Auszug aus dem Jahrbuch der Akademie forum masonicum, Jahrgang XVII (2004) Verlag Die Bauhütte: Bonn 2005 Akademietagung in Bad Oeynhausen in Zusammenarbeit mit der Loge Zur heilbringenden Quelle (Bad Oeynhausen) Individualismus Ende oder Wende des Religiösen Petra Uphoff Islam: Individualisierung versus Kollektivierung als soziales und politisches Problem Zusammenfassung Die islamische Ethik stellt die Erfüllung der Gebote Gottes im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben – Bereiche, die nach allgemeiner islamischer Auffassung nicht getrennt sind – als gemeinschaftliches und gemeinschaftsbildendes Prinzip an vorderste Stelle. Auch im engeren Bereich der religiösen Pflichten sind der individuellen Ausformung aufgrund der starken Formalisierung des Islams enge Grenzen gesetzt; so sind alle fünf Glaubenspflichten – Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Wallfahrt und Almosen – durch Vorschriften durchgängig geregelt. Mystische islamische Richtungen, die wie z.B. die Sufis eine persönliche Gotteserfahrung suchen, werden zwiespältig wahrgenommen: der Verehrung ihrer durch Volksmassen steht das Mißtrauen der Orthodoxie gegenüber. Gebildete oder reformorientierte Muslime riskieren durch eigene Interpretationen des Korans oder durch alternative Entwürfe für eine islamische offenen Gesellschaft mancherorts den Vorwurf der Blasphemie, Verfolgung und Existenzgefährdung. Häufig werden überkommene gesellschaftliche Normen und traditionelle Moral- und Wertevorstellungen zwar weiterhin formal anerkannt und respektiert, praktisch jedoch mehr oder weniger offen umgangen. Einem extremen oder öffentlichen Individualismus stehen in einigen islamischen Ländern Gesetze entgegen; dies betrifft die v.a. die Bereiche der Religions-, Meinungs- und Berufsfreiheit und die Gleichberechtigung von Frauen. Für viele Jugendliche in der Diaspora spielt die Religion, neben der Sippenzugehörigkeit, als einigende Kraft eine Rolle, selbst dort, wo sie sich in ihrem äußeren Auftreten der Mehrheitsgesellschaft aufgeschlossen zeigen. Individualisierung scheint vor allem finanziell, sozial und bildungsbedingt zu sein. Unterprivilegierten verspricht die Einbettung in die traditionsgeprägte, solidarische Religionsgemeinschaft Zugehörigkeit und Sicherheit. Islamisten nutzen diese Bedürfnislage im Nahen Osten, in Asien, Afrika und Europa, um etwa über die finanzielle Förderung von Einzelpersonen oder Familien, einen streng gelebten Islam zu etablieren. Gesellschaftliche Missstände, Fehlen bürgerlicher Freiheiten, Angst vor Restriktionen und Benachteiligungen setzen in vielen islamischen Gesellschaften Plura- 132 Petra Uphoff lismus und öffentlicher Selbstverwirklichung Grenzen. Das kollektive Verständnis und die nach wie vor prägende Rolle des Islam scheinen gesellschaftlich vielerorts weiterhin derart verankert zu sein, dass sie alternative Sicht- und Lebensweisen kaum oder nur langsam beeinflussen. In welchem Maße individuelle Glaubens- und Lebensgestaltung auf das Private begrenzt bleiben oder aber an Einfluss auf die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zunehmen werden, bleibt abzuwarten. Der Philosoph Karel Mácha beschreibt Individualismus als eine gesellschaftliche Erscheinung, und nicht nur eine zufällige, individuelle Eigenschaft eines Individuums.1 „Individualismus ist bestimmt durch das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft sowie materielle Gegebenheiten.