Die 2°C-Temperaturleitplanke als Koordinate globaler Klimapolitik Daniel Klingenfeld Dieser Text basiert inhaltlich auf Daniel Klingenfeld, On Strategies for Avoiding Dangerous Climate Change: Elements of a Global Carbon Market, Kapitel VII.ii, 62-69. Dissertation eingereicht am 13.12.2011 an der Technischen Universität Berlin. Die 2°C-Temperaturleitplanke ist spätestens seit der Vertragsstaatenkonferenz in Cancún im Jahr 2010 ins Zentrum der internationalen Klimapolitik gerückt. Als scheinbar trennscharfe Grenze setzt dieses Umweltziel einen Rahmen für die Entwicklung einer koordinierten globalen Klimaschutzstrategie. Dabei ist die Temperaturleitplanke jedoch weit weniger präzise, als es ihre klare Formulierung zunächst suggeriert. Auch spielen bei der Entwicklung konkreter Handlungspfade Abwägungsentscheidungen eine Rolle, die vor allem im Normativen verortet sind. I. Normative Grundlagen: Die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen Welches Ziel soll sich die Weltgemeinschaft geben, um den menschgemachten Klimawandel und seine Folgen zu begrenzen? Und wie sind kurzfristige Kosten und langfristige Schäden miteinander in Verbindung zu setzen, um sich einer Zieldefinition anzunähern? Diese zwei Fragen deuten an, dass es bei der Einhegung des Klimawandels nicht zuletzt um normative Entscheidungen geht, die sich nicht unmittelbar aus physikalischen Prinzipien ableiten lassen. Man kann sogar so weit gehen zu argumentieren, dass in erster Linie ethisch-moralische Abwägungen dafür relevant sind, wie die Menschheit mit Großrisiken umgeht, welches Gewicht dem Wohlergehen künftiger Generationen und der Bewahrung intakter Ökosysteme eingeräumt wird und inwieweit Empathie für Menschen in besonders betroffenen Regionen solidarisches Handeln motiviert. Die Grundlage internationaler Bemühungen im Klimaschutz bildet die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, welche 1992 auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro verabschiedet wurde und durch den sich anschließenden Ratifizierungsprozess praktisch universelle Gültigkeit erlangt hat. Dieses bemerkenswerte und bis heute konstitutive Element einer globalen Kooperationsordnung im Klimaschutz ist ebenfalls stark normativ geprägt: Zum einen, und hierauf soll nachstehend im Besonderen eingegangen werden, wird ein globales Umweltziel ex negativo definiert – die Vermeidung von gefährlichem anthropogenen, also menschengemachten, Klimawandel. Zum anderen werden Prinzipien für eine gemeinschaftliche Verantwortungsüber- 151 nahme auf dem Weg zu diesem Ziel definiert, welche den Entwicklungsstand und die unterschiedliche Leistungsfähigkeit verschiedener Weltregionen berücksichtigen. Kernstück der Klimarahmenkonvention ist die Setzung eines Umweltziels, das im vielzitierten Artikel 2 verankert ist.1 Dort heißt es im Wortlaut: „Das Endziel dieses Übereinkommens und aller damit zusammenhängenden Rechtsinstrumente, welche die Konferenz der Vertragsparteien beschließt, ist es, in Übereinstimmung mit den einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird. Ein solches Niveau sollte innerhalb eines Zeitraums erreicht werden, der ausreicht, damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird und die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Weise fortgeführt werden kann.