brauchen - Musikforum

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Helmut Rösing macht sich Gedanken zum Stellenwert von Musik
für Gesellschaft und Individuum
WARUM WIR MUSIK
brauchen
Z
u allen Zeiten und in allen Ethnien ist Musik von besonderer Bedeutung für die Menschheit gewesen. Ein gesellschaftliches Zusammenleben ohne Musik gibt es nicht und scheint es auch nie gegeben zu haben.
Das kann nur zu einer Schlussfolgerung führen: Musik hat zu jeder Zeit für
die kulturelle Evolution eine gesellschaftsschaffende und -begleitende
Funktion gehabt.
In seinem Buch Der musizierende Mensch.
Eine Anthropologie der Musik fasst Wolfgang
Suppan (1984, S. 180) diesen Sachverhalt
folgendermaßen zusammen: „Die biologische
Disposition zum Musikgebrauch in entscheidenden Phasen des menschlichen Zusammenlebens ist in allen Gesellschaften dieser Erde
[…] in derselben Weise gegeben, doch hat
die Fülle unterschiedlicher kultureller Evolutionen diese Disposition jeweils anders genutzt.“ Man kann also Musik der verschiedensten Erscheinungsformen und Stile durchaus
als klingendes Alphabet der Gesellschaft bezeichnen. Allerdings erweist es sich immer
wieder als schwierig, die vielschichtig-komplexen, auf symbolischen Codes beruhenden
musikalischen Bedeutungsebenen dieses klingenden Alphabets zu entschlüsseln.
Jede Musik, die erklingt, hat Funktionen
und erfüllt Funktionen. Unterschieden werden sollte aber – wie das Hans Heinrich Eggebrecht bereits 1973 bündig dargelegt hat
– zwischen drei Ebenen der Funktionalität.
Die musikimmanente Funktionsebene regelt
das Funktionieren der musikalischen Strukturen. Intendierte Funktionen beruhen auf
der Zweckbestimmung eines musikalischen
Produkts durch Komponisten, Musiker, Produzenten und Vermittler. Tatsächlich realisierte Funktionen aber sind ein Ergebnis des
Rezeptionsprozesses. Allein um diese dritte
Funktionsebene mit ihren personen- und gesellschaftsbezogenen Faktoren soll es im Folgenden gehen. Denn hier vor allem entscheidet
sich, welche Bedeutung Musik für jeden Einzel-
nen von uns hat bzw. haben kann, warum
also überhaupt Musik gehört wird.
Eine Arbeitshypothese des Musikwissenschaftlers Georg Knepler (1982, S. 36 f.) lautet, dass die Menschheitsgeschichte im Großen und Ganzen durch zwei wesentliche
Entwicklungszüge gekennzeichnet sei: 1. die
Ausprägung interner kognitiver Schemata, um
dem Ansturm neuer, unbekannter Objekte,
Situationen und Handlungen gewachsen zu
sein, und 2. die Schaffung interner emotionaler Schemata, um den sich daraus ergebenden psychischen Anforderungen standhalten zu können.
(Über)lebensnotwendiger
Gebrauchsgegenstand
Gemäß dieser These liegt es nahe, den
beiden akustischen Kommunikationsmedien
Sprache und Musik die folgende Funktionsaufteilung zuzuordnen: Sprache steht relativ
frei von Emotionalität als Verständigungssystem
für den kognitiven Bereich zur Verfügung;
mit Musik dagegen können die durch Sprache nicht mehr zu leistenden emotionalen
Zustände hörbar, nachvollziehbar und – dank
verschiedener Formen symbolisch-ritueller
Überhöhung – häufig überhaupt erst erträglich gemacht werden. Damit wird Musik als
ein nachhaltig emotional geprägtes Kommunikationsmedium zu einem allein schon aus
sozialpsychologischen Gründen (über)lebensnotwendigen Gebrauchsgegenstand menschlichen Daseins. Eine ausschließliche Luxus-
funktion jedenfalls, wie sie der Kunstmusik
so gerne unterstellt wird, hat sie – wenn
überhaupt – höchstens in einigen wenigen,
ästhetisch hochstilisierten Erscheinungsformen.
