[ wissenschaft Autor: Wolfgang Clima Lehrer für Arabisch, Kiswahili und Deutsch Im Fokus: Vertiefungsgebiete der Erziehungswissenschaft Interkulturelle Pädagogik: Der Islam Angesichts der Tatsache, dass in Österreich rund 500.000 und in Deutschland etwa 3,5 Millionen Muslime leben, ist die Beschäftigung mit dem Islam für Lehrer/innen unumgänglich. D er Islam ist heute eines der Hauptthemen in den Medien, doch wäre ein besseres Verständnis der Inhalte der islamischen Gesetze wünschenswert. In der öffentlichen Auseinandersetzung mit Migration und Integration erweist sich der Mangel an objektiven und profunden Kenntnissen über das Wesen des Islam als besonders hinderlich für alle Gesprächspartner, und gewissen Interessensgruppen fällt es deshalb leicht, große Bevölkerungsteile zu verunsichern. Laut Statistik Austria betrug die Zahl der Muslime/Musliminnen in Österreich 158.776 (2 % der Gesamtbevölkerung) im Jahr 1991 und 338.988 (4,2 % der Gesamtbevölkerung) im Jahr 2001. In den traditionellen christlichen Kirchen zeichnet sich ein kontinuierlicher Verlust von Mitgliedern ab, während der Islam und andere Religionen ihre Zahl erhöhen. Die Verdoppelung der Muslime/Musliminnen ist unter anderem durch den Zustrom der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und durch die höhere Geburtenrate der Muslime/Musliminnen zu erklären. Die Bevölkerung Österreichs im Alter von 0 bis 19 Jahren betrug im Jahr 2001 insgesamt 1.837.439, die Zahl der Muslime/Musliminnen im Alter von 0 bis 19 Jahren betrug 128.676, also 7 %. Im selben Jahr betrug die Zahl der muslimischen Pflichtschüler/ innen und Kindergartenkinder in Österreich ca. 64.000. Deshalb ist die Wirtschaftsuniversität Wien (Abteilung für Bildungswissenschaft, Leiterin: ao. Univ.Prof. Dr. Erna NairzWirth) im Rahmen der Ausbildung von Lehramtskandidaten/kandidatinnen schon seit Jahren bemüht, den Studierenden ausreichend Informationen über die Grundlagen des Islam zu vermitteln. Es folgt nun ein kurzer Überblick über die wichtigsten Themen, die in dieser Lehrveranstaltung behandelt werden. Die Tendenz der nichtmuslimischen Öffentlichkeit, die Muslime/Musliminnen als homogene Gruppe zu sehen, ist in besonderem Maße in Österreich zu beobachten, nicht zuletzt deshalb, weil die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), die 1979 als offizielle Vertretung der Muslime/ Musliminnen in Österreich genehmigt wurde, beansprucht, alle Muslime/Musliminnen in Österreich zu vertreten. Der Islam war jedoch nie einheitlich und ist es auch heute nicht. Schon im Jahr 660 n. Chr., also 28 Jahre nach dem Tod des Propheten Muḥammad, bildeten sich drei Gruppen aus religiöspolitischen Gründen, nachdem sich der Umayyade Muعāwiya, Gouverneur von Damaskus, gegen den legitimen Kalifen عAlī aufgelehnt hatte: die Sunna, die Šīعa und die Ḫawāriǧ. Die Šīعa teilte sich in zahlreiche Untergruppen auf, deren bekannteste die folgenden sind: die Zwölferschiiten/innen, die Zayditen/ innen, die Drusen/innen, die Ismāعīliten/innen, die عAlawiten/ innen und die türkischen Aleviten/innen. In diesem Zusammenhang sind noch zwei Gruppen zu erwähnen, die weder von den orthodoxen noch von den schiitischen Muslimen/Musliminnen anerkannt werden: Die Aḥmadiyya-Bewegung und die Bahā’ī-Religion. Die islamische Glaubenslehre Der Prophet Muḥammad hat das Glaubensbekenntnis folgendermaßen zusammengefasst: Ich glaube an den EINEN Gott, seine ENGEL, seine BÜCHER, seine PROPHETEN, an den JÜNGSTEN TAG und die Wiederauferstehung nach dem Tode; ich glaube, dass die GÖTTLICHE VORSEHUNG Gutes und Böses beschlossen hat. Der Glaube an den einen Gott Der wichtigste Bestandteil der Lehre