schöpfungs)geschichte geschaffen wurde, bevor es überhaupt materielle Dinge gab. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge kamen diese Ideen also direkt von Gott; Universalien/Ideen wurden daher manchmal auch als Gottes Gedanken bezeichnet. Und diese universellen Ideen hatten natürlich Vorrang vor dem Individuellen. Aus diesem Weltbild ergaben sich zwei wichtige Konsequenzen. Erstens wurde es dazu verwendet, um das herrschende politische Systeme (strenge hierarchische Struktur, Monarchie,...) und religiöse Dogmen (Stellung der Kirche und des Papstes) gegenüber modernen Ideen und ganz allgemein gegen Veränderungen zu verteidigen. Zweitens konnten vor diesem Hintergrund Vertreter der Universalien auf religiöse Argumente für die Korrektheit ihrer philosophischen Positionen verweisen. Wer Realist ist, muß recht haben, da konkurrierende 31 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Positionen - etwa die des Nominalismus - der theologischen und daher auch politischen Grundannahme widersprachen, dass ein höheres Wesen die Ideen erschaffen haben muss. Der Streit zwischen Nominalismus und Platonismus ist daher im Mittelalter meistens auch ein Streit zwischen frühen Tendenzen der Aufklärung und konservativen Kräften gewesen. 3.3. IDEALISMUS/KONZEPTIONALISMUS Die Idealismus oder auch Konzeptionalismus genannte, dritte Sichtweise der Universalien in der klassischen Philosophie wird insbesondere durch den britischen Empirismus (17/18 Jh. Bacon, Berkeley, Hobbes, Hume, Locke, Mill) repräsentiert. Universale und Ideen werden als reine Produkte des Verstandes interpretiert, sie existieren daher nicht in der Welt, sondern nur in unseren Köpfen. Konzeptionalismus teilt mit dem Realismus die Ansicht, dass es allgemeine Begriffe gibt, die unabhängig vom Subjekt existieren. Im Gegensatz zum Platonismus werden jedoch alle Konzepte im Verstand lokalisiert. Sie können sich daher, so wie der Verstand selbst, verändern - dies entkräftet einen von Aristoteles Einwänden gegen den Platonismus. Abstraktion: Ein wichtiger Bestandteil des Konzeptionalismus, der erst den Schritt vom Individuum zum Allgemeinen ermöglicht, ist die Abstraktion. Mit Hilfe dieser Operation können aus realen Entitäten abstrakte Eigenschaften erzeugt werden. Abstraktion nimmt daher ganz allgemein eine überaus wichtige Position in der Sprachphilosophie und Semantik ein; es handelt sich dabei wohl um das wichtigste Konzept der Semantik, neben der Kompositionalität. Ein einfaches Beispiel von Abstraktion findet sich in der Mengenlehre. Mengen können durch Aufzählung definiert werden, so wie in (16)a. Alternativ ist es auch möglich, die selben Mengen über ihre Eigenschaften zu beschreiben, wie (16)b zeigt. (16) a. M1 = {", !, ;, (} M2 = {9, ,, ÷, :} b. M1 = {x|x ist rund} M2 = {x|x ist eckig} Die Darstellungen in (16)b verwenden Abstraktion, da die Bedingungen rund sein oder eckig sein nicht für konkrete Objekte, sondern abstrakt, d. h. für alle möglichen Wert der Variable x überprüft wird. Universalien existieren für Konzeptionalisten in einem ähnlichen Sinn, in dem die Bedingungen der Mengen in (16)b existieren - sie sind real, aber sie sind auch aus den Dingen abgeleitet, deriviert. Im Gegensatz zum Realismus befinden sich Konzepte in den Köpfen der Subjekte, also nicht in einer getrennten Welt der Ideen. Konzeptionalismus unterscheidet sich demnach sowohl vom Realismus, als auch vom Nominalismus, der die Existenz von Konzepten generell leugnet. #2: 31/2 x Universal- 32 Zusammenfassung: Die bisherige Diskussion führt zu einem Bild von Universalien, das sich schematisch wie in (17) zusammenfassen läßt: (17) Existieren Universalien? Wo befinden sich diese? ja in der Welt, ausserhalb der Dinge und geist-extern/nicht im Kopf Realismus Platonismus Aristoteles Nominalismus Konzeptionalismus in den Dingen nein ja –– Geist-intern/im Kopf Bevor wir uns der zweiten Gruppe von Phänomenen zuwenden, die durch den Präfixes univeralcharakterisiert werden (Universalsprache), ist es sinnvoll ein wenig genauer auf den Begriff des Konzeptes einzugehen. Wir werden Konzepte nämlich an einer anderen, prominenten Stelle - bei der Behandlung von Universalgrammatik, d.h. universal- 31/2 - wieder antreffen, und einige Grundkenntnisse über Konzepte werden sich zu diesem Zeitpunkt als behilflich erweisen. 3.4. W AS SIND KONZEPTE? Bisher wurden Ideen und Konzepte, und auch Eigenschaften als synonym behandelt. Doch es existieren auch wichtige Unterschiede zwischen diesen Begriffen, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Ausserdem wird gezeigt werden, dass Konzepte zwar äußerst hilfreiche Instrumente zur Erklärung von vielen Phänomenen sind, dass sich eine genaue Definition von Konzept aber schwieriger gestaltet als man erwarten würde. Ideen vs. Konzepte: Ideen werden in der Philosophie üblicherweise als mentale Bilder definiert. Doch wie sieht das Bild von abstrakten Begriffen wie Tierliebe, 317 Gramm,Unsichtbarkeit, oder die verschobene Aufführung von Faust aus? Aus diesem Grund verwendet man heutzutage den Ausdruck Idee meistens nur noch im historischen Kontext (Platos Ideen, Ideen im Sinne Kants oder Hegels, etc...). Anstatt dessen spricht man von Konzepten. Zwar finden Konzepte heute so unterschiedlichen Gebieten wie der Kognitionspsychologie, der Linguistik, der Philosophie, der Computerwissenschaft (Künstliche Intelligenz) Anwendung aber eine präzise Definition hat sich der Forschung gegenüber als erstaunlich resistent erwiesen, und ist bisher noch nicht geglückt. In den nächsten beiden Abschnitten werden zwei mögliche Definitionen von Konzept diskutiert werden. Da in der weiteren Diskussion der Begriff der Definition auf unterschiedliche Art und Weise immer wieder eine wichtige Rolle spielen wird, muß jedoch vorher noch auf dieses Thema näher eingegangen werden. 3.4.1. Definitionen Definitionen dienen einem einzigen Zweck: sie sollen die Beziehung zwischen einem Ausdruck und seiner Bedeutung möglichst präzise und explizit darstellen, um sicherzustellen, dass alle, die diesen Ausdruck verwenden, in der Lage sind, seine Bedeutung eindeutig zu identifizieren. Definitionen werden oft graphisch als solche markiert. Hier werden sie durch das Symbol =Def eingeführt. (18) illustriert dies mit der Definition des Begriffs Definition von α: 33 (18) DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Definition von α =Def gibt die notwendigen Bedingungen sowie die hinreichenden Bedingungen für das Wahrsein oder Zutreffen von α an. Oft enthalten Definitionen Ausdrücke, die selbst wieder definiert werden müssen. (18) bedient sich z.B. der beiden noch nicht eingeführten Begriffe notwendige Bedingung und hinreichende Bedingung, die im Anschluss näher bestimmt werden sollen. Notwendige Bedingung: Eine notwendige Bedingung stellt eine Voraussetzung für das Eintreten eines bestimmten Zustandes oder Sachverhaltes dar. (19) stellt eine Definition bereit, und (20) listet einige Beispiele: (19) φ ist eine notwendige Bedingung für ψ =Def wenn φ nicht zutrifft, dann trifft auch ψ nicht zu (20) φ a. b. c. d. e. ist notwendige Bedingung für Fahrzeug Füße Hitze (Spinat, Zwiebel,...) männlich sein durch 2 teilbar sein (2, 4, 6,...) ψ Fahren (ohne Fahrzeug ist Fahren unmöglich) Gehen (ohne Füße ist Gehen unmöglich) Σπανακόπιτα Vater sein durch 6 teilbar sein (6, 12, 18,...) Hinreichende Bedingung: Wenn ein bestimmter Zustand gegeben ist, und aus diesem Zustand ein anderer Sachverhalt folgt, dann spricht man von einer hinreichenden Bedingung: (21) φ ist eine hinreichende Bedingung für ψ =Def wenn φ zutrifft, dann trifft auch ψ zu (22) φ ist hinreichende Bedingung für ψ a. Auto b. Regen c. Schnarchen d. Quechua sprechen e. durch 6 teilbar sein Fahren (man kann auch mit Fahrrad,... fahren) Strasse ist naß (Straße könnte auch durch Strassenreinigung, Rohrbruch,... naß geworden sein) Erzeugung von Geräuschen eine Fremdsprache sprechen durch 2 teilbar sein Wenn φ sowohl eine hinreichende, als auch eine notwendige Bedingung für ψ ist, dann sind φ und ψ äquivalent (. semantisch ident). φ kann in diesem Fall als Definition für ψ dienen. Jede (richtige) Definition eines Begriffes fasst also die hinreichenden und notwendigen Bedingungen für das Zutreffen dieses Begriffes zusammen (= (18)). ÜBUNG: Geben Sie an, ob es sich bei φ um eine hinreichende Bedingung für ψ handelt; oder um eine notwendige Bedingung; oder um beides; oder um keines von beiden: (23) a. b. c. d. e. f. φ Ohren besitzen schnarchen Maria kennen Maria kennen 17 + 4 = 21 ein kurzes Buch lesen ψ Englisch verstehen schlafen die Schwester von Maria kennen Maria und Marias Schwester kennen 21 = 17 + 4 ein Buch lesen #2: 31/2 x Universal- 34 Exkurs (nicht Stoff der Prüfung) Hinreichende und notwendige Bedingungen stehen in einem systematischen Zusammenhang, sie unterscheiden sich nur darin, ob auf der rechten Seite des Definitionszeichens =Def eine negative Bedingung aufscheint (nicht-φ und nicht-ψ in (19)) oder eine positive ((21)). Man kann daher die eine Bedingung durch die andere Bedingung definieren. (24) definiert hinreichende Bedingung mit Hilfe der notwendigen Bedingung (und umgekehrt): (24) φ ist eine hinreichende Bedingung für ψ =Def nicht-φ ist eine notwendige Bedingung für nicht-ψ Ausserdem können (19) und (21) auch so wie in (25) und (26) dargestellt werden: (25) φ ist eine hinreichende Bedingung für ψ =Def wenn φ wahr ist, dann ist ψ wahr (26) φ ist eine notwendige Bedingung für ψ =Def wenn nicht-φ wahr ist, dann ist nicht-ψ wahr Weiters gilt in der Logik die Äquivalenz in (27). Man nennt diese Umstellung in der Logik auch Kontraposition der beiden Formeln links und rechts vom Äquivalenzzeichen: (27) Wenn nicht-φ wahr ist, dann ist nicht-ψ wahr = Wenn ψ wahr ist, dann ist φ wahr Die Beziehung zwischen hinreichender und notwendiger Bedingung kann daher auch so wie in (28) fomuliert werden. (Man nennt eine solche logische Beziehung auch Dualität). (28) φ ist eine hinreichende Bedingung für ψ = = ψ ist eine notwendige Bedingung für φ Exkurs Ende 3.4.2. Die Definitionstheorie von Konzepten Die klassische Theorie der Konzepte sagt aus, dass Konzepte Definitionen sind. Das Konzept JUNGGESELLE wird dieser Ansicht zufolge so wie in (29) definiert: (29) JUNGGESELLE =Def UNVERHEIRATETER MANN Diese einfache, und auf den ersten Blick äußerst plausible, Theorie steht jedoch einer Menge von praktisch unlösbaren Problemen gegenüber. Die wichtigsten dieser Komplikationen für die Defintionstheorie von Konzepten werden unten näher präzisiert. I. Wie viele erfolgreichen Definitionen gibt es? Nur wenige Konzepte lassen sich überhaupt so wie (29) definieren. Was ist die Definition von auf den ersten Blick so unkomplizierten Prädikaten wie GROSS, SCHÖN und INTERESSANT? Wie sollten sprachliche Ausdrücken wie UND, NICHT, NUR, JEDER, ...definiert werden? Bei näherer Analyse stellt sich heraus, dass sich selbst 35 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 für einfache Objekte keinen passenden Definitionen finden lassen. Es gibt zum Beispiel eine Unzahl von Tischen, auf welche die Definition in (30) nicht zutrifft, darunter Tische mit drei Füßen, Tische ohne Füße, die an der Wand befestigt sind, oder Zeichentische mit schiefer Platte. (30) TISCH =def waagrechte Platte mit vier Füßen. Andererseits existieren zahlreiche Nicht-Tische, die trotzdem durch (30) erfasst werden, etwa 2 mm große Modelltische, oder Tische aus Styropor, Schaumstoff oder Fett (Beuys). Vielleicht, könnte man einwenden, ist einfach die Definition in (30) nicht korrekt. Doch das Problem liegt tiefer. Jede mögliche Definition steht vor dem Problem, dass z.B. ein Tisch, der verkehrt, also mit der Platte auf dem Boden, steht, üblicherweise nicht als Tisch identifiziert wird. Gleiches gilt für Tische, die vier Füße besitzen, von denen jedoch drei zentral, also in der Mitte der Platte, angebracht sind, etc... Eine erfolgreiche Definition müsste also eine potentiell unendliche Liste von Eigenschaften von Nicht-Tischen ausschließen. II. Falsche Synomymie: H2O und WASSER bezeichnen zwei unterschiedliche Konzepte, da man das Konzept WASSER kennen kann, ohne das Konzept H2O erworben zu haben. Aber Wasser und H2O besitzen ein und die selbe Definition ((31)a und (31)b). (31) a. H2O =Def geruch-, und geschmackslose Flüssigkeit aus Wasserstoff und Sauerstoff, die bei 100° kocht, .... b. WASSER =Def geruch-, und geschmackslose Flüssigkeit aus Wasserstoff und Sauerstoff, die bei 100° kocht, .... c. WASSER = H2O Da somit auch (31)c gilt, sollte es daher nicht möglich nur eines der Konzepte zu kennen. Doch dies führt zum Schluß, dass jeder, der Wasser erlernt hat, auch eine interne Repräsentation von H2O besitzt. Dies ist offensichtlich nicht der Fall - man denke an Kinder. III. Nicht plausible angeborene atomare Konzepte: Nicht alle Konzepte können Definitionen sein. Einige müssen die Basis bereitstellen, auf denen die anderen Definitionen aufbauen können. Diese Konzepte müssen angeboren sein. In diese Klasse fallen alltägliche Konzepte wie FARBE, HAUS, TIER, und RUND aber auch so komplizierte Begriffe wie TÜRSCHNALLE, GRAVITATION, DNA oder PHOTON. Dass solche spezifischen Konzepte tatsächlich angeboren sind ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. IV. Fehlende Kognitionspsychologische Fundierung: Die Definitionstheorie der Konzepte wird auch mit Problemen konfrontiert, die sich aus neueren Erkenntnissen der Kognitionspsychologie ergeben. Dieser Herausforderungen umfassen die folgenden beiden Beobachtungen: Da z.B. JUNGESELLE komplexer ist als UNVERHEIRATET, sollte es schwerer sein, JUNGGESELLE kognitiv zu verarbeiten als UNVERHEIRATET. Psychologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist, die beiden Konzepte werden z.B. gleich schnell erkannt. Zweitens belegt eine große Anzahl von experimentellen Studien, dass einige Konzepte grundlegender und einfacher sind als andere. Ein Apfel wird z.B. als eine typischere Frucht wahrgenommen als etwa eine Zwetschke (= Pflaume) oder eine Papaya. APFEL sollte daher ein #2: 31/2 x Universal- 36 weniger komplexes Konzept darstellen als ZWETSCHKE. Ähnliches gilt für RABE (typischer Vogel) vs. PINGUIN (untypischer Vogel). Die Definitionstheorie ist jedoch nicht in der Lage, solche Effekte zu erklären. 