Die sozialpsychologische Kraft von Musik wird offensichtlich, wenn man Musik als
mehrdimensionales Bezugssystem versteht
(siehe dazu Rösing, 2004, S. 155 f.). Jeder
musikalische Zirkulationsprozess umfasst eine
Vielzahl von aufeinander bezogenen und voneinander abhängigen Stationen: 1. die musikalische Produktionshandlung (Komposition,
Improvisation), 2. verschiedene Vermittlungsschritte bis hin zur klingenden Realisation des
musikalischen Produkts (die Umsetzung von
notierten musikalischen Substraten, Soundfiles oder Texturen in spezifischen Aufführungs- und Wiedergabekontexten) und 3. die
Rezeption durch Hörer mit unterschiedlichen
musikalischen Erfahrungsinventaren, Musikerwartungen und durch bestimmte Musikkenntnisse vorgeprägten Verhaltensweisen.
Diese Komplexität von Musik als einem
mehrdimensionalen Bezugssystem hat in der
traditionellen Musikwissenschaft und Musikkritik eine unangemessene Einengung hin auf
das musikalische Produkt erfahren. Alles, was
nicht in ihm, also der „reinen“ Musik selbst
enthalten ist, das läge, so Carl Dahlhaus und
Hans Heinrich Eggebrecht in ihren Essays zur
Frage Was ist Musik? (1985, S. 68 u. 139 ff.),
außerhalb der Musik. Musikalischer Sinn sei
allein in der Form bzw. im „Formsinn“ der
Musikstrukturen verdinglicht. Bei dieser Sichtweise wird außer Acht gelassen, dass Musik
immer erst in einem situativ gegebenen gesellschaftlichen Umfeld Wirkung entfalten
kann. Sie muss von Individuen wahrgenommen werden – im Rahmen einer Live-Darbietung, während der Wiedergabe über Lautsprecher oder – im Extremfall – beim stummimaginativen Lesen der Noten. Ihre Bedeutung für den Rezipienten erhält sie durch
MUSIK ORUM
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FOKUS
verbale bzw. visuelle „Beschriftungen“, gesellschaftsgeprägte Konnotationen (Trauermusik, Tanzmusik, Popmusik) und zum Teil auch
durch persönlich ausgerichtete biografische
Erfahrungen, die den gesamten Zirkulationsprozess des Bezugssystems Musik umfassen.
Musikalische Bedeutungen, musikbezogene
Wirkungen und musikgenerierte Funktionen
sind so gut wie immer gebunden an konkrete Situationen kultureller Praxis, und sie sind
eingebettet in einen lebensweltlichen Bezug.
Hier fungieren die jeweiligen sozialen und
politischen, die ökonomischen, technischen
und räumlichen Ressourcen innerhalb eines
gesellschaftlichen Systems als objektive Bedingungen für musikkulturelles Handeln und
Verhalten.
Das haben Kurt Blaukopf (1989) und Alfred
Smudits (2002) mit dem Begriff der „Mediamorphose“ quer durch die europäische Musikgeschichte beschrieben und am Beispiel
der aktuellen elektronischen und digitalen
Mediamorphose im Einzelnen belegt. Technische Entwicklungen verändern die Ressourcen eines gesellschaftlichen Systems und üben
nachhaltigen Einfuss auf Musik als Bestandteil von Kommunikationskultur aus: Sie beeinflussen die Musikproduktion, die Musikverbreitung, den Umgang mit Musik, das
Musikverständnis und die Funktionen von
Musik in der Gesellschaft.
