Sozial Extra 9|10 2012: 24-27 DOI 10.1007/s12054-012-1008-4 Praxis aktuell Intersektionalität ‚Islam‘ als Zuordnungsund Differenzkategorie Antimuslimische Ressentiments im Bereich von Bildung und Sozialer Arbeit Antimuslimische Ressentiments bedienen die Zuschreibung und Markierung von ‚Muslimen‘ ohne dabei deren Selbstverständnisse zu berücksichtigen. Mit diesen Zuschreibungen werden ‚Muslime‘ als homogene Gruppe konstruiert, deren Eigenschaften grundsätzlich und essentiell ‚anders‘ sind. Gleichzeitig überschneiden sich solche Zuschreibungen – nicht immer bemerkt und nicht immer thematisiert – mit anderen Differenzlinien. In der Praxis Sozialer Arbeit sind solche Phänomene oft in eher subtilen Formen zu finden. Stellen Sie sich folgende Situation vor: 1 Ein Kind hat gerade von der Grundschule auf die weiterführende Schule geUlrike Lingenwechselt und klagt seit Ali *1971 einiger Zeit vermehrt Diplom Pädagogin, Wisüber Kopfschmerzen. senschaftliche Mitarbeiterin im Interdisziplinären Die Mutter geht mit Zentrum für Bildung und dem Kind auf Anraten Kommunikation in Migrader Kinderärztin zu eitionsprozessen (IBKM). ulrike.lingen-ali@ ner neurologischen Prauni-oldenburg.de xis, wo verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden. Im Abschlussgespräch wird festgehalten, dass das Kind, das aufgrund der Testergebnisse als recht klug bezeichnet werden kann, sich wohl großen Belastungen aufgrund der schulischen Lernsituation ausgesetzt sieht. Zudem wird kurz auf das Kopfschmerztagebuch eingegangen, welches das Kind über einen Zeitraum von einigen Wochen geführt hat. Nicht weiter beachtet wird der Eintrag „Starke Kopfschmerzen, weil Mama schreckliche Musik hört“. Der Eintrag „Starke Kopfschmerzen, weil Papa wegen einer schlech- ten Note geschimpft hat“ führt die Ärztin jedoch unmittelbar zu einer Frage, die sie an die Mutter des Kindes richtet: „Wie ist das, ist Ihr Mann Muslim?“ Diese Frage mutet absurd an, auch wenn an dieser Stelle der Informationszusatz gegeben wird, dass Mutter und Kind einen „orientalischen“ Familiennamen tragen. Die Frage sagt jedoch viel aus über die Denkmuster der Ärztin (Kind leidet – Ursachenforschung – muslimischer Vater – despotisch und unterdrückerisch – Ursache erkannt) und führt uns unmittelbar zu der Thematik des antimuslimischen Rassismus/Ressentiments. „Sind Sie Muslim?“ ‚Islam‘ als Differenzkategorie Antimuslimischer Rassismus bezieht sich auf die dichotome und essentialisierende Differenzkonstruktion zwischen ‚dem Westen‘ und ‚dem Islam‘. Historisch eingebettet ist antimuslimischer Rassismus in eine jahrhundertealte politische und kulturelle Differenzierung zwischen Orient und Okzident und hat nicht zuletzt ganz spezifische Bilder und Funktionen hervorgebracht: ‚Der Islam‘ – als Gegenspieler ‚des Westens‘ – durchdringt ei- nem solchen Differenzierungsgedanken folgend essentiell alle Muslime. Die Andersheit der Muslime ist in dieser Logik quasi naturbedingt, was wiederum der Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien dient (vgl. Rommelspacher 2009: 27f.). Auch wenn sich die Ausdrucksformen von antimuslimischem Rassismus verändert haben, sind sie auch heute noch wirkungsmächtig. Insbesondere seit Beginn des Jahrtausends sind sie offensiver geworden und haben sich gesellschaftlich fest verankert. So kann ‚der Islam‘ durchaus als