3 Über die Physik des Aufpralls

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Version vom 30. August 2000
3 Über die Physik des Aufpralls
Wie lange dauert ein Aufprall? Welche Kräfte sind dabei im Spiel? Welchen
Einfluss haben Geschwindigkeit, Proportionen und Gewicht des Insassen, sowie Größe und Aufblasdauer des Luftsacks? Diese Fragen können auf verschiedene Art beantwortet werden.
Die praktische Methode ist die Messung am existierenden Fahrzeug. Dabei wird ein Kollisionsversuch („Crashtest“) durchgeführt und mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgezeichnet. Anschließend kann die Verformung
des Fahrzeugs und die Bewegung des Insassen genau beobachtet werden. Dieses Verfahren ist sehr kostspielig und kann erst durchgeführt werden, wenn
Prototypen des Fahrzeugs bereits gebaut sind. Somit können natürlich nur einzelne Stichproben gezogen werden. Die gestellten Fragen, in ihrer Allgemeinheit, werden nicht beantwortet.
Eine theoretische Methode ist die Simulation mit sogenannten „finiten Elementen“. Dabei wird ein Körper, hier das Fahrzeug, durch eine endliche
Zahl von Knoten, also Massepunkten angenähert. Jeder Knoten steht dabei
im Wechselspiel der Kräfte und Bewegungen mit seinen Nachbarknoten. In
diskreten Zeitschritten kann ein leistungsstarker Rechner den Verlauf der Verformung berechnen. Für diese Methode müssen Pläne des Fahrzeugs bereits
vorliegen. Zudem erfordert eine genaue Simulation einige Millionen Knoten
und sehr kleine Zeitschritte. Die Simulation eines einzelnen Unfalls dauert
auch auf leistungsstarken Rechnern derzeit mehrere Stunden. Dieses Verfahren kann daher auch nur einzelne Stichproben simulieren. Zudem sind die
Ergebnisse für den Menschen nicht mehr nachvollziehbar.
In diesem Kapitel wird eine dritte Möglichkeit vorgestellt. Das Fahrzeug wird
auf ein einfaches physikalisches Modell reduziert. In dieses Modell gehen nur
die wesentlichen Kenngrößen des Fahrzeugs und der Insassen ein, also Masse, Größe und Verformungs-Charakteristik. Die Verformungs-Charakteristik
kann vorgegeben oder aus den Messungen eines Kollisionsversuchs abgeleitet
werden. Mit den Gesetzen der Physik lassen sich nun weitreichende Aussagen über die Vorgänge bei einer Kollision ableiten. Der Rechenaufwand ist so
gering, dass er teilweise mit Papier und Bleistift durchgeführt werden kann.
Warum wird diese Art der Modellierung gewählt?
22
Über die Physik des Aufpralls
Es gibt verschiedene Ansätze, das charakteristische Verhalten des Fahrzeugtyps zu modellieren. Der Ansatzpunkt dieser Arbeit ist das Kraftverhalten des
Körpers in Abhängigkeit der Verformung. Es wird als unveränderliches Merkmal eines Fahrzeugtyps angenommen und mittels einer Kennlinie modelliert.
Das gesamte Verhalten lässt sich dann aus dieser Kennlinie ableiten. Dadurch
ist dieses Modell vollständig deduktiv.
Ein anderer Ansatz geht über das Frequenzspektrum, das durch Fouriertransformation aus den Experimentaldaten gewonnen wird. Es basiert auf Beobachtungen über den zeitlichen Verlauf der Kollision. Ebenfalls gute Ergebnisse werden erzielt, wenn man die Kollisionsdauer als konstant ansieht und den
Beschleunigungsverlauf mit Polynomen verschiedenen Grades annähert. Diese Verfahren sind jedoch induktiv und erfordern die Beobachtung mehrerer
Kollisionen. Dadurch sind die Ergebnisse zwischen verschiedenen Fahrzeugtypen häufig unterschiedlich.
Das Kapitel gliedert sich in drei Teile. Zuerst wird die Modellierung des Fahrzeugs vorgestellt. Der zweite Teil behandelt das physikalische Verhalten des
Insassen. Im dritten Teil werden Folgerungen für eine ideale Knautschzone
und den bestmöglichen Schutz des Insassen gezogen.
3.1 Das Fahrzeug
3.1.1 Die klassische Mechanik
Der folgende Abschnitt enthält die Grundlagen der Newtonschen Mechanik.
Er dient dazu, die Schreibweisen vorzustellen und die grundlegenden Gesetze
zu wiederholen. Der vorgebildete Leser mag diesen Abschnitt überspringen.
Die Nomenklatur entspricht den üblichen Bezeichnungen der Physik, wie sie
beispielsweise in [12] zu finden ist. Verwendet werden ausschließlich die gesetzlichen Einheiten [13].
Bewegungen lassen sich durch die drei Größen Beschleunigung, Geschwindigkeit und Weg beschreiben. Es handelt sich um vektorielle Größen, die in
einer, zwei oder drei Dimensionen vorliegen. Im Folgenden werden sie eindimensional betrachtet. Bekanntermaßen entspricht die Geschwindigkeit v dem
Weg s pro Zeit t. Die Beschleunigung a ist die Geschwindigkeitsänderung pro
23
Version vom 30. August 2000
Zeit.
∆s
a
∆t
v
∆v
∆t
(1)
Im Kontext dieser Arbeit tritt Beschleunigung häufig als Verzögerung auf.
Physikalisch sind diese Begriffe austauschbar. Fährt ein Fahrzeug auf ein
anderes, stehendes auf, so sind die Kräfte beider Fahrzeuge gleich. Ob die
Geschwindigkeit zunimmt oder abnimmt, ist eine Frage des Bezugssystems
(„Hält Wien an diesem Zug?“). Im Folgenden kann daher der Begriff „Beschleunigung“ auch eine „Verzögerung“ im üblichen Sinne beschreiben. Im
Kollisionsverlauf ist nur die Differenzgeschwindigkeit der beiden Objekte
wichtig.
Es gelten in Abhängigkeit von der Zeit t die Zusammenhänge:
a t dv t dt
t
t
v t ds t bzw. s t v τ dτ v t a τ dτ (2)
dt
0
0
Neben den Bewegungsgleichungen werden die Zusammenhänge mechanischer Kraft, Arbeit und Energie benötigt. Um einen Körper der Masse m mit
a zu beschleunigen, ist eine Kraft F nötig. Sie wird in der Einheit Newton N
angegeben.
m a
F
(3)
Arbeit W wird dadurch verrichtet, dass eine Kraft F auf einen Punkt ausgeübt
wird, dieser der Kraft nachgibt und sich um die Strecke s bewegt W F s.