ist der Glaube an die Einheit Gottes. Allerdings führt das Hersagen einiger weniger Worte noch keine Veränderungen herbei. Man wird erst dann ein/e vollwertige/r Muslim/in, wenn das Tun und Denken mit dem Bekenntnis übereinstimmt. Nur durch die rigorose Befolgung der Lehre in allen Dingen des praktischen Lebens können Unglaube, Atheismus und Polytheismus (bzw. Vergötzung von Personen und Sachen) vermieden werden. Nach Ansicht der Muslime/Musliminnen ist das Einheitsbekenntnis (tawḥīd) zu allen Zeiten durch die Propheten (z. B. Noah, wissenplus 4–09/10 V [ wissenschaft Abraham, Moses und Jesus) vermittelt worden, jedoch habe sich der Mensch von den Lehren der Propheten abgewandt und sich auf sein eigenes fehlerhaftes Urteilsvermögen, seine falschen Vorstellungen und voreingenommenen Deutungen gestützt. Auch die christliche Trinität wird von den Muslimen/ Musliminnen strikt abgelehnt. Der Glaube an die Engel Die Engel haben den Auftrag, die Ordnung im Universum aufrechtzuerhalten. Sie sind geschlechtslose Wesen, die nicht essen, nicht trinken, nicht ermüden und keiner Sache überdrüssig werden. Von ätherischer Substanz, können sie jederzeit und in jeder Gestalt im Himmel und auf Erden in Erscheinung treten. Nur Gott kennt die Zahl dieser geheimnisvollen Wesen, doch sind einige namentlich bekannt. Der Erzengel Gabriel ist dazu ausersehen, den Willen Gottes an die Menschheit weiterzuleiten. Dank seiner Mittlertätigkeit empfingen die Propheten die Offenbarungen, und er hat Muḥammad den Wortlaut des Korans in Herz und Verstand gelegt. Der Erzengel Michael lenkt die Vorgänge in der Natur. Ferner kennt man noch Azrā’īl, Isrāfīl, Munkar, Nakīr, Hārūt und Mārūt sowie den gefallenen Engel Iblīs, der sich geweigert hatte, sich vor Adam niederzuwerfen und des Paradieses verwiesen wurde. Der Glaube an Gottes Bücher Früher existierten angeblich die Bücher Abrahams, die jedoch verlorengegangen und nicht mehr auffindbar sind. Umfangreichere Werke wurden den Propheten Moses (Thora), David (Psalter), Jesus (Evangelium) und Muḥammad (Koran) vom Erzengel Gabriel diktiert. Nach Ansicht der Muslime/ Musliminnen war jedoch der Inhalt der Bücher in der vorkoranischen Epoche allzu sehr auf bestimmte Volksstämme und deren sozio-kulturelle Situation abgestimmt. Und die Juden/ Jüdinnen und Christen/Christinnen seien nicht mehr im Besitz der Originaltexte und müssten selbst zugeben, dass sie sich auf Übersetzungen stützen und im Verlauf der Jahrhunderte zahlreiche Veränderungen und Verfälschungen vorgenommen wurden. Außerdem sagen die Muslime/Musliminnen, man könne das Evangelium nicht mit dem Koran, dem Wort Gottes, vergleichen. Das Evangelium entspreche vielmehr der Sīra, also der traditionellen Biographie Muḥammads. Muḥammad schließt die lange Reihe der Propheten ab, er wird deshalb im Koran „das Siegel der Propheten“ genannt. Der von ihm verkündete Text ist nicht sein Werk, sondern wurde, was sowohl den Inhalt als auch die sprachliche Formulierung betrifft, von Gott übermittelt. Der Koran enthält 114 Suren und 6666 Verse, die dem Propheten in einem Zeitraum von 22 Jahren mitgeteilt wurden. Die Suren sind nicht chronologisch angeordnet; vielmehr wurde die Anordnung, von einigen Ausnahmen abgesehen, nach fallender Länge vorgenommen. Lediglich am Anfang jeder Sure finden wir einen Hinweis auf die beiden Hauptverkündigungsphasen im Leben Muḥammads. Dementsprechend sind die „mekkanischen Suren“ diejenigen, die in der Zeit von 610 bis 622 n. Chr. in seiner Heimatstadt Mekka verkündet wurden. Am Anfang der mekkanischen Phase stehen theologische Fragestellungen im Vordergrund. Die Verse handeln von der unmittelbaren