“ Dabei ist das so formulierte Umweltziel – die Vermeidung gefährlichen menschengemachten Klimawandels – lediglich als unscharfe Grenze auszumachen. Dies hatte einerseits politische Gründe, da ein Konsens über konkrete Schwellenwerte, bei denen gefährliche Klimaänderungen eintreten würden, zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Konvention nicht bestand. Andererseits erschwert die Komplexität geophysikalischer Prozesse und die damit verbundene Prognoseunsicherheit die Festlegung eines konkreten Schwellenwerts für gefährlichen Klimawandel. Nicht zuletzt bedingen die geografisch stark unterschiedlichen Auswirkungen auf ökologische, soziale und wirtschaftliche Systeme in einer sich erwärmenden Welt Abwägungsentscheidungen, welches Maß an Klimaveränderungen in Kauf genommen werden kann. Auch hier geht es in erster Linie um normative Erwägungen, die handlungsleitend werden. Diese Komplexität wird durch die zur Verfügung stehenden Optionen, dem Klimawandel zu begegnen, noch erweitert: Neben einer Emissionsvermeidungsstrategie, welche den künftigen Anstieg der globalen Mitteltemperatur begrenzt, können Anpassungsmaßnahmen an bereits erfolgte und zukünftig zu erwartende Erwärmung entwickelt und umgesetzt werden. Dabei handelt es sich bei diesen zwei Strategien nicht unmittelbar um direkte Substitute, da selbst sehr ambitionierte globale Emissionsminderungen den derzeitigen Erwärmungstrend lediglich bremsen könnten und gleichsam begleitende Anpassungsmaßnahmen erfordern würden. Somit sind Emissionsvermeidung und Anpassung zu einem gewissen Grad strategische Komplemente. Wenn es jedoch um die Frage geht, wie stark Emissionen gemindert werden sollten, können entsprechende Anpassungsmaßnahmen die Widerstandsfähigkeit ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Systeme gegenüber fortschreitender Erwärmung erhöhen und, wenn auch in begrenztem Umfang, als Substitute gelten. Hier deutet sich eine zusätzliche Unschärfe bei der Abgrenzung gefährlichen Klimawandels an. Ein weiteres für das Umweltziel relevantes Prinzip der Klimarahmenkonvention lässt sich als „anthropozentrische Zukunftsorientierung“ beschreiben. In diesem Zusammenhang fordert das Vertragswerk, „[...] das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen [zu] schützen.“ (Artikel 3 UNFCCC, Auszug). Der Mensch steht also im Zentrum einer Vermeidungs- und Anpassungsstrategie an den Klima1 UNFCCC, United Nations Framework Convention on Climate Change, 1992. Online verfügbar: http://unfccc.int/resource/docs/convkp/convger.pdf. 152 wandel – und dies sowohl als Akteur als auch als Betroffener: So ist die Menschheit einerseits zu einer geophysikalischen Kraft geworden, die den Planeten maßgeblich gestaltet, und erlebt andererseits diesen kollektiv ausgelösten Veränderungsprozess. Allerdings deuten die Ausführungen in Artikel 2 darauf hin, dass ausreichende Anpassungszeiträume für Ökosysteme als Wert an sich begriffen werden und der anthropozentrische Charakter der Konvention hier erweitert wird. Schließlich ist das Vorsorgeprinzip ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Klimarahmenkonvention, „[...] um den Ursachen der Klimaänderungen vorzubeugen, sie zu verhindern oder so gering wie möglich zu halten und die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen abzuschwächen. In Fällen, in denen ernsthafte oder nicht wiedergutzumachende Schäden drohen, soll das Fehlen einer völligen wissenschaftlichen Gewissheit nicht als Grund für das Aufschieben solcher Maßnahmen dienen [...].“ (Artikel 3 UNFCCC, Auszug). Derartige irreversible Prozesse sind als Kippelemente im Erdsystem bekannt („tipping elements“),2 deren Auslösen ökologische Großunfälle verursachen könnte. Zu den bisher identifizierten Kippelementen gehören beispielsweise das mögliche Austrocknen des Amazonas-Regenwaldes und dessen Übergang in einen saisonalen Wald, erratische Monsunzyklen in Indien oder das Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde.3 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Klimarahmenkonvention eine normative Rahmensetzung für die Einhegung gefährlichen Klimawandels vornimmt. Dafür wird eine Reihe von Grundsätzen, wie beispielsweise das Vorsorgeprinzip, definiert, die für die Weltgemeinschaft handlungsleitend sein sollen. Die Konvention liefert jedoch keine klare Definition, was gefährlicher Klimawandel konkret