Perspektiven auf Jerusalem

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Perspektiven auf Jerusalem
Clare Amos
Zehn Aussagen zu Jerusalem
„Wie kann der ewige Gott mit und für die Menschen präsent sein und
durch seine Gegenwart die gesamte Schöpfung verwandeln?“ Diese
meiner Ansicht nach entscheidende Frage für die christliche Theologie
lässt sich nicht auf rein geistiger oder theoretischer Ebene beantworten.
Vielmehr müssen dazu zwar nicht notwendigerweise Detailangaben
doch zumindest einige Hinweise und Orientierungshilfen dahingehend
geliefert werden, was diese Frage materiell und praktisch für die Stadt
Jerusalem bedeutet, die so absolut und schon so lange ein Sakrament für
die Gegenwart Gottes und Seine tiefe Hingabe für die Menschen ist. Ich
schlage also „Zehn Aussagen“ vor, denen sich meiner Ansicht nach alle
mit der ökumenischen Bewegung verbundenen Christinnen und
Christen anschließen können und sollten.
1. Christinnen und Christen weltweit haben das Recht und die Pflicht, der Stadt
Jerusalem in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Unvollkommenheit mit
Ehrfurcht zu begegnen.
2. Die Liebe für Jerusalem hat einen hochwertigen und berechtigten Platz in der
christlichen Theologie.
3. Die einheimische christliche Gemeinschaft in Jerusalem verdient, dass wir uns mit
besonderer Fürsorge um ihr Wohl kümmern.
4. Bei unseren Überlegungen zur christlichen Präsenz in Jerusalem muss den
gewöhnlichen Gläubigen und Geistlichen in der Stadt ebensoviel Aufmerksamkeit
geschenkt werden wie den heiligen Stätten und der Kirchenleitung.
5. Es müssen Wege gefunden werden um sicherzustellen, dass Jerusalem nicht
ausschließlich einem Glauben oder einer ethnischen Gruppe gehört, sondern zu einer
gemeinsam getragenen Verantwortung wird, welche die Einheit in der Vielfalt
widerspiegelt.
6. Alle Menschen sollten das Recht auf freien Zugang zu Jerusalem besitzen.
7. Die internationale christliche Gemeinschaft hat sowohl die Verantwortung als auch
das Privileg, sich mit den Christinnen und Christen vor Ort für Jerusalem
einzusetzen.
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8. Es ist für die internationale Gemeinschaft nicht nur angebracht sondern auch wichtig,
zur Sicherstellung einer gerechten und friedlichen Zukunft für Jerusalem beizutragen.
9. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Frieden in Jerusalem und Frieden in der
Welt.
10.
Die schwierigen Fragen betreffend Jerusalem dürfen nicht weiter
hinausgeschoben werden, sondern bedürfen einer dringenden Lösung. Diese würde
neue Energien freisetzen, die zur Behandlung der allgemeineren Aspekte des
Friedensprozesses beitragen könnten.
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Christinnen und Christen in Jerusalem
Auszüge aus dem Memorandum Ihrer Heiligkeiten, den Patriarchen und
Oberhäuptern der christlichen Gemeinschaften von Jerusalem über die Bedeutung
Jerusalems für die Christen (1994).
„Jerusalem ist eine heilige Stadt für die Gläubigen jeder der drei
monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Ihr
einzigartiger heiliger Charakter verleiht ihr eine besondere Bestimmung:
Sie ist Aufruf zu Versöhnung und Harmonie unter den Menschen, ob
Bürger, Pilgerer oder Besucher“. Im Memorandum heißt es weiter:
„Durch eine betende Lektüre der Bibel anerkennen Christinnen und
Christen in ihrem Glauben, dass die lange Geschichte des Volkes Gottes
mit Jerusalem im Mittelpunkt eine Heilsgeschichte ist, in der Gottes
Heilsplan durch und in Jesus Christus von Nazareth ausgeführt wird
[…].In Jerusalem hat die erste christliche Gemeinschaft das kirchliche
Ideal verkörpert, weshalb die Stadt stets eine Referenz bleiben wird.“
„Jerusalem ist der Ort der ewig lebenden, nährenden Wurzeln des
Christentums. Alle Christen und Christinnen sind in Jerusalem geboren.