neue, historisch grundierte Differenzlinie bezeichnet werden2 ; eine Differenzlinie, die nach einem eindeutigen Zuordnungscode (Muslim oder Nichtmuslim) jenseits von Ethnie, kultureller Zugehörigkeit oder Bildungsniveau verlangt. Übersehen wird dabei oft, dass auch die Kategorie ‚Islam‘ – wie alle anderen Differenzkategorien auch – keinesfalls eindeutig ist und keine Kategorie a priori darstellt. Vielmehr geht es darum, die Definitionsmacht über die Anderen zu erlangen bzw. fortzuschreiben und durch die Konstruktion von Differenz ein Dominanzgefälle zu reproduzieren (vgl. Al-Ali 2000: 3, 224). Im Eingangsbeispiel wird deutlich, dass die Gedanken der behandelnden Ärztin offenbar bereits im Prozess der Ursachenforschung in eine bestimmte Richtung gehen und die in der entscheidenden Frage münden („Ist Ihr Mann Muslim?“), mit der das Muslimsein des Vaters als umfassende Ursache einer individuellen und familiären Problematik entlarvt wird. Die Frage „Sind Sie Muslim? Sind Sie Muslimin? “ wird an der Schnittstelle zwischen einer Abweichung von der Norm/einem Problemfeld/einem Erklärungsvakuum/einer offenen Frage und einer Vorausdeutung/ einem Halbwissen/einer Vorinterpretation gestellt. Das erwartete „Ja“ führt zur Bestätigung, sowohl des Sachverhalts als auch des Weltbilds, woraufhin die Interventionsmöglichkeiten entsprechend angepasst werden können. Abstract / Das Wichtigste in Kürze Antimuslimische Ressentiments bedienen die Zuschreibung und Markierung von ‚Muslimen‘, ohne dabei deren Selbstverständnisse zu berücksichtigen. Mit diesen Zuschreibungen werden ‚Muslime‘ als homogene Gruppe konstruiert, deren Eigenschaften grundsätzlich und essentiell ‚anders‘ sind als ‚unsere‘ Eigenschaften. In der pädagogischen Praxis ist dieses Phänomen in eher subtilen Formen zu finden. Dennoch gibt es auch hier Interventionsmöglichkeiten, um Muslimisierung entgegen zu treten. Keywords / Stichworte Differenzkonstruktionen, Zuschreibungen, Rassismus, Islam, Muslimisierung, Intersektionalität, Geschlecht, Klasse. 24 Diese Form antimuslimischen Rassismus’/Ressentiments reiht sich ein in die Bandbreite antimuslimischer Praxis, die von plakativer Berichterstattung (Der Spiegel, EMMA) und Populärliteratur (Kelek, Sarrazin), über antimuslimische Bürgerbewegungen (Pro Köln) bis hin zu Koranverbrennungen und Morden durch neonazistische Gruppen (NSU) oder Einzeltäter reicht. An dieser Stelle jedoch soll es ausschließlich um subtile Interaktionen und Ausdrucksformen von Vorstellungen gehen, die jederzeit auch in den Bereichen von Bildung und Sozialer Arbeit zu finden sind. Wenngleich antimuslimischer Rassismus den Sachverhalt präzise benennt, so ist es gleichwohl ratsam, zuweilen von Ressentiments oder von Zuschreibungen zu sprechen. Dieser Einwand ist eher strategischer Natur und dient dazu, einer Abwehrhaltung vorzubeugen, die entstehen kann, wenn sich wohlmeinende Menschen mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert sehen. Um mit der Ärztin aus dem Eingangsbeispiel in ein offenes Gespräch über ihre Einstellungen über Muslime und Musliminnen zu kommen, wäre es möglicherweise förderlicher, auf ihren subtilen Rassismus auch mit subtilen Interventionsformen – und dies schließt die Benennungspraxis mit ein – zu reagieren. Die Wirkungsmächtigkeit von Zuschreibungen und Markierungen Ob nun Rassismus