Ankunft des Jüngsten Gerichts. Sie schildern die Belohnung der Frommen und die Höllenqualen der Sünder/innen. Den eschatologischen Betrachtungen folgen warnende Geschichten und Gleichnisse. Der Stil wird zunehmend prosaischer und zeichnet sich durch zahlreiche Wiederholungen aus. Die „medinensischen Suren“ sind schließ- VI wissenplus 4–09/10 lich die, die nach der Hiǧra (Auswanderung, zugleich Beginn der islamischen Zeitrechnung) in der Zeit von 622 bis 632 n. Chr. in Medina verkündet wurden. In Medina kamen zu den ethischen Aussagen und zu den Fragen der Auferstehung konkrete Verhaltensregeln für den zwischenmenschlichen Bereich hinzu, denn Muḥammad musste eine soziale Ordnung schaffen. Die Suren aus dieser Zeit enthalten Bestimmungen des familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Verteidigung nach außen, Kriegsführung und Behandlung von Nicht-Muslimen/Musliminnen. Muḥammad rezitierte die Suren immer wieder, und seine Gefährten/Gefährtinnen lernten sie auswendig. Bis zur endgültigen Redaktion unter dem Kalifen عUṯmān um 650 n. Chr., d. h. nicht einmal 20 Jahre nach dem Tod des Propheten, kursierten noch weitere Sammlungen, die sich in erster Linie durch die Anordnung der Suren und durch kleinere textliche Abweichungen von der عuṯmānischen Vulgata unterschieden. Der Glaube an die Propheten Gottes Sayyid Abū l ’Aعlā Mawdūdī gibt an, dass sich die Anzahl aller Propheten, die zu verschiedenen Zeiten zu den verschiedenen Völkern gesandt wurden, auf 124.000 beläuft. Im Islam sei es nötig, bedingungslos an alle Propheten zu glauben, doch sind wir nicht in der Lage, mit Sicherheit zu sagen, ob jemand ein echter Prophet war oder nicht, wenn er nicht im Koran genannt ist. Der Koran kennt die folgenden Propheten namentlich: Adam , Henoch, Noah, Heber, Methusalem, Abraham, Lot, Ismael, Isaak, Jakob, Josef, Hiob, Jethro, Moses, Aaron, David, Solomo, Elias, Eliasa, Jonas, Jesaja, Zacharias, Johannes (d. Täufer), Jesus, Muḥammad.[Weiner 1983,36] Für für einen/eine Muslim/Muslimin ist Muḥammad der letzte wahrhaftige Prophet. Seine Lehren sind absolut vollkommen und frei von irgendwelchen Irrtümern. Nach ihm wird bis zum Tag des Jüngsten Gerichts kein Prophet mehr zu irgendeinem Volk kommen, und es wird auch keine Persönlichkeit mehr auftreten, an die zu glauben für einen/eine Muslim/Muslimin erforderlich wäre. Der Glaube an den Jüngsten Tag Der fünfte islamische Glaubensartikel ist der Glaube an das Leben nach dem Tod. Am Tag der Auferstehung (yawmu l qiyāma) werden alle Menschen, die seit Anbeginn auf der Erde gelebt haben, wieder zum Leben erweckt, und eine vollständige Niederschrift aller ihrer Taten wird Gott zur endgültigen Beurteilung vorgelegt. Die Belohnung für einen ehr­ baren Lebenswandel ist das Paradies, welches im Koran als ein Ort nie endender Labsal beschrieben wird, mit ausreichend Nahrung, kostbaren Gewändern, wertvollem Schmuck, kühlendem Schatten, fließenden Wassern, aufwartenden Jünglingen und in Bereitschaft stehenden, holdseligen, großäugigen Mädchen. Für die Ungläubigen und Frevler/innen sind jedoch die Höllenqualen vorgesehen: Flammen, siedendes Wasser, inneres und äußeres Verbrennen, Kleider aus Feuer und eiserne Keulen warten auf die Sünder/innen, für die es kein Entrinnen aus der ewigen Folter gibt. Allerdings wird es auch Recht­ gläubige geben, die Sündenschuld auf sich geladen haben und nach Verbüßung ihrer Höllenstrafe ins Paradies überwechseln dürfen. Die Vorherbestimmung Während früher die Sunniten/Sunnitinnen den fünf Glaubensartikeln im Allgemeinen noch den Glauben an die Praedestination hinzufügten, schränken heutige Katechismen [ wissenschaft ­ dieses