Helmut Rösing macht sich Gedanken zum Stellenwert von Musik für Gesellschaft und Individuum WARUM WIR MUSIK brauchen Z u allen Zeiten und in allen Ethnien ist Musik von besonderer Bedeutung für die Menschheit gewesen. Ein gesellschaftliches Zusammenleben ohne Musik gibt es nicht und scheint es auch nie gegeben zu haben. Das kann nur zu einer Schlussfolgerung führen: Musik hat zu jeder Zeit für die kulturelle Evolution eine gesellschaftsschaffende und -begleitende Funktion gehabt. In seinem Buch Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik fasst Wolfgang Suppan (1984, S. 180) diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: „Die biologische Disposition zum Musikgebrauch in entscheidenden Phasen des menschlichen Zusammenlebens ist in allen Gesellschaften dieser Erde […] in derselben Weise gegeben, doch hat die Fülle unterschiedlicher kultureller Evolutionen diese Disposition jeweils anders genutzt.“ Man kann also Musik der verschiedensten Erscheinungsformen und Stile durchaus als klingendes Alphabet der Gesellschaft bezeichnen. Allerdings erweist es sich immer wieder als schwierig, die vielschichtig-komplexen, auf symbolischen Codes beruhenden musikalischen Bedeutungsebenen dieses klingenden Alphabets zu entschlüsseln. Jede Musik, die erklingt, hat Funktionen und erfüllt Funktionen. Unterschieden werden sollte aber – wie das Hans Heinrich Eggebrecht bereits 1973 bündig dargelegt hat – zwischen drei Ebenen der Funktionalität. Die musikimmanente Funktionsebene regelt das Funktionieren der musikalischen Strukturen. Intendierte Funktionen beruhen auf der Zweckbestimmung eines musikalischen Produkts durch Komponisten, Musiker, Produzenten und Vermittler. Tatsächlich realisierte Funktionen aber sind ein Ergebnis des Rezeptionsprozesses. Allein um diese dritte Funktionsebene mit ihren personen- und gesellschaftsbezogenen Faktoren soll es im Folgenden gehen. Denn hier vor allem entscheidet sich, welche Bedeutung Musik für jeden Einzel- nen von uns hat bzw. haben kann, warum also überhaupt Musik gehört wird. Eine Arbeitshypothese des Musikwissenschaftlers Georg Knepler (1982, S. 36 f.) lautet, dass die Menschheitsgeschichte im Großen und Ganzen durch zwei wesentliche Entwicklungszüge gekennzeichnet sei: 1. die Ausprägung interner kognitiver Schemata, um dem Ansturm neuer, unbekannter Objekte, Situationen und Handlungen gewachsen zu sein, und 2. die Schaffung interner emotionaler Schemata, um den sich daraus ergebenden psychischen Anforderungen standhalten zu können. (Über)lebensnotwendiger Gebrauchsgegenstand Gemäß dieser These liegt es nahe, den beiden akustischen Kommunikationsmedien Sprache und Musik die folgende Funktionsaufteilung zuzuordnen: Sprache steht relativ frei von Emotionalität als Verständigungssystem für den kognitiven Bereich zur Verfügung; mit Musik dagegen können die durch Sprache nicht mehr zu leistenden emotionalen Zustände hörbar, nachvollziehbar und – dank verschiedener Formen symbolisch-ritueller Überhöhung – häufig überhaupt erst erträglich gemacht werden. Damit wird Musik als ein nachhaltig emotional geprägtes Kommunikationsmedium zu einem allein schon aus sozialpsychologischen Gründen (über)lebensnotwendigen Gebrauchsgegenstand menschlichen Daseins. Eine ausschließliche Luxus- funktion jedenfalls, wie sie der Kunstmusik so gerne unterstellt wird, hat sie – wenn überhaupt – höchstens in einigen wenigen, ästhetisch hochstilisierten Erscheinungsformen. Die sozialpsychologische Kraft von Musik wird offensichtlich, wenn man Musik als mehrdimensionales Bezugssystem versteht (siehe dazu Rösing, 2004, S. 155 f.). Jeder musikalische Zirkulationsprozess umfasst eine Vielzahl von aufeinander bezogenen und voneinander abhängigen Stationen: 1. die musikalische Produktionshandlung (Komposition, Improvisation), 2. verschiedene Vermittlungsschritte bis hin zur