oder Ressentiment, ob subtil oder unverhohlen – entlang der Differenzlinie Islam wird mit Zuschreibungen und Essentialisierungen gearbeitet, mit Markierungen, Festlegungen und damit verbunden mit Abwertungen und Hierarchisierungen (vgl. Attia 2007: 6; Attia 2009a: 50). Wie Markierungen wirkungsmächtig werden, soll anhand eines ersten Beispiels aus dem Religionsunterricht an einer niedersächsischen Grundschule dargestellt werden. In diesem Beispiel geht es um eine Schülerin, die auf Wunsch der Eltern nicht am evangelischen Religionsunterricht teilnimmt, allerdings den Klassenraum während der Religionsstunde nicht verlässt, sondern sich im hinteren Bereich selbst beschäftigt. Als einige Unterrichtseinheiten zum Thema Islam auf dem Lehrplan stehen, lässt die Lehrerin die Schülerin ungefragt nach vorne kommen und platziert sie in der Mitte. Dort fordert sie sie unumwunden auf, ein Kopftuch anzulegen, um den MitschülerInnen zu demonstrieren, „wie das aussieht“. Unabhängig davon, dass die Eltern keine Angaben über ihre Beweggründe gemacht hatten, ihre Tochter vom Religionsunterricht freistellen zu lassen, und unabhängig davon, dass die Schülerin aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und ihres Verhaltens nicht mit religiös begründeten islamischen Praktiken in Verbindung gebracht werden kann, wird sie unmittelbar als Muslimin markiert, auf das Kopftuch als das Symbol muslimischer Weiblichkeit festgelegt und darüber hinaus instrumentalisiert als Anschauungsobjekt für die nicht-muslimische SchülerInnenschaft. Ein zweites Beispiel: Wenn eine (bekennende, aber nicht offensive) Muslimin sich gerne dagegen aussprechen würde, dass ihr Kind auf Klassenfahrt in gemischten Schlafsälen schläft, und sie ihre Intervention dennoch zurückhält aus Sorge, einmal mehr reduziert zu werden auf ‚islamische‘ Rückständigkeit und Verklemmtheit, als Störfaktor für den gewohnten Schulalltag (vgl. Karakasoglu 2009: 294f.), so kann diese Haltung nicht nur als Internalisierung von Unterdrückung, sondern durchaus auch als Prävention gegen beständige und erneute Markierungen gedeutet werden. Solche Markierungen und Zuschreibungen haben nicht viel zu tun mit den jeweiligen Selbstverständnissen, sondern erfolgen oftmals mit einer homogenisierenden Tendenz, Muslime als eine in sich geschlossene Gruppe wahrzunehmen (vgl. ebd.: 289; Jonker 2009: 72). Dabei können sich als Muslime markierte – muslimisierte – Menschen offenbar ganz unterschiedlich auf den ‚Islam‘ beziehen: religiös, angepasst, protestierend, demonstrativ, abgrenzend, positiv u.v.a.m. (vgl. Attia 2007: 5f.). In der Praxis in Bildung und Sozialer Arbeit werden diese Differenzierungen leicht übersehen und zuweilen durch stereotype Wahrnehmungen ersetzt. In dem Beispiel aus dem Religionsunterricht bietet die Lehrerin zum Ende der Stunde der muslimisierten Schülerin an, sie könne gerne für den nächsten Unterricht einmal „etwas von zu Hause mitbringen“ – vielleicht ein fremdes, exotisches Objekt? Auch als später ein Moscheebesuch ansteht, wird die Schülerin erneut aufgefordert, sich am Unterricht zu beteiligen – um den MitschülerInnen ihre „religiöse Heimat“ nahezubringen? Auch wenn sie bis dahin noch keine Moschee von innen gesehen hat? Mit solchen Praktiken des Otherings werden religiös begründete Differenzen hergestellt: ‚wir‘ stellen die ‚Anderen‘ uns dichotom gegenüber und distanzieren uns gleichzeitig von ihnen, um die eigene positiv konnotierte Identität zu stärken. Die ‚andere‘ Identität wird innerhalb dieses Prozesses stigmatisiert und dabei teilweise auch exotisiert und vorgeführt (vgl. Lutz 1992: 65; Attia 2009b: 151). Diese Formen des Otherings sind verbunden mit ethnozentristischen und orientalistischen Perspektiven, die wiederum einhergehen können mit Misstrauen, Angst und Ablehnung bis hin zu offenem Rassismus. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn der Islam als Angriff auf die demokratische Ordnung gesehen wird und gleichzeitig gegenüber den eigenen (dezidiert nicht-islamischen) kulturellen und religiösen Praktiken abgewertet wird (vgl. Karakasoglu 2009: 295). Yasemin Karakasoglu beschreibt, wie binäre Zuschreibungs- und Differenzierungsprozesse auf konzeptioneller Ebene in die pädagogische Praxis einfließen können: „Religiosität wird dann per se mit Modernitätsfeindlichkeit und Irrationalität gleichgesetzt und Moderne mit der Freiheit des Individuums jenseits der Begrenzungen durch religiöse Normen. Vor diesem Hintergrund stellen religiöse Muslime für die Pädagogen nahezu zwangsläufig Gegner ihrer Erziehungs- und Bildungsziele dar“ (ebd.). Fehlende Sachkenntnisse führten dann darüber hinaus dazu, dass dieses gedankliche Konstrukt pauschal auf alle muslimisch zugeordneten SchülerInnen und deren Eltern übertragen werde (vgl. ebd.) Zum Begriff Orientalismus Bei Orientalismus, so Edward Said, handelt es sich um eine „…gewollte imaginative und geografische Teilung zwischen Ost und West“ (Said 1981: 226), durch die die Unterschiede zwischen Menschen des Westens 25 Sozial Extra 9|10 2012 Praxis aktuell Intersektionalität und Menschen des Ostens dergestalt fixiert werden, dass sie gleichwohl als angeboren erscheinen (vgl. ebd.). Die Orientalisierung des Orients geschieht durch ein komplexes Feld diskursiver Praktiken und basiert auf einer Politik, die davon ausgeht, „... dass alles, was für Orientalen oder Afrikaner zutrifft, ganz sicher nicht für Europäer zutreffen kann“ (Said 1997: 85). Damit hat die Konstruktion des Orients als Effekt europäischer Diskurse weniger mit dem ‚Orient‘ als mit Selbstverständnissen des ‚Westens‘ zu tun. Zu den wesentlichen Ideen über einen homogenen Orient gehören seine Sinnlichkeit, seine Zurückgebliebenheit, seine Tendenz zum Despotismus, seine Irrationalität und Passivität. Durch die westliche Konstruktion dieser Eigenschaften und Kennzeichen als unwandelbare Essenz dient er in seiner Funktion als negatives Spiegelbild der Konstruktion und Vergewisserung einer europäischen Identität. Die orientalischen Merkmale kontrastieren dabei die Merkmale des Westens: rational, entwickelt, überlegen, aktiv (vgl. Said 1981: 230; Kurz 2000: 14). Intersektionalität als alternative Perspektive Mit der Muslimisierung von Menschen durch essentialisierte, dichotome und hierarchisierte Zuschreibungen und Markierungen wird jedwedes Verhalten dieser Menschen auf ‚den Islam‘ zurückgeführt. Wie auch die Erklärungslogik der Ärztin im Eingangsbeispiel zeigt, fungiert in diesem Kontext ‚der Islam‘ als dominante Differenzkategorie – vernachlässigt bzw. ignoriert werden dabei jedoch Selbstpositionierungen und gesellschaftspolitische Zustände (vgl. Rommelspacher 2007: 245; Attia 2009b: 