Die Einheit ist Joule J. Ist die Kraft F nicht konstant, sondern vom Weg s
abhängig, so führt eine Grenzwertbetrachtung auf den Zusammenhang:
s
W s F x dx
(4)
0
Aus den genannten Zusammenhängen lassen sich weitere ableiten. Für die
Bewegungsenergie gilt:
W
24
1 2
mv
2
(5)
Über die Physik des Aufpralls
Zuletzt ist noch die physikalische Leistung zu nennen. Sie gibt an, wie schnell
die Arbeit verrichtet wird und ergibt sich durch Ableitung der Arbeit nach der
Zeit. Die Einheit der Leistung ist Watt W.
P t dW t dt
(6)
Diese Gleichungen sind ausreichend für das physikalische Modell.
3.1.2 Verformung
Ein Fahrzeug, das auf eine Mauer prallt, verformt sich. Physikalisch unterscheidet man dabei zwischen plastischer und elastischer Verformung. Plastische Verformung ist am einfachsten als Knetmasse vorstellbar. Lässt die verformende Kraft nach, bleibt die Verformung erhalten. Elastische Verformung
tritt bei einer Feder, einem Gummiball oder einem Luftballon auf. Sie unterscheidet sich von der Plastischen dadurch, dass sich die Verformung mit dem
umgekehrten Kraftverlauf wieder rückbildet.
Die rein plastische oder rein elastische Verformung ist ein physikalisches
Idealmodell. Das aufprallende Fahrzeug erfährt beide Arten. Die plastische
Verformung ist nach einer Kollision deutlich sichtbar. Die elastische Verformung ist dadurch erkennbar, dass das Fahrzeug nach dem Aufprall leicht zurückfedert. In diesem Modell wird die Unterscheidung zwischen plastischer
und elastischer Verformung außer acht gelassen. Die Modellierung endet, sobald der Massepunkt keine Geschwindigkeit mehr besitzt. Das Zurückfedern
kann somit nicht mehr modelliert werden. Wie sich zeigen wird, muss die Auslösung in allen Fällen bereits vor dem Zurückfedern erfolgen, so dass dieses
Modell zur Beschreibung des Vorgangs ausreicht.
Der zeitliche Verlauf der Verformung hängt von der Kraftcharakteristik des
Verformungsobjektes ab. Zur Modellierung dieser Charakteristik wird eine
„Kraftkennlinie“ verwendet. Sie beschreibt im eindimensionalen Modell den
Zusammenhang zwischen Verformungsstrecke s und Kraft F. Es handelt sich
daher um eine Funktion F s .
Die Berechnung der zeitabhängigen Funktionen F t , a t , v t , s t aus der
25
Version vom 30. August 2000
Kraftkennlinie ergibt sich aus den Gleichungen 2 und 3:
s̈ t a t F s t m
t t v t a τ dτ s t v τ dτ
0
(7)
0
Es handelt sich um eine Differenzialgleichung. Die Beschleunigung, also die
zweite Ableitung des Weges, ist proportional zur Kraft. Die Kraft ist abhängig
vom Weg, dieser von der Geschwindigkeit und die Geschwindigkeit wiederum
von der Beschleunigung. Ob es eine geschlossene
Lösung für die Gleichung
gibt, hängt von der Kraft-Weg-Funktion F s ab.
F(s)
a(t)
s
F(s)
s
t
Konstante Kraft
F(s)
Verdichtungskraft
t
Lineare Kraft
a(t)
s
a(t)
F(s)
t
a(t)
s
t
Schwellwert
Abbildung 9: Verschiedene Kraft-Weg-Gesetze
Im Folgenden werden mechanische Kraftmodelle vorgestellt, die sich physikalisch ideal verhalten, also mathematisch beschreibbar sind (Abbildung 9).
Es wird ein horizontales Bezugssystem verwendet, das seinen Ursprung am
Fußpunkt der Mauer hat. Die positive Halbachse zeigt nach rechts. Ein Massepunkt bewegt sich von rechts nach links. Die Geschwindigkeit ist in diesem
Bezugssystem negativ. Die Gegenkraft wirkt von links nach rechts, ist also
positiv. Die Beschleunigung (hier Verzögerung) des Massepunktes geht nach
rechts, ist also größer null. Der Zeitpunkt der Berührung sei t 0.
26
Über die Physik des Aufpralls
3.1.3 Konstante Kraft
Bei einer konstanten Kraft F s ist der genannte Zusammenhang keine echte Differenzialgleichung, da a t ebenfalls konstant ist. Das System lässt sich
leicht lösen und führt zur Erkenntnis, dass v linear abgebaut wird und s quadratisch.
Konstante Kraft tritt beispielsweise bei Reibung auf, F s konstant. In Abbildung 9 (links oben) wird ein Quader auf einer Fläche geschoben. Die Bewegungsgleichungen lauten:
a t F
v t v0 a t s t s0 v0 t a t 2
m
2
(8)
3.1.4 Lineare Kraft
Beim linearen Kraftgesetz F s D s0 s t , mit dem beispielsweise eine
Schraubenfeder angenähert wird (Abbildung 9), lässt sich die Differenzialgleichung ebenfalls lösen. Hierdurch ergibt sich die harmonische Schwingung, die
durch eine Sinusfunktion beschreibbar ist. Sie ist festgelegt durch die Winkelgeschwindigkeit ω und die Amplitude A. Die Winkelgeschwindigkeit hängt
vom Verhältnis der Federkonstante zur Masse ab. Die Amplitude ist proportional zur Geschwindigkeit [12].
a t ω2
A ω2 sin ωt D
A v0 m
ω
v t A ω cos ωt s t s0 A sin ωt (9)
3.1.5 Verdichtungskraft
Betrachtet man eine Verdichtungsfunktion, also beispielsweise einen mit Gas
gefüllten Zylinder, so ergibt sich
annäherungsweise eine Kraft, die umgekehrt
proportional zum Weg ist F s K s (Abbildung 9). Die zugehörige Differenzialgleichung lässt sich nicht mehr geschlossen lösen [14].
27
Version vom 30. August 2000
3.1.6 Schwellwert
Der Schwellwert steht für einen Bruchvorgang (Abbildung 9). Vorstellbar
ist beispielsweise ein unelastisches Glasplättchen. Ab einer gewissen Kraft
wird es brechen. Da bei diesem theoretischen Modell keine Energie, also Geschwindigkeit, abgebaut wird, ist diese Kraftfunktion nur in Verbindung mit
anderen Kräften sinnvoll.
3.1.7 Zusammengesetzte Kräfte
F(s)
F(s)
a(t)
s
a(t)
s
t
t
?