Die objektiven Ressourcen einer Gesellschaft stehen in einer dynamischen Wechselbeziehung mit den subjektiven Strukturen
der Individuen, die die Gesellschaft konstituieren. Zu den subjektiven Strukturen zählen
u. a. Veranlagung und psychische Sensibilität, kognitive Disposition, emotional-affektive Gegebenheiten und die daraus resultierenden persönlichen Vorlieben. Aus den Übereinstimmungen und Differenzen zwischen
objektiven Ressourcen und subjektiven Strukturen ergeben sich nicht nur die Strategien
für kreativ-kulturelles Handeln, die z. B. im
Bereich der Musik zur Ausprägung der verschiedenen kunst- und popmusikalischen Stile
geführt haben. Sie konstituieren und bedingen auch die Bedeutungen, Bewertungen und
Funktionen von Musik in der Gesellschaft
und für die Gesellschaft – teilweise auf recht
direkte Art, teilweise aber auch vielfach vermittelt und gebrochen.
Vier Primärfunktionen
Mit Blick auf die soziokulturellen Ressourcen im Europa der Neuzeit hat Max Weber
in seinen Abhandlungen zur Musik (1921)
vier Primärfunktionen von Musik in der
Gesellschaft benannt, die individuell-psychische und gesellschaftlich-kommunikative As-
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MUSIK ORUM
pekte beinhalten: 1. affektbestimmte emotionale Funktionen wie psychische Resonanz,
Projektion oder Abreaktion von Gefühlen,
2. traditionsorientierte Funktionen – rituell,
geschichtsbezogen, überliefernd –, 3. wertabhängige Funktionen wie z. B. gute vs. schlechte, anspruchsvolle vs. triviale, unterhaltende
vs. ernste Musik und 4. zweckrationale Funktionen mit politischer, wirtschaftlicher, erzieherischer oder ideologischer Komponente.
Und aus vergleichend-musikanthropologischer
Sicht glaubte Alan P. Merriam (1964) zehn
gute Gründe dafür anführen zu können, warum Menschen Musik brauchen. Sie decken
sich in mancherlei Hinsicht mit den von Max
Weber propagierten Primärfunktionen: 1. emotionaler Ausdruck, 2. psychische Reaktion,
3. ästhetischer Genuss, 4. Unterhaltung, 5. Kommunikation, 6. symbolische Repräsentation,
7. soziale Normierung, 8. rituelle und institutionelle Überhöhung, 9. kulturelle Stabilität und Kontinuität sowie 10. Integration in
gesellschaftliche Gruppenprozesse.
Wie unlängst Paul Riggenbach in einer
umfassenden empirischen Studie über Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft (2000) zeigen konnte, sind nahezu
alle diese Funktionen auch bei der mittlerweile
zahlenmäßig am stärksten vertretenen Gruppe,
den Popmusikhörern der Gegenwart, anzutreffen: Musik beeinflusst deren Gefühle und
bewirkt psychische Reaktionen, sie ist Medium der Unterhaltung und Trägerin von Botschaften. Musik verändert Realitätsbezüge
durch symbolische Repräsentation, sie konstituiert Lebensstile und kann hierbei sozial
normierend sein, sie befördert Identitätsprozesse und führt zu sozialen Gruppenbildungen, wie sie Victor Turner (2005) unter dem
Begriff der „Communitas“ wiederholt beschrieben hat.
Die im Anschluss an die jeweiligen Popmusik-Funktionen konstatierten Tendenzen
zielen allerdings in eine Richtung, die den
musikbezogenen Funktionsfächer um so mehr
einengen und begrenzen, wie die digitale
Mediamorphose voranschreitet. Musik ist
allgegenwärtig geworden. Das kann zu erhöhtem passiven oder gar zu ungewolltem
Musikkonsum bis hin zur Abstumpfung gegenüber Musik führen. Darüber hinaus scheint
technisch vermittelte Musik immer mehr zu
einer einseitigen Kommunikationsform zu
verkümmern. Dementsprechend wurden die
durch Musik ausgelösten Gefühle und Handlungen von Riggenbachs Interviewpartnern
zur Jahrtausendwende als zunehmend fremdbestimmt erfahren. Der Bezug zur Lebenswirklichkeit wurde gegenüber den 1960er
bis 1990er Jahren als abgeschwächt empfunden, der reine Berieselungsaspekt von Musik trat immer stärker in den Vordergrund.