“ 2 Auch wenn man nicht von „dem Islam“ reden kann, ist für islamische Gesellschaften eine Grundorientierung an islamischen Werten und Maßstäben charakteristisch. Islam spielt insofern eine Rolle, als dass nach allgemeiner Auffassung keine Trennung zwischen Religion, Politik und Gesellschaftskonzeption vorgesehen ist; dem Islam kommt daher eine einende wie auch prägende Funktion zu. Die islamische Ethik stellt die Erfüllung der Gebote Gottes im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben als gemeinschaftliches und gemeinschaftsbildendes Prinzip an vorderste Stelle. Eine religiöse Hierarchie mit einem mächtigen Klerus oder ein Kastensystem sieht der Islam nicht vor. Theoretisch ist jeder Gläubige ein Gleicher unter Gleichen. Davon abgesehen darf man jedoch den Stellenwert der „Sippe“ als gesellschaftlichen Überbau in islamischen Gesellschaften nicht unterschätzen. Solidaritätspflicht ist traditionell verquickt mit hierarchischen Gesellschaftsstrukturen, die jedem Mitglied eine feste Stellung zuweisen. Allerdings löst sich dies heute in unterschiedlichem Grad auf. Vor allem in städtischen, wohlhabenderen und gebildeten Gesellschaftsschichten ist eine zunehmende Individualisierung und Lösung von alten Werten und Traditionen feststellbar – in der Türkei, dem Libanon und Iran etwa wesentlich stärker als in Jemen oder Afghanistan. Dennoch hat die Religionszugehörigkeit und Traditionswahrung nach wie vor in Politik und Wirtschaft, wie auch in persönlichen Entscheidungen, oft weiterhin große Bedeutung. 1 2 Karel Mácha: Individuum und Gesellschaft. Berlin 1964, S.14 Karel Mácha: Individuum und Gesellschaft. Berlin 1964, S.15. Islam: Individualisierung versus Kollektivierung 133 Der Islam ist eine in vielen Bereichen stark formalisierte Religion, die individuelle Ausformungen nicht in den Vordergrund stellt. Dies wird etwa in den fünf Grundpflichten, den so genannten Arkan 3, deutlich. Zwar ist der Gläubige alleine Gott Rechenschaft schuldig, doch hat in der islamischen Ethik immer wieder die Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft großes Gewicht. Der Tagesablauf eines Gläubigen ist geprägt von den fünf vorgeschriebenen Gebetszeiten. Die Gebetszeit läuft nach einem festen Ritus ab, in dem das persönliche Gebet wenig Raum einnimmt. Wenn möglich sollen Männer gemeinschaftlich beten – vor allem freitags in der Moschee. Auch die Hajj, die muslimische Wallfahrt, verläuft um den 9. des Monats Dhu l-hijja nach einem festgelegten, vorgeschriebenen Ritual ab. Für Almosen gibt es bezüglich Höhe und Zielgruppe Vorgaben. Das Ramadanfasten ist ein gemeinschaftliches Fest, das den Zusammenhalt stärken soll und zu dem es detaillierte Richtlinien gibt. Der Koran und die Überlieferungen der Prophetengefährten enthalten dezidiert Angaben zu rechtlichen Fragen sowie zu allen Bereichen des alltäglichen und persönlichen Lebens. Dieser feste Rahmen kann dem Leben des Einzelnen Struktur sowie Halt geben, hat einende Wirkung und gewährleistet eine kollektive Identitätsbildung. Die Glaubenspraxis soll allerdings keinesfalls überfordern oder zum Nachteil gereichen. Die Wahrung des äußeren Anscheins ermöglicht unterdessen, dass unbemerkt im Privaten oder sogar heimlich abweichende Werte und Lebensweisen gepflegt werden können.4 Neben dem weit verbreiteten sunnitischen Mehrheitsislam und dem imamitischen Schiitentum gibt es natürlich alternative, zumeist kleinere religiöse Gruppierungen. Sie unterscheiden sich etwa in Ritus, in der Pflichtenlehre, zum Teil im Glaubensbekenntnis und der Heili3 4 Tawhid – das Bekenntnis des einen Gottes, Salat – Gebet, Saum – Fasten, Hajj – Wallfahrt, Zakat – Almosen. Vor allem von Ländern wie Saudi Arabien, Iran oder auch Ägypten ist bekannt, dass viele nach außen hin den Schein des Religiösen wahren, im Privaten jedoch geradezu „unislamisch“ leben. Eine andere, extreme Ausformung waren etwa Scheinkonversionen unter Zwang oder aus Pragmatismus. Vor allem in Persien und Nordafrika gab es über die Jahrhunderte unter islamischer Herrschaft immer wieder Phasen, in denen vor allem Juden oder Christen konvertierten, heimlich aber ihre ursprüngliche Religion weiter praktizierten und teils über Generationen weitergaben. 