3.4.3. Algorithimische Theorie: Konzepte als Fähigkeiten Eine Alternative zur Definitionstheorie wurde bereits in Handout #1 kurz erwähnt. Konzepte können auch als Fähigkeit verstanden werden, zwischen Individuen zu unterscheiden, die ein Konzept erfüllen, und jenen, die das nicht tun. Wer z.B. das Konzept WASSER kennt, weiß was Wasser ist und was nicht. Dies bedeutet nun nicht, dass die Person auch wissen muss, was H2O ist, und was nicht - das Konzept WASSER und das H2O Konzept sind daher unabhängig voneinander, wie gewünscht. Das oben besprochene Problem II verschwindet damit. Diese algorithmische Definition löst auch ein paar andere Probleme der Definitionstheorie. Erstens wird von Konzepten nicht länger verlangt, dass es möglich sein muss, sie zu definieren. Dass nur wenige Konzepte solche Definitionen tatsächlich besitzen wird damit unwichtig - und Problem I hört zu existieren auf. Da Konzepte nicht definiert werden, muß außerdem nicht mehr zwischen atomaren und abgeleiteten Konzepten unterschieden werden. Diese Konsequenz löst Problem III. Schließlich ist die algorithmische Definition von Konzepten besser mit kognitionspsychologischen und psycholinguistischen Erkenntnissen kompatibel, da z.B. JUNGGESELLE nicht mehr in UNVERHEIRATETER MANN zerlegt wird. Dies hat auch unabhängige Vorteile aus linguistischer Sicht. Ohne hier näher auf die Details einzugehen ist bekannt, dass semantische Analysen, die ƒJunggeselle„ in ƒunverheirateter Mann„ dekomponieren (. aufteilen) mit zahlreichen Problemen konfrontiert sind. Die Probleme in IV verlieren daher an Schärfe. Doch auch die algorithmische Theorie kann, zumindest in Isolation, nicht korrekt sein, wie die untenstehenden, abschliessenden Bemerkungen aufzeigen. Produktivität: Die wahrscheinlich größte Hürde stellt die Beobachtung, dass Konzepte zu neuen Konzepten verbunden werden können. Das Konzept TISCH kann z.B. mit anderen Konzepten kombiniert werden: (32) a. b. c. d. e. ... GRÜNER+TISCH GRÜNER+ALTER+TISCH GRÜNER+ALTER+HÖLZERNER+TISCH GRÜNER+ALTER+HÖLZERNER+BILLIGER+TISCH GRÜNER+ALTER+HÖLZERNER+BILLIGER+TISCH+OHNE PLATTE Dieser Prozess ist außerdem rekursiv, wie das Beispiel (32) zeigt, das Konzept kann daher eine potential unendliche Länge erreichen. Die Bildung von Konzepten ist also, genauso wie die Bildung von sprachlichen Bedeutungen, nicht begrenzt. Man nennt diese Eigenschaft allgemein die Produktivität. Das System, das Konzepte miteinander kombiniert, ist also produktiv. Da es in vieler Hinsicht der menschlichen Sprachfähigkeit ähnlich ist, nennt man dieses System auch die Sprache der Gedanken (language of thought, oder kurz: LOT). Mehr zu diesem Thema später. Für die vorliegenden Zwecke ist die Beobachtung relevant, dass die algorithmische Theorie von Konzepten keine Erklärung für die Produktivität von Konzepten bereitstellt. Da es sich dabei 37 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 aber um eine der grundlegenden Eigenschaften von Konzepten handelt, ist diese Definition von Konzepten also auch nicht vollständig. Man gelangt zum Schluss, dass man Konzepte zwar grundlegend braucht, um zahlreiche mentale und kognitive Phänomene zu beschreiben, aber dass momentan noch nicht klar ist, wie eine befriedigende Theorie von Konzepten aussieht. Die Moral dieser Einsicht erschließt sich am Besten mittels eines Vergleichs. Die meisten unter uns wissen nicht, wie ein Handy, eine Fernbedienung, ein elektrischer Schraubenzieher, ein DVD-Spieler oder ein Auto funktioniert. Dennoch verwenden wir diese technischen Geräte ohne Schwierigkeiten im Alltag. Die Situation ist in der Wissenschaft nicht anders. Auch bei der Analyse von Daten und bei der Lösung von Problemen arbeitet man eben manchmal mit (abstrakten) Instrumenten, ohne genau zu verstehen, wie diese im Detail funktionieren. EINIGE W EBRESSOURCEN Wolfgang Stegmüller. 1965. Geschichtliches zum Universalienstreit. In Stegmüller, W. Das Universalienproblem einst und jetzt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. http://www.blutner.de/philos/Texte/steg.html Gregor Reichelt: Universalien. http://www.uni-konstanz.de/FuF/ueberfak/sfb511/publikationen/universalien.htm Fritz Mauthner. 1910. Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache http://www.zeno.org/Mauthner-1923 Universals. http://www.iep.utm.edu/universa/ (englisch) Standford Encyclopedia of Philosophy: The Medieval Problem of Universals. http://plato.stanford.edu/entries/universals-medieval/ (englisch) Standford Encyclopedia of Philosophy: Concepts. http://plato.stanford.edu/entries/concepts/ (englisch) #3: UNIVERSALSPRACHE & UNIVERSALGRAMMATIK In Kapitel 2 wurde festgehalten, dass 31/2 Versionen des Präfix universal- die Geschichte der Sprachphilosophie prägen. Ein erster Einfluss wurde in Form der Universalien und der Frage nach der Existenz von abstrakten Kategorien sichtbar. Auf eine zweite Art und Weise und in einem völlig anderen Kontext kommt der Präfix universal- im Konzept der Universalsprache zur Anwendung. Der Begriff Universalsprache selbst ist ambig. Man verstand darunter in der Philosophiegeschichte entweder eine Sprache, die auf alle Wissensgebiete anwendbar ist, oder eine Sprache, die von allen gesprochen, also von allen angewendet werden kann. Der Beginn dieses Handouts (§1 und §2) behandelt die erste Interpretation, die alternative Interpretation von US wird im kurz in Abschnitt §21/2 diskutiert werden. Die zweite Hälfte dieser Ausführungen befassen sich schließlich ausführlich mit der letzten Version von universal - dem Konzept der Universalgrammatik (§3). Universalsprache: Universalsprache (US) als eine universal anwendbare Sprache ist eng mit den Philosophen und Mathematikern Gottfried Leibniz (1646-1716) und Rene Descartes (1596-1650) verbunden. Sie verstanden unter US ein System, das die zwei Eigenschaften in (1) aufweisen sollte: Leibniz (1) Descartes a. Wissensrepräsentation: Eine US sollte in der Lage sein, alles Wissen, also die gesamten Erkenntnisse aller Wissenschaften, darzustellen. b. Wissensverarbeitung: Die US sollte dieses Wissen so miteinander verbinden, dass neues Wissen, neue Erkenntnisse entstehen. Leibniz hoffte dass es mit Hilfe einer Universalsprache möglich sein werde, alle Auseinandersetzung in der Wissenschaft und Philosophie, alle Dispute und Probleme zu lösen. Dem Begriff der Universalsprache (US) liegt der Gedanke zugrunde, dass Sprache wie eine abstrakte Maschine funktioniert, die Gedanken in Wörter, und Wörter in Gedanken übersetzt. Man nennt so eine abstrakte Maschine auch einen Kalkül (masc.). Wenn es möglich sein sollte, einen Kalkül zu definieren, in dem dieser Übersetzungsprozess gleichzeitig die Gedanken richtig ordnet und sortiert, dann sollte diese Sprache sowohl in der Lage sein, bereits vorhandenes Wissen auf seine Richtigkeit zu überprüfen, als auch neues Wissen zu generieren. Wie eine solche US konkret aussehen könnte wurde jedoch weder von Leibniz noch von Descartes genauer ausgeführt. Aus heutiger Sicht ist das Projekt eine Leibnizschen US sehr eng mit den Aufgaben der modernen formalen Logik verwandt. In der Logik stellt ein Kalkül eine Methode zur Verfügung, mit der (i) Wissen repräsentiert sowie (ii) neues Wissen durch Regeln aus dem bereits vorhandenen Wissen abgeleitet werden kann - also erfüllt auch ein moderner, logischer Kalkül genau die Aufgaben in (1). Um die Diskussion der Universalsprache im Leibnizschen Sinn etwas expliziter zu gestalten, und da einige einfache Begriffe der Logik auch die Grundlage für zukünftige Themen bilden, führt der nächste Abschnitt (§1) Grundbegriffe des logischen Schließens sowie die wichtigsten Aspekte eines logischen Kalküls ein. 39 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 1. FORMALE LOGIK UND DER KALKULUS Der logische Schluss: Sprecher besitzen klare Intuitionen über die Wahrheit von Verknüpfungen von Sätzen. Jeder, der weiß, dass (2)a und (2)b wahr sind, weiß auch, dass (2)c wahr sein muß. (2) a. Wenn es regnet, dann ist die Straße nass b. Es regnet c. Y Die Straße ist nass Prämisse Prämisse Konklusion Gleiches gilt für folgende Kombination: (3) a. Alle Kreter sind Griechen b. Alle Griechen sind Europäer c. Y Alle Kreter sind Europäer Prämisse Prämisse Konklusion Man nennt die beiden Sätze, deren Wahrheit vorausgesetzt wird, die Prämissen, und den Satz, der aus diesen Prämissen logisch folgt, die Konklusion. Die Kombination von Prämissen und Konklusion wird als logischer Schluss (oder manchmal auch als Argument) bezeichnet. Die Prämissen werden üblicherweise von der Konklusion durch einen waagrechten Strich getrennt: (4) a. Wenn es regnet, dann ist die Straße nass b. Es regnet c. Die Straße ist nass Prämisse Prämisse Konklusion Hier wird aus Gründen typographischer Einfachheit der Folgerungspfeil (Y) verwendet werden. Ein gelungener logischer Schluss muss zwei Bedingungen erfüllen: Gültigkeit und Schlüssigkeit. Die beiden Konzepte werden auf den nächsten Seiten näher erläutert. 1.1. Gültigkeit von Argumenten Betrachtet man (2), so ist es nicht möglich, sich eine Situation vorzustellen, in der die beiden Prämissen (2)a und (2)b wahr sind, der Schluss (2)c jedoch falsch. Gleiches gilt für (3). Dieser Zusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion kann mit Hilfe des logischen Folgerungsbegriffes ausgedrückt werden (s. Handout #1): aus (2)a und (2)b folgt (2)c. Die Konklusion eines Schlusses ist demnach eine logische Folgerung aus den Prämissen. Man sagt auch, dass die Prämissen die Konklusion implizieren. Gültige Schlüsse: Schlüsse, wie (2), in denen die Konklusion aus den Prämissen logisch folgt, nennt man gültig. (5) gültiger Schluss =Def eine Kombination von Prämissen und Konklusion, sodass es nicht möglich ist, dass die Prämissen wahr sind, aber die Konklusion falsch ist. Ungültige Schlüsse: Im Gegensatz zu (2) ist die logische Folgerung in (6) ungültig. Wenn in einer Situation (6)a und (6)b wahr sind, dann muss es nicht der Fall sein, dass (6)c ebenso zutrifft - die Straße könnte z.B. auch nass sein, da sie gereinigt wurde. (6) a. Wenn es regnet, dann ist die Straße nass b. Die Straße ist nass c. Y/ Es regnet Ungültiger Schluss #3: Universalsprache & UG 40 Ein Schluss ist ungültig genau dann, wenn er die Definition von Gültigkeit in (5) nicht erfüllt. Dies kann auch explizit so wie in (7) festgehalten werden: (7) Ungültiger Schluss =Def eine Kombination von Prämissen und Konklusion, sodass es möglich ist, dass die Prämissen wahr sind, und die Konklusion falsch ist. Form vs. Inhalt: Eine auf den ersten Blick erstaunliche Beobachtung ist, dass die Gültigkeit eines Schlusse von der Bedeutung der einzelnen Teile völlig unabhängig ist - nur die Beziehungen zwischen den Bedeutungen zählen. Der Grund, warum (2) als gültig, (6) jedoch als ungültig empfunden wird, hat z.B. nichts mit dem Inhalt der verwendeten Sätze zu tun, sondern nur mit der Form des Schlusses, genauer gesagt der Art und Weise, wie die Sätze miteinander verbunden werden. Dies sieht man daran, dass die Gültigkeit erhalten bleibt, wenn man die Prämissen des Schlusses durch beliebige andere Sätze ersetzt. Um die einzelnen Komponenten, also die Teilsätze, des gültigen Schlusses (2) besser sichtbar zu machen, wurden sie in (8) durch Boxen und Unterstreichen kenntlich gemacht. () . . Wenn es regnet , dann ist die Strasse naß Es regnet c. Y Die Strasse ist nass Wie (9) zeigt, bleibt die Gültigkeit erhalten, wenn die ursprüngliche Box durch eine Box mit anderem Inhalt ersetzt wird, und der unterstrichene Teil durch einen alternativen Satz: () . . Wenn Peter auf Besuch kommt , dann freut sich Maria Peter kommt auf Besuch c. Y Maria freut sich Dabei ist es ganz gleichgültig, was die Box oder der unterstrichene Teil enthält - auch (10) und (11) sind zwar nicht besonders plausibel, aber dennoch gültig. () . . Wenn es regnet , dann freut sich Maria Es regnet c. Y Maria freut sich () . . Wenn die Strasse nass ist , dann kommt Peter auf Besuch Die Strasse ist nass c. Y Peter kommt auf Besuch Der Inhalt der Sätze hat also auf die Gültigkeit des Schlusses keinen Einfluß. Dies ist so, da sich die Schlüsse (8) bis (11) nur in der Wahl der beiden Prämissen (Box und unterstrichener Ausdruck) unterscheiden. Die Schlüsse sind daher formal ident. Für die Gültigkeit ist also die Form ausschlaggebend, und nicht der Inhalt. 41 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 1.1.1. Verwendung von Variablen Da die Gültigkeit eines Arguments nur von der Art und Weise abhängt, wie die Sätze miteinander verbunden werden, kann man die Sätze selbst ignorieren, und aus der Formulierung des Schlusses eliminieren. Um nur die essentiellen Aspekte des Schlusses abzubilden, verwendet man daher anstatt von vollen Sätzen in der symbolischen Logik auch einfach Variablen, üblicherweise Kleinbuchstaben aus dem lateinische (p, q, r,...) oder aus dem griechischen (φ, ψ, ...) Alphabet. Die Variablen stehen dabei für beliebige Aussagen (– Sätze). Wird ein Schluss mittels solcher Variablen dargestellt, erhält man eine symbolische Repräsentation,27 da die Sätze der natürlichen Sprache durch Symbole ersetzt wurden. Die Übersetzung eines ganzen Schlusses in eine symbolische Form resultiert schließlich in einem sogenannten Schlussschema (pl. Schlussschemata). Schlusschemata: Die gültigen Schlussschemata werden traditionellerweise auch mit lateinischen Namen bezeichnet, die sich aus der mittelalterlichen Scholastik herleiten. Die beiden bekanntesten Schemata sind Modus ponens ((12)) und Modus tollens ((13)); daneben existieren Schlussschemata mit so klingenden Namen wie Barbara oder Celarent. Gültige Schlussschemata Beispiel (12) a. Wenn p dann q b. p c. Y q Wenn es regnet ist die Strasse naß Es regnet Modus ponens Die Straße ist naß (13) a. Wenn p dann q b. nicht q c. Y nicht p Wenn es regnet ist die Straße naß Die Straße ist nicht naß Es regnet nicht a. p oder q b. nicht p c. Y q Hans ist krank, oder er hustet aus Verlegenheit Hans ist nicht krank Hans hustet aus Verlegenheit (14) Ungültige Schlussschemata Beispiel (15) Wenn es regnet ist die Straße naß Es regnet nicht Die Straße ist nicht naß a. Wenn p dann q b. nicht p c. Y/ nicht q Modus tollens (es könnte z.B. ein Rohrbruch die Straße überflutet haben) (16) a. p oder q b. p c. Y/ q Hans ist krank, oder Hans hustet aus Verlegenheit Hans ist krank Hans hustet aus Verlegenheit Zusammenfassend kann beobachtet werden, daß, wenn die Prämissen eines Arguments wahr sind, und das Schlussschema gültig ist, auch der Schluss gültig ist, d.h. als logisch zwingend erachtet wird. 27 Hier werden nur Teile in symbolische Darstellung übersetzt; für Beispiele für eine vollständige symbolische Repräsentation eines Schlusses siehe z.B. (33). #3: Universalsprache & UG 42 1.1.2. Zwei klassische Beispiele für ungültige Schlüsse Es gibt Schlüsse, die zwar alle Kriterien der Gültigkeit zu erfüllen scheinen, aber dennoch als nicht wahr empfunden werden. Diese werden auch als Fehlschlüsse bezeichnet. Platos Trugschluss : Bereits Plato wies auf den Unterschied zwischen dem gültigen Schluß (17) und dem ungültigen Fehlschluss in (18) hin: (17) (18) a. Dieser Hund ist ein Collie b. Dieser Hund gehört Maria c. Y Dieser Hund ist Marias Collie Gültiger Schluss a. Dieser Hund ist ein Vater b. Dieser Hund gehört Maria c. Y/ Dieser Hund ist Marias Vater Ungültiger Schluss Der Grund für diese verblüffenden Kontrast liegt in den unterschiedlichen semantischen Eigenschaften der beiden Nomen Collie ((17)) und Vater ((18)). In (17) wird ein einfaches prädikatives Nomen verwendet (Collie), in (18) dagegen ein sogenanntes relationales Nomen (Vater). Reguläre Nomen besitzen eine freie Argumentstelle, sie drücken ein Prädikat aus. (17)a drückt z.B. aus, dass auf diesen Hund die Eigenschaft COLLIE zutrifft. Relationale Nomen wie Vater besitzen dagegen zwei freie Argumentspositionen, sie denotieren daher Relationen. Die VATER_VON Beziehung drückt z.B. eine Relation aus, die auf zwei Individuen zutrifft, wenn ein Individuum der Vater des anderen ist. Weitere Beispiele für relationale Nomen inkludieren Nachbar, Kind, Geburtstag, Bein, Porträt, Autbiographie, Freund und Feind. Syntaktisch zeichnen sich diese Nomen dadurch aus, dass innerhalb der NP ein weiteres Argument auftauchen kann, das in (19) durch Unterstreichen gekennzeichnet ist. Für vorliegende Zwecke ist insbesondere bedeutsam, dass dieses Argument typischerweise nicht die Funktion des Possessor (– Besitzer) übernehmen kann (siehe Spalte ganz rechts in (19)): (19) a. Peters Nachbar = der