F(s)
a(t)
s
F(s)
t
a(t)
s
t
Abbildung 10: Kombination von Kraftelementen
Diese eindimensionalen Kräfte lassen sich parallel und in Reihe kombinieren. Parallel addieren sich die beiden Kräfte, in Reihe wird sich jeweils ein
Gleichgewicht einstellen. Abbildung 10 verdeutlicht das. Dadurch lässt sich
jede Kennlinie beliebig genau annähern.
3.1.8 Anwendung des Modells auf die Fahrzeugverformung
Auf diese Art kann ein beliebiges Fahrzeug modelliert werden. Die Knautschzone wird als masselos betrachtet, der Käfig mit den Insassen als unverformbar. Die Kraftkennlinie kann beliebig gewählt werden. Allerdings müssen natürlich die Größenordnungen des Gesamtsystems berücksichtigt werden. So
28
Über die Physik des Aufpralls
liegt die Masse des Fahrzeugs zwischen 1000 kg und 1500 kg. Die maximale
Verformung der Knautschzone beträgt weniger als 1 m, auch bei großen Fahrzeugen. Die Aufprallgeschwindigkeit wird im Bereich 0 - 100 km/h betrachtet.
Dieser Bereich ist recht großzügig gewählt. Wie sich zeigen wird, liegen die
physikalischen, mechanischen und biologischen Grenzen für einen wirksamen
Insassenschutz bereits bei etwa 70 km/h.
v m
v m
F
F
s
s
Abbildung 11: Einfaches Modell des Aufpralls
3.1.9 Verschiedene Kraftkennlinien
Für die quantitative Untersuchung werden nun sechs verschiedene Kraftkennlinien verglichen. Sie sind in Abbildung 12 dargestellt. Jede entspricht einem
virtuellen Fahrzeug. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Darstellungen wird
hier mit der Deformation, also der Differenz d s0 s gerechnet. Dies vereinfacht die Rechnung. Daher sind die Kurven im Vergleich zu Abbildung 9
und 10 horizontal gespiegelt.
Um das Verhalten vergleichbar zu machen, wurde ein maximaler Verformungsweg dmax von 65 cm verwendet. Für d 65 cm wird eine unendliche
Kraft angenommen. Alle Kennlinien sind so normiert, dass bei v0 55 km h
eine Verformung von 60 cm erfolgt. Dies stimmt mit dem Verhalten der gemessenen Daten überein. Der 55-km/h-Kollisionsversuch (NCAP [W14]) ist
der schwerste, der von Herstellern, Autozeitschriften und Sicherheitsorganisationen durchgeführt wird. Bei höheren Geschwindigkeiten werden die mechanischen Belastungen der Fahrgastzelle so hoch, dass sie sich verformt. Da29
Version vom 30. August 2000
durch treten weitere Effekte und Verletzungsrisiken ein, die durch dieses Modell nicht erfasst werden.
F [MN]
1.0
F [MN]
1.0
F [MN]
1.0
0.8
0.8
0.8
0.6
0.6
0.6
0.4
0.4
0.4
0.2
0.2
20
40
60
d [cm]
0.2
20
Fahrzeug 1
40
60
d [cm]
20
Fahrzeug 2
F [MN]
1.0
F [MN]
1.0
0.8
0.8
0.8
0.6
0.6
0.6
0.4
0.4
0.4
0.2
0.2
20
40
60
Fahrzeug 4
60
d [cm]
Fahrzeug 3
F [MN]
1.0
d [cm]
40
0.2
20
40
60
Fahrzeug 5
d [cm]
20
40
60
d [cm]
Fahrzeug 6
Abbildung 12: Verschiedene Kraftkennlinien
Kennlinie 1 steht für eine Knautschzone mit konstantem Kraftverlauf. Kennlinie 2 zeigt eine lineare Verformung mit einer Federkonstante von 0,7 MN/m.
Kennlinie 3 ist eine Hyperbel, mit der das Kraftverhalten verdichteter Gase angenähert wird. Kennlinie 4 zeigt eine zweistufige Verformungzone mit einem
konstanten weichen und einem härteren Bereich. Kennlinie 5 steht beschreibt
einen linearen Kraftzuwachs, einen Bruchvorgang und einen weiteren linearen Verlauf. Kennlinie 6 wurde aus den Messdaten eines echten Fahrzeugs
ermittelt.
Die Gleichungen der Kennlinien lauten:
215 kN für d 65 cm
F1 d ∞ kN
sonst
30
Über die Physik des Aufpralls
0 7 MN
m d
∞ kN
F2 d für d 65 cm
sonst
für d 65 cm
sonst
kN m
50 0 65
m d
∞ kN
F3 d 100 kN für d 25 cm
F4 d 300 kN für 25 cm d 65 cm
∞ kN
1
F5 d 1 sonst
für d 25 cm
21 cm für 25 cm d 65 cm
∞ kN
sonst
nicht analytisch angebbar
F6 d 2 MN
m d
MN
2 m d
3.1.10 Die Berechnung des Beschleunigungsverlaufs
Wie angenommen, hängt die Kraft in diesem Modell nur vom Weg, also der
Verformung ab. Das bedeutet, dass die plastische Verformung eines Aufpralls
mit 50 km/h grundsätzlich genauso erfolgt wie mit 20 km/h. Der zeitliche Ablauf ist jedoch unterschiedlich. Die Verformung endet, wenn die Bewegungsenergie in plastische Verformung umgesetzt ist. Bei 20 km/h endet sie daher
natürlich bei geringerer Verformung als bei 50 km/h. Die Berechnung der zeitabhängigen Funktionen aus der Kraftkennlinie erfolgt nach den genannten
physikalischen Zusammenhängen (Gleichung 7). Zur einfachen Betrachtung
der mechanischen Vorgänge bei einer Kollision wird der frontale Aufprall auf
eine Betonmauer beispielhaft zugrunde gelegt (siehe Abbildung 11).