151). Um hier zu intervenieren und diesen Aspekten gerecht zu werden, ist – auch bezogen auf die pädagogische Praxis – eine intersektionelle Perspektive erforderlich, mit der verschiedene Ebenen in den Blick genommen werden, um die Situationen religiös und kulturell zu ‚entkleiden‘ (vgl. Karakasoglu 2009: 299). Mit Intersektionalität wird die Überschneidung und Verflechtung sowie das Zusammenwirken von verschiedenen Differenzkategorien beschrieben. Intersektionalitäts26 theorien stellen eine Perspektive und eine Herangehensweise dar, mit der kritische Soziale Arbeit die Komplexität dieser Kategorien in den Blick nehmen kann, und zwar unter Einbezug sozialer, kultureller und politischer Wirkungsweisen (vgl. den Beitrag von Riegel/Scharathow). In diesem Sinne fordert das Konzept der Intersektionalität dazu auf, auch unbequeme Perspektiven einzunehmen und sich nicht mit simplifizierenden Erklärungsmustern zufrieden zu geben. Die Muslimisierung von Geschlecht und Klasse Ein städtischer Träger von Betreuungseinrichtungen strebt an, in den ihr angehörenden Kindertageseinrichtungen die Standards für Geschlechtersensibilisierung bei den MitarbeiterInnen zu fördern. Es werden Seminare zu gender awareness durchgeführt. Aus einer Einrichtung, die von besonders vielen Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird, werden dem Seminarleiter gegenüber Bedenken geäußert: „Das hat bei uns keinen Zweck, das sind so viele Muslime. Die kleinen Jungen respektieren uns Erzieherinnen sowieso nicht.“ Interessant ist hier zunächst, dass offenbar ein ähnliches Denkmuster vorliegt wie bei der Ärztin aus dem Eingangsbeispiel, ein Denkmuster, das dem gesamten Themenkomplex zugrunde zu liegen scheint: Vorliegender Problemfall/pädagogische Herausforderung – Ist er Muslim? – Ja – Sachlage geklärt (Problem ist allerdings leider unlösbar, da Verursacher Muslim). ‚Der Islam‘ wird hier als massiver und unvergänglicher Störfaktor für professionelle pädagogische Qualitätsarbeit konstruiert. Darüber hinaus findet eine Muslimisierung des Geschlechterverhältnisses statt, mit der die klischeehafte Figur des ‚kleinen orientalischen Machos‘ bedient, rekonstruiert und gefestigt wird – eine Figur, die dem Bild einer liberalen, aufgeklärten Geschlechtsrollenvielfalt diametral entgegensteht. Damit wird ‚der kleine Muslim‘ zum essentiell ‚Anderen‘ für die Erzieherinnen der Kindertagesstätte. Der geforderte resp. verweigerte Respekt ist hier zentraler Bestandteil, mit dem die muslimisierte Geschlechterdifferenz belegt wird.3 An dieser Stelle wäre es dringend angezeigt, die Situation religiös zu entkleiden, und die unterschiedlichen Ungleichheitsverhältnisse, Lebenslagen, Diskurse und Praxen freizulegen. Nicht zuletzt für die (sozial-) pädagogischen Fachkräfte würden sich dann wieder Handlungsoptionen erschließen können, die ihnen offenbar durch eine Islam-zentrierte Differenzperspektive verwehrt bleiben. Die Verknüpfung zwischen Islam und dem Klassenaspekt kommt zum Ausdruck in einem Beispiel aus dem wissenschaftlichen Kontext. In einem universitären Kolloquium zum Thema Interkulturelle Frauenforschung erörtern die Studentinnen Konstruktionsprozesse der ‚Orientalin‘. In diesem Zusammenhang wendet sich eine (weiße, deutsche, nichtmuslimische) Studentin an ihre (deutsch-arabische, muslimische, kopftuchtragende) Kommilitonin mit der Aussage: „Tut mir leid, nichts gegen dich, aber wenn ich Frauen mit Kopftuch sehe, dann denke ich immer: türkische Putzfrau.