Nachbar von Peters =/ der Nachbar, den Peter besitzt = das Kind von Peters =/ das Kind, das Peter besitzt b. Peters Kind c. Peters Geburtstag = der Geburtstag von Peters =/ der Geburtstag, den Peter besitzt Diese Eigenschaft unterscheidet relationale von nicht-relationalen Nomen wie Wagen oder Haus: d. Peters Wagen e. Peters Haus = der Wagen Peters = das Haus Peters = der Wagen, den Peter besitzt = das Haus, das Peter besitzt Aus der Beobachtung, dass in relationalen Nomen die Genitiv-NP nicht durch einen Possessor, sondern durch das zweite Argument besetzt wird, folgt auch die Lösung für Platos Rätsel ((17) vs. (18)). Die beiden NPs in (20)a sind synonym, das Paar in (20)b jedoch nicht. (20) a. Marias Collie b. Marias Vater = =/ der Collie, den Maria besitzt der Vater, den Maria besitzt Was (17) tatsächlich bedeutet, läßt sich also so wie in (21) darstellen. Eine ähnliche Umformulierung ist für (18) aus den oben genannten Gründen ((19)) nicht möglich. (18)c kann daher nicht so wie in (22)c verstanden werden. Dies erklärt den Unterschied zwischen dem gültigen Schluss 43 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 (17) und dem ungültigen Fehlschluss (18). (21) Mögliche Umformung von (17) a. Dieser Hund ist ein Collie. b. Dieser Hund gehört Maria c. Y Dieser Hund ist der Collie, der Maria gehört (22) Gültiger Schluss Unmögliche Umformung von (18) a. Dieser Hund ist ein Vater. b. Dieser Hund gehört Maria c. Y Dieser Hund ist der Vater, der Maria gehört Gütiger Schluss Schinkenbrot: (23) illustriert ein weiteres, klassisches Beispiel für einen ungültigen Schluss: (23) a. Nichts ist besser als ewiges Glück b. Ein Schinkenbrot ist besser als nichts c. Y/ Ein Schinkenbrot ist besser als ewiges Glück Ungütiger Schluss (24) skizziert den Grund für die Ungültigkeit des Schlusses. In (23)a wird nichts als ein negativer Quantor interpretiert, diese Bedeutung kann paraphrasiert werden als: Es existiert keine Entität, die einen höheren Wert besitzt als der Wert des ewigen Glücks. Daraus folgt: Ewiges Glück hat den höchsten Grad an Wert oder, etwas kürzer, EG > alles andere. In (23)b wird dagegen davon ausgegangen, dass nichts den Zahlenwert 0 denotiert. (23)b bedeutet demnach Ein Schinkenbrot besitzt einen höheren Wert als 0. Die Kombination dieser zwei unterschiedlichen Bedeutungen von nichts in einem einzigen Schluss führt zu Ungültigkeit. Aber aus EG > alles andere und SB > 0 folgt natürlich nicht, dass SB > EG. (23)d stellt die (richtigen) Verhältnisse mit Hilfe einer Skala, die den Wert von Objekten angibt, graphisch dar. (24) a. EG > alles andere b. SG > 0 c. Y/ SG > EG d. (EG: ewiges Glück; SB: Schinkenbrot; x > y: x besitzt grösseren Wert als y) Wertskala von 0 bis Unendlich (4): |––––|––––––––––––––––––––––| 0 SB (= Wert n) EG (= 4) 1.2. SCHLÜSSIGKEIT VON ARGUMENTEN Es gibt, neben der nicht erfüllten Gültigkeit, noch einen zweiten Grund, warum ein logischer Schluss seinen Zweck verfehlen kann. Die Argumente in (25) und (26) sind zwar formal einwandfrei, also gültig. Trotzdem empfindet man (25) und (26) als eigenartig und nicht passend: (25) (26) a. Alle Vögel sind Linguisten b. Alle Enten sind Vögel c. Y Alle Enten sind Linguisten gültiger, aber nicht schlüssiger Schluss a. Wenn der Mond aus Käse ist, dann liegt Athen in Frankreich b. Der Mond ist aus Käse c. Y Athen liegt in Frankreich gültiger, aber nicht schlüssiger Schluss Um diese Art der Abweichung erfassen zu können, verwendet man den Begriff der Schlüssigkeit #3: Universalsprache & UG 44 eines Schlusses: (27) Schlüssiger Schluss =Def ein gültiges Argument, das nur wahre Prämissen enthält. Argumente wie (25) und (26), in denen zumindest eine der Prämissen falsch ist, werden demnach als nicht-schlüssig bezeichnet. Man beachte, daß (25) und (26) logisch vollkommen wohlgeformt sind, sie werden nur als eigenartig wahrgenommen, da sie unser Wissen über die Welt nicht korrekt wiedergeben. Es kann also festgehalten werden, daß die Gültigkeit eines jeden Schlusses durch zwei Faktoren bestimmt wird. Der erste Faktor ist die Form des Schlusses. Sie stellt, da es nur um die Form geht, eine syntaktische Eigenschaft dar, die Gültigkeit genannt wird. Auf der anderen Seite legt die Bedeutung der Prämissen fest, ob der logische Schluss als plausibel empfunden wird. Dieses zweite Kriterium der Schlüssigkeit überprüft, ob die Prämissen mit dem, was wir von der Welt wissen (Weltwissen) übereinstimmt, und gehört in den Bereich der Semantik: (28) Faktor a. Form des Schlusses b. Inhalt (= Wahrheit) der Prämissen Bezeichnung Fällt in Bereich der Gültigkeit Syntax Schlüssigkeit Semantik Faktor (28)a, also die Frage, ob ein Schluß formal gültig ist, kann durch eine abstakte Rechenmaschine, einen sogenannten Kalkül, ermittelt werden. Der nächste Abschnitt zeigt kurz, wie ein solcher Kalkül aussieht. Im Anschluss daran wird auf die Bedeutung des Kalküls für die Universalsprache bei Leibniz zurückgekommen werden. 1.3. DER LOGISCHE KALKÜL Ein Kalkül bildet ein System von Regeln, das aus gegebenem Wissen neues Wissen generiert. Konkret umfaßt ein Kalkül folgende Komponenten: (29) a. Grundelemente/Alphabet: Die Grundbausteine, mit denen die Regeln arbeiten. Das Alphabet kann z.B. aus Zahlen bestehen, oder aus Aussagen (–Sätze). b. Syntaktische Regeln/Grammatik: Legen rekursiv fest, was ein syntaktisch wohlgeformter Ausdruck ist. c. Axiome: Annahmen, die nicht auf andere reduziert werden können d. Deduktionsregeln Die beiden Komponenten (29)a und (29)b bilden gemeinsam eine formale Sprache. Ein Kalkül ist also eine formale Sprache, die zusätzlich mit Axiomen und Deduktionsregeln versehen wird. Als Beispiel für einen Kalkül fungiert hier die Aussagenlogik (s. Einführung in die Semantik): Alphabet: Die einfachen Sätze des Deutschen: (30) Grundelemente = {{Hans schläft}, {Maria schläft}, {Hans sieht Maria},....} 45 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Syntaktische Regeln: Legen fest, was die grammatischen Ausdrücke der formalen Sprache sind: (31) a. Basis: Jede nicht zusammengesetzte Aussage ist eine wohlgeformte Formel (WFF) b. Rekursive Regeln i. Wenn φ eine WFF ist, dann ist auch ¬φ eine WFF (Negation, ‘nicht φ’) ii. Wenn φ und ψ WFFs sind, dann sind auch die folgenden Ausdrücke WFFs: (φ v ψ) (Konjunktion, ‘φ und ψ’) (φ w ψ) (Disjunktion, ‘φ or ψ’) (φ ÿ ψ) (Materielle Implikation, ‘wenn φ dann ψ’) (φ : ψ) (Materielle Äquivalenz, ‘φ genau dann wenn ψ’) Axiome: Axiome legen fest, welche einfachen, nicht-reduzierbaren Beziehungen zwischen den Formeln herrschen. Die Anzahl der Axiome in der Logik ist üblicherweise klein. (Für die Aussagenlogik gibt es z.B. Theorien, die nur fünf Axiome verwenden.) (32) a. A v B : B v A b. A ÿ (A w A) c. aber z.B. nicht: (A ÿ B) : (B ÿ A) Deduktionsregeln: Beispiele für einige Deduktionsregeln wurden bereits im Abschnitt über logisches Schliessen eingeführt. Modus ponens ist so eine Regel, die folgendes aussagt. Gibt es zwei wahre Formeln, die die Form in (33)a und (33)b besitzen, dann ist auch (33)c wahr. (33) Modus ponens a. b. c. pÿq p q 1. Prämisse 2. Prämisse Konklusion Mittels dieser Regel wird also aus zwei gegebenen Präsmissen (– altes Wissen) eine bisher unbekannte Konklusion (– neues Wissen) abgeleitet. 2. UNIVERSALSPRACHE ALS KALKÜL Der formale Kalkulus ist eng mit der Idee der Universalsprache (US), so wie Descartes und Leibniz sie verstanden haben, verknüpft. 2.1. W ISSENSREPRÄSENTATION UND W ISSENSVERARBEITUNG Wissensrepräsentation: In moderner Terminologie ausgedrückt, sollte diese Sprache so wie ein Kalkulus streng reglementiert sein, also präzisen Regeln folgen. Auf diese Art und Weise liessen sich Ambiguitäten und Unklarheiten vermeiden, die häufig in natürlichen Sprachen zu beobachten sind. Die Sprache war weiters universal, da sie auf alle Gebiete angewendet werden sollte. Die erste Aufgabe von US bestand also in der Wissensrepräsentation. Leibniz nannte eine Sprache mit dieser Eigenschaft 1772 eine characteristica universalis. Formale Verarbeitung von Wissen: Daneben sollte US auch einem weiteren Zweck dienen - der Überprüfung von Ideen und Hypothesen, sowie der Erweiterung des vorhandenen Wissens. Damit sollte es möglich werden, Gedanken zu verbinden, und die Resultatet dieser Gedanken präsise #3: Universalsprache & UG 46 zu berechnen. Leibniz verwendete für diesen Kalkulus, der abstraktes Wissen manipulieren sollte, den Begriff calculus ratiocinator. Mauthner formuliert den Grundgedanken der Universalprache wie in (34):28 (34) “Die unendliche Menge aller möglichen Zahlen seien durch unser Zahlensystem so geordnet, daß jeder Mensch imstande sei, an einem einzigen Tage die Kunst zu erlernen, alle Zahlen in einer ihm bisher unbekannten Sprache zu benennen; geschrieben werden sie ohnehin in allen Sprachen auf die gleiche Weise; eine wahre Philosophie müßte ebenso alle Gedanken der Menschen ordnen können: so ließe sich eine allgemeine Sprache hoffen, welche leicht zu lernen, auszusprechen und zu schreiben wäre; welche überdies die logischen Fehler und Täuschungen der vorhandenen Sprachen vermiede. Descartes scheint aber mit diesem Gedanken nur gespielt zu haben; er hielt seine Ausführung in der Idee für möglich, nicht aber in der Wirklichkeit.” Der Kalkulus ist seiner Definition nach rein formaler Natur, die Berechnungen berücksichtigen nur die Form, aber nicht den Inhalt der Elemente, die berechnet werden (vgl. Gültigkeit vs. Schlüssigkeit von Argumenten). Genau diese Eigenschaft ist für moderne Computer charakterstisch, die Berechnungen durchführen, ursprünglich jedoch nicht besonders zur Dastellung von Bedeutung geeignet waren. Leibniz wird daher, zusammen mit Descartes, Blaise Pascal und Charles Baggage (1791-1871) auch als einer der ersten Vordenker für die Entwicklung des Computers betrachtet. 2.2. DIE UNMÖGLICHKEIT EINER UNIVERSALSPRACHE Gödels Unvollständigkeitssatz: Der Logiker Kurt Gödel zeigte 1931, dass es logisch unmöglich ist, einen Kalkül zu formulieren, der alles Wissen zu beschreiben in der Lage ist. Das Problem liegt sehr verkürzt gesagt darin, dass dieser Kalkül auch sich selbst beschreiben müsste - und dies führt entweder zu einer unvollständigen Sprache oder zu logischen Widersprüchen (Gödelscher Unvollständigkeitssatz). Einen ersten Einblick, wie Unvollständigkeit und Widerspruch zusammenhängen ermöglicht ein formal sehr ähnliches Problem, das berühmte Lügnerparadox. Der Lügner: Nehmen wir zu Beginn an, daß jeder Satz in einer konkreten Situation entweder wahr oder falsch sein muß. Dies nennt man die Vollständigkeit einer Sprache. Es kann nun gezeigt werden, daß nicht alle Sätze der natürlichen Sprachen eine Bedeutung erhalten können. Wenn dies der Fäll wäre, würde man logische Widersprüche produzieren und mit semantischen Paradoxa konfrontiert werden. Daraus kann nur ein Schluss gezogen werden: natürliche Sprachen sind nicht vollständig, man kann in natürlichen Sprachen nicht alles ausdrücken. Die berühmtesten Sätze, die keine Bedeutung erhalten können, werden unter der Bezeichnung des Lügnerparadoxes zusammengefaßt. In (35) bis (37) werden drei einfache Fälle aufgelistet. (38) zeigt ein Paradox, das aus zwei Sätzen besteht. (35) 28 Ich bin ein Lügner (Ευβουλίδης, Milet, 4. Jh. v.Chr.) Fritz Mauthner. 1910. Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache Erste Ausgabe: München. Zweite, vermehrten Auflage, Leipzig 1923. Eintrag Universalsprache: http://www.zeno.org/Mauthner-1923/A/Universalsprache. 47 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 (36) (36) ist falsch (37) Alle Kreter Lügen (38) a. Der folgende Satz ist wahr. b. Der vorangegangene Satz ist falsch. (Επιµενίδης , Kreta, 7. Jh. v. Chr.; ‘Ψευδόµενος’) Das Paradox wird anhand von (35) illustriert, die Analyse der anderen Beispiele läuft ähnlich ab. Ist (35) wahr? Nehmen wir zu Beginn an, daß (35) wahr ist. (35) bedeutet also das gleiche wie: Alle Sätze, die ich äußere, sind nicht wahr. Daraus folgt, dass der Satz Ich bin ein Lügner nicht wahr sein kann. Dies widerspricht aber der ursprünglichen Annahme. Diese lautete, dass (35) wahr ist. Daher kann dem Satz (35) nicht der Wert wahr zugewiesen, ohne gleichzeitig zu einem Widerspruch zu gelangen. Ist (35) falsch? Nehmen wir alternativ an, dass (35) falsch ist. (35) bedeutet also das gleiche wie: Alle Sätze, die ich äußere, sind wahr. Daraus folgt aber nun auch, dass der Satz Ich bin ein Lügner wahr sein muß. Dies widerspricht jedoch wiederum der Annahme, dass (35) falsch ist. Wir gelangen zu dem Schluß, dass dem Satz (35) auch nicht der Wert falsch zugewiesen werden kann. Da nun jede Satz entweder wahr oder falsch sein muß, und (35) weder das eine noch das andere sein kann, steht man vor einem Paradoxon, einer unlösbaren Aufgabe. Die einizge Möglichkeit, dieses logische Paradoxon zu vermeiden besteht darin, anzunehmen, dass (35) überhaupt keine Bedeutung besitzt. Darauf folgt weiters, dass die Sprache (in diesem Falle Deutsch) unvollständig ist, da es zumindest einen Satz gibt, dem keine Interpretation zugewiesen werden kann. Deutsch ist also - genauso wie alle anderen natürlichen, und alle formalen Sprachen ausser der Aussagenlogik - nicht vollständig. Dies hat schließlich die Konsequenz, dass es aus prinzipellen Gründen nicht möglich ist, eine Universalsprache im Sinne von Leibniz, Descartes und anderen zu formulieren, mit deren Hilfe man das gesamte Wissen ausdrücken könnte. 21/2. UNIVERSALSPRACHE/PLANSPRACHE/WELTHILFSSPRACHE Es existiert neben dem im letzten Abschnitt diskutierten Begriff der Universalsprache eine zweite Interpretation für Universalsprache. Seit der Antike ist sich der Mensch bewusst, dass Sprache nicht nur ein wertvolles mentales Instrument, sondern auch ein Hindernis für effektive Kommunikation darstellt. Wenn unterschiedliche Sprachen aufeinander treffen wird Kommunikation üblicherweise erschwert, und es geht zumindest Information verloren29. Daher wurden schon seit jeher und in den verschiedensten Kulturkreisen die Idee verfolgt, Plansprachen oder Welthilfssprachen zu erfinden, welche ungehinderte Kommunikation über die Sprachgrenzen hinweg ermöglichen sollten. Diese Ideen waren und sind naturgemäß höchst politischer Natur, da sie die Welt und das Verhalten der Menschen zu verändern trachten. Generell unterscheidet man zwei Klassen von Vorschlägen. Entweder soll auf eine natürliche 29 Dies ist u.a. eine Konsequenze von W.O. Quines Theorie der Radikalen Interpretation - mehr dazu zu einem späteren Zeitpunkt. #3: Universalsprache & UG 48 Sprache als Plansprache zurückgegriffen werden, oder man zielt darauf ab, eine neue, künstliche, konstruierte Sprache zu erschaffen, die diesen Zweck erfüllt. Natürliche Sprachen, die zur internationalen Kommunikation oder Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg übereingesetzt wurden umfassen Latein, Französisch, Russisch, Deutsch, Sanskrit, Klassisches Arabisch, und andere. Esperanto: Die wichtigste und bekannteste konstruierte Universalsprachen stellt Esperanto dar. Esperanto wurde 1887 von Ludwig L. Zamenhof (1859-1917) entwickelt, und ist bei weitem die erfolgreichste internationale Hilfssprache. Es handelt sich auch um die einzige konstruierte Sprache mit natürlichen Sprechern, also Sprechern, die die Sprache als Kinder vor der kritischen Spracherwerbsperiode (s. u.) erworben haben. Es gibt vielleicht 1,000 muttersprachliche Sprecher weltweit. Einigen Quellen zufolge wird Esperanto von ca. 1,000,000 Sprechern aktiv eingesetzt. Wie oben bereits erwähnt, sind Universalsprachen im Sinne von Plansprache, eher von politischem Interesse, und werden daher in diesem Kurs nicht weiter behandelt werden. 