Live dargebotene Musik kann diesen Tendenzen der Einengung und Abschwächung
musikalischer Funktionen aber nach wie vor
nachhaltig entgegenwirken. Das zumindest
zeigen die Auswertungen von mehreren 100
Fragebögen der Besucher verschiedener Rockkonzerte, die Roland Hafen 1998 vorgelegt
hat. Psychophysiologische und sozialpsychologische musikgenerierte Auswirkungen motivieren zum Besuch eines Lifeacts in der Konzerthalle, im Club, auf der Straße oder im
Stadion. Zum psychophysiologischen Funktionsfeld gehören vor allem die Qualität und
Intensität des Körpergefühls gemäß der Maxime „Das Glück ist körperlich“. Dieses Gefühl umfasst das Verlangen nach Rhythmus,
Sound und Lautstärke, das Spiel mit dem
Körper, den Wunsch nach Nähe in einer
Gruppe Gleichgesinnter („ein Bad in der Menge
nehmen“) und die körperliche Verausgabung
bis zur Erschöpfung. Das sozialpsychologische
Funktionsfeld wird abgesteckt durch die
Demonstration von Haltungen (u. a. durch
Bekleidung und Accessoires), das Zur-SchauStellen von Einstellungen und Lebensstilen
(Rockmusik als Lebensgefühl) und das Verlangen nach Atmosphäre und Authentizität
(Echtheit der Botschaft).
© Stiftung Jedem Kind ein Instrument
Offenheit gegenüber den musikalischen
Erscheinungsformen: Eine fundierte Unterweisung bereits in Kindergarten und Schule
kann jenes Verständnis bewirken, das später
eine Vereinnahmung durch eine lediglich nach
dem Gesetz der Ware geschaffene Musik verhindert. Ein Beispiel ist das Projekt „Jedem
Kind ein Instrument“, das in Nordrhein-Westfalen zur Förderung der musikalischen Früherziehung gegründet wurde.
Naturgemäß ein wenig anders gelagert sind
die Erwartungen und Wünsche, die die Besucher von volkstümlichen Popmusikkonzerten und Schlagerfestivals oder auch André
Rieu- bzw. Helmut Lotti-Konzerten haben.
Nina Polaschegg fasst, bezogen auf die beiden letztgenannten Musiker, die Ergebnisse
ihrer qualitativen Studie über „Populäre Klassik
– Klassik populär“ (2005, S. 187) folgendermaßen zusammen: Die Konzertgänger „möchten einen harmonischen und besonderen
Konzertabend verbringen, sie möchten unterhalten werden, lachen und schwelgen können und den Alltag für diese Zeit weit hinter
sich lassen. Der Abend soll ausschließlich angenehme, schöne und lustige Erlebnisse versprechen. Unbekanntes hat in diesem Kontext keinen Platz und wird […] negativ und
ablehnend beschrieben“. Im Hinblick auf die
Funktionen dieser Musik im Konzertsaal
dominieren emotionale Kompensation, Einsamkeitsüberbrückung, Konfliktbewältigung
und Stimulierung zu Handlungen, die sich
im Beifallsritual ebenso wie im körperlichen
Mitvollzug (Schunkeln, Takt klatschen, Tanzen) manifestieren. Der Communitas-Wirkung
von Musik, dem Sich-Geborgen-Fühlen im
Harmoniemilieu alltagsästhetischer Schemata
(Gerhard Schulze, 1992) kommt hierbei der
Stellenwert einer Primärfunktion zu.