“ Hier zeigt sich, dass Islam und Klasse quasi miteinander verschmelzen und dass gleichzeitig eine differenzierte und mehrdimensionale Betrachtung von Selbst- und Fremdpositionierungen und Verweisungen ausnehmend vernachlässigt wird. Selbst die Tatsache, dass das Gespräch in einem wissenschaftlichen Setting angesiedelt ist und dass einige der anwesenden Studentinnen hochqualifizierte Frauen türkischer Herkunft sind, vermag offenbar nicht die Wirkungsmächtigkeit der Assoziation ‚Frau mit Kopftuch = türkische Putzfrau‘ zu durchbrechen.4 Intersektionelle Strategien im Umgang mit Muslimisierung Wie kann diesen Mechanismen entgegen gewirkt werden? Zum einen ist sicherlich beständige und fundierte Aufklärung und Sensibilisierung vonnöten. Gerade die Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätte aus dem genannten Beispiel sind auf Gegeninformationen angewiesen, die es ihnen ermöglichen, ihre Perspektive zu erweitern und einen neuen, kritischen Umgang mit ihren Wahrnehmungen zu entwickeln (Was verstehen die Erzieherinnen unter Respekt? Was bedeutet Respekt für die Familien der Kinder in der Einrichtung? Gibt es Unter- schiede und Gemeinsamkeiten? Inwiefern hat respektloses Verhalten von Kindern etwas mit religiöser Erziehung zu tun? Welche Rolle spielen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen? Warum fühle ich mich durch dieses eine respektlose Kind so gehemmt in meiner pädagogischen Praxis? Und wie komme ich darauf, dass das etwas mit dem ‚Islam‘ zu tun haben könnte?). Selbstreflexion ist hierbei ein zentraler Aspekt: Jede und jeder ist gefragt, die eigenen Wahrnehmungen kritisch zu reflektieren – nicht nur Mitarbeiterinnen an der problemzentrierten Basis, sondern auch PädagogInnen in Leitungsfunktionen sowie Angehörige des Weiterbildungs- und Wissenschaftsbereichs. Grundsätzlich muss es darum gehen, einen anerkennenden Umgang mit divergierenden Haltungen zum Stellenwert von Religionen im Alltag entwickeln (vgl. Karakasoglu 2009: 302). Dazu gehört dann auch die Frage, warum es scheinbar progressiv ist und einer geschlechtersensiblen Grundhaltung entspricht, wenn sich PädagogInnen und Feministinnen dafür aussprechen, geschlechtergetrennten Sport- und Mathematikunterricht abzuhalten – wenn jedoch (erklärte oder imaginierte) Muslime diese Forderungen stellen, so werden sie sogleich als rückschrittlich und überfremdend abgewehrt (vgl. Attia 2007: 13f.). In anderen Situation geht es weniger um Informationsvermittlung und Selbstreflexion, sondern klare Abgrenzung sollte im Vordergrund stehen: Die muslimisierte Schülerin dient weder dem (zuweilen wohlmeinenden) Erkenntnisgewinn ihrer MitschülerInnen, noch der Auflockerung des Unterrichts durch Anschauung und sinnliche Erfahrung. Die Verweigerung, durch Muslimisierung in die Gestaltung des Unterrichts einbezogen zu werden, kann für die Lehrkraft wünschenswerterweise Anstoß dafür sein, die eigenen Motive zu überdenken und ihr pädagogisches Vorgehen zu überarbeiten. Dieser Aspekt verweist bereits auf eine weitere Möglichkeit, antimuslimischen Ressentiments und Muslimisierungen entgegen zu treten: Das ironische Spiel mit Zuschreibungen und Markierungen, Persiflage, Dissimilation (Castro Varela), das bewusste Ausleben von Gegenbildern – Wussten Sie, dass es muslimische Punk-Szenen gibt? – bieten zuweilen entlastende Strategien an (vgl. Attia 2007: 14). In diesem Sinne bietet sich an, auf die Frage „Ist Ihr Mann Muslim?