31/2. SPRACHLICHE UNIVERSALIEN UND UNIVERSALGRAMMATIK Im Laufe der bisherigen Diskussion wurden drei unterschiedliche Bedeutungen des Präfixes universal- eingeführt: (i) Fragen nach dem ontologischen Status von Universalien; (ii) Universalsprache als Kalkulus (Leibniz) und (iii) Universalsprache als Plansprache. Alle drei Themen befassen sich mit philosophischen Fragen (Universalien) oder mit der Anwendung von Sprache, nicht jedoch direkt mit Eigenschaften des menschlichen Sprachsystem. Die letzte Interpretation von universal schließt diese Lücke, indem sie sich universalen Merkmalen von sprachlichen Objekten zuwendent. universal- in dieser Bedeutung ist daher für die Linguistik und moderne Sprachphilosophie von besonderem Interesse. Konkret stehen dabei zwei, eng miteinander verbundene Gruppen von Fragen im Vordergrund, die so wie in (39) unter den beiden Begriffe Universalien und Universalgrammatik zusammengefasst werden können. (39) a. Typologische Universalien Welche Eigenschaften können in allen/den meisten/vielen menschlichen Sprachen beobachtet werden? Was existiert in allen allen/den meisten/vielen menschlichen Sprachen? Was ist somit charakteristisch für das menschliche Sprachsystem? b. Universalgrammatik (UG) i. Gibt es ein System, das für diese Eigenschaften verantwortlich ist? Aus (i) ergibt sich folgende weitere Frage: ii. Ist das menschliche Sprachvermögen angeboren, oder erlernt? Wenn (i) positiv beantwortet wird, ist die Antwort auf (ii): erlernt. (39)b zeigt, dass Antworten auf diese Fragen untereinander in systematischem Zusammenhang stehen, und nicht-triviale Konsequenzen für die allgemeine Theorie von Sprache nach sich ziehen. Was typologische Universalien sind, wie diese formuliert werden, und warum sie ein Argument für die Existenz einer allen Menschen angeborenen Universalgrammatik darstellen bildet das Thema der nachfolgenden Abschnitte. 49 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 3.1. TYPOLOGISCHE UNIVERSALIEN Man unterscheidet zwischen absoluten Universalien, die in allen Sprachen anzutreffen sind, sowie typologischen Universalien die auf Implikationen basieren. Absolute Universalien: Zur den absoluten Universalien Gruppe zählen unter anderem die sechzehn Designmerkmale von menschlicher Sprache, die Hockett (1960) identifizierte.30 Darunter finden sich die Beobachtungen in (40). (40) Einige Designmerkmale menschlicher Sprache a. Gesprochene Sprachen werden im Vokaltrakt produziert und mittels Schallwellen übertragen. (Keine Sprache verwendet sprachliche Laute, die mit dem Bauch, den Füssen oder dem Ellenbogen produziert werden.) b. Lernbarkeit: Alle Sprachen können im Laufe des Erstspracherwerbs als Muttersprache erlernt werden. c. Kritische Periode: Sprache kann nur in der kritischen Periode (ca. 0 - 5 Jahre) als Muttersprache erworben werden. d. Alle Sprachen besitzen eine Unterscheidung zwischen Vokalen und Konsonanten. e. Diskretheit: Sprachen besitzen diskrete (–atomare) Einheiten, die vom Sprachsystem manipuliert werden. Dazu zählen Phoneme, Morpheme und syntaktische Phrasen. f. Arbirarität: die Beziehung zwischen Form und Bedeutung der Morpheme ist zufällig. g. Rekursivität: Menschliche Sprach ist rekursiv und erlaubt daher Einbettung. h. Kompositionalität: Die Bedeutung komplexer Ausdrücke kann systematisch aus der Bedeutung der Teile abgeleitet werden. i. Displazierung: Alle Sprachen haben die Fähigkeit, sich auf Entitäten zu beziehen, die nicht physisch präsent sind (z.B.: Maria hätte gerne das gestrige Spiel gesehen.) j. Reflexivität: Es ist möglich, mit Sprache über Sprache zu sprechen. Implikatorische Universalien: Daneben wurde eine große Anzahl von typologischen Universalien gefunden, welche die allgemeine Form der Implikation in (41) besitzen. (41) Wenn eine Sprache Eigenschaft A besitzt, dann hat diese Sprache auch Eigenschaft B. Zu den bekanntesten Untersuchungen von Universalien zählt Greenberg (1963)31, aus dem auch die beiden Generalisierungen in (42) stammen. (42) Zwei typologische Universalien a. SOV-Sprachen verfügen über Postpositionen und pränominale Genitive. b. VSO-Sprachen verfügen über Präpositionen und postnominale Genitive. (43) und (44) illustriert Eigenschaften von SOV-Sprachen ((42)a), während (45) ein Beispiel für eine VSO Sprache ((42)b) erbringt. 30 Hockett, Charles. 1960. The origin of speech. Scientific American 203: 89–96. (40)c, (40)g und (40)h stammen nicht von Hockett selbst. 31 Greenberg, Joseph H. 1963. Some Universals of Grammar with Particular Reference to the Order of Meaningful Eleents. In J.H. Greenberg (Hrsg), Universals of Language. Cambridge, MA und London: MIT Press, S.73-113. #3: Universalsprache & UG (43) 50 SOV: Japanisch a. Boku wa nihon ni itta Ich Topik Japan nach ging ‘Ich fuhr nach Japan’ b. [PP Nihon ni] / *[PP ni Nihon] Japan nach/ ‘nach Japan’ c. [PP watashi no] hon / *hon [PP watashi no] ‘meinGen Buch’ ‘Buch meinGen’ (44) NP P°/*P° NP NPGen N°/*N° NPGen SOV: Lezgisch (nordostkaukasische Nakh-Daghestanische Sprache; Dryer 2007) a. Alfija-di ma˜qala kˆxe-na Alfija-erg Artikel schrieb-aorist ‘Alfija schrieb einen Artikel’ b. duxtur-rin patariw doctor-gen.l zu ‘zu Ärzten’ c. Farid-an wax Farid-gen Schwester ‘Farids Schwester (45) SOV (NPSubjekt [VP NPObjekt V°]) SOV NP P° NPGen N° VSO: Fidji (Austronesisch) a. e rai-ca a gone a qase VSO/VOS 3sg sehen-trans Kind alte Person ‘Die alte Person sah das Kind’/‘Das Kind sah die alte Person’ b. mai Wairi’i P° NP ‘von Wairi’i’ c. a liga-i Jone N° NPGen Hand John ‘Johns Hand’ Universal 20: Auszüge eines weiteren, berühmten Greenbergschen Universals finden sich in (46): (46) Greenbergs Universal 20 (Auszüge; Greenberg 1963): Wenn eine Sprache Modifikatoren vor dem Nomen besitzt, dann treten diese in der Reihenfolge (47)a auf. (47) a. b. c. d. e. DEM diese * * * * NUM drei NUM NUM NUM N DEM DEM N NUM A grünen N Blätter A N DEM DEM N A A A (DEM: Demonstrativpronomen (dieser) NUM: Numeral (drei); A: Adjektiv (grün); N: Nomen) ÜBUNG: I. Wie kann (42) erklärt werden? (Hinweis: Wie sehen die Baumstrukturen aus?) II. Wie verhalten sich Deutsch und Griechisch in bezug auf (42) und Universal 20? 51 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 3.2. UNIVERSALGRAMMATIK Unter Universalgrammatik versteht man die Gesamtheit der sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten, die jedem Sprecher einer Sprache angeboren sind, und ihn/sie in die Lage versetzen, eine menschliche Sprache zu erlernen. Nach Abschluss des Erstspracherwerbs (ca. 6 Jahre) wächst diese Fähigkeit, wie ein abstraktes Organ, zu einer einzelsprachlichen Grammatik heran. Die Idee einer Universalgrammatik (UG) in diesem Sinne wurde erstmals von Noam Chomsky (*1928) in den 1950ern formuliert. Forschung zur UG findet im Rahmen der formalen Theorie der Generativen Grammatik statt, die Sprache als ein biologisches Noam Chomsky Phänomen betrachtet und auf der methodischen Grundlage des naturwissenschaftlich orientierten Physikalismus (Handout #1) untersucht. Kompetenz und UG: In der formalen Linguistik unterscheidet man zwischen Kompetenz, dem System oder den kognitiven Fähigkeiten auf denen Sprache basiert, und dem tatsächlichen Sprachverhalten, der Performanz. Die Aufgabe der Generativen Grammatik besteht darin, die Kompetenz mit Hilfe einer möglichst expliziten und präzisen Theorie möglichst vollständig zu erklären. Kompetenz setzt sich genauer genommen aus zwei getrennten Komponenten zusammen: der angeborenen UG sowie jenen sprachspezifischen Faktoren, die zur Ausformung der einzelsprachlichen Grammatiken führt. Diese sprachspezifischen Faktoren werden dem Lerner allein durch die primären linguistischen Daten zur Verfügung gestellt, d.h. durch die Äußerungen, denen ein Kind während des Spracherwerbs ausgesetzt ist. (48) UG + primäre Daten Y Einzelsprache Es existiert also ein enger Zusammenhangs zwischen UG und dem Begriff der Kompetenz; jede Diskussion eines der beiden Konzepte ist auch für das andere relevant. Nach einigen kurzen Ausführungen zum philosophischen Hintergrund (§3.2.1) und zu den historischen Vorläufern der UG sowie der Unterscheidung Kompetenz vs. Performanz (§3.2.2), werden die Konsequenzen von UG für andere Theorien der Sprachfähigkeit (Behaviorismus und Funktionalismus) dargelegt werden (§3.3). 3.2.1. Empirismus vs. Rationalismus Seit der Antike wird debattiert, ob kognitive Fähigkeiten wie z.B. die Fähigkeit zu Zählen, die Fähigkeit, ethische Entscheidungen zu treffen oder Sprache, angeboren sind oder erlernt werden müssen. Das ist die Essenz des Streits zwischen Rationalismus und Empirismus. Der Rationalismus vertritt die Ansicht, dass sprachliches Wissen angeboren ist, und daher ein einheitliches System darstellt, das allen Menschen gemeinsam ist (φύσει, Analogisten). Für die konkurrierende Position des Empirismus (θέσις) steht die Vielfalt im Vordergrund (Anomalisten), die nur durch einen (unbewussten) Lernprozess erworben werden kann. Die Existenz von typologischen Universalen zeigt nun, dass Variation unter den menschlichen Sprachen nur beschränkt möglich ist - nicht alle Kombinationen von Eigenschaften werden von Sprachen auch genutzt. Diese Beobachtung bleibt unerklärt, wenn Sprache einfach eine Art von erlerntem sozialen Verhalten ist. Sie unterstützt andererseits die Hypothese des Ra- #3: Universalsprache & UG 52 tionalismus, nach der wesentliche Teile des Sprachvermögens angeboren sind.32 Die von Noam Chomsky in den 1950er Jahren begründete Generative Grammatik stellt die wichtigste moderne Ausformung des Rationalismus dar. Chomskys Arbeit hat dabei nicht nur den Weg für eine Untersuchung von Sprache mit naturwissenschaftliche Methoden ermöglicht, sondern auch erheblichen Einfluss auf andere Gebiete wie Psychologie, Philosophie, Biologie, Kognitions- und Computerwissenschaften und Musikologie ausgeübt. 3.2.2. Vorläufer der Idee einer Universalgrammatik Die Idee, dass alle Sprachen auf einer einzigen, zugrundeliegenden Grammatik - einer Universalgrammatik - basieren, tauchte immer wieder in der Philosophiegeschichte auf. Ein prominente Vertreter der UG waren Roger Bacon (1214-1294) und Adam Smith (1723-1790)33, der eher als der Begründer der moderenen Ökonom bekannt ist (The Wealth of Nations). Im Folgenden werden drei weitere, insbesondere aus historischer Sicht wichtige Positionen zu UG kurz zusammengefasst. Modisten: Die Modisten (auch Spekulative Grammatiker genannt) bildeten eine Schule von Grammatikern im westlichen Europas des 13. und 14. Jh, die insbesondere die Beziehung zwischen Gedanken, Realität und Sprache, untersuchten. Dabei gingen sie davon aus, dass grammatische Eigenschaften als Wegweiser dienen, die einen zur Natur der Dinge - also die Ontologie - führen. Da nun die Ontologie für alle Menschen die selbe ist, müssen auch die grammatischen Eigenschaften, die auf die Natur der Dinge verweisen, über alle Sprachen hinweg konstant bleiben. Dies ist schließlich nur dann möglich, wenn es eine abstrakte Ebene gibt, auf der sich die Sprachen nicht unterscheiden. Die Modisten nahmen damit das Konzept der UG vorweg, zumindest in einer vereinfachten Form. Chomskys Hypothese einer angeborenen UG kann somit in gewisser Hinsicht als Fortsetzung der modistischen Hypothese mit moderenen Mitteln gesehen werden. (Chomsky selbst verweist übrigens wiederholt explizit auf Modisten.) Ihren Namen bezogen die Modisten aus einer einflußreichen Manuskript mit dem Namen De Modis Significandi. Zu den wichtigsten Repräsentanten der Modisten zählten Thomas von Erfurt. Direkt von den Modisten beeinflußt waren die Anhänger der Port Royal Grammatik, einer für die Entwicklung der modernen Sprachphilosophie wichtigen Gruppe von Gelehrten im 17. Jh., die ihr intellektuelles Zentrum im Kloster Port Royal des Champs hatten. Wilhelm von Humboldt (1767-1835): Humboldt unterscheidet zwischen Sprache als ergon (Produkt) und energeia (Prozess). Sein Hauptinteresse galt dem Prozess, der zur Sprachproduktion führt. Diese Sichtweise nimmt bereits einige Aspekte der modernen Konzeption von UG vorweg, in der die Sprachfähigkeit (Kompetenz) und nicht die Äußerungen (Performanz) untersucht werden. Ob Humboldts Theorie von Sprache aber direkt mit der modernen Konzeption von UG gleichgesetzt werden kann, darf aber bezweifelt werden. Saussure (Kompetenz - Performanz =/langue - parole): Saussures berühmte Trennung zwischen langue und parole ist der Dichotomie Kompetenz - Performanz ähnlich. Aber es existieren auch 32 Weitere Argumente für Rationalismus werden in der Diskussion von Behaviorismus eingeführt. 33 1762. Considerations concerning the first formation of languages. 53 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 wichtige Unterschiede. Erstens war langue für Saussure keine kognitive Eigenschaft von Individuen, sondern eine soziales Konstrukt, das auf irgend eine, nicht näher spezifizierte Art, im kollektiven Unterbewusstsein aller Sprecher verankert ist. Kompetenz stellt dagegen eine im Individuum ausgeprägte, abstrakte biologische Fähigkeit dar, die völlig unabhängig von den sozialen Umständen existiert. Zweitens ging Saussure, so wie damals üblich, davon aus, dass alle linguistische Forschung auf der Arbeit mit Korpora34 (Bücher, Zeitungen, Tonbandaufnahmen,...) basieren muss. Daher konnten Einsichten zu langue auch nur aus dem Studium natürlicher Korpora stammen. Die Methode, Daten direkt über die Intuitionen von kompetenten Sprechern zu beurteilen, war zu Sausssures noch nicht etabliert. Intuitionen stellen auf der anderen Seite die wichtigste Quelle für die Analyse von Kompetenz dar. Dies zeigt nochmals, dass sich langue im Gegensatz zu Kompetenz nicht auf das kognitive System Sprache bezieht, sondern auf Eigenschaften von Sprachäußerungen. Drittens nimmt bei Kompetenz die generative Fähigkeit, also die Produktivität der mentalen Grammatik, eine zentrale Stellung ein. Kompetenz beschreibt die Fähigkeit der Sprecher, potentiell unendliche Strukturen zu bilden und zu verarbeiten. Diese Komponente der Produktivität fehlt bei langue. Langue beschreibt nur das, was bereits im Korpus existiert. Langue und Kompetenz bezeichnen also zwei ähnliche, aber doch unterschiedliche Konzepte, die nicht miteinander gleichgesetzt werden können. Langue bezieht sich auf die Regelmässigkeiten einer konkreten Sammlung von Äußerungen, die in sozialem Kontext entstanden sind. Unter Kompetenz versteht man dagegen jene biologisch fundierte Sprachfähigkeiten, die in der mentalen Grammatik jedes einzelnen Individuums festgelegt ist. 3.3. KONSEQUENZEN VON UG Die Fortschritte der letzten 60 Jahre auf dem Gebiet der Linguistik, die durch die Generative Grammatik ermöglicht wurden, führten zu neuen, wichtigen Einsichten in die Eigenschaften der menschlichen Sprache, deren Aufbau und deren Verbindung zu anderen kognitiven Systemen. Damit konnten auch gezeigt werden, dass einige konkurrierenden Ideen, Hypothesen und Theorien über Sprache entweder inkorrekt sein müssen, oder nicht im Stande sind, zentrale Eigenschaften von Sprache zu erklären. Drei dieser alternativen Ansätze werden kurz vorgestellt. 