Unter diesen Annahmen können jetzt der Beschleunigungsverlauf und eine
Vielzahl weiterer Eigenschaften abgeleitet werden. Die Bewegung ist eindeutig festgelegt durch ein Anfangswertproblem
a
v
d t a
v
d 0
F! d t m
t
! 0t a τ dτ
0 v τ dτ a
v
d 0 0
v0
0 (10)
Da schon bei einfacheren Kraftkennlinien die Analysis versagt, also die Diffe31
Version vom 30. August 2000
$30a [g]
20
10
0
#
20
"60
%40 "
60 &
80
#
20
v#0 [km/h]
20
100
$30a [g]
#
#
20
v#0 [km/h]
20
100
"60 &
80
40
t [ms]
"60 &
80
"60
20
10
0
#
20
v#0 [km/h]
40
20
100
"60
20
10
0
40
"60 &
80
40
t [ms]
40
t [ms]
$30a [g]
40
$30a [g]
"60
20
10
0
"60
20
10
0
40
t [ms]
20
$30a [g]
t [ms]
v#0 [km/h]
20
100
$30a [g]
"60
20
10
0
#
40
20
v#0 [km/h]
40
20
100
"60 &
80
40
t [ms]
"60 &
80
40
v#0 [km/h]
20
100
Abbildung 13: Beschleunigungsverläufe von 0 - 70 km/h
renzialgleichung nicht geschlossen lösbar ist, muss die Numerik herangezogen
werden. Die folgenden Berechnungen wurden vom Rechner durchgeführt. Im
Gegensatz zu aufwendigen finiten Elementen dauert diese Simulation nur den
Bruchteil einer Sekunde. Die Kraftkennlinie ist dabei als Liste von Stützstellen im Abstand 1 mm implementiert. Der Zugriff auf Zwischenwerte erfolgt
durch lineare Interpolation. Der Zeitschritt ∆t beträgt 0,1 ms. Eine Kollision
von 100 ms wird somit in 1000 Zeitschritte aufgelöst. Das Anfangswertproblem wird gelöst durch die Formel:
a
v
d t ∆t F d t m
v t a t ∆t ' ∆t d t v t ∆t '
∆t a
v
d 0 0
v0
0 (11)
Die Genauigkeit der Berechnung ist ausreichend. Eine Verfeinerung der Zeitschritte und der Stützstellen um jeweils den Faktor 10 ändert das Ergebnis um
weniger als ein Prozent. Dies liegt weit unter der Genauigkeit der Messdaten.
Abbildung 13 zeigt verschiedene Beispiele von Beschleunigungsverläufen
für eine Aufprallgeschwindigkeit von 0 bis 70 km/h. Die Masse m beträgt
1120 kg, wie bei den Daten der echten Messung. Die Simulation endet, wenn
das Zurückfedern beginnt. Die Grafiken entsprechen den Kennlinien der Fahrzeuge 1 - 6 aus Abbildung 12 und sind ebenso angeordnet.
32
Über die Physik des Aufpralls
T [ms]
100
T [ms]
100
50
T [ms]
100
50
10 20 30 40 50 60 70
v [km/h]
T [ms]
100
50
10 20 30 40 50 60 70
v [km/h]
T [ms]
100
50
50
10 20 30 40 50 60 70
v [km/h]
10 20 30 40 50 60 70
v [km/h]
T [ms]
100
50
10 20 30 40 50 60 70
v [km/h]
10 20 30 40 50 60 70
v [km/h]
Abbildung 14: Kollisionsdauer
Interessant ist die Beobachtung, dass die gemessene Verzögerung mit zunehmender Geschwindigkeit nicht unbedingt steigt, sondern sich der Verlauf wie
eine Zieharmonika zusammenschiebt. Dieser Ziehharmonika-Effekt wird an
der Kurvenschar 6 (rechts unten) am deutlichsten. Die entsprechenden Verformungsteile erzeugen keine höhere Verzögerung sondern werden früher durchlaufen. Höhere Verzögerungen treten bei höheren Geschwindigkeiten erst auf,
wenn stärkere Verformungen erreicht werden.
Ebenfalls interessant ist die Beobachtung, dass bei verschiedenen Geschwindigkeiten die Dauer der Kollision recht unterschiedlich sein kann, und keinen einfachen Zusammenhang erkennen lässt. Dies zeigt Abbildung 14.
Bemerkenswert ist, dass die Dauer nicht in einer monotonen Beziehung zur
Aufprallgeschwindigkeit steht. Tritt bei einer sehr kleinen Restgeschwindigkeit der Fall auf, dass die Gegenkraft bei dieser Verformung nahe 0 ist, so
kann der Abbau dieser Restgeschwindigkeit beliebig langsam erfolgen. Die
Kollisionsdauer ist daher nicht nach oben beschränkt.
Vorgreifend auf die folgenden Kapitel ist festzustellen: Zu Beginn unterscheiden sich schnelle und langsame Kollisionen nur wenig in der Stärke der Verzögerung. Da die Auslösung des Prallsacks bereits in der Anfangsphase entschieden werden muss, kann die Stärke der Beschleunigung nicht als alleiniges
Kriterium herhalten. Der „pathologische“ Fall ist dabei übrigens die konstante Verzögerung (Fahrzeug 1). Hier ist die Verzögerung in der Anfangsphase
immer gleich, unabhängig von der Aufprallgeschwindigkeit. Die zuverlässige
33
Version vom 30. August 2000
Auslösung des Rückhaltesystems durch Beschleunigungsmessung ist folglich
nicht möglich, da auch bei kleinem Wert von v0 sofort die volle Beschleunigung wirkt.
3.1.11 Verallgemeinertes Modell
Das bisher vorgestellte Modell besteht aus einem Massepunkt und einer Kennlinie. Es repräsentiert den Frontalaufprall auf eine Betonmauer. Der feste
Punkt „Betonmauer“ lässt sich nun verallgemeinern, indem man beliebige Gegenstände als Zielobjekte zulässt. Sie werden auf dieselbe Art modelliert wie
das Fahrzeug, also durch eine Masse und eine Kraftkennlinie. Abbildung 15
zeigt verschiedene Beispiele: eine unverformbare Masse von 100 kg, einen
masselosen Pfosten mit linearem Kraftverlauf und ein anderes Fahrzeug mit
einer bestimmten Masse und einer eigenen Kraftkennlinie.
v1 m1
v1 m1
100kg
Tons
v2
m2
v1 m1
Abbildung 15: Kollisionen mit verschiedenen Zielobjekten
Die allgemeinste Form entspricht der Fahrzeug-Fahrzeug-Kollision. Dabei
werden beide Fahrzeuge gleichberechtigt mit Geschwindigkeit, Masse und
Ort modelliert. Die Simulation erfolgt unter der Annahme, dass während der
Deformationsphase das jeweils weichere Fahrzeug w nachgibt und das Härtere h nicht verformt wird. Welches Fahrzeug härter und welches weicher ist,
34
Über die Physik des Aufpralls
hängt von der Verformung ab und wechselt mehrfach während des Kollisionsvorgangs. Die Fahrzeuge sind mit 1 und 2 nummeriert. wt und ht sind die
Nummern des jeweils weicheren und härteren Fahrzeugs zum Zeitpunkt t. Es
gilt:
wt ht )(+* 1 2 2 1 -, Fwt dwt t . Fht dht t /
(12)
Die Kraft zwischen den beiden Massepunkten wird bestimmt durch die Verformungskraft des weicheren Fahrzeugs:
m1 a1 t m2 a2 t Fwt dwt t (13)
Die zugehörige Differenzialgleichung des kontinuierlichen Modells lautet:
00
vwt
d dwt t dt vht 211
dht 00
awt
v2 v 1 t
aht 21
1
0 (14)
Entsprechend lautet die Differenzengleichung der numerischen Simulation:
00
vwt
dwt t ∆t 3
vht 21 1
dht 00
vwt
dwt t
vht 21
1
dht 00
awt
v2 v 1 t ' ∆t
aht 21
1
0 (15)
Die Massen der Fahrzeuge m1 und m2 sind frei wählbar. Die Anfangsgeschwindigkeiten und Örter der beiden Objekte dienen als Startwert der Simulation. Abbildung 16 zeigt verschiedene Beschleunigungsverläufe. Die beiden
linken sind Simulationen mit den Zielobjekten aus Abbildung 15, die rechte
entspricht dem einfachen Modell.