klingenden Realisation des musikalischen Produkts (die Umsetzung von notierten musikalischen Substraten, Soundfiles oder Texturen in spezifischen Aufführungs- und Wiedergabekontexten) und 3. die Rezeption durch Hörer mit unterschiedlichen musikalischen Erfahrungsinventaren, Musikerwartungen und durch bestimmte Musikkenntnisse vorgeprägten Verhaltensweisen. Diese Komplexität von Musik als einem mehrdimensionalen Bezugssystem hat in der traditionellen Musikwissenschaft und Musikkritik eine unangemessene Einengung hin auf das musikalische Produkt erfahren. Alles, was nicht in ihm, also der „reinen“ Musik selbst enthalten ist, das läge, so Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht in ihren Essays zur Frage Was ist Musik? (1985, S. 68 u. 139 ff.), außerhalb der Musik. Musikalischer Sinn sei allein in der Form bzw. im „Formsinn“ der Musikstrukturen verdinglicht. Bei dieser Sichtweise wird außer Acht gelassen, dass Musik immer erst in einem situativ gegebenen gesellschaftlichen Umfeld Wirkung entfalten kann. Sie muss von Individuen wahrgenommen werden – im Rahmen einer Live-Darbietung, während der Wiedergabe über Lautsprecher oder – im Extremfall – beim stummimaginativen Lesen der Noten. Ihre Bedeutung für den Rezipienten erhält sie durch MUSIK ORUM 9 FOKUS verbale bzw. visuelle „Beschriftungen“, gesellschaftsgeprägte Konnotationen (Trauermusik, Tanzmusik, Popmusik) und zum Teil auch durch persönlich ausgerichtete biografische Erfahrungen, die den gesamten Zirkulationsprozess des Bezugssystems Musik umfassen. Musikalische Bedeutungen, musikbezogene Wirkungen und musikgenerierte Funktionen sind so gut wie immer gebunden an konkrete Situationen kultureller Praxis, und sie sind eingebettet in einen lebensweltlichen Bezug. Hier fungieren die jeweiligen sozialen und politischen, die ökonomischen, technischen und räumlichen Ressourcen innerhalb eines gesellschaftlichen Systems als objektive Bedingungen für musikkulturelles Handeln und Verhalten. Das haben Kurt Blaukopf (1989) und Alfred Smudits (2002) mit dem Begriff der „Mediamorphose“ quer durch die europäische Musikgeschichte beschrieben und am Beispiel der aktuellen elektronischen und digitalen Mediamorphose im Einzelnen belegt. Technische Entwicklungen verändern die Ressourcen eines gesellschaftlichen Systems und üben nachhaltigen Einfuss auf Musik als Bestandteil von Kommunikationskultur aus: Sie beeinflussen die Musikproduktion, die Musikverbreitung, den Umgang mit Musik, das Musikverständnis und die Funktionen von Musik in der Gesellschaft. Die objektiven Ressourcen einer Gesellschaft stehen in einer dynamischen Wechselbeziehung mit den subjektiven Strukturen der Individuen, die die Gesellschaft konstituieren. Zu den subjektiven Strukturen zählen u. a. Veranlagung und psychische Sensibilität, kognitive Disposition, emotional-affektive Gegebenheiten und die daraus resultierenden persönlichen Vorlieben. Aus den Übereinstimmungen und Differenzen zwischen objektiven Ressourcen und subjektiven Strukturen ergeben sich nicht nur die Strategien für kreativ-kulturelles Handeln, die z. B. im Bereich der Musik zur Ausprägung der verschiedenen kunst- und popmusikalischen Stile geführt haben. Sie konstituieren und bedingen auch die Bedeutungen, Bewertungen und Funktionen von Musik in der Gesellschaft und für die Gesellschaft – teilweise auf recht direkte Art, teilweise aber auch vielfach vermittelt und gebrochen. Vier Primärfunktionen Mit Blick auf die soziokulturellen Ressourcen im Europa der Neuzeit hat Max Weber in seinen Abhandlungen zur Musik (1921) vier Primärfunktionen von Musik in der Gesellschaft benannt, die individuell-psychische und gesellschaftlich-kommunikative As- 10 MUSIK ORUM pekte beinhalten: 1. affektbestimmte emotionale Funktionen wie psychische Resonanz, Projektion oder Abreaktion von Gefühlen, 2. traditionsorientierte