3.3.1. Rationalismus vs. Behaviorismus (Empirismus) Selten markiert ein einziger wissenschaftlicher Artikel den Beginn einer Revolution. Bei Chomsky (1959)35, einer Kritik der Sprachtheorie des Psychologen Burrhus F. Skinner, war dies der Fall. Zuvor herrschte in Linguistik und Psychologie der Glaube, dass die menschliches Psychologie - inklusive Sprache - allein durch die Beobachtung des Verhaltens analysiert werden können. Danach setzte sich jedoch sehr schnell die Überzeugung durch, dass die wirklich relevanten Fragen nur gestellt werden können, wenn man annimmt, dass Verhalten durch 34 Ein Textkorpus oder Korpus stellt eine Sammlung von Äußerungen dar, die mit dem Ziel einer (zukünftigen) linguistischen Analyse zusammengetragen wurden. 35 Chomsky, Noam. 1959. A Review of B. F. Skinner's Verbal Behavior. Language 35.1: 26-58. Skinner, Burrhus Frederick. 1957. Verbal Behavior. Acton, MA: Copley Publishing Group. #3: Universalsprache & UG 54 verschiedene mentale System gesteuert wird, die wie ein abstraktes Organ funktionieren. Eines dieser Systeme ist die mentale Grammatik. Diese Entwicklung von verhaltensorientierter Forschung zu Untersuchungen des Systems, welches das Verhalten verursacht, bezeichnet man auch als die kognitive Wende; diese kann auch als Geburtsstunde der Kognitionswissenschaften in Biologie, Psychologie und Computerwissen-schaften gesehen werden. Die Kritik von Chomsky (1959) richtet sich gegen Skinners Buch Verbal Behavior (1957), in dem dieser eine behavioristische Sprachtheorie ausarbeitet. Der psychologischen Schule des Behaviorismus liegt die Annahme zugrunde liegt, dass die Gesamtheit des menschlichen Verhaltens eine Reaktion auf Reize und Einflüsse der Umwelt darstellt. Wer Hunger hat, kauft Brot, wer friert, zieht sich was an, und wer müde ist, legt sich nieder. Die Reize (Hunger, Kälteempfinden oder Müdigkeit) werden dabei Stimulus (S) genannt, und das Verhalten selbst (Brot kaufen, sich etwas anziehen,...) als Response (R) bezeichnet. Für Skinner, der eine radikale Version des Behaviorismus vertrat, besassen geistige Zustände wie Denken, Planen, oder Intuition keinen ontologischen Status - es handelte sich dabei um nichts anderes, als um eine spezifische Konfiguration von körperlichen Zuständen. Handlungen sind daher nicht externalisierte Gedanken, also Gedanken, die in Handlungen ausgedrückt werden, sondern nur Reaktionen (also R), die durch spezifische Konfiguration von Stimuli (körperliche und andere Zustände) ausgelöst werden. Dieses streng mechanistische S-R Modell erweiterte Skinner nun auch auf Sprache. Anstatt einfach Brot zu nehmen, spricht z.B. jemand, der Hunger leidet, den Satz (49). Damit wird Sprache als R auf einen Zustand des Körpers (Hunger als Wert für S) reduziert: (49) Geben Sie mir Brot! SHunger ÿ R(49) Und hier beginnen bereits, wie Chomsky erkennt, die Probleme. Denn gibt es nicht auch Hungernde, die statt (49) den Satz (50)a oder (50)b oder irgendeine andere Aussage verwenden. Oder existieren nicht auch Hungernde, die stumm bleiben? (Beispiele von mir, WL). (50) a. Geben Sie mir bitte Brot! b. Bitte geben Sie mir Brot! SHunger’ ÿ R(50)a SHunger” ÿ R(50)b Diese einfache Beobachtung zwingt Behavioristen zu absurden Annahmen. Wenn Skinner nämlich recht hat, dann wird jeder R - also auch jede sprachliche Äußerung - durch einen ganz spezifische physikalische Konfiguration S ausgelöst. Doch das würde bedeuten, dass jemand, der (49) sagt, eine andere Art von Hunger - nennen wir es Hunger’ und Hunger” - verspüren müsste, als jemand, der (50)a oder (50)b verwendet, oder jemand, der einfach stumm bleibt. Dies ist natürlich ein äußerst zweifelhafter Schluss. Weiters bleibt es für Skinner völlig unklar, warum kein Hungernder jemals Aussagen der Form (51) verwendet: (51) a. *Geben bitte mir Sie Brot! b. *Mir Sie bitte geben Brot! c. *Brot mir geben Sie bitte! Es ist also so, dass ein und der selbe psychologische Zustand S auf unterschiedlichste Arten verbalisiert werden kann, wobei es auch möglich ist, dass R überhaupt keine sprachliche Äußerung verursacht. Skinners fataler Irrtum bestand darin, zu glauben, dass es eine systematische Beziehung zwischen zufälligen physikalischen Merkmalen (S) und zufälligen sprachlichen 55 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Äußerungen (R) gibt. Sowohl im Bereich der mentalen Repräsentation von Gedanken als auch bei Sprache können systematische, und daher interessante, Beobachtungen nur aus dem Studium des Systems kommen. Ein Vergleich: Um zu verstehen, wie die Lunge funktioniert, hilft es wenig, festzustellen, dass Menschen unter Stress und Anstrengung sowie bei Aufregung häufiger atmen. 3.3.2. Chomskys Kritik an Skinner Chomsky (1959) bringt eine Anzahl von Argumenten gegen Skinner (1957) vor, die mehr oder weniger zur sofortigen Auflösung der behavioristischen Sprachtheorie führte. Die zentralen Argumente gegen Skinner stammen aus Eigenschaften des Spracherwerbs. Beim Behaviorismus handelt es sich um eine klassische empiristische Theorie. Wissen ist nicht angeboren, sondern wird durch das S - R Schema erlernt. Ein Kind, das Sprache erwirbt, muss Skinner zufolge wiederholt eine große Anzahl von Konstruktionen hören, um diese dann wiederholen zu können. Dieser Aspekt wirft, wie gleich näher ausgeführt werden wird, im Prinzip unlösbare Probleme für die behavioristische Sprachtheorie auf. Die einzelnen Probleme werden in (52) (s. nächste Seite) in verkürzter Form aufgelistet.36 Insbesondere das erste (Produktivität) und das letzte (Unzulänglichkeit des Stimulus) üben bis heute großen Einfluss auf Linguistik, Sprachphilosophischen und verwandte Gebiete aus. Schließlich war der Behaviorismus in den 1950ern mit politischen Ansichten assoziiert, die viele Intellektuelle als ethisch nicht vertretbar betrachteten. Eine Grundidee des Behaviorismus besteht im Glauben daran, dass das Verhalten der Lebewesen auf S - R Paare reduziert werden kann. Wählt man die richtige Konfiguration von S, sollte es möglich werden, Menschen regelrecht zu programmieren. Skinner selbst war der Meinung, dass man mit Hilfe der behavioristischen Methoden Menschen formen, verändern und kontrollieren kann, um sie so zu besseren Bürgern, Schülern oder Soldaten zu erziehen. Solche Bestrebungen sind und waren für viele ethisch und moralisch nicht akzeptabel. Behaviorismus spielt daher aus all diesen Gründen in der heutigen Forschung keine bedeutende Rolle mehr. (52) Argumente gegen Behaviorismus a. Produktivität: Sprache umfasst eine potentiell unendliche Anzahl von Äußerungen, und Sprecher besitzen Intuitionen zu jedem beliebigen Satz. Unendliche Mengen von sprachlichen Aussagen können jedoch nicht erlernt werden. b. Systematizität: Sprache variiert nicht zufällig, sondern folgt präzisen Regeln. Woher kommen diese Regeln, wenn sie nicht angeboren sind? c. Sprachliche Universalien: Die Existenz typologischer Universalien zeigt, dass alle Sprachen auf einer gemeinsamer Basis - UG - aufbauen. d. Geschwindigkeit des Lernprozesses: Sprache wird schneller erworben als alle anderen, vergleichbar komplexen kognitiven Systeme wie z.B. Mathematik, Schach, oder Spielen eines Musikinstruments. 36 Wie immer wird in (52) nicht der exakte Inhalt der historischen Debatte, sondern eine Rekonstruktion nach dem aktuellen Stand der Forschung wiedergegeben. #3: Universalsprache & UG 56 e. Robustheit des Systems und des Lernprozesses: Alle Sprecher erwerben eine Sprache fehlerlos, obwohl die primären Daten oft unvollständig und fehlerhaft sind. Dies unterscheidet Sprache von anderen kognitiven Systemen. f. Kritische Periode des Lernprozesses: Erstspracherwerb ist nur früh, bis ca. zum 5. Lebensjahr möglich. Die trifft nicht auf andere kognitive Systeme zu. g. Argument von der Unzulänglichkeit des Stimulus (‘Poverty of Stimulus’): Sprecher einer Sprache verfügen über sprachliches Wissen, dass nicht erlernt werden kann. (Für Beispiele siehe auch 3.3.3) 3.3.3. Beispiele für das Argument von der Unzulänglichkeit des Stimulus V2 im Deutschen: Alle Sprecher des Deutschen empfinden (53)a-c als wohlgeformte Sätze, (53)d jedoch als unakzeptabel. Lange wh-Bewegung ist nicht möglich, wenn ein V2-Satz unter einem V-end Satz eingebettet ist. Dieses sprachliche Wissen kann jedoch nicht - wie von Skinner behauptet - erlernt sein, da wohl kein Sprecher jemals darauf hingewiesen wurde, Strukturen wie (53)d zu vermeiden: (53) a. [CP Wen1 glaubst Du [CP dass Maria liebt t1]] b. CP Wen1 glaubst Du [CP t1 liebt Maria t1]] c. Sie fragte [CP wen1 Du glaubst [CP dass Maria liebt t1]] d. *Sie fragte [CP wen1 Du glaubst [CP t1 liebt Maria t1]] (V2 - V-end) (V2 - V2) (V2 - V-end - V-end) (V2 - V-end - V-2) Inselbeschränkungen I: Alle Sprecher haben klare, kategoriale Urteile zu den Sätzen in (54). Insbesondere weiß jeder kompetente Sprecher, dass Bewegung aus Relativsätzen wie in (54)d zu syntaktisch nicht wohlgeformten, und daher ungrammatischen, Resultaten führt. (54) a. b. c. d. . Maria hat das Buch mit Hans geschrieben [Mit wem]1 hat Maria das Buch t1 geschrieben hat Peter hat das Buch verloren, das Maria mit Hans geschrieben hat *[Mit wem]1 hat Peter das Buch verloren, das Maria t1 geschrieben hat ‘Sag mit den Namen der Person, sodaß Peter das Buch verloren hat, welches Maria t1 mit dieser Person geschrieben hat’ Wiederum kann dieses Wissen nicht erlernt sein, da wahrscheinlich niemand - mit Ausnahme einiger Linguisten - Sätze wie (54)d jemals zuvor gehört hat. Aber wie können Sprecher dann das Wissen erworben haben, dass (54)d kein Satz des Deutschen ist? Inselbeschränkungen II: Jeder (im technischen Sinne) kompetente Sprecher des Deutschen kann zwischen den wohlgeformten Sätzen (55)a/b und den nicht akzeptablen Varianten (55)c/d unterscheiden: (55) a. b. c. d. Hans lud ihn ein und Maria lud ihn wieder aus. Wen lud Hans ein und Maria wieder aus? *Wen lud Hans ein und Maria wieder auslud? *Wen lud Hans ein und Maria ihn wieder aus? b’. Wen1 lud [Hans twen ein tVerb] und [Maria twen wieder aus tVerb]? c’.*Wen1 lud [Hans twen ein tVerb] und [Maria twen wieder auslud]? d’.*Wen1 lud [Hans twen ein tVerb] und [Maria ihn wieder aus tVerb]? 57 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 Da ungrammatische Strukturen nicht erlernt werden können, belegen die Regularitäten in (54) und (55), dass grundlegende Eigenschaften von Sprache auf angeborenen Prinzipien basieren müssen, und nicht - so wie vom Behaviorismus behauptet - erlernt worden sind. Für die UG-Hypothese stellen die obigen Beobachtungen keine Probleme dar. Im Gegenteil, die Regelmässigkeiten lassen sich durch die Annahme, dass wesentliche Teile der Grammatik angeboren sind, erklären. Wie solche Analysen konkret aussehen, wird momentan in der syntaktischen Literatur intensiv diskutiert. 3.3.4. Konnektionismus Die letzten 30 Jahre sahen eine Rennaissance von empiristischen Theorien zum Spracherwerb, die auf neueren technologischen Entwicklungen sowie auf Einsichten in der theoretischen Computerwissenschaften basieren. Die einflussreichste dieser Strömungen ist der Konnektionismus. Konnektionismus bezeichnet eine Gruppe von Theorien des Geistes und kognitiver Fähigkeiten, denen vier Eigenschaften gemeinsam sind: (56) a. Information besteht in der unterschiedlichen Stärke von Verbindungen in einem neuronalen Netz. b. Information wird paralell verarbeitet, nicht sequenziell (parallel distributed processing) c. Information wird nicht lokal, sondern global im ganzen Netz gespeichert. d. Information wird nicht symbolisch gespeichert. Es gibt daher keine Regeln, die Symbole manipulieren könnten (vgl. Computermodell des Geistes). Das Modell ist subsymbolisch. In der Linguistik und Forschung zur künstlichen Intelligenz werden konnektionistische Modelle eingesetzt, um die Aspekte des Spracherwerbs zu simulieren. Anhänger des Konnektionismus behaupten, dass konnektionistische Netzwerke dazu in der Lage sind, allein durch Eingabe von Daten (Wörtern oder Sätzen) die korrekten linguistischen Generalisierungen zu extrahieren. Beispiel - Perfektformen englischer Verben: Eines der bekanntesten Netzwerke wurde von Rumelhart und McClelland (1986)37 entwickelt. Es ist in der Lage, die Morphologie der englischen Perfektformen (play - played vs. sing - sang) zu erlernen. Das konnektionistisches Modell funktioniert wie folgt: Das Netztwerk besteht aus einer Menge von Eingabeknoten, Ausgabeknoten und sogenannten versteckten Knoten, über die Eingabeknoten und Ausgabeknoten miteinander verbunden sind: (57) play work worked sing singed hope sang say 37 in: Rumelhart, David, James McClelland und die PDP Research Group. 1986. Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructure of Cognition. Cambridge, MA: MIT Press #3: Universalsprache & UG 58 Im konkreten Fall entsprechen die Eingabeknoten Verbstämme (z.B. play, work oder sing) und die Ausgabeknoten allen möglichen Perfektformen (played, worked, sang, aber auch *singed). Durch Training, d.h. durch wiederholte Eingabe von Verben, lernt das Netzwerk nun, dass die Perfektform von play regelmäßig ist (played), jene von sing jedoch unregelmäßig (sang). Der Lernprozess wird dabei urch Verstärkung der Verbindungen, die von sing zu sang führen, sowie durch Schwächung der Verbindungen zwischen sing und singed modelliert. Nach Abschluss des Lernprozesses ist das Netzwerk - so behaupten zumindest Rumelhart und McClelland und andere Vertreter - auch in der Lage, die korrekte Form für neue Verbstämme zu finden (ring/rang vs. walk/walked). Die Debatte, ob konnektionistische Netzwerke tatsächlich imstande sind, aus unkontrollierten Daten korrekte Generalisierungen zu extrahieren, so wie das z.B. menschliche Sprecher im Rahmen des Spracherwerbs tun, wird seit 25 Jahren geführt und ist noch nicht abgeschlossen. Vorläufig lassen sich Vor- und Nachteile des Konnektionismus wie folgt zusammenfassen: (58) Vorteile a. Robustheit: Neuronale Netze kollabieren nicht ‘katastrophal’ bei i. fehlerhaftem Input ii. Fehler im Signal (noise) oder iii. Beschädigung von Teilen des Speichermediums (Hirnschädigung) b. Neuronale Netze sind plausibel als Modell des Gehirns c. Neuronale Netze erlauben die Modellierung von nicht-kategorialen, graduellen Urteilen, Ausnahmen (generische Aussagen) d. Netze können mit konfligierenden Daten umgehen (59) Nachteile38 a. Kompositionalität: Neuronale Netze sind nicht in der lage, die Bedeutung von komplexen Ausdrücken kompositional abzuleiten. b. Produziert keine Regeln, da keine syntaktischen Regularitäten erkannt werden. Als Resultat generalisiert das Netzt nicht von vorhandenem Wissen auf neue Eingaben: i. Wenn Der Mann sah den Wald, als formal richtig (= grammatisch) erkannt wird, wird nicht automatisch auch Die Frau hörte den Vogel als richtig erkannt ii. Wenn Der Mann sah den Wald, und Die Frau sah den Wald als richtig erkannt wird, ist das Netz NICHT in der Lage auch Die Frau sah den Mann als formal richtig zu erkennen. c. Das Netzt muss mit ausgewählten Daten trainiert werden. Daten im Spracherwerb werden nicht ausgewählt. d. Erklärt nicht, wie Schwächung von Verbindungen zustande kommt. Warum gibt es keine Verbindungen zwischen den drei Knoten der, Fisch, und schläft im Input, und Fisch schläft der in der Ausgabe? (Poverty of Stimulus Argument) e. Ähnlichkeit zwischen neuronalem Netz und Gehirn ist nicht so groß, wie dies der erste Eindruck vermitteln würde. Gehirn ist komplexer. 38 Für Kritik am Konnektionismus siehe unter anderem: Fodor, Jerry and Zenon Pylyshyn. 