Die Simulation bricht ab, wenn die beiden Objekte keine Geschwindigkeitsdifferenz mehr besitzen. Danach folgt das Zurück- oder Auseinanderfedern,
dass nicht mehr simuliert wird. Die Beschleunigungen und Kräfte sind beim
Zurückfedern jedoch wesentlich kleiner.
Abbildung 16 zeigt, dass verschiedenartige Kollisionen zu Beginn sehr ähnlich
verlaufen. Auch dies zeigt die Schwierigkeit, anhand des Beschleunigungsverlaufs zuverlässige Auslösekriterien für das Rückhaltesystem zu finden. Ein
35
Version vom 30. August 2000
25 a [g]
25 a [g]
25 a [g]
20
20
20
15
15
15
10
10
10
5
t [ms] 5
t [ms] 5
t [ms]
20 40 60 80 100
20 40 60 80 100
20 40 60 80 100
Stein (100 kg)
Fahrzeug (1500 kg)
Betonmauer
Abbildung 16: Beschleunigung des Fahrzeug 6 beim Aufprall auf verschiedene Zielobjekte (v0 = 40 km/h)
100 kg-Stein stellt keinen Anlass für eine Auslösung dar, erzeugt aber zu Anfang ein nahezu identisches Beschleunigungsmuster wie der Aufprall auf die
Betonmauer.
3.1.12 Energie
Aus der Kraftkennlinie erhält man durch Integration über s die Energiekennlinie (Gleichung 4). Da die Kraftkennlinie durchweg größer Null ist, steigt die
Energiekennlinie monoton. An ihr lässt sich ablesen, welche Verformung eine
bestimmte Anfangsenergie am Fahrzeug hervorruft.
Abbildung 17 zeigt die abgebaute Energie bezüglich der Verformung. Das
Beispielfahrzeug der Masse 1120 kg besitzt bei 30 km/h eine Bewegungsenergie von 39 kJ (Gleichung 5). Beim Frontalaufprall verformt es sich um 41 cm.
Der Umkehrschluss, also die Folgerung von der Verformung auf die Aufprallgeschwindigkeit, ist aufgrund der Monotonie der Energiekennlinie ebenso zulässig.
Anmerkung: Eine Energie von 39 kJ entspricht dem Brennwert von 2 g Schokolade oder etwa einer hundertstel Kilowattstunde. Das erscheint sehr wenig,
um die Knautschzone eines Fahrzeugs um 41 cm zu verformen. Zieht man jedoch in Betracht, dass auch nur wenige Tropfen Benzin erforderlich sind, um
das Fahrzeug auf 30 km/h zu beschleunigen, wird die Energiebilanz einsichtig.
Auf diesem Fahrzeugmodell basieren die nun folgenden Betrachtungen.
36
Über die Physik des Aufpralls
W [kJ]
150
W [kJ]
150
W [kJ]
150
100
100
100
50
50
50
10 20 30 40 50 60
d [cm]
10 20 30 40 50 60
Fahrzeug 1
d [cm]
10 20 30 40 50 60
Fahrzeug 2
Fahrzeug 3
W [kJ]
150
W [kJ]
150
W [kJ]
150
100
100
100
50
50
50
10 20 30 40 50 60
Fahrzeug 4
d [cm]
10 20 30 40 50 60
Fahrzeug 5
d [cm]
d [cm]
10 20 30 40 50 60
d [cm]
Fahrzeug 6
Abbildung 17: Energieabbau beim Aufprall
3.2 Der Insasse
Das vorgestellte Fahrzeugmodell mit der unverformbaren Fahrgastzelle stellt
ein Inertialsystem (Bezugssystem) für den Insassen dar. In diesem System
wird nun der Insasse modelliert. Sein Verhalten wird an zwei Eigenschaften
betrachtet. Zum einen darf er gewisse Beschleunigungswerte nicht überschreiten, um Kopfverletzungen zu vermeiden. Zum anderen wird seine Bewegung
relativ zum Fahrzeug modelliert, um Schlüsse über den besten Zeitpunkt der
Luftsackauslösung zu ziehen.
3.2.1 Das Kopfverletzungsrisiko
Eine große Gefahr bei einem Unfall sind Kopfverletzungen. Starke Beschleunigungen, insbesondere Schläge, verursachen Hirnblutungen, die tödlich sind
oder zu schweren Folgeschäden führen. Um diese Gefahr in Zahlen zu fassen wird das „Head Injury Criterion“ (HIC) verwendet. Es berechnet sich aus
der Stärke und der Dauer der Beschleunigung. In der US-Gesetzesvorschrift
FMVSS 208 (Federal Motor Vehicle Safety Standards) [15] ist es folgender37
Version vom 30. August 2000
maßen festgelegt:
HIC 54
1
t2 t1
t2
t1
a t dt 6
25
t2 t1 (16)
In Worten: die durchschnittliche Beschleunigung potenziert mit 2 5 wird mit
der Dauer multipliziert. Dabei wird die Beschleunigung in g, also Vielfachen
der Erdbeschleunigung, gemessen und die Zeit in Sekunden s. Die Zeitdauer
t2 t1 wird in Intervallen betrachtet, die kürzer als 36 ms sind. In der hier
verwendeten Schreibweise lautet das Kriterium
HIC 74
1 1
1 g t2 t1
t2
t1
a t dt 6
t t
2 1
t2 t1 36 ms
1s
25
(17)
Der Wert ist für alle Zeitintervalle t2 t1 36 ms während des Aufpralles zu
maximieren und darf nie den kritischen Grenzwert überschreiten. Der Grenzwert ist festgelegt mit 1000.