bedeutet und ab welchem Schwellenwert er zu erwarten ist. Diese Präzisierung beschäftigt weiterhin den politischen und wissenschaftlichen Prozess und hat in der 2°C-Temperaturleitplanke einen Vorschlag für deren konkrete Formulierung gefunden. II. Ursprünge und Begründungslinien der 2°C-Temperaturleitplanke Im Ende 2010 verabschiedeten sogenannten „Cancún-Agreement“ wurde erstmals offiziell von der Weltgemeinschaft vereinbart, den Anstieg der durchschnittlichen globalen Mitteltemperatur auf nicht mehr als 2°C gegenüber der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu begrenzen. Obwohl die Ergebnisse der Klimakonferenz von Cancún keine formelle Bindungskraft entfalten und dem gemeinsamen Umweltziel ein loser Katalog zusammengenommen nicht einmal ansatzweise ausreichender Einzelmaßnahmen zugrunde liegt,4 ist die Nennung der 2°C-Temperaturleitplanke dennoch bemerkenswert. Welche Begründungslinien lassen sich aber mit diesem Schwellenwert verbinden? 2 Siehe Timothy Lenton, Hans Joachim Schellnhuber u. a., „Tipping elements in the Earth’s climate system“, Proceedings of the National Academy of Science 105 (2008), 1786-1793. 3 Ebd. 4 Siehe www.climateactiontracker.org. Entwickelt von Climate Analytics und Ecofys. 153 Die Ursprünge des 2°C-Ziels reichen bis in die Mitte der 1970er Jahre zurück.5 politische Relevanz erlangte dieser Schwellenwert vor allem im Anschluss an ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahr 1995. Darin betrachteten die Forscher zunächst die Entwicklungsgeschichte des Menschen über die vergangenen 800.000 Jahre, um ein beherrschbares „Temperaturfenster“ für künftige Klimaänderungen abzuleiten: So lag die natürliche Klimavariabilität im späten Quaternär zwischen einem Minimum von 10,4°C während der letzten Eiszeit und einem Maximum von 16,1°C während der letzten Warmzeit.6 In diesem Temperaturfenster hat sich die menschliche Zivilisation entfaltet, insbesondere während des Holozäns über die vergangenen rund zehntausend Jahre, die von hoher klimatischer Stabilität gekennzeichnet waren. Ausgehend von einer Risikoanalyse und mit Hinblick auf das in der Klimarahmenkonvention verankerte Vorsorgeprinzip kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass Temperaturveränderungen über die natürliche Schwankungsbreite hinaus zu dramatischen Veränderungen in der Funktionsweise der globalen Ökosysteme führen würden.7 Jedoch berücksichtigt der WBGU die technischen Fähigkeiten unserer modernen Zivilisation mit Hinblick auf Anpassung an fortschreitende Klimaänderungen und erweitert das Temperaturfenster in jede Richtung um jeweils 0,5°C. Der so definierte Temperaturbereich liegt demnach zwischen 9,9°C und 16,6°C, wobei der obere Schwellenwert für die aktuelle Diskussion relevant ist. Verglichen mit der durchschnittlichen Mitteltemperatur von rund 14,6°C vor Beginn der Industrialisierung ergibt sich demnach ein Richtwert für die Begrenzung globalen Klimawandels: die 2°CTemperaturleitplanke.8 Seit dem Beginn der Industrialisierung hat sich die globale Mitteltemperatur bereits um rund 0,8°C erwärmt und wird, gebremst durch die Trägheit des Erdsystems, schon bei dem bereits erreichten Niveau von Treibhausgasen in der Atmosphäre auf mindestens 1,3°C steigen.9 Dabei geht man davon aus, dass auch künftig eine Vielzahl von Kohlekraftwerken ungereinigt Schwefelemissionen ausstoßen werden, die zumindest kurzfristig einen kühlenden Effekt auf das Klima haben. Würden alle Kraftwerke mit modernen Filtern ausgerüstet und weiter betrieben, so würde der bereits „programmierte“ Temperaturanstieg noch höher liegen.10 Das verbleibende Temperaturfenster, um die 2°C-Leitplanke nicht zu überschreiten, ist also bereits deutlich geschrumpft und erfordert rasches, koordiniertes Handeln der Weltgemeinschaft. 5 Carlo Jaeger, Julia Jaeger, „Three views of two degrees“, Regional Environmental Change 11 (2011), 15-26. 