Derartige Untersuchungen bei unterschiedlichen Konzertpublika – wobei nachdrücklich auf die nach wie vor Richtung weisende
Publikation des Autorenteams Dollase, Rüsenberg, Stollenwerk aus dem Jahr 1986 hinge-
wiesen sei – belegen die verschiedenen Funktionen von Musik in Abhängigkeit vom musikalischen Produkt, von konkreten Darbietungssituationen und von personengebundenen
Variablen der Musikhörer. Trotz unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Funktionskomponenten im gesellschaftlich-kommunikativen und individuell-psychischen Funktionsfächer lassen sich letztlich immer wieder
zentrale Funktionskomplexe dingfest machen,
wie sie bereits von Max Weber und Alan P.
Merriam benannt worden sind.
Funktionsfächer
Bedürfnislage abzielende Funktionsfächer
umfasst vornehmlich die folgenden Teilkomponenten: emotionale Kompensation (Projektion oder Abreaktion von Gefühlen), Einsamkeitsüberbrückung (parasozialer Kontakt),
Konfliktbewältigung (Stressabbau durch
Musik), Entspannung (Musik zum Abreagieren), Aktivierung (Musik als psychisches Stimulanzmittel), Unterhaltung (Spaß- bzw. Lustgewinn durch Musik), ästhetische Befriedigung
(Transzendenz-Erfahrung) und Freiraum für
Träume.
Die Gründe dafür, warum wir Musik brauchen, liegen auf der Hand. Musik gleich welcher
Stilrichtung ist Bestandteil und Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse. Ihre funktionale
Legitimation bezieht sie aus ihrer Verankerung in bzw. Anbindung an konkrete Situationen des täglichen Lebens sowie der Überhöhung des Alltags durch verschiedene
Formen von Sakral-, Fest- und Repräsentationskultur. Bewertungsbegriffe wie Echtheit,
Authentizität, Botschaft, künstlerische Aussage mögen zwar vage und angreifbar sein.
Sie drücken aber auf ihre Weise unmissverständlich aus, dass die Produktion von Musik und ihre Darbietung an konkret gesellschaftliche Verhältnisse gebunden sind bzw.
sein sollten. Dieser funktionale und zugleich
lebensnahe Bezug von Musik droht durch
die Produktions- und Distributionsstrategien
einiger weniger weltweit tätiger Medienfirmen zumindest im Bereich der Popmusik zunehmend unterlaufen zu werden. Aus dem
insgesamt verfügbaren gesampleten musikalischen Material und den Ressourcen der
Produktivkräfte musikinteressierter junger
Menschen werden musikalische Stile nach
empirisch erhobenen Daten der Marktforschung am Reißbrett geklont und weltweit
vermarktet.
In diesem Zusammenhang lässt sich dann
auch der Traum von manchem Jugendlichen,
Zur Veranschaulichung seien einige weitere Beispiele aus unserem westlichen Kulturkreis benannt. Zum gesellschaftlich-kommunikativen, durch soziale Normen und
Regeln geprägten Funktionsfächer gehören
z. B. folgende musikbezogene Settings und
Inhalte: religiöse oder magisch-rituelle Transzendenz (Kult- und Kirchenmusik), Repräsentation und Glorifizierung (Militärmusik),
Gestaltung von Festen und Kundgebungen
(Musik als akustisches Ornament für die besonderen Ereignisse des Lebens), Bewegungsaktivierung und -koordination
(Tanz- und Marschmusik),
Gruppenstabilisierung und
-kontrolle (Nationalhymne als
In der Sphäre der Kultur findet
akustische Flagge kultureller
die ständige Selbstreflexion der Gesellschaft
Identität), Erziehung (Musik
über ihre Werte und Standards statt.
der Jugend zur Selbstfindung),
Gesellschaftskritik (Musik geDeswegen ist es nicht nur für die Individuen und
gen Krieg, Rassismus, Sexisihre Lebensqualität, sondern auch für die Entwicklung
mus) und Gesellschaftsvisioder Gesellschaft wichtig, dass möglichst viele
nen (Musik gegen Krieg,
Menschen in jenen kulturellen Diskurs
Musik für die Freiheit), zwischenmenschliche Kontakteinbezogen werden, der mit dem
aufnahme und CommunitasMedium der Künste stattfindet.
