Professur für Allgemeine Psychologie Motivation, Emotion, Volition WS 2011/12 Evolutionspsychologische Ansätze I: Instinkttheorie und Ethologie Prof. Dr. Thomas Goschke 1 Überblick 2 Darwins Evolutionstheorie Klassische Instinkttheorie Ethologie (Vergleichende Verhaltensforschung) Moderne evolutionspsychologische Ansätze Willenspsych. Assoziationismus Persönlichkeitspsych James 1890 Freud 1900, 1915 Lewin 1926, 1935 Thorndike 1898, 1911 Pawlow 1909/1927 Tolman, 1932, 1952 Duffy 1932, 1962 Hull 1943, 1952 Murray 1938 McClelland 1953, 1961 Atkinson 1957, 1970 Heckhausen 1967, 1980 3 Mowrer 1950, 1960 Heider 1958 Lorenz 1937, 1943 Hebb 1949, 1953 Miller 1948, 1959 Bindra 1959 Berlyne 1960, 1967 Sokolov 1958 Tinbergen 1951 Eysenck 1967 Wilson 1980 Weiner 1972 Cosmides,1990 Buss, 2003 Gollwitzer 1990 Kognitive Ansätze Volitionstheorien McDougall 1908 Skinner 1938, 1953 Spence 1956, 1960 Kuhl, 1983, 1994 Instinkttheoret. Darwin 1859 Wundt 1874, 1896 Ach 1910 Aktivationstheoret. Moderne Lerntheorien Psychophysiologie Biopsychologie Ethologie Evolut. Psy. Historische Entwicklungslinien der Motivationsforschung Die Generation der Pioniere Darwin 1859 James 1890 Wundt 1874, 1896 Ach 1910 Freud 1900, 1915 Thorndike 1898, 1911 Pawlow 1909/1927 McDougall 1908 Willenspsychologische Ansätze Persönlichkeits- u. Kognitionspsychol. Ansätze Assoziationstheoretische Ansätze Aktivationstheoretische Ansätze Instinkttheoretische Ansätze Moderne Lerntheorien Psychophysiologie Biopsychologie Neurobiologie Ethologie Soziobiologie Verhaltensgenetik Aktuelle kognitive Theorien Handlungsteorien Volitionstheorien Historische Entwicklungslinien der Motivationsforschung Darwin 1859 James 1890 Freud 1900, 1915 Thorndike 1898, 1911 Klassische Instinkttheorien McDougall, 1908 Pawlow 1909/1927 Ethologie Lorenz, 1937, 1943 Tinbergen, 1951 Persönlichkeits- u. Kognitionspsychol. Ansätze Aktuelle kognitive Theorien Handlungsteorien Volitionstheorien 5 Assoziationstheoretische Ansätze Aktivationstheoretische Ansätze Wilson, 1980 Cosmides, 1990 Buss, 2003 u..a. Moderne Lerntheorien Psychophysiologie Biopsychologie Neurobiologie Aktuelle Evolutionäre Psychologie modif. nach Heckhausen, 2005 Ebenen der Verhaltenssteuerung Reflexe und Instinkte Angeborene Reaktionsprogramme, die in fixer Weise durch spezifische Reizbedingungen ausgelöst werden Bedürfnismodulation Modulation von Reaktionsdispositionen durch aktuell angeregte Bedürfnisse / Triebe Assoziatives Lernen Erfahrungsabhängige Bildung/Veränderung von Assoziationen zwischen Reizen, Reaktionen und deren Konsequenzen Intentionale Handlungen Antizipationen u. Bewertung der Konsequenzen des Verhaltens; Zielgerichtetheit und Planung Volitionale Selbstregulation Metakognitive Strategien der Selbstkontrolle; Abschirmung von Absichten gegen konkurrierende Motivationstendenzen oder Gewohnheiten 6 I. Klassische Instinkttheorien 7 Klassisches Instinktkonzept Instinkte als Erklärungskonzept für Verhalten "Nur eine vergleichende und evolutionäre Psychologie kann die notwendige Grundlage [für die Sozialwissenschaften] liefern; und diese Grundlage konnte nicht geschaffen werden, ehe die Werke Darwins zu der Überzeugung geführt hatten, dass zwischen der menschlichen und der tierlichen Evolution eine Kontinuität hinsichtlich aller körperlichen Merkmale besteht. Diese Überzeugung bereitete den Weg für die schnell darauf folgende Erkenntnis einer ähnlichen Kontinuität zwischen der psychischen [mental] Evolution des Menschen und