134 Petra Uphoff genverehrung. Oftmals verheimlichten und verheimlichen heute noch Angehörige dieser Richtungen aus Angst vor Diskriminierung und Verfolgung ihre Religionszugehörigkeit. Das religiöse Bekenntnis ist in vielen Regionen ethnisch gebunden. Mit Ethnien wie auch Religionsgruppen wird in den verschiedenen Ländern staatlicherseits ganz unterschiedlich umgegangen. In Iran etwa werden die Zoroastrier als persische Identitätsträger geschätzt und respektiert, die türkischen Kurden hingegen kämpfen nach wie vor um Anerkennung und Gleichberechtigung. Gleichermaßen variiert die Toleranz gegenüber anderen Religionen. In Iran werden Bahais per Dekret wegen ihres religiösen Bekenntnisses jegliche Bürgerrechte verweigert, in der Türkei hingegen sollen künftig die Angaben über Religionszugehörigkeit aus den Ausweisen verschwinden. Syrien hat wiederum ein Staatsoberhaupt, das als Alawit 5 einer religiösen islamischen Minderheit angehört. Sehr zwiespältig werden etwa Mystiker – so genannte Sufis – wahrgenommen. Derzeit haben sie in westlichen wie auch islamischen Gesellschaften starken Zulauf. Sie sind meist in einer hierarchischen Bruderschaft organisiert, die einem Scheich bzw. Pir 6 unterstellt ist. Über Enthaltung, Meditation und manchmal Kasteiung suchen sie persönliche Annäherung an Gott. Einige von ihnen werden von breiten Volksmassen besonders verehrt, ihre Schreine werden nach ihrem Tod zu Pilgerstätten. Von der Orthodoxie hingegen werden sie in der Regel mit Misstrauen betrachtet und gerne als Häretiker verfemt. Viele gebildete oder reformorientierte Muslime suchen nach einer ganz eigenen Interpretation des Koran und vertreten unterschiedliche Modelle einer islamischen, offenen Gesellschaft. Allerdings kann solch eine Haltung mancherorts den Vorwurf der Blasphemie hervorrufen und somit zu Verfolgung und Existenzgefährdung führen. Die Möglichkeit, einen individualisierten Islam zu realisieren oder sich vom Religiösen teils bzw. gänzlich abzukehren, scheint überwiegend von sozialen und finanziellen Rahmendbedingungen abzuhängen sowie von dem Land, in dem man lebt und sich äußert. 5 6 Nicht mit den vorwiegend türkischen Aleviten zu verwechseln. Etwa „Alter, Oberhaupt, Sektengründer“. Islam: Individualisierung versus Kollektivierung 135 Die Vernachlässigung der Religion kann in vielen Ländern unter Umständen wirtschaftliche und politische Konsequenzen haben. Eine Moschee zu stiften, zumindest äußerlich Muslimtum zu leben oder etwa die Frauen der Familie zu verschleiern, bringt unter Umständen durchaus wirtschaftliche und politische Vorteile mit sich. Im politischen Denken gewannen im letzen Jahrhundert in islamischen Ländern islambegründete Konzeptionen an Bedeutung, verstärkt, nachdem kapitalistische, kommunistische bzw. sozialistische Gesellschaftsmodelle und Lebensformen an Popularität und Glaubwürdigkeit verloren hatten. Der Islam, entweder rückwärtsgewandt verklärt oder als zukunftsorientiertes, innovatives Gesellschaftsmodell, wird dem Westlichen als ideale Alternative entgegengesetzt. Neue Wege, basierend auf alten Werten, die weitgehend auf Bejahung der koranischen Vorgaben, der Scharia, auf Beugen unter den Willen Gottes und brüderlicher Solidarität beruhen, werden gesucht. Der Westen wird gerne mit Egoismus und Werteverlust, Mangel and gesellschaftlicher Solidarität, Verantwortung und Moral gleichgesetzt. Eine auf dem Islam basierende Gesellschaftsordnung wird als Möglichkeit betrachtet, sich vor Werte-, Moral- und Identitätsverlust zu schützen sowie aufgrund islamischer Maßgaben eine neue, bessere Gesellschaft zu schaffen. Neben extremistisch-islamischen Konzepten stehen alternative, unterschiedlich liberale und innovative Bestrebungen, denen jedoch oftmals die Unterstützung und Förderung seitens des Staates, des Establishment und der Orthodoxie fehlen. Die Umsetzung eines islamischen Staatsmodells wurde 1979 nach der islamischen Revolution in Iran versucht. In Ländern wie