6 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Szenario zur Ableitung globaler CO2-Reduktionsziele und Umsetzungsstrategien. Stellungnahme zur ersten Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention in Berlin 1995. Sondergutachten, Bremerhaven 1995. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 WBGU 2009, Kassensturz für den Weltklimavertrag – Der Budgetansatz. Sondergutachten, Berlin 2009. 10 Ebd. 154 Neuere Erkenntnisse aus der Klimaforschung untermauern die Sinnhaftigkeit einer Temperaturleitplanke aus einer Risikomanagementperspektive: So zeigen beispielsweise Lenton et al. (2008), dass die Kipppunkte für die meisten bisher identifizierten Kippelemente im Erdsystem oberhalb von 2°C Erwärmung liegen und dass sich das Risiko für deren Auslösen bei höheren Erwärmungen überproportional erhöht. Jedoch zeigen weitere Studien, dass beispielsweise ein langfristiges (d. h. über mehrere Jahrtausende währendes) Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds durchaus auch für geringere Gleichgewichtstemperaturen denkbar ist.11 Dies würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels von bis zu 7 Metern führen, mit heutzutage kaum absehbaren Folgen für Küstenregionen mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte und umfangreichen Infrastruktur. Weiterhin würde eine Fortsetzung des derzeitigen Erwärmungstrends auch unterhalb der 2°C-Leitplanke zum Teil gravierende regionale Auswirkungen haben: Beispiele sind eine eisfreie Arktis in den Sommermonaten sowie der Verlust vieler Korallenriffe durch multiple Stressfaktoren (neben der Erwärmung der Meere vor allem die Ozeanversauerung12). Letzteres gefährdet nicht zuletzt die Proteinversorgung vieler Millionen Menschen, die derzeit durch Fischfang und Subsistenzwirtschaft ihre Existenz sichern. Somit bleibt festzuhalten, dass die 2°C-Temperaturleitplanke keine trennscharfe Grenze zwischen, einerseits, einer Welt der Gefahren und, andererseits, einem Zustand der Stabilität darstellt. Dennoch kann man argumentieren, dass ausgehend von einer Risikoabwägung dieser Schwellenwert einen akzeptablen Kompromiss liefert, der die Eintrittswahrscheinlichkeit der meisten bekannten Kippelemente im Klimasystem begrenzt und effektive Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel erlaubt. Diese Sichtweise wurde – etwas überspitzt – von Jaeger et al. (2011) als die „Katastrophensicht“ bezeichnet, welche gemeinsames und entschlossenes globales Handeln zum Einhalten der globalen Temperaturleitplanke begründen soll. Dem steht ein zweiter Argumentationsstrang gegenüber, der eine „Kosten-Nutzen Perspektive“ skizziert, aus der sich das 2°C-Limit begründen lässt.13 Dabei steht zu beachten, dass die Temperaturleitplanke keineswegs ihren Ursprung in Kosten-Nutzen Erwägungen hat, sondern zunächst geophysikalische Risiken betrachtet, bei deren Eintreten geordnete Anpassungsprozesse kaum eine Option wären. Demgegenüber würde eine streng ökonomische Sichtweise sich anschicken, alle durch den Klimawandel zu erwartenden Schäden zu quantifizieren und dieser Schadensfunktion eine Kostenabschätzung für Emissionsminderungen und Anpassung gegenüber zu stellen. Schließlich ließe sich ein effizientes Maß an globaler Erwärmung ermitteln, das Kosten und Nutzen in Einklang bringt. Dass ein solches Unterfangen mit größten Schwierigkeiten behaftet ist, beispielsweise bei der monetären Bewertung von ökologischen Schäden – von der Quantifizierung möglichen menschlichen Leids ganz zu schweigen 11 Alexander Robinson, Modeling the Greenland Ice Sheet response to climate change in the past and future, Dissertation Universität Potsdam 2011. 12 James Orr u. a., „Anthropogenic ocean acidification over the twenty-first century and its impact on calcifying organisms“, Nature 437 (2005), 681-686; Katja Frieler u. a., „Majority of Coral Reefs at Risk already below 1.5°C of Global Warming“ (eingereicht). 