Funktionen – rituell, geschichtsbezogen, überliefernd –, 3. wertabhängige Funktionen wie z. B. gute vs. schlechte, anspruchsvolle vs. triviale, unterhaltende vs. ernste Musik und 4. zweckrationale Funktionen mit politischer, wirtschaftlicher, erzieherischer oder ideologischer Komponente. Und aus vergleichend-musikanthropologischer Sicht glaubte Alan P. Merriam (1964) zehn gute Gründe dafür anführen zu können, warum Menschen Musik brauchen. Sie decken sich in mancherlei Hinsicht mit den von Max Weber propagierten Primärfunktionen: 1. emotionaler Ausdruck, 2. psychische Reaktion, 3. ästhetischer Genuss, 4. Unterhaltung, 5. Kommunikation, 6. symbolische Repräsentation, 7. soziale Normierung, 8. rituelle und institutionelle Überhöhung, 9. kulturelle Stabilität und Kontinuität sowie 10. Integration in gesellschaftliche Gruppenprozesse. Wie unlängst Paul Riggenbach in einer umfassenden empirischen Studie über Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft (2000) zeigen konnte, sind nahezu alle diese Funktionen auch bei der mittlerweile zahlenmäßig am stärksten vertretenen Gruppe, den Popmusikhörern der Gegenwart, anzutreffen: Musik beeinflusst deren Gefühle und bewirkt psychische Reaktionen, sie ist Medium der Unterhaltung und Trägerin von Botschaften. Musik verändert Realitätsbezüge durch symbolische Repräsentation, sie konstituiert Lebensstile und kann hierbei sozial normierend sein, sie befördert Identitätsprozesse und führt zu sozialen Gruppenbildungen, wie sie Victor Turner (2005) unter dem Begriff der „Communitas“ wiederholt beschrieben hat. Die im Anschluss an die jeweiligen Popmusik-Funktionen konstatierten Tendenzen zielen allerdings in eine Richtung, die den musikbezogenen Funktionsfächer um so mehr einengen und begrenzen, wie die digitale Mediamorphose voranschreitet. Musik ist allgegenwärtig geworden. Das kann zu erhöhtem passiven oder gar zu ungewolltem Musikkonsum bis hin zur Abstumpfung gegenüber Musik führen. Darüber hinaus scheint technisch vermittelte Musik immer mehr zu einer einseitigen Kommunikationsform zu verkümmern. Dementsprechend wurden die durch Musik ausgelösten Gefühle und Handlungen von Riggenbachs Interviewpartnern zur Jahrtausendwende als zunehmend fremdbestimmt erfahren. Der Bezug zur Lebenswirklichkeit wurde gegenüber den 1960er bis 1990er Jahren als abgeschwächt empfunden, der reine Berieselungsaspekt von Musik trat immer stärker in den Vordergrund. Live dargebotene Musik kann diesen Tendenzen der Einengung und Abschwächung musikalischer Funktionen aber nach wie vor nachhaltig entgegenwirken. Das zumindest zeigen die Auswertungen von mehreren 100 Fragebögen der Besucher verschiedener Rockkonzerte, die Roland Hafen 1998 vorgelegt hat. Psychophysiologische und sozialpsychologische musikgenerierte Auswirkungen motivieren zum Besuch eines Lifeacts in der Konzerthalle, im Club, auf der Straße oder im Stadion. Zum psychophysiologischen Funktionsfeld gehören vor allem die Qualität und Intensität des Körpergefühls gemäß der Maxime „Das Glück ist körperlich“. Dieses Gefühl umfasst das Verlangen nach Rhythmus, Sound und Lautstärke, das Spiel mit dem Körper, den Wunsch nach Nähe in einer Gruppe Gleichgesinnter („ein Bad in der Menge nehmen“) und die körperliche Verausgabung bis zur Erschöpfung. Das sozialpsychologische Funktionsfeld wird abgesteckt durch die Demonstration von Haltungen (u. a. durch Bekleidung und Accessoires), das Zur-SchauStellen von Einstellungen und Lebensstilen (Rockmusik als Lebensgefühl) und das Verlangen nach Atmosphäre und Authentizität (Echtheit der Botschaft). © Stiftung Jedem Kind ein Instrument Offenheit gegenüber den musikalischen Erscheinungsformen: Eine fundierte Unterweisung bereits in Kindergarten und Schule kann jenes Verständnis bewirken, das später eine Vereinnahmung durch eine lediglich nach dem Gesetz der Ware