Pakistan, Nigeria (den derzeit islamischen Provinzen) oder Ägypten orientieren sich in den letzten Jahren Zivil-, Familienrecht und Teile des Wirtschaftsrechts verstärkt wieder an der Scharia, die dabei partiell sehr fundamentalistisch und rigide ausgelegt wird. Zumeist divergieren in den verschiedenen Ländern die islamischen und islamistischen Ideen. Besonders in den 50er Jahren, zur Zeit Nassers, und in den 80er Jahren, nach der iranischen, so genannten islamischen Revolution, hatten panislamische Konzepte Hochkonjunktur. Sie konnten sich bislang jedoch nicht etablieren. Übrigens zielten sie nicht auf eine 136 Petra Uphoff überregionale und ethnische Gleichschaltung ab. Als verheißungsvolles Ziel lockte und lockt noch heute die Möglichkeit, auf globale Machtverhältnisse Einfluss zu nehmen und regionale Probleme gemeinschaftlich anzugehen. Einigung und einheitliches Auftreten sind jedoch bis heute nicht gelungen. Für westliche Betrachter formt die verschleierte Frau – schwarz und unterdrückt oder in bunter Haremsseide – das Klischeebild vom Orient, der mit Islam assoziiert wird. Iran bzw. Saudi Arabien verkörpern dem äußeren Anschein nach Unterdrückung der Frau und einen bedrohlichen, extremistischen Islam. Gerade aber diese beiden Länder sind vielen Muslimen als Promotor von Fundamentalismus und Terrorismus suspekt. Den einheitlichen Islam einer Ausprägung gibt es, wie gesagt, nicht. Der Islam tritt in Jakarta völlig anders in Erscheinung als in Teheran, Kairo, Nairobi, Istanbul, Paris, Rotterdam oder Köln. Äußerlich lässt sich tatsächlich manches an Rechten und am Erscheinungsbild der Frauen ausmachen. In Saudia Arabien darf eine Frau beispielsweise nicht unverschleiert und unbegleitet das Haus verlassen. Eine Muslimin in Beirut oder Köln unterliegt hier normalerweise keinerlei Einschränkungen. Entsprechend ist etwa das Leben eines Muslims in ländlichen und wenig privilegierten Regionen anders von vorherrschenden Meinungen, Großfamilie, einer kollektiven Religiosität und Dorfstrukturen bestimmt, als das Leben eines gebildeten, wohlhabenden Städters. An Letzteren ist das Zeitalter der Medien, der Globalisierung und des zunehmenden Individualismus keineswegs spurlos vorbeigegangen. Nationale Größen aus Literatur-, Pop- und Filmkultur werden zu neuen Vorbildern, die oft neben westlichen Ikonen verehrt und nachgeahmt werden. Eigene Interessen und individuelle Lebensgestaltungen formen sich stärker aus als in vorherigen Generationen. Je nach gesellschaftlichen bzw. sozialen Möglichkeiten studiert man im Ausland, Polygamie hat stark abgenommen, selbst dort wo sie nicht gesetzlich verboten ist, die Kleinfamilie ist auf dem Vormarsch. Promiskuität ist, je nach Land, gesellschaftlicher Schicht bzw. individueller Distanz zu Traditionen, nicht fremd. Nach wie vor ist sie jedoch vielerorts so verpönt, dass vor allem Frauen sie kaschieren bzw. verheimlichen müssen. Trotzdem wird sie oft selbst in den Ländern praktiziert, in denen sie strafbar ist. Überkommene gesellschaftliche Normen und traditionelle Moral- und Wertevorstellungen werden Islam: Individualisierung versus Kollektivierung 137 zwar weiterhin anerkannt und respektiert, von vielen aber mehr oder weniger offen umgangen. Traditionen und religiöse Werte haben zumeist dergestalt Geltung, dass nach außen hin Zugeständnisse an sie gemacht werden. Sie prägen nach wie vor politische und gesellschaftliche Korrektheit und sind in vielen Ländern Grundlage für Gesetze, die im Zweifelsfall Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Freiheit und ihrer Individualisierung beschränken können. Viele Muslime gehen oft wesentlich pragmatischer und toleranter mit anderem Glauben, anderen Werten und Lebensformen um, als die staatlichen Institutionen oder der Gesetzgeber. Einem extremen oder öffentlichen Individualismus stehen in einigen islamischen Ländern ganz