1988. Connectionism and cognitive architecture: A critical analysis. Cognition 28: 3-71 Marcus, Gary. 2001. The Algebraic Mind. Cambridge, Mass.: MIT Press. Pinker, Stephen und Alan Prince. 1988. On Language and Connectionism: Analysis of a Parallel Distributed Processing Model of Language Acquisition. Cognition, 23: 73–193. 59 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 3.3.5. Sprache und Weltbild Aus der UG-Hypothese folgt, dass alle Menschen in allen Kulturen und Sprachgemeinschaften mit dem gleichen sprachlichen System ausgestattet sind. Sprache sollte also keinen systematischen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie Sprecher unterschiedlicher Sprachen die Welt wahrnehmen. Es sollte, um ein extremes Beispiel zu nehmen, daher niemals der Fall sein, dass Sprecher einer SOV-Sprache nur runde Objekte sehen können, während Sprecher von VSO-Sprachen ausschließlich eckige Entitäten wahrzunehmen in der Lage sind. Diese Ansicht wurde und wird nicht von allen Linguisten geteilt. Immer wieder wurde behauptet, dass Sprachstrukturen das Denken beeinflussen. Der Sprache wurde damit eine ordnende Funktion zugesprochen - was nicht in der Sprache existiert, kann auch nicht gedacht werden. Diesen Strömungen in der Linguistik und Sprachphilosophie zufolge ist das Weltbild des Menschen von der Sprache geprägt. Sprache dient sozusagen als ein Filter, oder also eine Brille durch die man die Welt wahrnimmt. Die bekannteste Formulierung dieser Idee stammt von Edward Sapir (1884-1939) und Benjamin L. Whorf (1897-1941), die zu Beginn des 20.Jh die Linguistische Relativitätshypothese oder Sapir-Whorf-Hypothese formulierten. Eine etwas vereinfachte Version, basierend auf Sapir (1929), findet sich in (60):39 (60) Linguistische Relativitätshypothese/Sapir-Whorf-Hypothese Unterschiedliche Sprachen korrelieren mit unterschiedlichen Ansichten der Welt. Da Sprachen sich - zumindest auf den ersten Blick - äußerlich sehr voneinander unterscheiden, folgt aus (60), dass jede Sprachgemeinschaft die Welt mit anderen Augen sieht. Nach (60) ist die Welt also nicht mehr objektiv, sondern wird in jeder Sprache unterschiedlich wahrgenommen. Eine klassische Beobachtung, die (60) zu unterstützen scheint, betrifft Farbausdrücke. Japanisch kennt z.B. nur ein Wort für Grün und Blau; Griechisch unterscheidet hell- und dunkelgründ durch getrennte Lexeme; und einige Sprachen verwenden ein anscheinend sehr reduziertes Vokabular für Farben. Dies kann - so die Anhänger von (60) - als Argument dafür interpretiert werden, dass die Sprache die Sicht der Welt beeinflußt. Ähnliche Ideen finden sich in den heute noch aktiven philosophischen und literaturtheoretischen Richtungen der Postmoderne und des Dekonstruktivismus (Jacques Derrida). Allen diesen Strömungen ist gemeinsam, dass geleugnet wird, dass wir eine objektive Realität wahnehmen könnten. Zumindest aus Sicht der heutigen Linguistik wird jedoch weder (60) von den Daten unterstüztt, noch ist eine relativistische Sicht der Welt gerechtfertigt. 39 Sapir, Edward.1929. The Status of Linguistics as a Science. In D. G. Mandelbaum (Hrsg.), Culture, Language and Personality. Berkeley, CA: University of California Press. Wie die Hypothese genau zu formulieren ist, d.h. was Sapir und Whorf genau sagen wollten, ist nicht ganz klar. Sapir (1929) schrieb etwa: “No two languages are ever succiently similar to be considered as representing the same social reality. The worlds in which different societies live are distinct worlds, not merely the same world with different labels attached”. Dieses Zitat läßt aber z.B. auch eine Deutung zu, nach der Sprache nur die soziale Realität, nicht aber die Sicht von Welt, prägt. Auch die Richtung der Kausalität bleibt offen - beeinflußt Sprache die Sicht der Welt, oder die Kultur die Sprache? #3: Universalsprache & UG 60 3.3.5.1. Kritik an der Sapir-Whorf-Hypothese Fehlerhafte Analysen: Belin und Kay (1969) fanden etwa in einer groß angelegten Studie (ca. 80 Sprachen), dass Farbterminologie strengen, universalen Prinzipien folgt. Wenn z.B. eine Sprache nur drei Farbausdrücke verwendet, dann sind diese weiß, schwarz und rot. Außerdem werden in allen Kulturen Farben mit gleicher Frequenz gleich wahrgenommen. Dies deutet auf die Existenz von kognitiven Universalien hin, sowie darauf, dass alle Menschen Farben auf gleiche Art und Weise wahrnehmen. Ähnliche Schlüsse treffen auf andere angebliche Argumente für die Sapir-Whorf-Hypothese zu. Whorf behauptetet z.B. dass Inuit (Norden Kanadas) eine größere Anzahl von Wörtern für ‘Schnee’ besitzt, als andere uns bekannte Sprachen. Dies, so Whorf, folgt aus kulturellen Faktoren, da das Leben der Inuit von Schnee bestimmt wird, und ein reiches Vokabular für unterschiedliche Arten von Schnee daher notwendig macht. Es wurde jedoch gezeigt, dass diese Interpretation nicht richtig sein kann. Pullum (1991)40 weist z.B. nach, dass alle Sprachen in der Lage sind, zwischen diversen Arten von Schnee zu unterscheiden. Nur geschieht dies in Inuit teilweise mit unterschiedlichen lexikalischen Formen (Wörtern), während andere Sprachen dagegen komplexe Ausdrücke verwenden, also Phrasen anstatt von einfachen Wörtern. Da dieser Unterschied für die Sapir-Whorf-Hypothese irrelevant ist, kann das Argument für (60) nicht aufrecht erhalten werden. Inuit ist kein isolierter Fall. Die Liste von falsch analysierten Daten, die angeblich für (60) sprechen, könnte seitenlang fortgesetzt werden. Generell sind alle bekannten Beobachtungen, die auf den ersten Blick die Sapir-Whorf-Hypothese (60) zu unterstützen scheinen, auch mit alternativen Erklärungen kompatibel. Außerdem kann in allen bisher bekannten Fällen gezeigt werden, dass diese alternativen Erklärungen besser, also adäquater, sind. Daher wurde bis heute kein einziges überzeugendes Argument für die Ansicht gefunden, dass Sprache selbst das Denken oder die Wahrnehmung der Welt beeinflussen würde. Wie könnte Evidenz für (60) aussehen? Zwei unabhängige Probleme erschweren die Suche nach Argumente für (60). Erstens ist (60) nicht hinreichend klar definiert. Was bedeutet unterschiedliche Ansicht der Welt? In einem gewissen Sinn nimmt jeder die Welt unterschiedlich wahr, und jeder Sprecher besitzt wahrscheinlich unteilbare, private Konnotationen mit Wörtern wie Liebe oder Tod. Aber solche Beobachtungen sind mit (60) wahrscheinlich nicht gemeint, sie wären mehr oder weniger trivial. Interessanter ist eine Interpretation, nach der mögliche Zusammenhängen zwischen dem Sprachsystem und anderen kognitiven Systemen zu untersuchen wären. Beeinflußt z.B. die Sprache die Fähigkeit, komplexe Gedanken auszudrücken? Aber - und hier liegt das zweite Problem - solche Zusammenhänge sind sehr schwer nachzuweisen. Ein konkretes Beispiel für so einen Zusammenhang, das in den letzten Jahren intensiv diskutiert wurde, stammt aus Untersuchungen zu Pirahã. 40 Pullum, Geoffrey. 1991. The Great Eskimo Hoax And Other Irreverent Essays on the Study of Language. Chicago: University of Chicago Press. 61 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 3.3.5.2. Der Fall Pirahã - Evidenz für Sapir-Whorf? Pirahã ist eine isolierte Sprache, die im brasilianischen Amazonas von ca. 400 Sprechern gesprochen wird. Der Linguist Daniel Everett, der als einer von zwei Nicht-Pirahã die Sprache beherrscht, behauptete, dass dieser Sprache eine der fundamentalen Eigenschaften von UG fehlt: Rekursion (Everett 2005)41. Laut Everett können Pirahã z.B. Nominalphrasen mit einem Possessor vor dem Hauptnomen bilden ((61)a), nicht jedoch Konstruktionen mit mehr als einem Possessor ((61)b; alle Daten aus Nevins, Pesetsky und Rodriguez 200942). Pirahã verfügt demnach nicht über die rekursive Regel (62), die etwa für die englische Form Peter’s sister’s hat verantwortlich ist. (61) (62) a. nicht-rekursiver Possessor xipoógi hoáoíi hi xaagá Xipoógi Gewehr 3sg ist 'Das ist Xipoógis Gewehr' b. rekursiver Possessor *kó'oí hoagí kai gáihií 'íga Name Sohn Tochter das wahr ‘Das ist Kó'oís Sohnes Tocher’ NP ÿ NPGen NP Everett (2005) schreibt dazu: “Eine kulturelle Beobachtung ist hier, glaube ich, wichtig für das Verständnis der Beschränkung. Jeder Pirahã kennt alle anderen Pirahã [...]. Daher wird niemals mehr als eine Ebene der Possessorbeziehung benötigt”. Wenn Everett recht hätte, dann würde hier also ein enger Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur bestehen. Konkret würde hier die Kultur direkt das Sprachsystem beeinflussen.43 Kritik: Nevins, Pesetsky und Rodriguez (2009) weisen jedoch darauf hin, dass selbst so ‘normale’ Sprachen wie das Deutsche diese bestimmte Art von Rekursion innerhalb der NP nicht zulassen: (63) a. Peters Auto b. *Peters Autos Motor Die Beschränkung in (61) sagt also nichts über Pirahã oder das Fehlen der Rekursion in dieser Sprache aus, sondern weist auf die Existenz einer unabhängigen Bedingung hin, die in einigen Sprachen NP-interne Rekursion auf der linken Seite des Hauptnomens verbietet. Everett bringt einige weitere Argumente für die Hypothese dass das Sprachsystem der Pirahã nicht nach den Prinzipien der UG aufgebaut ist. In allen Fällen zeigen Nevins, Pesetsky und Rodriguez (2009) jedoch, dass Everetts Analysen nicht korrekt sein kann. 41 Everett, Daniel L. 2005. Cultural constraints on grammar and cognition in Pirahã. Current Anthropology 46: 621-646. 42 Nevins, Andrew, David Pesetsky und Celine Rodrigues. 2009. Pirahã Exceptionality: a Reassessment. Language 85.2: 355-404. 43 In der klassischen Sapir-Whorf-Hypothese wird von der umgekehrten Kausalität ausgegangen, d.h. Sprache beeinflußt die Sicht der Welt. Dieser Unterschied ist hier aber nicht weiter relevant. #3: Universalsprache & UG 62 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es bisher noch nicht gelungen ist, überzeugende Argumente für die Sapir-Whorf-Hypothese zu finden. Dies ist auch nicht verwunderlich. Da das Sprachsystem in wesentlichen Teilen angeboren sein muss, erwartet man kulturellen Einfluss nur in jenem Teil, von dem ohnehin bekannt ist, dass er die arbiträren, zufälligen und unregelmäßigen Aspekte der Sprache beherbergt: dem Lexikon. Und dies scheint der Fall zu sein. 3.3.6. Rationalismus vs. Funktionalismus Die letzte Gruppe von Alternativen zu UG und zur zum generativen Modell, die hier kurz erwähnt werden soll, werden von funktionalistischen Theorien gebildet. Funktionalistische Sprachtheorien, repräsentiert durch Simon Dik, Robert van Valin, Michael Halliday und viele andere, gehen davon aus, dass die zentralen Eigenschaften von Sprache durch ihre Funktion erklärt werden müssen. Da diese Funktion in erster Linie in Kommunikation zwischen Sprechern liegt, konzentriert sich der Funktionalismus auf die Art und Weise, wie Sprache die soziale Interaktion zwischen den Sprechern zum Ausdruck bringt. Eine Folge dieser Ausrichtung auf soziale Aspekte ist, dass nicht das Sprachsystem als solches, sondern nur dessen Gebrauch untersucht werden kann. Funktionalistische Theorie lassen demnach keine Aussagen über Kompetenz oder die kognitive Basis von Sprache zu. Neben dieser Schwäche sieht sich der Funktionalismus einer großen Anzahl von empirischen Problemen gegenüber. Erstens treffen auch gegen den Funktionalismus viele der gegen den Behaviorismus vorgebrachten Argumente zu (s. (52)). Zweitens existieren unzählige zentrale linguistische Phänomene, die zwar vollständig systematischer Natur, sind, die jedoch keine Erklärung durch Eigenschaften des Sprachgebrauchs oder der kommunikativen Funktion zulassen. (64) illustriert dieses Problem anhand der Distribution von Reflexiv- oder Personalpronomen: (64) a. b. c. d. Der Peter1 betrachtete sich1 im Spiegel. *Der Peter1 betrachtete ihn1 im Spiegel. *Der Peter sagte, daß Du sich stundenlang im Spiegel betrachtet hast Der Peter2 sagte, dass Du ihn2 stundenlang im Spiegel betrachtet hast Alle Beispiele in (64) besitzen die selbe kommunikative Funktion. Mit dem Unterschied zwischen (64)a und (64)d auf der eine und (64)b und (64) auf der anderen Seite kann daher kein Unterschied in kommunikativer Funktion verbunden sein. Dies bedeutet aber auch, dass es für Paradigma in (64) - und unzählige andere, etwa die in (54) oder (55) - keine funktionale Erklärung geben kann. #4: NATÜRLICHSPRACHLICHE ONTOLOGIE Unter Ontologie versteht man jenes Gebiet der Philosophie, das sich mit der Frage beschäftigt, aus welchen Entitäten (.Dingen) die Welt und das Universum besteht. Diese Entitäten können konkret sein oder abstrakt. In die konkrete Klasse der Entitäten fallen Objekte wie Atome und deren Bestandteile, Moleküle, Tische, Bücher, Häuser, Pferde, Hunde, Violinen, Wasser oder die Schwingungen einer Violinsaite. Abstrakte Entitäten umfassen alle Konzepte (ROT, DREIECKIG, PINGUIN,...), Zahlen, Empfindungen wie Freude, Neugierde oder Angst, sowie Ereignisse wie z.B. die erste Besteigung des Mt. Everest, ein Konzert von Grobbing Thristle oder die Eroberung Roms im Jahr 410 n. Chr. Üblicherweise geht man von der Annahme aus, dass die Zusammensetzung der Welt aus den physikalischen Gesetzen folgt, sowie aus den Prinzipien, die in den anderen Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Geologie) formuliert worden sind. Schließlich legen physikalische und chemische Prinzipien fest, dass die Materie aus Atomen besteht und wie diese sich zu größeren Einheiten (etwa einem Wassermolekül, einem Buch oder einem Pferd) organisieren. Auch die Existenz kleinerer Entitäten, aus denen sich Atome zusammensetzen (Protonen, Quarks,...) ist eine Konsequenz der Naturgesetze. Es scheint also naheliegend zu sein, dass auch die Ontologie unserer Realität ganz allgemein durch diese Gesetze der Physik (Chemie/Biologie/...) vorgegeben ist. Doch interessanterweise ist dies nicht immer der Fall. Eine Anzahl von linguistischen Phänomenen weist darauf hin, dass das sprachliche System mit einer eigenen Ontologie arbeitet, die sich in wichtigen Bereichen von der naturwissenschaftlich motivierten Ontologie unterscheidet. Es scheint so, also ob gewisse Aspekte der physikalisch-biologischen Realität für Sprache einfach nicht relevant sind, und daher vom linguistischen System ignoriert werden. Im Folgenden werden einige besondere Eigenschaften dieser natürlichsprachlichen Ontologie vorgestellt werden. Die Diskussion wird sich dabei um die Interpretation von Nominalphrasen, insbesondere um natürliche Gattungen (siehe unten), den Plural, sowie die Bedeutung von Massen- und Zählnomen drehen. Ein Vergleich: Landkarten sind kleine Abbildungen der Welt. Die Welt enthält wiederum unzählige Tiere. Dennoch befinden sich auf keiner einzigen, noch so präzisen modernen Landkarte auch nur ein einziges Tier - Tiere fehlen einfach auf Karten. Dies kommt daher, dass Landkarten geologische Eigenschaften beschreiben sollen, Menschen und Tiere sind für diese Zwecke jedoch irrelevant. Es ist so, also ob Lebewesen für Landkarten nicht existieren würden. Die Ontologie der Landkarten umfasst daher nur geologische Objekten, und schließt Lebewesen aus. 1. NATÜRLICHE GATTUNGEN Gattungen: Unter einer natürlichen Gattung (engl. natural kind) versteht man in der Philosophie eine Zusammenfassung von Individuen die eine natürliche Einheit bilden. Bei diesem erweiterten, philosophischen Begriff der Gattung ist es - im Gegensatz zur biologischen Terminologie gleichgültig, ob die Individuen belebt sind oder nicht. Beispiele für Nominalphrasen (NPs), die Gattungen in diesem Sinne denotieren können44, finden sich in (1). der Collie kann z.B. auf die 44 Die Einschränkung mittels können ist wichtig, da alle NPs in (1) auch Individuen denotieren können: (i) Der Collie biss den Postboten. #4: Natürlichsprachliche Ontologie 64 Gattung ‘Collie’ verweisen, Gold auf die Gattung ‘Gold’, etc... (1) der Collie, Dinosaurier, Gold, die Colaflasche,... Ob ein Individuum zu einer Gattung gehört oder nicht wird durch die Gemeinsamkeiten mit anderen Individuen der Gattung definiert, etwa durch gemeinsame physikalische Eigenschaften oder einen gemeinsamen Ursprung. Ein Stück Gold ist Teil der Gattung ‘Gold' aufgrund seiner chemischen Eigenschaften, und ein Collie gehört zur Gattung ‘Collie’ aufgrund seines gemeinsamen Ursprungs mit anderen Collies. In (1) wurden die Gattungen durch drei unterschiedliche linguistische Mittel dargestellt: eine definite NP (der Collie), einen artikellosen Plural (Dinosaurier), und ein artikelloses Nomen im Singular (Gold). Doch nicht alle Arten von NPs sind in der Lage, auf natürliche Gattungen zu verweisen. So kann z.B. keine der NPs in (2) intuitiv als ein Gattungsbegriff interpretiert werden: (2) a. b. c. d. zwei Collies, Marias Collies, alle Collies, die Collies, jeder Collie fünfeinhalb Gramm Gold der falsche Dinosaurier, die schmutzige Colaflasche Hans, Maria und Peter Dies ist kein Zufall. Ausdrücke der Form zwei NP oder NP’s NP oder alle NPs oder der falsche NP werden in keiner bekannten Sprache zur Bezeichnung von Gattungen verwendet. Die Erklärung dieses Phänomens ist komplex und fällt außerhalb des Rahmens dieser Veranstaltung.45 Die Intuitionen bezüglich (1) und (2) sind zwar deutlich, aber basieren auf unserem individuellen Weltwissen. Die Tatsache, dass die Colaflasche eine Gattung bezeichnen kann, die schmutzige Colaflasche jedoch nicht, hängt mit kulturellem Wissen und anderen individuellen Erfahrungen zusammen. Diese Kriterien zur Beurteilung, ob eine NP eine Gattung bezeichnet oder nicht, sind aus diesem Grund nicht so verlässlich, wie man sich wünschen würde. Doch es existieren auch objektivere, bessere Tests, um festzustellen, ob es sich bei einer NP um eine natürliche Gattung handeln kann oder nicht. 