schwierige Kapitel ein oder lassen es teilweise sogar weg. In der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts n. Chr. bildeten sich verschiedene Lehrmeinungen heraus, die dann im neunten Jahrhundert sowohl theologisch als auch politisch relevant wurden und bis heute die Gemüter bewegen. Ihre Anhänger/ innen teilen sich in drei Hauptgruppen: Die Ğabriten/Ğabritinnen sind in der Sektengeschichte diejenigen, welche im Gegensatz zu den Qadariten/Qadaritinnen die Willensfreiheit des Menschen leugnen und in dieser Hinsicht zwischen ihm und der leblosen Natur keinen Unterschied machen, insofern seine Handlungen dem Zwang (ǧabr) Gottes unterworfen sind. Der vornehmste Vertreter dieser Meinung war Ğahm Ibn Ṣafwān (hingerichtet im Jahre 746 n. Chr.) Die Ašعariten/Ašعaritinnen vertreten die Lehrmeinung des Theologen al-’Ašعarī (874-935 n. Chr.), der Gottes Mitwirkung beim Handeln des Menschen deutlich zu machen versucht und dennoch die Verantwortung dafür allein dem Menschen überträgt. Gott bleibt die eigentliche und erste Ursache von allem, was geschieht, während der Mensch durch die „Aneignung“ (kasb bzw. iktisāb) die Tat als seine eigene gute oder böse Tat übernimmt. Die überwiegende Mehrzahl der Muslime/Musliminnen bevorzugt diese Theorie, die auch der christlichen Theologie des scholastischen Mittelalters nicht fremd war. Die Muعtaziliten/Muعtazilitinnen vertreten die Doktrin der Freiheit des Menschen im Denken und im Handeln. Diese theologische Schule begründete die spekulative Dogmatik im Islam. Ihre Entstehung ist eng verbunden mit der Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen. Da ihrer Ansicht nach der Glaube durch die Vernunft verstanden werden sollte, gerieten sie in Konflikt mit den Traditionalisten/innen, für die nur der Wortlaut der Offenbarung maßgebend war. Angeregt vom griechischen Gedankengut systematisierten sie ihre Lehre und beschäftigten sich hauptsächlich mit Fragen nach dem Wesen Gottes und des Prophetentums, mit der Erschaffenheit des Korans und den Folgen der menschlichen Freiheit. Das islamische Recht (die Šarīعa) Unter dem Begriff Šarīعa wird die Gesamtheit der Vorschriften verstanden, welche die Handlungen des Menschen im privaten und öffentlichen Leben betreffen. Nach islamischem Verständnis sind die Vorschriften nicht Selbstzweck, sondern Hilfen, sich richtig auf Gott auszurichten, und für die Mehrheit der Muslime war und ist das Recht und das Gesetz von weitaus größerer praktischer Bedeutung als das Dogma. Die Šarīعa regelt alle Lebensbereiche: Rituelle Handlungen (عibādāt), Familien-, Erb-, Handels-, Wirtschafts-, Zivil- und Strafrecht sowie die Wiedergutmachung von Schäden. Insgesamt umfasst sie mehr als 50 Sachgebiete. Die Regeln der Šarīعa beruhen auf den im Koran enthaltenen göttlichen Offenbarungen. Die islamische Pflichtenlehre (fiqh) beruht nach der „Wissenschaft von den Wurzeln“ (عilmu l ’uṣūl) auf vier Wurzeln (’uṣūl), nämlich dem Koran (qur’ān), dem Verhalten des Propheten Muḥammad (sunna), dem Konsens der Rechtsgelehrten einer Generation (iǧmā)عund dem so genannten Analogieschluss (qiyās). Ursprünglich war auch die Rechtsauslegung einzelner Gelehrter (iǧtihād) erlaubt. Heute ist der Iǧtihād nur mehr bei den Schiiten/Schiitinnen eine erlaubte Methode der Rechtsfindung. Im neunten Jahrhundert n. Chr. kristallisierten sich vier sunnitische und eine schiitische Rechtsschule heraus, die bleibende Bedeutung erlangten: die hanafitische, die malikitische, die schafiitische, die hanbilitische und die dschaafaritische Rechtsschule. Die religiösen Grundpflichten Werfen wir nun einen Blick auf die islamische Pflichtenlehre, welche fünf