klar Gesetze entgegen. Von Religionsfreiheit kann beispielsweise vielerorts nicht die Rede sein: Der Religionswechsel vom Islam weg, Häresie, Blasphemie und Apostasie sind in vielen islamischen Ländern direkt oder indirekt ein Gesetzesverstoß. Einerseits werden diese Gesetze nicht mehr überall bzw. buchstabengetreu umgesetzt, andererseits bzw. andernorts werden sie mit Strenge befolgt und nicht selten instrumentalisiert. Bekannt sind besonders Beispiele aus Pakistan: die Beleidigung Mohammeds (dazu kann das Anzweifeln seines gottgesandten Prophetentums gehören) zieht als Blasphemie die Todesstrafe nach sich. Derartige Anschuldigungen lassen sich als effektives Mittel zur Ausschaltung unliebsamer politischer oder wirtschaftlicher Opponenten einsetzen. Der Zugang zu gewissen Ämtern und Posten – in Bereichen des Militärs, der Politik oder im Justizwesen – ist in manchen islamischen Ländern per Dekret nur muslimischen Männern möglich. Für Frauen und Andersgläubige ist der Aufstieg, dort wo diese Gesetze nicht existieren, traditionsbedingt schwer. Religionsbasierte Gesetze schränken Gleichberechtigung und individuelle Entfaltung vor allem für Frauen ein. Nach wie vor gibt es Familien, die die „Ehre“ ihrer Tochter, die zugleich als ihre gilt, dadurch zu schützen suchen, dass sie deren Bewegungsfreiheit teils oder völlig einschränken. Manche Frauen leben ihre Interessen und Bedürfnisse heimlich oder unter schweigender Duldung und wissendem Wegschauen der Angehörigen aus. Andere Frauen nutzen den Weg der Bildung, eines demonstrativen Konformismus und der genauen 138 Petra Uphoff Kenntnis ihrer religiösen Rechte als Rechtfertigung ihrer Selbstverwirklichung, etwa bezogen auf Bildung, Beruf und Karriere.7 Die Ehe mit Nichtmuslimen ist Musliminnen in vielen islamischen Ländern, basierend auf dem Koran, gesetzlich verboten, in den übrigen Länden weitgehend verpönt. Ein prominentes Beispiel der Instrumentalisierung dieses islamischen Ehegesetzes, ist die Zwangsscheidung des Ägypters Abu Zaid, dessen Äußerungen zur Interpretierbarkeit des Korans die Anschuldigung der Häresie nach sich zog. Daraufhin wurde er gerichtlich von seiner Frau geschieden. Vorwürfe der Häresie und des unislamischen Verhaltens dienen leicht als Mittel der Diskreditierung und des Rufmords. Einer freien, individualistischen Lebensgestaltung ist nach außen hin vielerorts durch Angst oder Gesetze Grenzen gesetzt. Indessen nimmt gerade in urbanen, gebildeten, privilegierten Kreisen die Suche nach Individualisierung des persönlichen Glaubens zu. Viele entwickeln einen „selbstgezimmerten Glauben“, teilweise bestehend aus islamischen Elementen, Praktiken und Lehren anderer Religionen, Volksglauben, Aberglauben, Joga oder Esoterik. Einige wenden sich Sekten und Jugendreligionen zu. Der monotheistische Islam bekommt „Konkurrenz“. Iran etwa beklagt einen extremen Schwund an Moscheebesuchern. Auf dem Teheraner Büchermarkt boomt Literatur zu Esoterik, Buddhismus und Oshos. Manche wenden sich dem islamischen Mystizismus zu. Viele nennen sich, je nach Land und Gesellschaftsschicht, Atheisten, wenn auch meist nicht unbedingt öffentlich-demonstrativ. Ein ganz eigener Zwiespalt scheint für Muslime, insbesondere muslimische Jugendliche, in der Diaspora zu bestehen. Der Islam prägt – auch hier zumeist abhängig von sozialer Stellung und Bildung – Identität, familiären Zusammenhalt und gesellschaftliche Zugehörigkeit zu einer ethnischen, nationalen oder religiösen Gemeinschaft. Der Bezug zur Mehrheitsgesellschaft kann sich ganz unterschiedlich ausdrücken. Sippenzugehörigkeit sowie das einende Element Religion spielen hier für viele eine Rolle. Für die einen bleibt dies ein innerer Wert, nach 7 Siehe hierzu Nilüfer Göle: Republik und Schleier. Istanbul 1991, und Gritt Klinkhammer: Moderne Formen islamischer Lebensführung. Eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitischer Türkinnen in Deutschland. Marburg 2000. Islam: Individualisierung versus Kollektivierung 139 außen sollen Outfit oder auch atheistische Bekenntnisse Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft sowie moderne Aufgeschlossenheit zeigen. Andere grenzen sich bewusst durch die äußere Erscheinung und das Ablehnen der mehrheitsgesellschaftlichen Werte ab. Bildung und soziale Zugehörigkeit spielen hier meist eine wichtige Rolle; Unterprivilegierten verspricht die Einbettung in die traditionsgeprägte, solidarische Religionsgemeinschaft Zugehörigkeit und Sicherheit. Doch gerade die Jugend wendet sich von der Religionspraxis ab.8 In der Diaspora zeichnet sich mancherorts ein Phänomen ab, dass man etwa auch unter Landflüchtigen in den Heimatländern findet. Die Bewohner eines Dorfes siedeln sich gerne gemeinsam im neuen Lebensraum an und pflegen dort die dörflichen Hierarchien, Strukturen, traditionelle sowie religiöse Werte und Lebensgewohnheiten. Dort, wie auch in der Diaspora, suchen sie kaum Kontakt zur neuen Umgebung und zur Mehrheitsgesellschaft.9 Alte Strukturen und überkommene Werte verbinden und bieten auch hier Struktur und Sicherheit. In orientalischen, afrikanischen und europäischen Gesellschaften gewinnen islamistische Organisationen an Bedeutung. Sie übernehmen in vielen Bereichen soziale und teilweise sogar staatliche Funktionen. Gruppen wie Hamas oder Hisbollah gewährleisten oftmals als Einzige soziale und medizinische Versorgung und Bildungsprogramme. Im Libanon etwa wird die schiitisch-islamistische Hisbollah (großteils von Iran finanziert) geschätzt und sogar von nichtschiitischen Bevölkerungsgruppen wegen ihres Widerstandskampfes gegen Israel gefeiert. Zugleich findet sie Anerkennung und Gefolge durch karitative und soziale Projekte. Die Hisbollah hat sich als politische Partei etabliert und wird nicht nur von Schiiten unterstützt. Ganz anders ist hingegen der Umgang mit Islamisten in Ägypten. Hier gelten sie als subversives Element und werden als unerwünschte Opposition verfolgt. Jedoch organisieren sie in vielen Regionen als Einzige die medizinische Versorgung, Bildungsprogramme und soziale Absicherung. 8 9 Von etwa 20 Jugendlichen in einer Kölner Jugendgruppe gingen zwei regelmäßig in eine Moschee. Dies wurde von den anderen Jugendlichen mit Respekt und Anerkennung wahrgenommen. In Istanbul wird ihnen nachgesagt, dass viele noch nie das Stadtzentrum gesehen hätten. 140 Petra Uphoff Ähnlich verläuft die schulische, medizinische und finanzielle Grundversorgung in vielen palästinensischen Gebieten. Die Hamas ist gebietsweise die einzige Institution, die sich kümmert – und dadurch natürlich Meinung bildet, emotionalisiert, demagogisiert und Nachwuchs rekrutiert. In Europa übernehmen islamische bzw. islamistische Organisationen wie Milli Görüsh oder algerische Islamisten soziale und finanzielle Versorgung, die von vielen Muslimen aus unterschiedlichen Beweggründen wahrgenommen wird. Manchmal sind erforderliche Angebote seitens des Staates nicht gegeben oder entsprechen nicht den Erwartungen der Muslime. Vielleicht scheint auch manchen ein Bildungsund Förderungsangebot von islamischer Seite eher ihrem Bedürfnis nach Verständnis sowie Wahrung islamischer Werte und Ehrenkodizes entgegenzukommen. Darüber hinaus verfügen viele islamische Organisationen aus diversen Quellen über Finanzmittel, die in wirtschaftlich gebeutelten europäischen Kommunen einfach nicht aufgebracht werden. Islam(ist)ische Organisationen haben in der Regel genug Geld, etwa um Frauen in behüteter, „islamkompatibler“ Form Kenntnisse in Kochen, Nähen, Sprache und ihrer Religion zu vermitteln, Jugendliche in Schule bzw. Ausbildung zu betreuen oder über Freizeitprogramme von der Straße zu holen, bei Arbeitslosigkeit und Bedürftigkeit auszuhelfen, gemeinsam die Hajj (die muslimische Wallfahrt) zu organisieren