geschaffene Musik verhindert. Ein Beispiel ist das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“, das in Nordrhein-Westfalen zur Förderung der musikalischen Früherziehung gegründet wurde. Naturgemäß ein wenig anders gelagert sind die Erwartungen und Wünsche, die die Besucher von volkstümlichen Popmusikkonzerten und Schlagerfestivals oder auch André Rieu- bzw. Helmut Lotti-Konzerten haben. Nina Polaschegg fasst, bezogen auf die beiden letztgenannten Musiker, die Ergebnisse ihrer qualitativen Studie über „Populäre Klassik – Klassik populär“ (2005, S. 187) folgendermaßen zusammen: Die Konzertgänger „möchten einen harmonischen und besonderen Konzertabend verbringen, sie möchten unterhalten werden, lachen und schwelgen können und den Alltag für diese Zeit weit hinter sich lassen. Der Abend soll ausschließlich angenehme, schöne und lustige Erlebnisse versprechen. Unbekanntes hat in diesem Kontext keinen Platz und wird […] negativ und ablehnend beschrieben“. Im Hinblick auf die Funktionen dieser Musik im Konzertsaal dominieren emotionale Kompensation, Einsamkeitsüberbrückung, Konfliktbewältigung und Stimulierung zu Handlungen, die sich im Beifallsritual ebenso wie im körperlichen Mitvollzug (Schunkeln, Takt klatschen, Tanzen) manifestieren. Der Communitas-Wirkung von Musik, dem Sich-Geborgen-Fühlen im Harmoniemilieu alltagsästhetischer Schemata (Gerhard Schulze, 1992) kommt hierbei der Stellenwert einer Primärfunktion zu. Derartige Untersuchungen bei unterschiedlichen Konzertpublika – wobei nachdrücklich auf die nach wie vor Richtung weisende Publikation des Autorenteams Dollase, Rüsenberg, Stollenwerk aus dem Jahr 1986 hinge- wiesen sei – belegen die verschiedenen Funktionen von Musik in Abhängigkeit vom musikalischen Produkt, von konkreten Darbietungssituationen und von personengebundenen Variablen der Musikhörer. Trotz unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Funktionskomponenten im gesellschaftlich-kommunikativen und individuell-psychischen Funktionsfächer lassen sich letztlich immer wieder zentrale Funktionskomplexe dingfest machen, wie sie bereits von Max Weber und Alan P. Merriam benannt worden sind. Funktionsfächer Bedürfnislage abzielende Funktionsfächer umfasst vornehmlich die folgenden Teilkomponenten: emotionale Kompensation (Projektion oder Abreaktion von Gefühlen), Einsamkeitsüberbrückung (parasozialer Kontakt), Konfliktbewältigung (Stressabbau durch Musik), Entspannung (Musik zum Abreagieren), Aktivierung (Musik als psychisches Stimulanzmittel), Unterhaltung (Spaß- bzw. Lustgewinn durch Musik), ästhetische Befriedigung (Transzendenz-Erfahrung) und Freiraum für Träume. Die Gründe dafür, warum wir Musik brauchen, liegen auf der Hand. Musik gleich welcher Stilrichtung ist Bestandteil und Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse. Ihre funktionale Legitimation bezieht sie aus ihrer Verankerung in bzw. Anbindung an konkrete Situationen des täglichen Lebens sowie der Überhöhung des Alltags durch verschiedene Formen von Sakral-, Fest- und Repräsentationskultur. Bewertungsbegriffe wie Echtheit, Authentizität, Botschaft, künstlerische Aussage mögen zwar vage und angreifbar sein. Sie drücken aber auf ihre Weise unmissverständlich aus, dass die Produktion von Musik und ihre Darbietung an konkret gesellschaftliche Verhältnisse gebunden sind bzw. sein sollten. Dieser funktionale und zugleich lebensnahe Bezug von Musik droht durch die Produktions- und Distributionsstrategien einiger weniger weltweit tätiger Medienfirmen zumindest im Bereich der Popmusik zunehmend unterlaufen zu werden. Aus dem insgesamt verfügbaren gesampleten musikalischen Material und den Ressourcen der Produktivkräfte musikinteressierter junger Menschen werden musikalische Stile nach empirisch erhobenen Daten der Marktforschung am Reißbrett geklont und weltweit vermarktet. In