Verwendet man diesen Grenzwert 1000, so lässt sich eine grobe Abschätzung
durchführen, welche Geschwindigkeit im Idealfall schadlos für den Insassen
abbaubar ist. Die Beschleunigung darf in keinem Zeitintervall von 36 ms mehr
als amax 1000 0 036 1 8 2 5 g 60 g betragen. Die gesamte Verzögerungsstrecke beträgt im Höchstfall smax 1 5 m. Sie setzt sich aus der Knautschzone des Fahrzeugs (1 m) und dem „Überlebensraum“ im Innenraum, also der
Strecke zwischen Insasse und Lenkrad (50 cm) zusammen. Bestenfalls würde der Passagier über die gesamte Strecke gleichmäßig mit 60 g verzögert. Es
ergibt sich die obere Abschätzung:
vmax
:9 amax smax <; 60
m
m
1 5 m 30
s2
s
108 km h
(18)
Dieser Wert muss als absolute obere Grenze für den überlebbaren Aufprall
betrachtet werden. Er setzt voraus, dass die Verzögerung bereits zu Beginn
der Kollision einsetzt und gleichmäßig erfolgt.
Bei der derzeitigen Technik beginnt die Kollisionserkennung meist erst beim
Kontakt des Fahrzeugs mit dem Aufprallobjekt. Um Fehlauslösungen zu verhindern, sollte wenigstens die Information von 10 Abtastungen vorliegen. Dadurch erfolgt die Zündung des Luftsacks frühestens 10 Millisekunden nach
38
Über die Physik des Aufpralls
dem Kontakt. Hinzu kommt eine Aufblasdauer des Sacks von etwa 30 ms. Dadurch beginnt die Verzögerung des Insassen erst etwa ta = 40 ms nach dem
Kontakt. Bezieht man diese Zeit ta in die Abschätzung der maximalen Aufprallgeschwindigkeit mit ein, so ergibt sich der Zusammenhang:
vmax
>= amax smax ta vmax (19)
Ein ta von 40 ms verringert die maximal abbaubare Geschwindigkeit von
108 km/h auf 73 km/h. Bezogen auf die kinetische Energie ist dies weniger
als die Hälfte. Dadurch wird deutlich, welche Sicherheitsreserven durch die
verspätete Zündung verschenkt werden, oder vielmehr welcher Sicherheitsgewinn durch eine vorzeitige Auslösung erzielt werden kann. Abbildung 18
zeigt den Zusammenhang zwischen der Auslöseverzögerung ta und der maximal abzufangenden Geschwindigkeit vmax .
vmax [km/h]
120
100
80
60
40
20
20
40
60
80
100
t a [ms]
Abbildung 18: Maximale Aufprallgeschwindigkeit in Abhängigkeit von ta
Leider erfolgt der Geschwindigkeitsabbau meist nicht mit konstanter Verzögerung sondern sehr ungleichmässig. Abbildung 19 zeigt drei mögliche Verzögerungsverläufe eines Kopfes bei einem Frontalaufprall mit 50 km/h. Die
erste Kurve zeigt die gleichmäßige Verzögerung. Die anderen beiden stammen
aus Messungen mit menschenähnlichen Puppen, sogenannten Dummys. Beim
nicht angegurteten Dummy verlagert sich der Kopf fast ungebremst einen Meter nach vorn. Schlägt er dann auf das Lenkrad auf, treten Beschleunigungen
von mehreren 100 g auf. Der HIC-Grenzwert wird weit überschritten. In einem modernen PKW mit Gurtstraffer und Luftsack tritt ein Höchstwert von
30 g auf, ist also für einen gesunden Menschen ungefährlich.
39
Version vom 30. August 2000
50 a [g]
40
30
20
10
50 a [g]
40
30
20
s [cm] 10
20 40 60 80 100
Ideal
50 a [g]
40
30
20
s [cm] 10
20 40 60 80 100
s [cm]
20 40 60 80 100
Ohne Gurt und Luftsack Mit Gurt und Luftsack
Abbildung 19: Verzögerung eines Dummykopfs
Alle Bestrebungen zur Erhöhung der passiven Sicherheit in Kraftfahrzeugen
zielen unter anderem darauf ab, die Bewegungsenergie des Insassen mit möglichst kleinen Beschleunigungsspitzen abzubauen.
3.2.2 Vorverlagerung des Insassen
Maßgebend für die rechtzeitige Zündung des Prallsacks ist die Vorverlagerung
des Insassen. Bei einem Frontaufprall verlagert sich der Kopf unweigerlich
in den Entfaltungsbereich des Prallsacks. Der Prallsack muss schon vorher
vollständig entfaltet sein.
Der Zeitpunkt der spätesten möglichen Zündung hängt ab von der Geschwindigkeit, der Charakteristik der Verformung und dem Abstand des Fahrers zum
Lenkrad, bzw. des Beifahrers zum Handschuhfach. Betrachtet man den Insassen als freie ungebremste Masse innerhalb der Fahrgastzelle, so berechnet sich
die Vorverlagerung sv durch die Formel:
sv t v0 t s t (20)
Anmerkung: Bei einem Aufprall ist die Verzögerung der Fahrgastzelle so
hoch, dass die Kraft, mit der sich der Fahrer am Lenkrad abstützt, nicht ins Gewicht fällt. Ein Dreipunktgurt mit Gurtstraffer hält zwar den Oberkörper des
Insassen weitgehend zurück, der Kopf verlagert sich jedoch die ersten Zentimeter ungebremst nach vorn. Daher ist dieses Modell eine gute Näherung für
die anfängliche Bewegung.
Bei einer weichen Knautschzone verlagert sich der Insasse langsam nach vorn.
Bei einer sehr harten Front verlagert er sich annähernd mit der Aufprallgeschwindigkeit nach vorn. Diese beiden Extrema erlauben eine Eingrenzung
40
Über die Physik des Aufpralls
s [cm]
20
s [cm]
20
s [cm]
20
10
10
10
20
40
60
80
100
t [ms]
20
30 km/h Frontal
40
60
80
100
t [ms]
50 km/h Frontal
20
40
60
80
100
t [ms]
70 km/h Frontal
Abbildung 20: Vorverlagerung des Insassen
der tatsächlichen Bewegung. Abbildung 20 zeigt die Vorverlagerung sv t bei
verschiedenen Geschwindigkeiten. Die Verzögerungscharakteristik entspricht
den Messwerten des echten Fahrzeugs 6. Die Ursprungsgerade zeigt die Vorverlagerung, hätte das Fahrzeug keine Knautschzone. Parallel dazu verläuft
die Gerade, die sich aus der weichsten denkbbaren Knautschzone ergibt. Das
bedeutet, dass sich das Fahrzeug ohne Geschwindigkeitsverlust um 65 cm verformt und dann schlagartig zum Stehen kommt. Zwischen diesen beiden Geraden liegt die tatsächliche Kurve aller Fahrzeuge, solange deren Verformung
kleiner als 65 cm bleibt.