Jerusalem ist das Zuhause aller Christinnen und Christen. Trotz der
vielen Nöte und aufeinanderfolgenden Machthaber ist die Kirche vor
Ort mit ihren Gläubigen seit fast zweitausend Jahren eine aktive Präsenz
in Jerusalem. Über die Jahrhunderte hinweg hat sie an denselben heiligen
Stätten das Leben, den Tod und die Wiederauferstehung Jesu Christi
bezeugt und gepredigt, und ihre Gläubigen haben ihre Glaubensbrüder
und -schwestern als bleibende oder durchreisende Pilger aufgenommen
und sie eingeladen, erneut in die erfrischenden, ewig lebenden Wurzeln
der Kirche einzutauchen.“
„Wie uns die Erfahrung im Laufe der Geschichte lehrt, kann Jerusalem
niemals zu einer Stadt des Friedens werden, die nicht von außen begehrt
und damit zum Zankapfel zwischen Konfliktparteien wird, wenn sie
ausschließlich einem Volk oder einer Religion gehört. Jerusalem sollte
für alle offen sein und von allen geteilt werden. Die Regierenden der
Stadt sollten sie zur „Hauptstadt der Menschheit“ machen. Eine solche
universelle Vision würde es ihnen erleichtern, Jerusalem all jenen zu
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öffnen, denen die Stadt ebenso sehr am Herzen liegt, und mit ihnen zu
teilen.“
„Jerusalem ist ein Symbol und eine Verheißung der Gegenwart Gottes,
der Brüderschaft und des Friedens für die Menschheit, insbesondere für
die Kinder Abrahams: Juden, Christen und Muslime. Wir appellieren an
alle Beteiligten, das Wesen und die tiefe Bedeutung Jerusalems, der Stadt
Gottes, zu begreifen und zu akzeptieren.“
5
Erzbischof Rowan Williams
„Das Christentum ist eine historische Religion: Im Zentrum des
christlichen Glaubens steht eine Reihe von Begebenheiten, die sich zu
einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zugetragen
haben […]. Christen und Christinnen sind gegenüber dem, was vor zwei
Jahrtausenden im Heiligen Land geschehen ist, verantwortlich und
rechenschaftspflichtig; sie kehren zurück, um durch bestimmte
Geschehnisse befragt und vervollkommnet, herausgefordert und
inspiriert zu werden, und diese Verbindung zwischen den heutigen
Christinnen und Christen und den Ereignissen vor zweitausend Jahren
ist ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens. Aus dieser
Perspektive ist die Kontinuität des christlichen Dienens und Zeugnisses
an den Orten dieser Begebenheiten für gläubige Christen alles andere als
eine Kleinigkeit. Es ist eine Art Gnostizismus […], eine Art Abspaltung
von unserer Geschichte, wenn wir sagen, dass uns die Präsenz unserer
Brüder und Schwestern im Land unseres Herrn egal ist.“
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Pater Rafiq Khoury
„Jesus lehrt uns, dass wir Gott „im Geist und in der Wahrheit“ anbeten
müssen (Joh 4,24). Daraus schließen manche Menschen, dass Orte und
Heiligtümer, darunter auch Jerusalem, für Glauben und Religiosität keine
Bedeutung mehr haben. Diese Schlussfolgerung steht meiner Ansicht
nach im Widerspruch zur menschlichen Psychologie, für die Zeit und
Raum eine entscheidende Rolle spielen. Sie widerspricht ebenfalls der
göttlichen Pädagogik überall in der Bibel und dem Mysterium der
Menschwerdung schlechthin, durch die Gott zu einem bestimmten
Zeitpunkt und an einem ganz bestimmten Ort in Jesus Christus Fleisch
geworden ist und so diese Realitäten des menschlichen Daseins in einen
Treffpunkt mit Gott verwandelt wurden. Wenn es eine Heilsgeschichte
gibt, dann gibt es auch eine Heilsgeographie. „Wenn es einen günstigen
Zeitpunkt gibt, zu dem Gott mit größerer Macht einschreitet, dann gibt
es auch bestimmte Orte, an denen Gott sich mit uns verabredet hat. Es
gibt Orte, an denen Gott möchte, dass wir ihm begegnen; und das
entspricht unserer menschlichen Psychologie, wonach wir die uns nahe
stehenden Menschen nicht nur zu bestimmten Uhrzeiten oder an
bestimmten Tagen lieben, sondern für unsere Verabredungen mit ihnen
auch besondere Orte aussuchen.“
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Jerusalem ist ein Sakrament für das Menschsein. Damit meine ich,
dass Jerusalem das Beste und das Schlechteste im Menschen auf sichtund greifbare Weise aufzeigt. Einerseits ist Jerusalem ein sichtbares
Symbol für unsere Sehnsucht, unsere höchsten und edelsten Wünsche,
unsere Liebe für die Schönheit und unser Verlangen, zu Gott zu beten.
Andererseits ist Jerusalem aber auch eine eindringliche Mahnung, wie
dieses Beste auf so tragische Weise fehlschlagen kann – gerade weil es
für uns so schwierig ist zu lieben, ohne Besitz ergreifen zu wollen.
Jerusalem ist der Ort, an dem sich dieses Rätsel wie in einem Prisma
verdichtet, damit es in aller Schärfe zu sehen ist. Und auf geheimnisvolle
Weise enthüllt Jerusalem diese Gegebenheiten der conditio humana nicht
einfach nur, sondern, so meine ich, fordert uns gleichzeitig dazu heraus,
uns mit ihnen auseinanderzusetzen – damit wir tatsächlich zu den
Menschen werden, zu denen Gott uns geschaffen hat, seinem Ebenbild
gleichend, als Partner in der Erschaffung und Wiederherstellung unserer
Welt. Das meine ich, wenn ich Jerusalem als Sakrament bezeichne.
Clare Amos ist Programmverantwortliche für interreligiösen Dialog und
interreligiöse Zusammenarbeit, Ökumenischer Rat der Kirchen
ÖRK-Veröffentlichungen ist das Verlagsbüro des Ökumenischen Rates der Kirchen. Der ÖRK
wurde 1948 gegründet und engagiert sich für die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und
Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. Der ÖRK ist eine weltweite Gemeinschaft von mehr
als 345 protestantischen, orthodoxen, anglikanischen und anderen Kirchen, die mehr als 550
Millionen Christen in 110 Ländern vertreten, und arbeitet mit der römisch-katholischen Kirche
zusammen.
Ökumenischer Rat der Kirchen
150 Route de Ferney, Postfach 2100
1211 Genf 2, Schweiz
http://publications.oikoumene.org
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