diesem Zusammenhang lässt sich dann auch der Traum von manchem Jugendlichen, Zur Veranschaulichung seien einige weitere Beispiele aus unserem westlichen Kulturkreis benannt. Zum gesellschaftlich-kommunikativen, durch soziale Normen und Regeln geprägten Funktionsfächer gehören z. B. folgende musikbezogene Settings und Inhalte: religiöse oder magisch-rituelle Transzendenz (Kult- und Kirchenmusik), Repräsentation und Glorifizierung (Militärmusik), Gestaltung von Festen und Kundgebungen (Musik als akustisches Ornament für die besonderen Ereignisse des Lebens), Bewegungsaktivierung und -koordination (Tanz- und Marschmusik), Gruppenstabilisierung und -kontrolle (Nationalhymne als In der Sphäre der Kultur findet akustische Flagge kultureller die ständige Selbstreflexion der Gesellschaft Identität), Erziehung (Musik über ihre Werte und Standards statt. der Jugend zur Selbstfindung), Gesellschaftskritik (Musik geDeswegen ist es nicht nur für die Individuen und gen Krieg, Rassismus, Sexisihre Lebensqualität, sondern auch für die Entwicklung mus) und Gesellschaftsvisioder Gesellschaft wichtig, dass möglichst viele nen (Musik gegen Krieg, Menschen in jenen kulturellen Diskurs Musik für die Freiheit), zwischenmenschliche Kontakteinbezogen werden, der mit dem aufnahme und CommunitasMedium der Künste stattfindet. Erfahrung in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Der individuell-psychische, Zitiert aus dem Schlussbericht der Enquete-Kommission auf die jeweilige persönliche „Kultur in Deutschland“ (Seite 49) » « MUSIK ORUM 11 FOKUS selbst ein Popstar zu werden, ausnutzen. Nach Head-Hunting-Methoden gaukelt man ihnen – z. B. durch die Teilnahme an einem SongContest – ein selbstbestimmtes Musikerleben vor, obwohl diejenigen, die hier erfolgreich sind, doch weiter nichts als Befehlsempfänger einer Popmusik-Wertschöpfungsmaschinerie bleiben. Sie werden immer dann sofort wieder abgeschrieben, wenn Erfolg im Sinn von Umsatz sich entweder gar nicht erst einstellen will oder nach einem ersten ChartsTitel schnell verblasst. Als Marionetten an den Fäden der Musikindustrie werden so die kreativen Kräfte musikinteressierter Jugendlicher in der Regel eher vernichtet als aufgebaut. Dieser Art von Fremdbestimmung gilt es entschieden entgegenzuwirken. Allein eine fundierte musikalische Unterweisung bereits in Kindergarten und Schule kann jenes Verständnis und jene Offenheit gegenüber den vielfältigen musikalischen Erscheinungsformen bewirken, die eine ideologische Vereinnahmung durch eine lediglich nach dem Gesetz der Ware geschaffene Musik verhindern zu helfen vermag. Anders gesagt: Ein gezielt und kompetent genutztes reichhaltiges musikalisches Live-Angebot und im besten Fall eigenes Musikmachen ermöglichen letztlich mehr als jede technisch vermittelte Übertragungsmusik einen sinnvollen Bezug zu nahen Lebenswelten und den vielen zuvor erwähnten musikabhängigen Schlüsselfunktionen. Doch musikalische Mündigkeit durch den Erwerb von Musikkenntnissen und musikalischen Erfahrungsinventaren kommt nicht von selbst. Die gesellschaftlichen Ressourcen für einen selbstbestimmten, mündigen Umgang mit Musik müssen mit erheblichem ideellen und finanziellen Einsatz von Gemeinschaft und Kulturpolitik zur Verfügung gestellt werden. Nur dann können Lebensstile geschaffen werden, in denen Musik mit Bewusstheit aktiv rezipiert und nicht nur nebenbei konsumiert wird. Und nur dann kann sich der musikalische Funktionsfächer derart behaupten, dass Musik weiterhin grundlegende Bedürfnisse menschlichen Zusammenlebens zu überhöhen bzw. vertiefen in der Lage bleibt und darüber hinaus eine psychische Notwendigkeit darstellt. Literatur Blaukopf, Kurt (1989): Beethovens Erben in der Mediamorphose. Kultur- und Medienpolitik für die elektronische Ära, Heiden 1989 Dahlhaus, Carl/Eggebrecht, Hans Heinrich: Was ist Musik?, Wilhelmshaven 