1.1. LINGUISTISCHE TESTS FÜR GATTUNGS-NPS Es gibt eine Reihe von linguistischen Tests, mit deren Hilfe man nachweisen kann, ob eine NP eine Gattung denotieren kann oder nicht. Dass das Sprachsystem die NPs in (1) als natürliche Gattungen behandelt, sieht man z.B. daran, dass diese Ausdrücke als Subjekt eines Prädikats wie selten fungieren können: (3) a. b. c. d. Der Collie ist in Peru selten Dinosaurier waren in der Arktis selten Gold ist selten Die Colaflasche ist selten geworden (definite NP, belebt und natürlich) (artikelloser Plural [bare plural]) (artikelloser Singular) (definite NP, unbelebt, künstlich) Wie die Kontraste zwischen (3) und (4) belegen, können die NPs in (1) mit selten kombiniert (i) bedeutet nicht Die Gattung Collie biss den Postboten sondern Es gibt ein einziges Individuum, das ein Collie ist, und das den Postboten biss. 45 Warum dies so ist, stellt eine interessante Frage dar, die aber nicht im Rahmen dieser Veranstaltung behandelt werden kann. 65 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 werden, die Ausdrücke in der Liste (2) jedoch nicht: (4) a. *Zwei Collies sind selten *Marias Collies sind selten *Alle Collies sind in der Antarktis selten *Die Collies sind in der Antarktis selten *Jeder Collie ist in der Antarktis selten b. *Fünfeinhalb Gramm Gold sind in meinem Haus selten c. *Der falsche Dinosaurier war/ist selten (vgl. Der falsche Dinosaurier wurde um viel Geld verkauft) *Die schmutzige Colaflasche ist selten geworden d. *Maria und Peter sind selten Andere Prädikate, die auf das Vorhandensein eines Gattungsnamen hinweisen sind aussterben, weit verbreitet/häufig sein, erfunden werden und sich aus X entwickeln: (5) a. b. c. d. (6) a. b. c. d. Dinosaurier sind ausgestorben Gold ist nicht sehr häufig Die Colaflasche wurde 1915 erfunden Hunde entwickelten sich aus Wölfen *Zwei Collies sind nicht sehr häufig *Marias Collies sind ausgestorben ??Schmutzige Colaflaschen wurde 1915 erfunden ??Marias Collies entwickelten sich aus Wölfen 1.2. NATÜRLICHSPRACHLICHE ONTOLOGIE I Die NPs in (1) denotieren Gattungen sowohl im biologisch-physikalischen, als auch im linguistischen Sinn. Dinosaurier und Gold bezeichnen eine natürliche Einheit in der Welt, aber erfüllen auch die Kriterien einer Gattungs-NP, da sie mit gewissen Prädikaten, die nur Gattungsbegriffe erlauben (selten ,...) kombiniert werden können. Es ist nun jedoch auch möglich, Beispiele von Nominalphrasen zu finden, die zwar mit keiner taxonomischen biologischen Einheit korrespondieren, aber dennoch linguistisch eine natürliche Gattung denotieren. Tiere mit mehr als einem Herz stellt so einen Gattungsbegriff dar: (7) Tiere mit mehr als einem Herz sind selten Da die Subjekts-NP Tiere mit mehr als einem Herz mit dem Prädikat selten kombiniert werden kann, muss es sich dem oben eingeführten Test zufolge um einen Gattungsausdruck handeln. In der Biologie bezeichnet Tiere mit mehr als einem Herz jedoch keine natürliche Klasse von Lebewesen. Die Denotation von Tiere mit mehr als einem Herz umfasst unter anderem Oktopoden und sogenannte Erdwürmer, zwei Gruppen von Tieren die nicht miteinander verwandt sind, und daher auch keine natürliche Gattung bilden. Daraus folgt, dass die NP Tiere mit mehr als einem Herz in Biologie und Sprache unterschiedlich interpretiert werden. Nur das linguistische System behandelt die NP Tiere mit mehr als einem Herz so, als ob sie eine Gattung denotieren. Das Sprachsystem und die Biologie gehen also von unterschiedlichen Annahmen darüber aus, welche Entitäten die Welt enthält und wie diese strukturiert sind. Für das Sprachsystem ist #4: Natürlichsprachliche Ontologie 66 Tiere mit mehr als einem Herz eine Gattung, für die Biologie jedoch nicht. Wenn die Welt durch Sprache interpretiert wird, taucht auf einmal eine Gattung auf, die in der nicht-sprachlichen Realität nicht existent ist. Natürliche Sprache und Biologie unterscheiden sich demnach in ihrer Ontologie, also in bezug auf die Dinge, die als existent betrachtet werden. (8)a illustriert diesen Unterschied zwischen sprachlicher Ontologie und der Ontologie der nicht-sprachlichen Realität mit weiteren Beispielen aus drei unterschiedlichen Gebieten (Biologie, Physik und Chemie): (8) a. Kleine grüne Männchen sind nicht weit verbreitet b. Blaue Elektronen wurden noch nicht entdeckt c. Johann Becher behauptete im 17. Jh, dass er Phlogiston entdeckt habe In allen Fällen bildet die kursiv markierte NP einen Gattungsausdruck im linguistischen Sinne, obwohl diese NP auf keine natürliche Einheit in der wirklichen Welt referiert. Gattungsnamen liefern also ein erstes Indiz (. Hinweis), dass sich Sprache einer eigenen Ontologie bedient (. verwendet), die nicht immer mit jener der physikalischen Welt übereinstimmt. 1.3. NATÜRLICHSPRACHLICHE ONTOLOGIE II Ähnliche Beobachtungen lassen sich bei der sprachlichen Zuteilung von Individuen an verschiedene Gattungen machen. Ein klassisches Beispiel kommt aus der Küche. In der Biologie bezeichnet Obst alle essbaren Früchte, also jene Teile der Pflanze, welche die Samen beinhalten. Unter Gemüse werden dagegen andere essbare Pflanzenteile wie Blätter (Salat, Spinat, Kohl) und Wurzel (Zwiebel, Karotte, Erdäpfel/Kartoffel) verstanden. Wendet man diese biologischen Kriterien an, dann müsste es sich bei Tomaten, Zucchini, Gurken und Paprika um Obst handeln. Doch dieser Schluss widerspricht unserer Intuition, nach der diese Nahrungsmittel eindeutig in die Klasse der Gemüse fallen. Sprache und Biologie teilen also die Welt auf unterschiedliche Art und Weise in Gattungen ein. Wieder sehen wir, dass jene Ontologie, auf die sich Sprache stützt, nicht mit der Ontologie der nicht-sprachlichen Realität - in diesem Fall der biologisch fundierten Ontologie - ident sein muss. 2. NP-KLASSIFIZIERUNG Weiter oben ((1) und (2)) wurden bereits einige unterschiedliche Typen von NPs vorgestellt, die sich in ihrer Form unterscheiden, darunter definite Nomen (der Collie) und NPs ohne Artikel (Collies, Dinosaurier). Es ist nun auch möglich, Nomina semantisch, also nicht nach ihrer Form nach ihrer Bedeutung, zu unterteilen. Die wichtigste semantische Unterscheidung ist jene zwischen Eigennamen (Maria, Karl V, Athen), Zählnomen (Mensch, Fahrrad) und Massennomen (Wasser, Gold)46. Eigennamen werden, da sie für die vorliegende Diskussion keine besondere Rolle spielen werden, im weiteren ignoriert werden. Etwas vereinfacht gesagt unterscheiden sich Massen- und Zählnomen darin, dass nur Nomen, 46 In der traditionellen, germanistischen Terminologie werden Massen- und Zählnomen häufig unter dem Begriff Gattungsnomen (engl. common noun) zusammengefasst. Dieser Name ist irreführend, da nicht alle Massen- oder Zählnomen auch eine natürliche Gattung bezeichnen, und wird aus diesem Grund hier nicht verwendet werden. 67 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 die in die erste Klasse fallen, auf Dinge verweisen, die gezählt werden können. Nur Zählnomen kann man zählen. Diese Eigenschaft der Zählnomen kommt auch in einer Reihe von linguistischen Phänomenen zum Ausdruck, die das zentrale Thema des folgenden Abschnitts (§2.1) bilden. Im Anschluss (§2.2) wird gezeigt werden, dass die linguistische Analyse dieser Phänomene zum Schluß führt, dass die natürlichsprachliche Semantik auf einer eigenständigen, von der nicht-sprachlichen Realiät unabhängigen Ontologie basiert. 2.1. MASSEN- VS. ZÄHLNOMEN Zählnomen tauchen systematisch in linguistischen Kontexten auf, in denen ein Massennomen nicht zugelassen ist, und umgekehrt. Die beiden Nominaltypen unterscheiden sich demnach in ihre Distribution. Dies weist auf grundlegende Differenzen in der Interpretation dieser beiden Klassen von Nominalphrasen hin. Zudem wird sich auch zeigen, dass Zählnomen im Plural in vieler Hinsicht ähnliche Eigenschaften aufweisen wie Massennomen im Singular. 2.1.1. Pluralisierung Die Pluralbildung ist auf Zählnomen beschränkt ((9)), Massennomen erlauben häufig keine Pluralisierung ((10)): (9) Zählnomen a. Das Buch ist schlecht b. Die Bücher sind schlecht c. Maria verfügt über die erforderliche Kenntnis d. Maria verfügt über die erforderlichen Kenntnisse (10) Massennomen a. Die Milch/die Butter ist schlecht b. *Die Milche/die Buttern sind schlecht c. Maria verfügt über das erforderliche Wissen d. *Maria und Peter verfügen über die erforderlichen Wissen Wenn Massennomen dennoch eine Pluralform besitzen, wie in den Beispielen in (11), dann gibt es zwei Möglichkeiten. In beiden Fällen kommt es zu dem, was man eine Bedeutungsverschiebung nennt. (11) a. Peter bestellte noch zwei Weine b. Weine aus Griechenland zählen zu den interessantesten Neuentdeckungen c. Die veruntreuten Gelder befanden sich im Besitz von Haider, Grasser, Meischberger und anderen Verbrechern. d. Salze sind chemische Verbindungen e. Die Drücke, die auf dem Gebäude lasten, sind enorm f. Maria besucht die Universität der Künste in Berlin Entweder bezieht sich der Plural nicht auf die durch das Nomen bezeichnete Substanz, sondern auf Einheiten dieser Substanz, auf Größen oder auf eine andere Arten von - möglicherweise abstrakter - ‘Verpackung’. Weine in (11)a bedeutet daher nicht die doppelte Menge Wein, sondern ‘zwei Gläser Wein’ oder ‘zwei Flaschen Wein’, und in (11)b ‘zwei unterschiedliche Arten von Wein’. Alternativ wird das Resultat nicht als ein regelmäßiger Plural, sondern idiomatisch, also #4: Natürlichsprachliche Ontologie 68 als eine semantisch ‘nicht durchsichtige’, nicht kompositionale47 Einheit interpretiert. (11)c-(11)f führt einige Beispiele an, und (12) dokumentiert einen weiteren Fall anhand des Beispiels Luft/Lüfte. Zwar gibt es hier eine Pluralform zu einem Massennomen (Lüfte), die Bedeutung dieses Plurals ergibt sich jedoch nicht einfach daraus, dass zwei Singularbedeutungen miteinander verbunden werden - andernfalls sollte (12)b genauso akzeptabel sein wie (12)c, in dem ein Zählnomen pluralisiert wurde. (12) a. Heldin der Lüfte b. *Menschen brauchen Lüfte c. Menschen brauchen Wohnungen Ähnliches gilt für die Pluralformen Gelder, Salze, Drücke und Künste in (11)c-(11)f, die alle eine spezifische, nicht regelmäßig aus dem Singular abgeleitete, idiomatisierte Bedeutung besitzen. 2.1.2. Artikelloser Singular Nur Massennomen können im Singular auch ohne Determinator (. Artikel) auftreten. (13) a. Singular Massennomen ohne Determinator Luft/Wasser/Essen/Wissen/Musik/Kunst/Geld ist wichtig b. Singular Zählnomen ohne Determinator *Lunge/Fluss/Bauch/Kopf/Wohnung ist wichtig c. Singular Zählnomen mit Determinator Die Lunge/mancher Fluss/mein Bauch/jeder Kopf/ihre Wohnung ist wichtig Man beachte, dass die umgekehrte Beziehung nicht gilt, Massennomen können auch durch Determinatoren kombiniert werden. Dabei kommt es, wie beim Plural von Massennomen, systematisch zu einer Verschiebungen in der Bedeutung in Richtung einer ‘Verpackungsinterpretation’ (vgl. (11)a). (14)a ist nicht synonym mit der allgemeineren Aussage Luft ist schmutzig, sondern bezieht sich auf eine spezifische Quantität von Luft, und das Wasser in (14)b referiert auf eine kontextuell relevante Menge der Flüssigkeit: (14) a. Die Luft ist schmutzig b. Peter mochte das Wasser nicht Im Plural ist ein Determinator bei Zählnomen nicht mehr notwendig (vgl. (13)b mit (15)): (15) Plural Zählnomen ohne Determinator Lungen/Flüsse/Bäuche/Köpfe/Wohnungen sind wichtig Pluralisierte Zählnomen verhalten sich demnach wie Massennomen, sie brauchen keinen Artikel. 47 Ein komplexer Ausdruck AB ist nicht kompositional, wenn die Bedeutung von AB nicht allein aus den Teilbedeutungen von A und B und der Art der Verbindung folgt. Die Bedeutung von Lüfte ergibt sich z.B. nicht aus der Bedeutung von Luft und der Bedeutung des Pluralmorphems -e (der Umlaut zu [y] resultiert aus einem rein historisch-phonologischen Prozess, und ist daher semantisch nicht weiter interessant). Auf die Bedeutung des Plurals wird in Abschnitt 2.2 noch genauer eingegangen werden. 