der Tierwelt" McDougall (1908) 8 McDougall, W. (1908). An introduction to social psychology. London: Methuen. Klassisches Instinktkonzept William James (1890): Drei Arten von Verhalten Darwins (1871) Definition von Instinkten „Wenn eine Handlung, zu deren Vollziehung selbst von unserer Seite Erfahrung vorausgesetzt wird, von Seiten eines Tieres und besonders eines sehr jungen Tieres noch ohne alle Erfahrung ausgeführt wird, und wenn sie auf gleiche Weise bei vielen Tieren erfolgt, ohne dass diese ihren Zweck kennen, so wird sie gewöhnlich eine instinktive Handlung genannt.“ Instinkte 9 Instinkte --- Erlernte Gewohnheiten (habits) --- Willenshandlungen angeborene (ungelernte) Verhaltensmuster, die durch geeignete Reizbedingungen ausgelöst werden instinktives Verhalten kann zielgerichtet erscheinen, ist aber unflexibel und stereotyp keine Einsicht oder Voraussicht; keine Anpassung an wechselnde Umstände James, W. (1890). The principles of psychology. New York: MacMillan Darwin, C. (1871). The descent of man, and selection in relation to sex. New York: Appleton. Das Instinktkonzept von McDougall (1908) Definition: Instinktives Verhalten 10 „Ererbte oder angeborene psychophysische Disposition, welche ihren Besitzer befähigt, bestimmte Gegenstände wahrzunehmen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, durch die Wahrnehmung eines solchen Gegenstandes eine emotionale Erregung von ganz bestimmter Qualität zu erleben und daraufhin in einer bestimmten Weise zu handeln oder wenigsten den Impuls zu einer solchen Handlung zu erleben“ erfüllt eine adaptive Funktion (z.B. Nahrungsaufnahme; Nestbau; Kampf) kann nach McDougall in begrenztem Maß durch Erfahrung modifiziert werden (z.B. Erlernen neuer Auslösereize) McDougall, W. (1908). An introduction to social psychology. London: Methuen. Klassisches Instinktkonzept Wie viel Instinkte gibt es? Instinktliste nach McDougall, W. (1932). The energies of men. London. Unter dem Einfluss von Darwins Theorie wurden Listen von menschlichen Instinkten aufgestellt Manche Autoren postulierten hunderte (!) von Instinkten zur Erklärung der unterschiedlichsten Verhaltensweisen 15 Nahrungssuche Ekel: schädliche Substanzen abweisen und vermeiden Sexualtrieb: werben und sich paaren Angst/ Furcht: vor Schmerz oder Verletzung fliehen Neugier: fremde Gegenden oder Objekte erkunden Elterninstinkt: Nachwuchs nähren und beschützen Geselligkeitsstreben: mit anderen zusammen sein Selbstbehauptungsstreben: dominieren und führen Unterordnungsbereitschaft: sich Personen fügen Ärger: Widerstände brechen, die Zielen im Weg stehen Hilfesuchen Herstellungsbedürfnis: Obdach und Werkzeuge schaffen Besitzstreben: nützliche Dinge erwerben und behalten Drang zu lachen Komfortbedürfnis Ruhe- und Schlafbedürfnis Migrationsbedürfnis einfache Körperfunktionen: Husten, niesen, atmen, ausscheiden Klassisches Instinktkonzept Kritik der klassischen Instinkttheorien Unklare Definition Zirkularität und mangelnder Erklärungswert Für jedes Verhalten einen Instinkt zu postulieren, ist zirkulär und erklärt nichts Beschränkter Anwendungsbereich 18 Kein Konsens über Anzahl und Art von Instinkten Keine operationalen Kriterien für instinktives Verhalten Keine klare Trennung zwischen instinktivem und erlerntem Verhalten Angeborene Instinkte erklären nur kleinen Teil des menschlichen Verhaltens Mangelnde Berücksichtigung von Lernprozessen Folgen der Kritik des Instinktkonzepts 19 Behaviorismus: verwarf Instinktkonzept (und generell die