Erfahrung in einer Gruppe
von Gleichgesinnten.
Der individuell-psychische,
Zitiert aus dem Schlussbericht der Enquete-Kommission
auf die jeweilige persönliche
„Kultur in Deutschland“ (Seite 49)
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MUSIK ORUM
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FOKUS
selbst ein Popstar zu werden, ausnutzen. Nach
Head-Hunting-Methoden gaukelt man ihnen
– z. B. durch die Teilnahme an einem SongContest – ein selbstbestimmtes Musikerleben
vor, obwohl diejenigen, die hier erfolgreich
sind, doch weiter nichts als Befehlsempfänger einer Popmusik-Wertschöpfungsmaschinerie bleiben. Sie werden immer dann sofort
wieder abgeschrieben, wenn Erfolg im Sinn
von Umsatz sich entweder gar nicht erst einstellen will oder nach einem ersten ChartsTitel schnell verblasst. Als Marionetten an den
Fäden der Musikindustrie werden so die kreativen Kräfte musikinteressierter Jugendlicher
in der Regel eher vernichtet als aufgebaut.
Dieser Art von Fremdbestimmung gilt es
entschieden entgegenzuwirken. Allein eine
fundierte musikalische Unterweisung bereits
in Kindergarten und Schule kann jenes Verständnis und jene Offenheit gegenüber den
vielfältigen musikalischen Erscheinungsformen
bewirken, die eine ideologische Vereinnahmung durch eine lediglich nach dem Gesetz
der Ware geschaffene Musik verhindern zu
helfen vermag. Anders gesagt: Ein gezielt und
kompetent genutztes reichhaltiges musikalisches Live-Angebot und im besten Fall eigenes Musikmachen ermöglichen letztlich mehr
als jede technisch vermittelte Übertragungsmusik einen sinnvollen Bezug zu nahen Lebenswelten und den vielen zuvor erwähnten musikabhängigen Schlüsselfunktionen.
Doch musikalische Mündigkeit durch den
Erwerb von Musikkenntnissen und musikalischen Erfahrungsinventaren kommt nicht
von selbst. Die gesellschaftlichen Ressourcen
für einen selbstbestimmten, mündigen Umgang mit Musik müssen mit erheblichem ideellen und finanziellen Einsatz von Gemeinschaft und Kulturpolitik zur Verfügung gestellt
werden. Nur dann können Lebensstile geschaffen werden, in denen Musik mit Bewusstheit aktiv rezipiert und nicht nur nebenbei
konsumiert wird. Und nur dann kann sich
der musikalische Funktionsfächer derart behaupten, dass Musik weiterhin grundlegende Bedürfnisse menschlichen Zusammenlebens zu überhöhen bzw. vertiefen in der Lage
bleibt und darüber hinaus eine psychische
Notwendigkeit darstellt.
Literatur
Blaukopf, Kurt (1989): Beethovens Erben in der
Mediamorphose. Kultur- und Medienpolitik für die
elektronische Ära, Heiden 1989
Dahlhaus, Carl/Eggebrecht, Hans Heinrich: Was ist
Musik?, Wilhelmshaven 1985
Dollase, Rainer, Rüsenberg, Michael u. Stollenwerk,
Hans J.: Demoskopie im Konzertsaal, Mainz 1986
Eggebrecht, Hans Heinrich: Funktionale Musik, Archiv
für Musikwissenschaft 30, S. 1-25, 1973
Hafen, Roland: „Rockmusik-Rezeption in Live-Konzerten“,
in: Baacke, Dieter (Hg.): Handbuch Jugend und Musik,
S. 369-380, Opladen 1998
Knepler, Georg: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der
Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1982
Wie sehen junge Musiker,
die sich schon in einem großen
Ensemble bewährt haben, das
Musikland Deutschland?
Wie bewerten sie ihre Chancen
als professionelle Instrumentalisten?