69 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 2.1.3. Steigerung (Gradierung) Nur Massennomen können im Singular direkt mit der Komparativmarkierung mehr kombiniert werden: (16) a. Im Pazifik gibt es mehr WasserSg als im Atlantik b. Maria isst mehr ObstSg als Peter (17) a. *Im Pazifik gibt es mehr TierSg als im Atlantik b. *Maria isst mehr FruchtSg als Peter Wiederum verhalten sich die Pluralformen von Zählnomen so wie Massennomen: (18) a. Im Pazifik gibt es mehr TierePl als im Atlantik b. Maria isst mehr FrüchtePl als Peter (vgl. (17)a) (vgl. (17)b) 2.1.4. Maßkonstruktionen Maßphrasen sind Satzteile, die Masse, Gewicht, Menge, Volumen, Ausdehnung oder eine andere Art der ‘Größe’ eines Objekts näher bestimmen. Typische Vertreter umfassen zwei Kilo, fünf Stück, drei Liter und zwei Flaschen (s. (19)a/b). Wie in (19)a und (19)b gezeigt, können sowohl Massennomen als auch Zählnomen im Plural durch Maßphrasen modifiziert werden. (19)c belegt weiters, dass Singularzählnomen keine solche Modifikation durch Maßphrasen zulassen: (19) a. zwei Kilo Gold/fünf Stück Obst/drei Liter Milch/zwei Flaschen Wein b. zwei Kilo Bücher/fünf Stück Früchte48/drei Liter Weintrauben/zwei Packungen Rosinen c. *?zwei Kilo Buch/fünf Stück Frucht/drei Liter Weintraube/zwei Packungen Rosine Wie bereits in den anderen Beispielen kann festgetellt werden, dass Zählnomen im Plural ähnliche Eigenschaften aufweisen wie Massennomen im Singular. Singularzählnomen …Massennomen: Obwohl sich Singularzählnomen in vieler Hinsicht wie Massennomen verhalten, existieren auch einige grundlegende Unterschiede. (20) illustriert zum Abschluss einen solchen Unterschied. Pluralzähnomen können als Subjekte von Prädikaten wie verschieden/gleich/ähnlich fungieren ((20)a); sie ähneln in dieser Beziehung komplexen koordinierten Phrasen wie Hans und Maria ((20)b), die auch eine Pluralbedeutung besitzen. (20)c zeigt, dass Zähnomen im Singular von der Subjektsposition dieser Prädikate ausgeschlossen sind. Interessanterweise sind aber auch Massennomen nicht mit solchen Prädikaten kompatibel ((20)d). Eine erfolgreiche Analyse darf daher Singularmassennomen und Pluralzählnomen nicht völlig gleich behandeln. (20) 48 a. b. c. d. Die/Alle Kinder sind verschieden/gleich/ähnlich Hans und Maria sind verschieden/gleich/ähnlich *Dieses Kind/Hans ist verschieden/gleich/ähnlich *Milch/Wein/Gold ist verschieden/gleich/ähnlich Interessanterweise muss die Maßphrase selbst hier im Plural aufscheinen, wie (i) belegt: (i) a. *ein Stück Früchte/Steine b. *ein Stück Frucht/Stein/ #4: Natürlichsprachliche Ontologie 70 2.1.5. Natürlichsprachliche Ontologie Die ersten beiden in Abschnitt 2.1 diskutierten Unterschiede zwischen Zähl- und Massennomen sind auch für die Kontraste in (21) verantwortlich. (21) a. GemüseSg ist gesund b. *FruchtSg ist gesund c. FrüchtePl sind gesund Gemüse ist ein Massennomen, es verhält sich wie Wasser, und kann daher ohne Artikel im Singular verwendet werden ((21)a). Bei Frucht handelt es sich dagegen um ein Zählnomen, und das Nomen muss daher entweder pluralisiert werden ((21)c), oder im Singular mit einem Determinator verbunden werden: (21) d. Diese Frucht ist gesund Nehmen wir weiters (etwas vereinfachend) an, dass die beiden Ausdrücke Frucht und Obst auf die gleichen biologischen Einheiten verweisen, also synonym sind, und dass es einen systematischen Unterschied zwischen Obst und Gemüse gibt (s. jedoch Diskussion weiter oben). Dann sollte es möglich sein, Frucht in (21)c einfach durch Obst zu ersetzen. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie der Kontrast zwischen (21)c und (22) belegt: (21) c. FrüchtePl sind gesund (22) a. *Obste/ÖbstePl sind gesund b. ObstSg ist gesund Bei Obst handelt es sich nämlich um einen sogenannten Singulare tantum, also um ein Nomen, dass nur im Singular verwendet werden kann (Milch, Lärm, Hass, Durst, Gold, Helligkeit, Post,...).49 Für die vorliegende Diskussion ist nun insbesondere eine weitere Beobachtung relevant. Vom biologischen Standpunkt aus betrachtet, bezeichnet Obst und eine Menge von Früchten das selbe. Das links stehende Bild zeigt einen Korb mit Früchten oder einen Korb mit Obst. In der konkreten sprachlichen Beschreibung dieses Korbes muss jedoch einmal die Pluralform verwendet werden (*Korb mit Frucht), und einmal auf den Singular (*Korb mit Obste/Öbste) zurückgegriffen werden. Das bedeutet, dass ein und das selbe physikalische Objekt - eine Ansammlung von Früchten - einmal mit Hilfe des Singulars, und einmal mit Plural beschrieben wird. Die Sprache greift also auf eine andere Ontologie zurück als die nicht-sprachliche Realität. Dass die Ontologie sprachspezifisch ist, sieht man besonders deutlich auch daran, dass sich nicht alle Sprachen gleich verhalten. Im Englischen etwa sind die Verhältnisse genau umgekehrt, vegetable ist ein normales Zählnomen, fruit dagegen ein Singulare tantum: (23) 49 a. Vegetables are healthy b. Fruit is healthy Daneben existieren auch Nomen, die nur im Plural aufscheinen. Zu diesen Plurale tantum zählen Substantiva wie Geschwister, Leute, Ferien, Kosten, Memoiren, Röteln, Niederlande, Philippinen,... 71 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 2.2. ANALYSE: ONTOLOGIE DER NOMINALDENOTATE Wie sind nun Zählnomen im Singular und Plural, sowie Massennomen zu analysieren? Wir beginnen mit der semantischen Darstellung des Plurals von Zählnomen, um uns dann im Anschluss den Massennomen zuzuwenden. 2.2.1. Die Denotation des Plurals von Zählnomen Zählnomen wie Buch denotieren Mengen von Individuen (s. DGB10 Einführung in die Semantik). Nehmen wir an, dass es in einer Situation genau drei Bücher gibt, die hier der Einfachheit halber mit a, b und c abgekürzt werden. Dann entspricht die Denotation von Buch in dieser Situation der Menge {a, b, c}. Was ist aber dann die Bedeutung von Bücher, also der Pluralform? Einer einflussreichen Theorie zufolge (Link 1983)50 besteht die Welt nicht nur aus atomaren, also nicht teilbaren Individuen (und Beziehungen zwischen diesen Individuen), sondern auch aus allen komplexen Verknüpfungen, die aus diesen Individuen gebildet werden können. Diese Verknüpfungen stellen abstrakte Objekte dar, die Summen genannt werden. Summen sind auch Individuen, mit dem einzigen Unterschied, dass sie - im Gegensatz zu atomaren Entitäten komplex sind. Atomare Individuen und Summen stehen durch die Teil-Ganze-Beziehung systematisch miteinander in Beziehung.51 Man nennt die komplexen, abstrakten Entitäten auch Summenindividuen. Um sie von atomaren Individuen und Mengen von Individuen zu unterscheiden, verwendet man eine besondere Schreibweise. Das Summenindividuum, das aus Buch a und Buch b und Buch c gebildet werden kann, wird z.B. a+b+c notiert. Das Universum besteht also nicht nur aus atomaren Individuen sondern umfasst auch komplexe Summenindividuen. Links Theorie geht weiters davon aus, dass sich Pluralbedeutungen ontologisch von der Denotation von Singularnomen unterscheiden. Buch a referiert auf ein konkretes, atomares Individuum, a+b+c jedoch auf eine abstrakte Summe. Und diese beiden Entitäten bilden unterschiedliche ontologische Objekte - Summen sind z.B. immer abstrakt, atomare Individuen jedoch nicht. Linguistische Anwendung: Die Existenz von Summenindividuen erklärt u.a. den Kontrast zwischen den wohlgeformten a-Sätzen in (24) und (25), und den unakzeptablen b-Varianten: (24) a. Hans und Maria sind ein Paar b. *Hans ist ein Paar (25) a. Julia, Hans, Susi und Peter trafen einander/umzingelten den Baum b. *Julia traf einander/umzingelte den Baum Der Grund für die Ungrammatikalität von (25)b und (24)b liegt darin, dass sprachliche Ausdrücke 50 Link, Godehard. 1983. The logical analysis of plurals and mass terms: a lattice theoretic approach. In Bäuerle, R. et. al. (Hrsg.), Meaning, use and the interpretation of language, 302-323. Berlin: De Gruyter. 51 Im vorliegenden Fall besitzen die Atome die gleichen Eigenschaften wie die Summe - a und b sind Bücher, genauso wie a+b+c. Daneben existiert auch eine zweite Art von Teil-Ganze-Beziehung, in der das Ganze nicht in gleichartige Teile zerfällt. Ein Buch besteht aus Seiten und Zeilen und Buchstaben, aber ein Buchstabe allein stellt noch kein Buch dar. Unterschiedliche Arten der Teil-Ganze-Beziehungen werden in der Mereologie behandelt. #4: Natürlichsprachliche Ontologie 72 wie ein Paar sein, einander treffen oder den Baum umzingeln nur mit Summenindividuen kombiniert werden können.52 In (25)a und (24)a wird diese Bedingung erfüllt, in (25)b und (24)b jedoch nicht. Formale Analyse: Die Idee der Summenindividuen hat eine wichtige Konsequenz: wenn in einer Situation mehr als zwei Individuen existieren, gibt es mehr als eine Möglichkeit, diese atomaren Individuen zu Summen zusammenzufassen. In einer Situation mit drei Büchern a, b und c existieren genau vier komplexe Summenindividuen. Diese vier Summen lassen sich in einem Diagramm so wie in (26) veranschaulichen.53 Generell setzen sich in solchen Diagrammen Elemente, die weiter oben stehen, aus Elementen, die sich weiter unten befinden, zusammen. a+b+c besteht z.B. aus a+c, sowie auch aus b. Die Linien liest man von oben nach unten als “bildet die Summe von”. a+c bildet daher die Summe von a und c, den beiden Objekten, mit denen a+c direkt durch eine Linie verbunden ist. (26) Darstellung der Denotation von Bücher a+b+c Summenindividuum a+b+c a+b a+c b+c a b c Summenindividuen a+b, a+c und b+c Atomare Individuen a, b und c Ontologie: (26) macht auch einen weiteren Aspekt von Links Pluraltheorie deutlich: die Individuendomäne, also die Menge aller (möglichen) Individuen ist nicht ungeordnet, also eine einfache Menge, sondern besitzt eine interne, abstrakte Struktur. Die Analyse sprachlicher Eigenschaften führt demnach zu dem Schluß, dass die Realität mehr Struktur besitzt und daher komplexer ist, als man auf den ersten Eindruck vermuten möchte. Sind drei Bücher auf einem Tisch, so existieren auch die Summen dieser Bücher. Diese Summen kann man sich als abstrakte platonische Entitäten vorstellen. Das sprachliche System läßt dergestalt Rückschlüsse auf die Ontologie der Individuendomäne zu. 2.2.2. Die Denotation von Massennomen Wasser setzt sich (zumindest in der Sprache - siehe unten) nicht aus von einander abgrenzbaren, atomaren Individuen zusammen. Massennomen wie Wasser denotieren daher auch nicht atomare Individuen, sondern Quantitäten. Stellen wir uns vor, man leert drei Glas Wasser in einen Behälter, und dass diese drei Quantitäten mit a, b und c bezeichnet werden. Im Behälter befinden sich nun nicht nur die drei einzelnen Quantitäten a, b und c, sondern auch deren Verbindung, sie man a+b+c notieren kann. Ausserdem enthält der Behälter auch alle Teile, aus denen Quantität 52 Diese Beschränkung folgt wiederum aus nicht-linguistischen Eigenschaften dieser kollektiven Prädikate. 53 In der Mathematik nennt man eine derartige Struktur einen Summenhalbverband oder eine partiell geordnete Menge. 73 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12 a besteht (a1, a2, a3,...) sowie alle Teilquantitäten von b und von c (b1, b2, b3,..., c1, c2, c3,...). Die Denotation von Wasser kann dann ungefähr so wie in (27) dargestellt werden. (27) Darstellung der Denotation von Wasser a+b+c a+b a+c Quantität a+b+c b+c a b c 7 7 7 a1 a2 a3 ... b1 b2 b3 ... c1 c2 c3 ... Quantitäten a+b, a+c und b+c Nicht-atomare Quantitäten a, b und c Teilquantitäten von a, b und c Die oben getroffene Einschränkung ‘ungefähr’ ist in diesem Zusammenhang wichtig, da in Wahrheit unter a, b und c eine sehr viel größere, potentiell unendliche Menge von Linien gezeichnet werden müßte. Jede der drei Quantitäten Wasser a, b und c kann nämlich in eine unendliche Anzahl kleinerer Quantitäten zerlegt werden kann, von denen in (27) nur jeweils drei repräsentativ in angeführt sind. 2.2.3. Massennomen vs. Zählnomen Der Vergleich zwischen der Denotation von Plural NPs in (26) und Massennomen in (27) macht zwei Dinge deutlich. Erstens stimmen die Bedeutungen der beiden NPs in einem wichtigen Punkt überein: sowohl pluralische Zählnomen als auch Massennomen denotieren ein strukturiertes, komplexes Objekt (einen Summenhalbverband). Diese Eigenschaft kann zur Erklärung vieler Ähnlichkeiten zwischen Pluralen und Massennomen herangezogen werden. Erstens versteht man nun, warum Massennomen nicht pluralisiert werden können (Milch/*Milche). Konkret folgt diese Einschränkung aus der Annahme, dass die Bedeutung des Singularmassennomens (Milch) bereits ein komplexes Summenindividuum ausdrückt ((27)). Pluralisierung, die ja zur Bildung von solchen Individuen führt ((26)), ist daher überflüssig. Auch die anderen in Abschnitt 2.1 beschriebenen Ähnlichkeiten lassen sich durch die Theorie erklären. Die Details sind hier ein wenig komplizierter, die Grundidee jedoch einfach. Manche sprachlichen Ausdrücke können nur mit Summenindividuen, also mit Denotation der Form (26) oder (27) kombiniert werden, andere auch mit einfachen, atomaren semantischen Entitäten. Der Komparativmarkierung mehr fällt in die ersten Klasse, wie (28) belegt: (28) a. Im Pazifik gibt es mehr WasserSg als im Atlantik b. *Im Pazifik gibt es mehr TierSg als im Atlantik c. Im Pazifik gibt es mehr TierePl als im Atlantik Ähnliche Überlegungen erklären auch die anderen in Abschnitt 2.1 angeführten Ähnlichkeiten zwischen Pluralen und Massennomen. #4: Natürlichsprachliche Ontologie 74 Unterschiede: Doch Plurale ((26)) und Massennomen ((27)) unterscheiden sich auch in einem wichtigen Punkt. Die Bedeutung eines Massennomens wie Wasser, Butter oder Gold besitzt keine atomaren Teile. Jede Teilung einer bestimmten Menge von Wasser, Butter oder Gold ergibt wieder eine Quantität con Wasser oder Butter oder Gold. Dies trifft auf atomare Individuen wir etwa ein Buch oder einen Hund natürlich nicht zu. Davon, dass die Denotation von Massennomen tatsächlich keine atomaren Teile besitzt kann man sich durch folgende Überlegung überzeugen. Einige Prädikate wie einander ähnlich sein können, wie bereits erwähnt wurde (s. (20)) nur mit ‘echten’ Pluralen kombiniert werden; sie verlangen das Vorhandensein von einzelnen, atomaren Individuen, über die ausgesagt werden kann, dass sie einander ähnlich sind oder nicht. Das Zählnomen Goldring bildet so einen Plural, wie (29)a zeigt. (29)b belegt weiters, dass das Massennomen Gold nicht mit Pluralprädikaten kompatibel ist. Daraus kann geschlossen werden, dass Gold (und andere Massennomen) nicht zu den Nomen zählen, deren Denotation aus atomaren Bestandteilen bestehen. (29) a. Die Goldringe sind einander ähnlich b. *Gold ist einander ähnlich Man beachte in diesem Zusammenhang auch, dass es im Prinzip möglich sein sollte, (29)b eine sinnvolle Interpretation zuzuweisen. Wenn die Denotation von Gold aus atomaren Individuen zusammengesetzt wäre, sollte (29)b so etwas wie Alle Goldatome sind einander ähnlich bedeuten können. Die Ungrammatikalität von (29)b kann also nicht in der Vermutung gesucht werden, dass der Satz unsinnig wäre. Vielmehr verlangt einander ähnlich sein den Zugriff auf einzelne, atomare (Gold)teile, das Nomen Gold erlaubt dies jedoch nicht. 2.2.4. Natürlichsprachliche Ontologie Aus dem oben Gesagten ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Für das sprachliche System gibt es keine kleinsten Bestandteile von Wasser oder Gold. Physikalisch betrachtet existieren solche kleinsten Teile natürlich in Form der Wassermoleküle H2O und der einzelnen Goldatome. Doch die natürlichsprachliche Semantik ignoriert diese Tatsache. Natürliche Sprachen interpretieren die Welt also so, also ob jede Teilung von Gold wieder zu Gold führt, und jede Teilung von Wasser zu Wasser. Gleiches gilt sogar für Fälle wie Obst - auch Obst ist ein Massennomen, und besitzt daher keine atomaren Bestandteile. Intuitiv widerspricht diese Einsicht zwar unseren Alltagserfahrungen. Doch der sogenannte ‘gesunde Menschenverstand’ stellt ohnehin kein besonders verlässliches Kriterium für die Plausibilität einer Theorie dar, auch die besten Theorien der Physik (Quantentheorie,...) basieren auf intuitiv nur sehr schwer erfassbaren Annahmen. Sprache besitzt also eine eigene Ontologie. Der vorliegende Abschnitt (§2.2) zeigte dies in zwei Bereichen: (i) Entitäten werden in abstrakten Strukturen zusammengefasst, die nicht notwendigerweise mit den Verhältnissen der Realität übereinstimmen müssen. (ii) Massennomen werden von Sprache so behandelt, als ließen sie sich unendlich teilen. Beide Beobachtungen verweisen darauf, dass natürlichsprachliche Ontologie sich von der durch die physikalische Realität vorgegebene Ontologie unterscheiden kann.