Idee, das Verhalten durch angeborene Determinanten erklärt werden kann) Vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie): Weiterentwicklung und Präzisierung des Instinktkonzepts (Lorenz; Tinbergen) Moderne Evolutionspsychologie: Annahme universeller kognitiver und motivationaler Mechanismen, die sich in der Evolution als Antwort auf grundlegende adaptive Anforderungen an die Verhaltenssteuerung entwickelt haben II. Ethologie 20 Vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie) Forschungsprogramm, dass sich mit der Evolution, Entwicklung und Funktion von Verhalten bei Tieren und Menschen befasst 21 Genaue Verhaltensbeobachtung unter natürlichen Bedingungen Detaillierte Analyse von instinktiven Verhaltensweisen Grundlegende Arbeiten von Konrad Lorenz und Niko Tinbergen (30/40er Jahre) 1973: Nobelpreis für Medizin (zusammen mit Karl von Frisch) für ihre Forschungen zu einer vereinheitlichenden evolutionären Theorie tierischen und menschlichen Verhaltens Ethologie Endhandlungen (Erbkoordinationen) K. Lorenz: jede Spezies besitzt Repertoire stereotyper Verhaltensmuster („Fixed Action Patterns“) angeboren und lernunabhängig („Erbkoordination“) artspezifisch (bei jedem Individuum einer Spezies in gleicher Weise auslösbar) auf einen spezifischen Endzustand hin ausgerichtet werden durch spezifische Schlüsselreize ausgelöst laufen stereotyp ab variieren in ihrer Intensität in Abhängigkeit von inneren Motivationszuständen (Handlungsbereitschaften) Beleg für angeborene Erbkoordinationen: Aufzucht unter Vorenthaltung der relevanten Erfahrungen Bsp.: Vergraben von Nüssen bei Eichhörnchen (Eibl-Eibesfeld, 1975: Deprivationsversuche) 23 Ethologie Evidenz für stereotypen Ablauf von Erbkoordinationen: Ei-Rückhol-Verhalten bei Graugänsen Das Verhalten wird selbst dann bis zum Ende ausgeführt, wenn Versuchsleiter das Ei während des Rückholens wegnimmt oder durch anderes Objekt ersetzt 24 Ethologie Ablauf einer Instinkthandlung Aktionsspez. Triebenergie Appetenzverhalten Bewegungsunruhe Umherstreifen, ungerichtete Suche Physiolog. Bedürfnis versetzt Organismus in „Unruhe“ Akkumulation reaktionsspezifischer „Energie“ 25 Endhandlung (Erbkoordination) Schlüsselreiz setzt AAM in Gang, der die Instinktbewegung auslöst Gerichtete Annäherung Gezielte Annäherung an Objekt d. Suche Aktive Suche nach Situation, in der Endhandlung ausgelöst werden kann Kann lernabhängig an wechselnde Umweltbedingungen angepasst werden Schlüsselreiz (AAM) Stereotypes, angeborenes Verhalten, das auf spezifischen Endzustand ausgerichtet ist führt zur Entladung der reaktionsspezifischen Triebenergie „Instinkt“ i.e.S. Ethologie Instinkthandlungen und Emotionen Trieb Appetenzverhalten Appetenz wird von instinktspezifischen Emotionen begleitet • • 26 Handlungsbereitschaften (Lorenz, 1950) aktivierte, aber noch nicht ausagierte Antriebthematiken (Bischof, 1989) SchlüsselReiz /AAM Endhandlung (Erbkoordination) Endhandlung ist ebenfalls von spezifischen Emotionen begleitet = unmittelbares Ziel des Appetenzverhaltens Im Verlauf der Evolution kognitiver Fähigkeiten wird Appetenzverhalten immer flexibler und weniger stereotyp Von „Instinkten“ bleiben beim Menschen fast ausschließlich die spezifischen Emotionen übrig (Lorenz: „Rudimentierung“) Ethologie Schlüsselreize und angeborene Auslösemechanismen Schlüsselreize Angeborene Auslösemechanismen (AAM) 28 lösen angeborenes Verhaltensmuster aus, wenn sich das Lebewesen in einem entsprechendem Motivationszustand (Verhaltensbereitschaft) befindet Bsp.: Weibliche Tiere reagieren nur in der Brunft auf männliche Auslösereize; Forellen reagieren nur auf Köder, wenn sie hungrig sind; Jedem Schlüsselreiz entspricht ein sensorischer Filtermechanismus Lässt nur den Schlüsselreiz passieren, der dann das fixe Aktionsmuster auslöst Durch Erfahrung ergänzte AAM (EAAM): angeborene Grundlage; aber kann durch Lernen ergänzt und vervollständigt werden Erworbener Auslösemechanismus (EAM): Eigenschaften der auslösenden Reize werden gelernt Tinbergen, N. (1951). The study of instinct. London: Oxford University Press. Ethologie Schlüsselreize und angeborene Auslösemechanismen Attrappenversuche 29 Im Frühling wechseln männliche Stichlinge ihre Farbe, bauen Nester, greifen Männchen an, die in ihr Territorium eindringen, werben um Weibchen, damit diese ihre Eier ins Nest legen Tinbergen (1951) verwendete einfache Stichlings-Modelle, um Auslöser für bestimmte Aktionsmuster zu ermitteln Reaktionsketten 30 fixe Aktionsmuster können zu komplexen Sequenzen verkettet werden, wobei jedes Element der Sequenz durch Schlüsselreiz ausgelöst wird Hierarchische Organisation des Reproduktionsinstinkts beim Stichling (nach Tinbergen, 1951) Level of major instinct Innate releasing Mechanisms Next lower instinct level Fighting Chasing Biting Threatening etc. Nest Building Digging Testing of materials Gluing etc. Mating Zigzag dancing Leading female to nest Showing entrance Quivering Fertilizing the eggs etc. Reproductive instinct 31 Level of consummatory acts Care of offspring Fanning Rescuing eggs etc. Erbkoordinationen beim Menschen? Eibl-Eibesfeld filmte unbemerkt soziale Interaktionssequenzen in verschiedenen Kulturen und beobachteten vermutlich universelle „fixe Aktionsmuster“ Beispiel: „Eye brow flash“ 35 Wurde in vielen verschiedenen Kulturen beobachtet vermutlich universelles menschliches Ausdrucksmuster Eibl-Eibesfeldt, I. (1972). Similarities and differences between cultures in expressive movement. In R. A. Hinde (Ed.), Non-verbal communication (pp. 297-312). Cambridge: Cambridge University Press. Eibl-Eibesfeldt, I. (1999) Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung. 8. Aufl. Piper Verlag. Eyebrow flash 36 Hair flip 37 Erbkoordinationen beim Menschen? Emotionsausdruck Lächeln bei einen von Geburt an blinden Säugling 38 Homologe Gesichtsausdrücke bei Menschen und nichtmenschlichen Primaten Kritische Würdigung der klassischen Ethologie 41 Verdienste des ethologischen Ansatzes 42 Detaillierte Analyse von Verhalten unter natürlichen Bedingungen Entdeckung wichtiger Verhaltensphänomene Evidenz für angeborene Verhaltensmuster Theoretische Modelle (AAM, hierarchische Verhaltensorganisation) Kritische Punkte Verhalten ist flexibler als der Begriff der Erbkoordination dies nahe legt (Variationen innerhalb und zwischen Individuen) Viele „fixe“ Aktionsmuster werden durch Erfahrung und Lernen modifiziert Verhalten ist fast immer Ergebnis der Interaktion von genetischen Prädispositionen und Umweltbedingungen Mangelnde Berücksichtigung kognitiver Prozesse (Antizipation, Ziele, Planen etc.) Z.T. pseudowissenschaftliche Ableitung von allgemeinen ideologischen und kulturkritischen Gesellschaftsthesen 43 Bsp: Pickverhalten von Möwen wird im Verlauf der Ontogenese präziser und durch immer spezifischere Reize ausgelöst Lorenz (1967): fragwürdige Anwendung des hydraulischen Motivationsmodells auf menschliches Aggressionsverhalten Hinde, 1966, 1971; Lehrman, 1970; Bolles, 1975)