und zu finanzieren, bei der Partnersuche – oftmals im Heimatland – zu helfen, im Todesfall etwa auch eine Überführung ins Heimatland zu versichern bzw. zu finanzieren. Dass karitative oder finanzielle Hilfe unter Umständen mit religiösen Zugeständnissen, wie etwa das Tragen des Kopftuchs, verbunden ist, wird offensichtlich in Abwägung der Vorteile und aufgrund eines größeren Vertrauens zu Landsleuten und Gleichgläubigen in Kauf genommen. Es gibt allerdings auch genug Muslime, die Bedenken gegenüber diesen Vereinen äußern und die religiöse Bildung ihrer Kinder etwa lieber in Händen staatlicher Schulbehörden sehen würden als in islami(stisch)en Vereinen. Denn mit aller sozialen und karitativen Hilfe ist – je nach islamischer Organisation – selbstredend die Verbreitung eines einheitlichen, kollektiven islamischen und politischen Gedankenguts verbunden. Islamisten nutzen solche Foren im Nahen Osten, Asien und Afrika sowie in Europa, um etwa über die finanzielle Förderung Islam: Individualisierung versus Kollektivierung 141 von Einzelpersonen oder Familien, einen streng gelebten Islam zu etablieren, gesellschaftlich-politische Haltungen zu prägen und ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Den meisten islamischen Organisationen ist gemein, dass sie an hierarchischen, partriarchalen und autoritären Strukturen festhalten. Jugendlichen und Frauen wird eine feste, untergeordnete Position zugewiesen, das mittlere Management ist kaum ausgeprägt oder fehlt gänzlich. Eine einheitliche Interpretation eines kollektiven Islam findet über den Imam, Untergruppen, interne Schriften sowie soziale Kontrolle statt. Unterschiedliche Ausrichtungen diverser Organisationen zeigen sich auch hier häufig im äußeren Erscheinungsbild: Angehörige der Milli Görüsh bedienen beispielsweise stark das Stereotyp Kopftuch und Bart. Andere Gruppen suchen nach außen hin ein liberales Auftreten, viele Frauen verstecken ihr Haar unter modernen Hüten oder Kappen und Männer pflegen schon mal einen Lederjacken-Langhaar-Look.10 Dass viele Organisationen oftmals Finanzhilfe aus Pakistan, Iran, von Islamisten Algeriens und vor allem aus Saudi Arabien bekommen, ist prekär und macht eine an sich notwendige und sinnvolle Arbeit zutiefst suspekt. Leider fördern darüber hinaus manche konservativen Organisationen nicht die Integration. Viele Muslime, die sich in der Diaspora abschotten, praktizieren Traditionen und einen Islam, der hinter den Entwicklungen im Heimatland bereits weit zurückgeblieben ist. Wieder andere lösen sich ganz von Religion sowie Gruppenzugehörigkeit und achten kaum noch auf islamische Lebensweisen und Gewohnheit. Dies ändert sich dann schon einmal radikal, wenn sie das Heimatland besuchen oder ganz zurückkehren. Die Bereitschaft von Migranten zur Integration in Europa scheint von Land zu Land und teilweise sogar regionsbedingt ganz unterschiedlich zu sein. Eine Studie des Zentrums für Türkeistudien Essen hat ergeben, dass jeder 10te Türke in einer „Parallelgesellschaft“ lebt, keinen Kontakt mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft hat oder sucht. Nur etwa ein Drittel fühlt sich mit der Mehrheitsgesellschaft verbunden, hat regelmäßigen Kontakt zu Deutschen und äußert Integrationsinteresse. Ein Drittel der Migranten betrachtet sich als nicht 10 Etwa bei ATIB, siehe hierzu etwa Ursula Spuler-Stegemann: Muslime in Deutschland. Freiburg 2002, S.118. 