13 Vgl. Jaeger u. a., a.a.O. 155 –, soll hier nicht weiter im Detail erörtert werden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die einflussreiche Stern Review (2006),14 in der ein Vergleich rein marktbasierter ökonomischer Kosten von Klimaschutzbemühungen und deren Unterlassen angestellt wird, einer Begründung des 2°C-Limits aus einer Kosten-Nutzen Perspektive bereits sehr nahe kommt.15 Grundsätzlich lässt sich jedoch hinterfragen, ob Kosten-Nutzen Analysen ein geeignetes Mittel sind, um einen globalen Höchstwert für noch akzeptable Klimaveränderungen zu bestimmen. Neben den oben kurz angedeuteten Schwierigkeiten gibt es einen weiteren Begründungsstrang, der die Anwendbarkeit dieses Analysewerkzeugs auf die Problemstellung des Klimawandels verneint: Weitzman (2009) bezieht sich in seiner Argumentation auf die Unsicherheiten hinsichtlich der Klimasensitivität, welche die Bestimmung eines exakten Schwellenwerts erschweren.16 Zur Erläuterung: Die Klimasensitivität beschreibt die zu erwartende durchschnittliche Erderwärmung in Abhängigkeit von einer Erhöhung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre. Auch die am weitesten entwickelten heutzutage genutzten Klimamodelle geben aufgrund der hohen Komplexität verschiedener Wechselwirkungen sowie des langen Betrachtungszeitraums von Jahrzehnten bis Jahrhunderten eine Verteilungsfunktion der zu erwartenden Erwärmung für ein jeweiliges Emissionsszenario an. Von Interesse sind für Weitzman (2009) insbesondere sogenannte „fat tails“ – sehr hohe Erwärmungswerte, deren Eintrittswahrscheinlichkeit zwar klein, aber nicht vernachlässigbar ist. Es geht also um mögliche Szenarien mit sehr hoher Klimasensitivität, bei denen die zu erwartenden Schäden groß oder im Falle von sich selbst verstärkenden Klimaprozessen gar katastrophal sein könnten. Angesichts dieser Ausgangslage erscheint ein alleiniges Heranziehen von Mittelwerten bei der Klimasensitivität insbesondere aus Kosten-Nutzen Sicht fahrlässig: Werden die Extreme einer möglichen Temperaturverteilung betrachtet, lassen sich die damit verbundenen großen Schäden durch Abzinsung nicht einfach kleinrechnen, wie es bei der Annahme von Mittelwerten oft der Fall ist.17 Daraus lässt sich folgern, dass eine klassische Kosten-Nutzen Rechnung kaum adäquat auf das Klimaproblem anwendbar ist. Die Setzung eines globalen Schwellenwerts aus einer Risikomanagementperspektive, ähnlich einer Versicherungspolice gegen große Schäden mit kleiner Eintrittswahrscheinlichkeit, ist hier letztlich die überzeugendere Strategie.18 Vor diesem Hintergrund lässt sich die 2°C-Temperaturleitplanke als eine derartige Versicherung deuten, die das Risiko für das Auslösen von Kippelementen minimiert – ohne es freilich ganz ausschließen zu können. 14 Nicholas Stern, The Economics of Climate Change: The Stern Review. Report to the Prime Minister and the Chancellor of the Exchequer, o. O. 2006. 15 Vgl. Jaeger u. a., a.a.O. 16 Martin Weitzmann, „On Modelling and Interpreting the Economics of Catastrophic Climate Change“, in: Review of Economics and Statistics 91 (2009), 1-19. 17 Ebd. 18 Ebd. 156 III. Politische Dimension Auf politischer Ebene ist das 2°C-Limit zu einem fokalen Punkt geworden, der es erlaubt, gemeinsames Handeln im globalen Maßstab zu koordinieren und im Sinne einer Messlatte bisherige Schritte auf ihre Wirksamkeit hin zu bewerten.19 Die Europäische Union stellte als erster großer politischer Akteur die 2°C-Temperaturleitplanke ins Zentrum der eigenen klimapolitischen Strategien. Bereits im Jahr 1996 einigte sich der Rat auf das Ziel, den Anstieg der globalen Mitteltemperatur auf unter 2°C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen.20 Im März 2005 bestätigte der Europarat