3.2.3 Zündzeitpunkt
Der Prallsack muss vollständig entfaltet sein, wenn der Kopf des Passagiers in
die Entfaltungszone eintaucht. Mit der vorhergehenden Abschätzung kann nun
auch der Zeitpunkt der spätesten Auslösung eingegrenzt werden. Es sei smax
die weitestmögliche Vorverlagerung und dmax die maximale Verformung des
Fahrzeugs, hier 65 cm. Der Zeitpunkt t, an dem die maximale Vorverlagerung
erreicht wird, liegt im Intervall:
smax
v0
tmax smax dmax
v0
(21)
Der Abstand zwischen Entfaltungszone und Insasse vor der Kollision ist unterschiedlich groß. Bei großen Männern in zurückgelehnter Haltung kann er
fast 20 cm betragen. Bei kleinen Personen ist er teilweise sehr gering und kann
sogar negativ werden. Dass heißt, der Insasse (oder häufiger die Insassin) befindet sich schon vor der Kollision in der Entfaltungszone. Oft geschieht das
41
Version vom 30. August 2000
auch durch Nachvornebeugen des Insassen, beispielsweise wenn sich der Beifahrer einen Schuh bindet. Bei dieser sogenannten „Out-of-Position“-Situation
(OOP) muss die Auslösung unterdrückt werden oder der Luftsack mit geringerer Füllung gezündet werden. Die OOP-Erkennung kann mit zusätzlichem
technischen Aufwand erfolgen und wird bereits eingesetzt.
Für die theoretischen Berechnungen wird von einer maximalen Vorverlagerung von 10 cm, 12,5 cm und 20 cm ausgegangen. Aus den Kurven in Abbildung 20 lassen sich die spätesten Zündzeitpunkte ablesen. Sie sind in Abbildung 21 aufgezählt.
v0
30 km/h
50 km/h
70 km/h
10 cm
53 ms
45 ms
38 ms
smax
12,5 cm
58 ms
48 ms
40 ms
20 cm
73 ms
54 ms
44 ms
Abbildung 21: Späteste Zündzeitpunkte (Fahrzeug 6)
Interessant hierbei ist, dass die Größe des Insassen, also die maximale Vorverlagerung, einen verhältnismäßig kleinen Einfluss auf die Auslösezeit hat.
Insbesondere gilt das bei stärkeren Unfällen.
In den folgenden Kapiteln wird smax 12 5 cm verwendet. Dies ist der Durchschnittswert, der von Fahrzeugherstellern angewandt wird [20].
Abbildung 22 zeigt die Zündzeitpunkte der verschiedenen Knautschzonen in
Abhängigkeit der Aufprallgeschwindigkeit v0 . Mehrere Eigenschaften sind zu
beobachten. Bei sehr kleinem v0 bis etwa 10 km/h verhält sich die Vorverlagerung wie bei einem unverformbaren Fahrzeug. Die untere Annäherungskurve
ist smax v0 . Bei sehr hohen Geschwindigkeiten, hier etwa ab 70 km/h, fällt die
Art der Verformung kaum noch ins Gewicht. Die Kurve nähert sich der oberen
Kurve smax dmax / v0 an.
Eine kleine Kuriosität lässt sich ebenfalls aus dem Schaubild ablesen. Bei
Fahrzeug 5 und 6 fällt die Kurve nicht monoton, wie man erwarten könnte. Bei Fahrzeug 6 hat der Luftsack bei 35 km h mehr Zeit zum Aufblasen,
als bei 30 km h. Das ist kein Rechenfehler der Simulation. Es ist damit zu
42
Über die Physik des Aufpralls
t [ms]
100
t [ms]
100
t [ms]
100
80
80
80
60
60
60
40
40
40
20
20
v0 [km/h]
20
40
60
80
100
v0 [km/h]
20
Fahrzeug 1
40
60
80
20
100
Fahrzeug 2
t [ms]
100
80
80
60
60
60
40
40
40
20
20
40
60
80
Fahrzeug 4
100
60
80
100
t [ms]
100
80
v0 [km/h]
40
Fahrzeug 3
t [ms]
100
20
v0 [km/h]
20
v0 [km/h]
20
40
60
80
Fahrzeug 5
100
20
v0 [km/h]
20
40
60
80
100
Fahrzeug 6
Abbildung 22: Zündzeitpunkte bei verschiedenen Knautschzonen
erklären, dass der Geschwindigkeitsabbau nicht proportional zur Energie ist,
sondern zu deren Wurzel. Bei höherer Geschwindigkeit wird dadurch bei der
Verformung oder dem Bruch der harten Stoßstange weniger Geschwindigkeit
abgebaut. Bei den nachfolgenden „Weichteilen“, bei denen die Verzögerung
geringer ist, wird die Kabine weniger abgebremst und bewegt sich dadurch
zusammen mit dem Insassen nach vorn. Dieser Effekt tritt immer auf, wenn
die Kraft während der Verformung nicht monoton zunimmt. Wie man sieht,
ist dieser Effekt jedoch sehr gering, bezogen auf das Gesamtverhalten.
Ausserdem ist zu beobachten, dass das Gesamtverhalten der Zündzeitpunkte
bei allen betrachteten Kraftkennlinien sehr ähnlich ist. Es bietet sich daher an,
die Kurven durch einfache Gleichungen anzunähern.
Die Kurve des Modells verläuft für kleine
Geschwindigkeiten v0 wie smax v0
und schmiegt sich dann asymptotisch an smax dmax / v0 an. Als Annäherung
für die Kurve bietet es sich an, einen gewichteten Durchschnitt der beiden Annäherungskurven zu verwenden. Die Gewichtung für die erste Anschmiegkurve kann durch eine Exponentialfunktion mit negativem Exponenten festgelegt
43
Version vom 30. August 2000
werden bλv0 . Die Gewichtung für die Zweite ist entsprechend 1 bλv0 . Die
Parameter λ und b werden so bestimmt, dass die quadratische Abweichung
zur modellierten Funktion minimal ist. Es ergibt sich für λ 1 vmax und für
b 5 1. Als Näherungsformel ergibt sich:
tmax
v0
b vmax
smax
v0
v0
1 b vmax smax dmax
v0
(22)
Ausgehend von dieser Formel lassen sich verschiedene Fahrzeugparameter simulieren. Abbildung 23 zeigt die Zündzeitpunkte für drei verschiedene Fahrzeuge. Das erste steht für einen Kleinwagen mit maximaler Verformungszone
von dmax 35 cm. Diese Verformung wird bereits bei vmax 45 km h erreicht.
Die zweite Kurve entspricht den Fahrzeugen des bisherigen Modells. Die dritte Kurve simuliert einen großen Wagen mit einer Verformungszone von 1 m.
t [ms]
100
t [ms]
100
t [ms]
100
80
80
80
60
60
60
40
40
40
20
20
20
40
60
v0 [km/h]
80 100
smax 12 cm
dmax 35 cm
vmax 45 km h
20
40
60
v0 [km/h]
80 100
smax 12 cm
dmax 65 cm
vmax 55 km h
20
20
40
60
v0 [km/h]
80 100
smax 12 cm
dmax 100 cm
vmax 65 km h
Abbildung 23: Annäherung des Zündzeitpunkts
Es ist deutlich erkennbar, dass eine längere Fahrzeugfront die Sicherheit sehr
stark erhöht.