Grundpfeiler bzw. Säulen (rukn, Pl. arkān) beinhaltet, die ein/e Gläubige/r praktizieren muss, wenn er/sie sich Muslim/in nennen will. Da es im Leben des Menschen keinen Bereich geben darf, der sich dem religiösen Einfluss entzieht, finden wir diese Vorschriften stets in den ersten Kapiteln der klassischen Rechtskompendien: Das Glaubensbekenntnis (die Šahāda) lautet auf Deutsch „Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Allāh gibt und dass Muḥammad der Gesandte Allāhs ist“, und auf Arabisch „’ašhadu ’anna lᾱ ’ilᾱha ’illᾱ Ị Ịᾱh wa-’anna Muḥammadan rasūlu l-lᾱh“. Bei einer Konversion zum islamischen Glauben muss die Šahāda vor zwei muslimischen Zeugen/Zeuginnen in bewusster und aufrichtiger Absicht in arabischer Sprache gesagt werden. Das Ritualgebet (die Ṣalāt) muss fünfmal täglich nach Vollzug der rituellen Waschung durchgeführt werden, wobei die Wortwahl und die Körperhaltung genau festgelegt sind. Das Morgengebet besteht aus zwei Gebetsabschnitten (rakعa, Pl. rakaعāt) und ist zwischen Morgengrauen und Sonnenaufgang zu verrichten, und zwar dann, wenn ein weißer Faden von einem schwarzen unterschieden werden kann. Das Mittagsgebet (4 rakaعāt) beginnt dann, wenn die Sonne den Zenit gerade überschritten hat. Das Nachmittagsgebet (4 rakaعāt) findet statt, wenn der Schatten eines Gegenstandes doppelt so lang ist wie seine Höhe. Das Abendgebet (3 rakaعāt) ist dann durchzuführen, wenn der schwarze Faden vom weißen noch zu unterscheiden ist. Das Nachtgebet (4 rakaعāt) wird nach Einbruch der absolut finsteren Nacht verrichtet. Es ist als Gebet vor dem Schlafengehen gedacht. Religiöse Menschen erweitern freiwillig ihre Übungen, indem sie den verbindlich festgelegten Gebeten noch weitere anfügen. Das Fasten im Monat Ramaḍān (ṣiyām bzw ṣawm) dauert 29 bzw. 30 Tage. Jedes Jahr beginnt dieser Monat im europäischen Kalender ca. 11 Tage früher als im Vorjahr, weil das Mondjahr nur 354 Tage hat. Fasten bedeutet nicht nur Enthaltsamkeit gegenüber bestimmten Speisen, sondern die absolute Abstinenz hinsichtlich Essens, Trinkens, Tabakgenusses, Parfumgebrauchs, sexueller Handlungen und all dessen, was einen gewissen Aufwand in den Tagesablauf bringen könnte, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Die Überwindung körperlicher Bedürfnisse oder Begierden vermittelt die Genugtuung des Erfolges, und das Gefühl der Brüderlichkeit und Nächstenliebe wird stärker, weil man die Vorschriften des Rituals gemeinsam befolgt. Die Pflichtabgabe (zakāt), nicht zu verwechseln mit dem freiwilligen Almosen (ṣadaqa), ist eine Steuer, die jede/r/m wohlhabenden Muslim/in zur Pflicht gemacht wurde. Jede/r Muslim/in, deren/dessen finanzielle Verhältnisse sich über einem festgesetzten Minimum bewegen, hat jährlich 2,5 % von ihrem/ seinem Barvermögen an eine/n unterstützungswürdige/n Mitbürger/in, eine/n zum Islam Bekehrte/n, eine/n Reisende/n oder eine/n mit Schulden Belastete/n zu bezahlen. Die Abgabe wird auch auf Gold, Silber, Handelswaren, Vieh und andere Wertgegenstände erhoben. Immobilien, Wohnungseinrichtungen und notwendige Fortbewegungsmittel unterliegen keiner Steuer, wohl aber die Einkünfte aus Häusern, Geschäften, Restaurants, Hotels, Gärten und Feldern. In manchen islamischen Staaten wurde die Zakāt zu einem regelrechten Steuersystem entwickelt, um eine ideale islamische Sozialordnung aufzubauen. wissenplus 4–09/10 VII [ wissenschaft Die Pilgerfahrt nach Mekka (ḥaǧǧ) soll jede/r Muslim/in wenigstens einmal im Leben unternehmen, sofern seine/ihre finanziellen Verhältnisse und die äußeren Umstände dies erlauben. Die Pilgerfahrt ist an feste Riten und Voraussetzungen gebunden, die erfüllt werden