1985 Dollase, Rainer, Rüsenberg, Michael u. Stollenwerk, Hans J.: Demoskopie im Konzertsaal, Mainz 1986 Eggebrecht, Hans Heinrich: Funktionale Musik, Archiv für Musikwissenschaft 30, S. 1-25, 1973 Hafen, Roland: „Rockmusik-Rezeption in Live-Konzerten“, in: Baacke, Dieter (Hg.): Handbuch Jugend und Musik, S. 369-380, Opladen 1998 Knepler, Georg: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1982 Wie sehen junge Musiker, die sich schon in einem großen Ensemble bewährt haben, das Musikland Deutschland? Wie bewerten sie ihre Chancen als professionelle Instrumentalisten? Das MUSIKFORUM befragte Mitglieder des Bundesjugendorchesters (BJO): Wie steht es um die hiesige Orchesterszene und die Ausbildung, wie reagiert das Umfeld auf ihre persönlichen Ambitionen? Die Antworten lesen Sie verstreut in diesem Heft. Zu wenig Geld für Kultur Fabian Kläsener (Violine, 19): Meine Meinung zur deutschen Musikszene? Ich finde, es spielen zu viele Ausländer in den Konzerten. In meinen Nachbarort kommen weißrussische Orchester zu Gastspielen, aber keine aus Deutschland. 12 MUSIK ORUM Umfrage: Junge Musiker – glücklich in Deutschland? Die eigenen Künstler werden viel zu wenig gepusht. Venezuela und Dudamel – das gibt eine gute Story her, die sich verkauft. Merriam, Alan: Anthropology of music, Evanston 1964 Polaschegg, Nina: Populäre Klassik – Klassik populär. Hörerstrukturen und Verbreitungsmedien im Wandel, Köln 2005 Riggenbach, Paul: Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft. Eine Untersuchung zwischen Empirie und Theorie, Marburg 2000 Rösing, Helmut: Wie politisch kann Musik sein?, Beiträge zur Popularmusik-Forschung 32, S. 155 – 168, 2004 Schulze, Georg: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992 Smudits, Alfred: Mediamorphosen des Musikschaffens. Kunst und Kommunikationstechnologien im Wandel, Wien 2002 Suppan, Wolfgang: Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik, Mainz 1984 Turner, Victor: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 2005 (orig. 1969) Weber, Max: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921 Der Autor: Prof. Dr. phil. habil. Helmut Rösing promovierte 1968 in Vergleichender Musikwissenschaft, war zwischen 1968 und 1972 Redakteur für Sinfonie und Oper beim Saarländischen Rundfunk und habilitierte 1974 im Fach Musikwissenschaft an der Universität Saarbrücken. Von 1975 bis 1980 war er Leiter der Zentralredaktion des Internationalen Quellenlexikons der Musik (RISM) in Kassel, von 1978 bis 1992 Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Gesamthochschule Kassel. Von 1993 bis 2004 hatte Rösing eine Professur an der Universität Hamburg. Wichtigste Veröffentlichungen: Musik und Massenmedien (1978), Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft (1983), Musik im Alltag (1985), Musikpsychologie – ein Handbuch (1993, hg. zus. mit H. Bruhn und R. Oerter), Musikwissenschaft und populäre Musik, Versuch einer Bestandsaufnahme (2002, hg. mit A. Schneider und M. Pfleiderer). Das finden Veranstalter interessanter als das BJO. Die deutsche Musikszene sehe ich kritisch: Es wird einfach zu wenig Geld für Kultur ausgegeben. Dabei ist Deutschland doch ein Musik-Mekka und sollte es auch bleiben. Wenn man darüber nachdenkt, wie viel für deutsche Fußballvereine ausgegeben wird und wie viel für uns… das finde ich schon ziemlich bescheiden. Das Schlimme: Viele Orchesterstellen bleiben hier unbesetzt. Orchester haben einfach keinen Bock, die Stellen zu besetzen, Aushilfen sind ja viel lukrativer. Trotzdem möchte ich Orchestermusiker werden. Es ist einfach cool, in einem Orchester zu sitzen – und Sinfonien sind schon eine Super-Sache. Diese Gemeinschaft hat man als Solist nicht. Was die Ausbildung anbelangt: Prinzipiell würde ich auch im Ausland studieren. Leider sind da aber die Lehrer nicht so gut. Die besten gibt es hier. ˇ