Das vorgestellte Modell lässt nun Folgerungen für die Auslegung der technischen Systeme zu. Sie werden nun kurz erläutert.
44
Über die Physik des Aufpralls
3.3 Folgerungen
3.3.1 Wie sieht die ideale Knautschzone aus?
Die ideale Knautschzone ist mehrere Meter lang und verformt sich ausschließlich elastisch. Diese Lösung scheitert leider an den technischen Gegebenheiten.
Betrachtet man ein paar einfache Nebenbedingungen, so wird man feststellen:
eine ideale Knautschzone gibt es nicht.
Das Idealverhalten des Fahrzeugs hängt zum einen von den verwendeten
Rückhaltesystemen ab. Fahrzeuge mit Luftsack ohne Kollisionsvorerkennung
sollten sich zu Beginn weicher verhalten, damit der Luftsack sich entfalten
kann, bevor die Vorverlagerung des Insassen beginnt. Bei einer Vorerkennung
kann sich der Luftsack schon vorher entfalten. Die Verzögerung des Insassen
sollte dann so früh wie möglich erfolgen. Dies legt eine steifere Verformungszone nahe.
Außerdem hängt das Idealverhalten aber auch von der Geschwindigkeit des
Aufpralls ab. Man kann die Bauweise so optimieren, dass ein 70 km/hAufprall für den Insassen überlebbar würde. Für einen Unfall mit 35 km/h ist
das Verformungsverhalten dann möglicherweise nicht ideal. Das Verletzungsrisiko ist höher als wenn nach diesem Unfalltyp optimiert würde.
Zudem gibt es weitere Randbedingungen, die berücksichtigt werden müssen.
Beispielsweise sollten schwächere Kollisionen kostengünstig reparierbar sein
und nicht zum Totalschaden führen.
Grundsätzlich gilt die Faustregel, eine harte Knautschzone ist bei hohen Aufprallgeschwindigkeiten besser, da mehr Energie aufgenommen werden kann,
bevor die Fahrgastzelle verformt wird. Eine weiche Knautschzone kann bei
leichteren Unfällen den Insassen sanfter abfangen. Das Idealverhalten hängt
somit von den Gewichtungen der verschiedenen Situationen ab.
3.3.2 Vorherige Auslösung
Die Entfaltung des Luftsacks dauert etwa 30 ms. Addiert man noch 10 ms für
die Entscheidung, so dauert die Vorbereitung des Luftsacks etwa 40 ms. Ein
45
Version vom 30. August 2000
Punkt mit der Geschwindigkeit 80 km/h legt in dieser Zeit fast 90 cm zurück.
Wird der Prallsack erst zu Beginn des Aufpralls oder sogar erst nach mehreren Millisekunden gezündet, bewegt sich der Insasse ungebremst weiter. Das
heisst, bevor die Verzögerung des Insassen durch den Luftsack einsetzt, wurde
der größere Teil des Verzögerungsraums bereits vergeudet.
Diese Überlegung legt natürlich nahe, den Prallsack schon vorher zu zünden. Soll er so gezündet werden, dass er zu Beginn der Kollision entfaltet
ist, entspricht das bei 80 km/h einer Zündung bei einem Abstand zur Mauer
von 67 cm. Das dazu notwendige technische System muss also den Raum vor
dem Fahrzeug in einem Abstand von etwa 1 m erfassen. Die Möglichkeiten
und die Zuverlässigkeit von Systemen, die bereits vor dem Aufprall auslösen,
werden derzeit erforscht, sind jedoch noch nicht im Einsatz.
3.3.3 Anmerkung: v-Quadrat
In einer Vielzahl von mechanischen Berechnungen geht die Geschwindigkeit
quadratisch ein. Die kinetische Energie enthält v-Quadrat ebenso wie der Luftwiderstand, die Länge des Bremsweges und die Kraft, die ein Fahrzeug aus
der Kurve treibt. Auch die Schwere von Kollisionen steigt mit dem Quadrat
der Geschwindigkeit. Die Berechnungen dieses Kapitels sind teilweise grob,
also mit abgeschätzten Daten durchgeführt. Die Länge der Knautschzone ist
bei großen Fahrzeugen um die Hälfte länger, als hier angenommen. Auch die
Masse hängt vom Beladungszustand und der Fahrzeugausstattung ab. Diese
Größen gehen jedoch nur in linearer Form ein. Die Aussagen bezüglich der
Geschwindigkeit sind daher wesentlich genauer als die eingehenden Parameter.
Eine Frontalkollision mit 70 km/h kann durch die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen für den Insassen überlebbar sein. Bei 140 km/h, also der vierfachen Bewegungsenergie, werden jedoch alle Sicherheitsmaßnahmen scheitern.
3.3.4 Zusammenfassung
Die vorgestellte deduktive Vorgehensweise zur Modellierung des Fahrzeugs
erlaubt auf rein theoretischem Wege eine Vielzahl von praktischen Berech46
Über die Physik des Aufpralls
nungen. Diese stimmen weitgehend mit den Erfahrungswerten überein. Wesentliche Ergebnisse sind:
1. Die Kollisionsdauer ist, abhängig von Fahrzeugtyp und Kollisionsart,
sehr unterschiedlich.
2. Die Verzögerung eines Fahrzeugs zu Beginn einer Kollision steht nicht
in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschwindigkeit und der Kollisionsart.
3. Die Beschleunigungssignale unterschiedlicher Kollisionsarten können
in der Anfangsphase identisch sein.
4. Ab 70 km/h Aufprallgeschwindigkeit versagen derzeitige Rückhaltesysteme.
5. Eine Auslösung des Luftsacks vor Beginn der Kollision kann das Überleben bei 1,4-facher Geschwindigkeit, also bis zur doppelten kinetischen Energie, ermöglichen.
6. Der Einfluss der Größe des Insassen auf die Auslösezeit ist verhältnismäßig klein.
Verschiedene Ergebnisse dieses Kapitels werden in den weiteren Untersuchungen verwendet. Im folgenden Kapitel wird das Wunschverhalten des Systems aus diesen Erkenntnissen abgeleitet. Daraus ergibt sich die Bewertungsfunktion, die für die spätere Optimierung des Auslösealgorithmus maßgebend
ist. Der verwendete Algorithmus (Kapitel 6) wird ebenfalls aus den Eigenschaften abgeleitet. Für die Robustheitsuntersuchungen (Kapitel 7) werden
nach diesem Modell künstliche Kollisionen berechnet, um die Stichprobe zu
vergrößern.
47
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