“ zu antworten: „Ja! Und ich glaube, deshalb hat mein Kind Kopfschmerzen. Da muss es doch einen Zusammenhang geben, meinen Sie nicht auch?“. Antimuslimischer Rassismus ist eine Tatsache – in der Politik, in den Medien, im Alltag, in der Sozialen Arbeit und in der politischen Praxis, wird an antimuslimischen Markierungen und Differenzierungen festgehalten. Antimuslimischer Rassismus ist aber widersprüchlich und widerlegbar – mit kreativen Gegenstrategien ist es möglich, ihn zu entlarven und zu überwinden. ∑ Anmerkungen 1 Bei den in diesem Text vorgestellten Beispielen handelt es sich um Ereignisse aus dem unmittelbaren beruflichen und privaten Umfeld der Autorin. 2 Zu Studien, die antimuslimischen Rassismus empirisch belegen, siehe Shooman (2011) und Peucker (2009). 3 Dabei scheint das Phänomen, dass mangelnder Respekt bei muslimisch assoziierten Jungen gegenüber Frauen ausschließlich dem Islam zugeordnet wird, recht verbreitet zu sein (siehe dazu ausführlich Karakasoglu 2009). Auch andere als problematisch definierte Verhaltensweisen werden oftmals durch die Zuordnung zum Islam gewertet und gedeutet. 4 Analog besteht eines der dominanten Bilder bzgl. männlicher Stereotype in der Figur des ungebildeten Gastarbeiters aus ländlichen Regionen. Literatur AL-ALI, NADJE (2000). Secularism, Gender and the State in the Middle East. The Egyptian Women’s Movement. Cambridge: Cambridge University Press. ATTIA, IMAN (2007). Kulturrassismus und Gesellschaftskritik. IN: dies. (Hrsg.), Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus (S. 5-28). Münster: Unrast. ATTIA, IMAN (2009A). Die ‚westliche Kultur‘ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld: transcript. ATTIA, IMAN (2009B). Diskurse des Orientalismus und antimuslimischen Rassismus in Deutschland. IN: Melter, Claus, Mecheril, Paul (Hrsg.), Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und –forschung (S. 146-162). Schwalbach/Ts.: Wochenschau. JONKER, GERDIEN (2009). Europäische Erzählmuster über den Islam. Wie alte Feindbilder in Geschichtsschulbüchern die Generationen überdauern. IN: Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (S. 71-83). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. KARAKAŞOĞLU, YASEMIN (2009). Islam als Störfaktor in der Schule. Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und Alltagskonflikten. IN: Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (S. 289-304). Wiesbaden: VS. KURZ, ISOLDE (2000): Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation. Würzburg: Ergon. LUTZ, HELMA (1992). Rassismus und Sexismus, Unterschiede und Gemeinsamkeiten. IN: Foitzik, Andreas u.a. (Hrsg.), ‚Ein Herrenvolk von Untertanen‘. Rassismus – Nationalismus – Sexismus (S. 57-79). Duisburg: DISS. PEUCKER, MARIO (2009). Islamfeindlichkeit – die empirischen Grundlagen. IN: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (S. 155-165). Wiesbaden: VS. ROMMELSPACHER, BIRGIT (2007). Dominante Diskurse. Zur Popularität von ‚Kultur‘ in der aktuellen IslamDebatte. IN: Attia, Iman (Hrsg.), Orient- und Islambilder. 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