Das MUSIKFORUM befragte Mitglieder
des Bundesjugendorchesters (BJO): Wie
steht es um die hiesige Orchesterszene und
die Ausbildung, wie reagiert das Umfeld
auf ihre persönlichen Ambitionen?
Die Antworten lesen Sie verstreut in
diesem Heft.
Zu wenig Geld für Kultur
Fabian Kläsener (Violine, 19):
Meine Meinung zur deutschen Musikszene? Ich finde, es spielen zu viele Ausländer in den Konzerten. In meinen Nachbarort kommen weißrussische Orchester zu
Gastspielen, aber keine aus Deutschland.
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MUSIK ORUM
Umfrage:
Junge Musiker – glücklich
in Deutschland?
Die eigenen Künstler werden viel zu wenig
gepusht. Venezuela und Dudamel – das
gibt eine gute Story her, die sich verkauft.
Merriam, Alan: Anthropology of music, Evanston 1964
Polaschegg, Nina: Populäre Klassik – Klassik populär.
Hörerstrukturen und Verbreitungsmedien im Wandel,
Köln 2005
Riggenbach, Paul: Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft. Eine Untersuchung zwischen
Empirie und Theorie, Marburg 2000
Rösing, Helmut: Wie politisch kann Musik sein?, Beiträge
zur Popularmusik-Forschung 32, S. 155 – 168, 2004
Schulze, Georg: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992
Smudits, Alfred: Mediamorphosen des Musikschaffens.
Kunst und Kommunikationstechnologien im Wandel,
Wien 2002
Suppan, Wolfgang: Der musizierende Mensch. Eine
Anthropologie der Musik, Mainz 1984
Turner, Victor: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur,
Frankfurt am Main 2005 (orig. 1969)
Weber, Max: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921
Der Autor:
Prof. Dr. phil. habil. Helmut Rösing promovierte 1968
in Vergleichender Musikwissenschaft, war zwischen 1968
und 1972 Redakteur für Sinfonie und Oper beim
Saarländischen Rundfunk und habilitierte 1974 im Fach
Musikwissenschaft an der Universität Saarbrücken. Von
1975 bis 1980 war er Leiter der Zentralredaktion des
Internationalen Quellenlexikons der Musik (RISM) in
Kassel, von 1978 bis 1992 Professor für Systematische
Musikwissenschaft an der Gesamthochschule Kassel.
Von 1993 bis 2004 hatte Rösing eine Professur an der
Universität Hamburg. Wichtigste Veröffentlichungen:
Musik und Massenmedien (1978), Rezeptionsforschung
in der Musikwissenschaft (1983), Musik im Alltag (1985),
Musikpsychologie – ein Handbuch (1993, hg. zus. mit
H. Bruhn und R. Oerter), Musikwissenschaft und populäre Musik, Versuch einer Bestandsaufnahme (2002, hg.
mit A. Schneider und M. Pfleiderer).
Das finden Veranstalter interessanter als
das BJO.
Die deutsche Musikszene sehe ich
kritisch: Es wird einfach zu wenig Geld für
Kultur ausgegeben. Dabei ist Deutschland
doch ein Musik-Mekka und sollte es auch
bleiben. Wenn man darüber nachdenkt,
wie viel für deutsche Fußballvereine ausgegeben wird und wie viel für uns… das finde
ich schon ziemlich bescheiden.
Das Schlimme: Viele Orchesterstellen
bleiben hier unbesetzt. Orchester haben
einfach keinen Bock, die Stellen zu besetzen, Aushilfen sind ja viel lukrativer.
Trotzdem möchte ich Orchestermusiker
werden. Es ist einfach cool, in einem
Orchester zu sitzen – und Sinfonien sind
schon eine Super-Sache. Diese Gemeinschaft hat man als Solist nicht.
Was die Ausbildung anbelangt: Prinzipiell würde ich auch im Ausland studieren.
Leider sind da aber die Lehrer nicht so gut.
Die besten gibt es hier.
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