142 Petra Uphoff integriert. Die Rückkehrbereitschaft hat sich von 2001 auf 2003 um knapp 8% von 20,7% auf 28,5% erhöht.11 Die gut integrierten und angepassten Muslime, fallen – im Gegensatz zu den extremistischen – in der Regel kaum auf und machen selten Schlagzeilen. Interessanterweise gibt es ein Gefälle zwischen den alten und neuen Bundesländern, wobei in letzteren die Integration unproblematischer von statten zu gehen scheint. Niederländische Studien zur Integrationsbereitschaft haben ein anderes Ergebnis als in Deutschland ergeben. Die überwiegende Mehrheit der Muslime in den Niederlanden ist integrationsbemüht, pflegt Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft und identifiziert sich mit den Niederlanden. Hingegen verhalten sich immer mehr niederländische Bürger ablehnend und misstrauen islamischen Mitbürgern und Einrichtungen. Die Angst vor und Gleichsetzung mit Terrorismus nimmt zu. Der Umgang mit islamischen bzw. islamistischen Organisationen ist innerhalb Europas verschieden. In den Niederlanden und der Schweiz etwa findet dahingehend eine Zusammenarbeit beispielsweise mit Milli Görüsh statt, dass man über die Wertevermittlung, Disziplinierung und Sozialarbeit der muslimischen Gruppen versucht, integrativ zu arbeiten und gemeinsam Migrations- und Jugendproblematiken zu lösen.12 In Deutschland begegnet man gerade etwa Milli Görüsh mit Misstrauen, Ablehnung und Überwachung durch den Verfassungsschutz. Eine Begründung liegt sicherlich in dem zwiespältigen Auftreten dieser, wie auch vieler anderer Organisationen, die in manchen muttersprachlichen Texten und inoffiziellen Äußerungen durchaus als demokratie- und staatsfeindlich verstanden werden können. Diese Gruppen vertreten allerdings nicht die Mehrheit der Muslime. In Deutschland fühlen sich viele Muslime von den islamischen Organisationen nicht vertreten. Die Angaben zu Vereinszugehörigen schwanken stark, so gibt Milli Görüsh eine Millionen Zugehörige an, der Verfassungsschutz schätzt die Mitgliederzahl eher auf 27.000. 11 12 http://www.zft-online.de/deutsch.php, Zugriff August 2004. Gerdien Jonker: Probleme der Kommunikation zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft – Analyse und praktische Beispiele. In: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen: Die Integration von Muslimen in der Kommune, Dokumentation eines Fachgesprächs. Berlin, Bonn 2002, S.13. Islam: Individualisierung versus Kollektivierung 143 Zentralrat, Islamrat und DITIB – die größten muslimischen Organisationen bzw. Verbände – geben an, ein Drittel der Muslime in Deutschland zu vertreten.13 Belgien versucht, über die Offenlegung der Finanzen und Nachweise über Herkünfte der Vereinsgelder, die „unverdächtigen“ islamischen Organisationen zu selektieren und als staatliche Ansprechpartner sowie religiöse Körperschaft zu fördern. Immer wieder scheint Individualisierung vor allem finanziell, sozial und bildungsbedingt zu sein. Das öffentliche, freie und ungehinderte Ausleben ist augenscheinlich vor allem von gesellschaftspolitischen Gegebenheiten bestimmt. Gesellschaftliche Missstände, Fehlen bürgerlicher Freiheiten, Angst vor Restriktionen und Benachteiligungen setzen in vielen islamischen Gesellschaften Pluralismus und öffentlicher Selbstverwirklichung Grenzen. Das kollektive Verständnis und die nach wie vor prägende Rolle des Islam scheinen gesellschaftlich vielerorts weiterhin derart verankert zu sein, dass sie alternative Sicht- und Lebensweisen kaum oder nur langsam beeinflussen. In welchem Maße individuelle Glaubens- und Lebensgestaltung auf das Private begrenzt bleiben oder aber an Einfluss auf die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zunehmen werden, bleibt abzuwarten. Ob und wieweit sie langfristig einen Wandel von Normen und Strukturen bewirken werden, wird vermutlich durch politische Gegebenheiten und soziale Entwicklungen bestimmt bleiben. Welche Früchte die Suche der Muslime in der Diaspora nach Zugehörigkeit, Identität und Integration künftig tragen wird, hängt teilweise sicherlich von den politischen und sozialen Hintergründen in den Heimatländern ab. Ausschlaggebend werden aber wohl die gesellschaftspolitischen Entwicklungen vor Ort sowie die Bemühungen beider Seiten bleiben. 13 Siehe hierzu etwa Ursula Spuler-Stegemann: Muslime in Deutschland. Freiburg 2002, S.98ff.