diese Leitplanke und im Jahr 2007 stellte die Europäische Kommission das 2°C-Limit schließlich in das Zentrum der europäischen Klimapolitik.21 Auf internationaler Ebene wurde die Temperaturleitplanke auf dem G8 Gipfel und dem Major Economies Forum in L’Aqila im Sommer 2009 ebenfalls offiziell unterstützt.22 Wichtiger noch waren die Entwicklungen während der Klimakonferenzen der vergangenen Jahre: Der „Copenhagen Accord“ vom Dezember 2009 erwähnte die 2°CLeitplanke mit Bezug auf den eingangs diskutierten Artikel 2 der Klimarahmenkonvention.23 Allerdings wurde das Abkommen von der Vertragsstaatenkonferenz lediglich zur Kenntnis genommen und erlangte so eher symbolische Bedeutung. Demgegenüber wurde, wie eingangs erwähnt, das „Cancún Agreement“ im Dezember 2010 formell beschlossen und im Abschlussdokument das 2°C-Limit bestärkt sowie eine mögliche Verschärfung des Temperaturziels auf 1,5°C erwogen. Allerdings entwickelt auch dieser Beschluss keine unmittelbare Bindungskraft, da sich aus dem Globalziel zum jetzigen Zeitpunkt noch keine konkreten Rechte und Pflichten für die Staatengemeinschaft ableiten. Doch selbst in einem optimistischen Szenario einer verbindlichen Einigung auf eine globale Temperaturleitplanke – was angesichts der Ergebnisse der Klimakonferenz in Durban Ende 2011 wenigstens noch einige Jahre in der Zukunft liegt – bedürfte ein solches Ziel zusätzlicher Präzisierung: Meinshausen et al. (2009) zeigen anhand der 19 Thomas Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge/Mass. 1960; Jaeger u. a., a.a.O. 20 European Union, Commission Staff Paper for the document Limiting Global Climate Change to 2 degrees Celsius. The way ahead for 2020 and beyond. Impact Assessment, 2007. Online verfügbar: http://eur-law.eu/EN/Commission-staff-working-document-Limiting-global-climatechange,380424,d. 21 European Union, Limiting Global Climate Change to 2 degrees Celsius. The way ahead for 2020 and beyond. Communication from the Commission to the Council, the European Parliament, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions, 2007. Online verfügbar: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2007:0002:FIN:EN: PDF. 22 G8, G8 Declaration. Responsible Leadership for a Sustainable Future, 2009. Online verfügbar: http://www.g8italia2009.it/static/G8_Allegato/G8_Declaration_08_07_09_final,0.pdf. G8, Declaration of the Leaders of the Major Economies Forum on Energy and Climate, 2009. Online verfügbar: http://www.g8italia2009.it/static/G8_Allegato/MEF_Declarationl.pdf. 23 UNFCCC, Report of the Conference of the Parties on its fifteenth session, held in Copenhagen from 7 to 19 December 2009. Addendum. Part Two: Action taken by the Conference of the Parties at its fifteenth session. Online verfügbar: http://unfccc.int/resource/docs/2009/cop15/eng/ 11a01.pdf. 157 2°C-Leitplanke, dass sich ein langfristiges Temperaturziel in ein Kohlenstoffbudget für die kommenden Jahrzehnte übersetzen lässt und dass der Zeitpunkt der Emissionen somit flexibel gewählt werden kann.24 Um jedoch die Größe des Gesamtbudgets bestimmen zu können und gleichsam die Grenze zu schärfen, muss eine Wahrscheinlichkeit für das Einhalten der Temperaturleitplanke angesetzt werden.25 Diese Anforderung folgt aus den weiter oben beschriebenen Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Klimasensitivität. Würde eine solche Präzisierung ausbleiben und kein konkretes Anspruchsniveau für das Einhalten des 2°C-Ziels definiert werden, so wären dessen Bindungskraft und normativer Anspruch langfristig in Frage gestellt. Beispielhaft lässt sich dies anhand einer Szenarienanalyse der amerikanischen Umweltbehörde U.S. EPA aus dem Jahr 2010 belegen: Bei einer Fortschreibung der derzeitigen Trends mit weitgehend ungebremsten Treibhausgasemissionen läge die Wahrscheinlichkeit für das Einhalten der 