müssen, damit sich die Reisenden in innerer Ergebenheit und Ehrfurcht ausschließlich mit den Gedanken an Gott und seinen Propheten beschäftigen können. Dadurch wird das Bewusstsein wachgerufen, dass alle Muslime/Musliminnen gleich sind, unabhängig von ihrer geographischen oder kulturellen Herkunft. Eine andere Verpflichtung ist für viele Muslime/Musliminnen gleichrangig mit den fünf Grundpflichten, nämlich die Teilnahme am Ğihād. Sayyid Abū l ’Aعlā Mawdūdī (1903–1979), der maßgeblich an der Staatsgründung Pakistans beteiligt war, hat dazu eindeutig Stellung genommen: “Ğihād bedeutet Kampf, Bemühung, Anstrengung bis zum Äußersten der eigenen Leistungsfähigkeit. …Die außerordentliche Opferbereitschaft, selbst das eigene Leben hinzugeben, müssen alle Muslime aufbringen. Wenn sich jedoch ein Teil der Muslime erbietet, am Ğihād teilzunehmen, so ist damit die ganze Gemeinde von ihrer Verantwortung entbunden. Tritt aber niemand freiwillig hervor, dann ist jeder Einzelne verantwortlich. Dieses Zugeständnis wird in dem Moment für die Bürger eines islamischen Staates ungültig, wenn dieser von Nichtmuslimen angegriffen wird. In diesem Fall muss jeder zum Ğihād bereit sein. Wenn das angegriffene Land nicht stark genug ist, um sich allein zu verteidigen, dann ist es die religiöse Pflicht der benachbarten Muslim-Länder, ihm zu helfen; doch wenn auch sie zu schwach sind, dann müssen die Muslime der ganzen Welt den gemeinsamen Feind bekämpfen. In all diesen Fällen ist der Ğihād eine genauso unerlässliche Pflicht wie das tägliche Gebet oder das Fasten. Wer dem zu entkommen sucht, ist ein Sünder, ja, seine Behauptung, ein Muslim zu sein, wird dadurch zweifelhaft. Er ist ganz offenbar ein Heuchler, der bei der Prüfung seiner Aufrichtigkeit versagt, und alle seine عIbādāt und Gebete sind leerer Schein, eine wertlose, hohle Vorspiegelung von Gottergebenheit“ [Maudoodi 1971, 140]. Das Wort „Ğihād“ kommt im Koran insgesamt viermal vor (9:24; 22:77; 25:54; 60:1), und die verschiedenen Rechtsschulen divergieren in ihren Ansichten über diesen Terminus. Die meisten Muslime/Musliminnen verstehen heute darunter den Kampf gegen Unterentwicklung und das Streben nach Beseitigung sozialer Benachteiligungen und Missstände. Die islamischen Mystiker interpretieren diesen Begriff nicht als kollektive Bemühung, sondern als individuellen Kampf gegen Abhängigkeiten und schlechte Gewohnheiten. Nach dieser kurzen Einführung in die Grundlagen des Islam werden in der Lehrveranstaltung an der WU folgende Themen ausführlich behandelt: Muslimische Frömmigkeit und muslimischer Gottesdienst; die Ethik des/der Einzelnen; Familienleben im Islam; die islamische Gesellschaft; Kulturknigge für Nicht-Muslime/-Musliminnen; der Islam im Rahmen der monotheistischen Weltreligionen; Koran und Koranexegese; Elemente und Strukturen klassischer islamischer Pädagogik und die Administration des islamischen Bildungsbereichs; der Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht an Pflichtschulen, mittleren und höheren Schulen in Österreich; die islamische Frau und die Kopftuchdebatte; Tendenzen der Rechtsentwicklung (Familien- und Erbrecht, Vermögensrecht, Strafrecht); der wirtschaftliche Aufbau der islamischen Gesellschaftsordnung; westliche Banken und die Entwicklung islamkonformer Finanzierung; VIII wissenplus 4–09/10 die islamische Völkerrechtslehre; Absolutheitsanspruch und Toleranz; die islamische Mystik (das Ordenswesen, spirituelle Entwicklung und Transformation); der Islam und die westliche Welt (Erörterungen und Diskussionen über die aktuelle nationale und internationale Situation). 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