2°C-Leitplanke bei 1 Prozent.26 Ambitionierte globale Klimaschutzstrategien über die kommenden Jahrzehnte würden diese Wahrscheinlichkeit auf 75 Prozent steigen lassen, wohingegen das Szenario einer „nachholenden Dekarbonisierung“ in Entwicklungs- und Schwellenländern das Einhalten der Leitplanke mit einer Wahrscheinlichkeit von 11 Prozent erlauben würde.27 Die Bandbreite der erreichten Treibhausgaskonzentration in den unterschiedlichen Szenarien reicht von 457 bis 931 ppm CO2 e.28 Drei sehr verschiedene künftige Welten also, die sich doch alle auf die 2°CLeitplanke beziehen lassen. Sie machen deutlich, dass erst eine Übersetzung in ein Kohlenstoffbudget, basierend auf einer konkreten Wahrscheinlichkeit für das Einhalten der Temperaturleitplanke, eine hinreichende Schärfung dieser Grenzsetzung erlaubt. IV. Fazit Die 2°C-Temperaturleitplanke suggeriert eine klar definierte Grenze, um gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Eine tiefergehende Analyse verdeutlicht jedoch, dass sich dieser Schwellenwert weit weniger klar abgrenzen lässt. Dabei liegen die relevanten Unsicherheiten maßgeblich auf zwei Ebenen: Zum einen geht es um die Bestimmung der zu erwartenden Schäden, sollte die globale Mitteltemperatur auf 2°C und darüber hinaus steigen. Hier spielen Kippelemente im Erdsystem eine große Rolle, die sich selbst verstärkende großskalige Veränderungsprozesse in Gang bringen könnten. Auch ist die Frage nach der An24 Malte Meinshausen u. a., „Greenhouse-gas Emission Targets for Limiting Global Warming to 2°C“, in: Nature 458 (2009), 1158-1162. 25 Vgl. WBGU 2009, a.a.O. 26 U. S. EPA (United States Environmental Protection Agency), EPA Analysis of the American Power Act in the 111th Congress. 14 June 2010. Online verfügbar: http://www.epa.gov/ climatechange/economics/pdfs/EPA_APA_Analysis_6-14-10.pdf. 27 Ebd. 28 Ebd. 158 passungsfähigkeit ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Systeme in einer sich erwärmenden Welt mit vielen Fragezeichen behaftet. Schließlich zwingen die beträchtlichen regionalen Unterschiede bei den durch Klimawandel hervorgerufenen Schäden zu Abwägungsentscheidungen und Ausgleichsmaßnahmen, die normativethischer Unterfütterung bedürfen. Eine globale Temperaturgrenze, die gefährlichen Klimawandel in allen Weltregionen umfassend vermeidet, dürfte wohl niedriger als das 2°C-Limit liegen, das bereits einen Kompromiss zwischen einer wünschenswerten und einer noch praktikablen Entwicklung darstellt. Neben den erwähnten Unsicherheiten im Bereich der zu erwartenden Schäden macht zum anderen die unvollständige Kenntnis der Klimasensitivität die 2°C-Leitplanke zu einer unscharfen Grenze. Hier müssen Wahrscheinlichkeiten herangezogen werden, um die Temperaturleitplanke in konkrete Begrenzungen für globale Emissionen im Sinne eines globalen Kohlenstoffbudgets übersetzen zu können. Viele der in der politischen Debatte diskutierten Grenzwerte für Treibhausgasemissionen und globale Emissionsminderungsziele orientieren sich dabei an Mittelwerten, die einer rund fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit für das Einhalten der globalen Temperaturleitplanke entsprechen. Eine gesellschaftliche Debatte, ob dieses Vorgehen einen guten Kompass für vorausschauendes Handeln im Hinblick auf die normativen Prinzipien der Klimarahmenkonvention darstellt, steht indes noch aus. Für ein kluges Risikomanagement, insbesondere auch hinsichtlich zu treffender Anpassungsmaßnahmen, ist es daher wichtig, die mit dem 2°C-Limit oft verknüpfte Sicherheit, gefährlichen Klimawandel zu vermeiden, im Kontext zu bewerten: Neben weitreichenden, globalen Emissionsminderungen als zentraler Klimaschutzstrategie sind Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gefragt, um auf unliebsame Überraschungen in einer sich erwärmenden Welt angemessen reagieren zu können. 159