TÜRKEI »Der Islam ist nichts für Steppenvölker« Claus Schönig, Professor für Turkologie an der Freien Universität Berlin, schildert im Gespräch mit zenith, wie Nomaden und Kleinasier in Anatolien aufeinander stießen – und wie deren Nachfahren sich sahen. Als Muslime, Osmanen, Türken? Oder etwa nichts dergleichen? Interview: Robert Chatterjee Andreas Altmann zenith: Herr Professor, was ist eigentlich ein »Türke«? Claus Schönig: Etwas weiter gefasst würde ich jemanden als Türken definieren, der Türkisch spricht und auch ansonsten in einer der Kulturen verankert ist, die auf dem Türkischen basieren. Wie sind die Türken nach Kleinasien gekommen? Ein Großteil der Vorfahren der heutigen Türken ist zu Fuß nach Anatolien gekommen. Nicht auf dem Rücken von Pferden? Nein, so schon mal gar nicht. Wir wissen aus den Quellen ziemlich gut, wie die Leute damals lebten. Sie hatten, so wie auch die amerikanischen Pioniere, ihre Planwagen und Packpferde. In Anatolien wurden ab dem 11. Jahrhundert allmählich Teile der ansässigen Bevölkerung türkisiert. In Kirchenbüchern aus dieser Zeit wird etwa beklagt, wie viele Christen konvertieren würden – und der Übertritt zum Islam hat normalerweise auch die Türkisierung bedingt. Diese Leute dürften genetisch einen sehr großen Anteil an der Gruppe stellen, die wir in der Turkologie heute als Türkeitürken bezeichnen. Das heißt also, dass die Vorfahren vieler Türken gar nicht einwandern mussten, sondern bereits da waren. Was brachten die Türken kulturell mit? Was den Begriff »türkische Nationalkultur« betrifft, die angeblich 80 000 Jahre alt sein soll, so ist es doch schwer, Gemeinsamkeiten zwischen Anatolien und Zentralasien zu erkennen. Tatsächlich gibt es erstaunlich wenige Verbindungen. In Anatolien ist vieles als vorislami- 28 zenith 1/2011 sches Brauchtum und Volksfrömmigkeit zu deuten. Hinweise auf ein zentralasiatisches Erbe sind extrem selten, falls überhaupt vorhanden. Nicht einmal der Ayran oder der Joghurt? Die sind in Anatolien heimisch. In Zentralasien ist der Joghurt ein Importprodukt. Joghurt ist wohl eine Erfindung der Thraker und das Wort selbst ist auch thrakisch und nicht türkisch. Es bedeutet »dicke Milch«. Mitgebracht haben die Türken eine Form der Weidewirtschaft und die starke Basierung auf Viehhaltung. Aber wie man auch in Anatolien sehen kann, ist das nicht die einzige Lebensgrundlage, die Türken haben auch sehr früh angefangen, dort Felder zu pflügen und Getreide anzubauen. Viele islamkritische Türken berufen sich auf ihre schamanistischen Wurzeln. Ein typischer Zivilisationsmythos und eine Modeerscheinung: Man wendet sich heute dem Schamanismus zu und hält das für eine Religion, obwohl es eine Technik ist, die in verschiedenen Religionen angewendet werden kann. Oft wird übersehen, dass die alten Türken eine Religion hatten, die man »Tengriismus« nennen kann. Innerhalb dieser Religion, die ihre eigene Vorstellung über die Organisation der Welt hat, gab es Schamanen, die Priesterfunktionen ausgeübt haben. In der Türkei sehe ich davon allenfalls noch Reste, falls sie dort überhaupt hingehören. Wie kam es dann zur Islamisierung vieler Turkvölker? Ein Steppenvolk wie die Mongolen wurde ja langfristig nicht islamisiert. Die Konversion zu einer anderen Religion bedeutete in früheren Zeiten eine Selbsteinordnung in bestehende Kulturen und vor allem auch politische und wirtschaftliche Systeme. Zwei Sachen sind hierbei zu beachten: Der Islam wurde oft von Händlern verbreitet. Die Konversion zum Islam bedeutet somit, zu einem bestimmten wirtschaftspolitischen System Zugang zu bekommen. Ein anderer Aspekt ist, dass in den Regionen, in welche die Turkvölker vordrangen, der Islam schon vorhanden war. Aus der türkisch-mongolischen Geschichte gibt es eine Menge Beispiele, dass die Herrscher zur Religion der Mehrheitsbevölkerung konvertiert sind, um dem Staat mehr Sicherheit zu verleihen. Mit Erweckungserlebnissen dürfte das in den seltensten Fällen zu tun gehabt haben. Was ein großes Hindernis für die Konversion war und ist: Der Islam läuft mit seinem Regelwerk den Lebensweisen eines Steppenvolks teilweise diametral entgegen. Die rituelle Waschung hat zum Beispiel für viele den Charakter von Wasserverschwendung, in früherer Zeit ging damit sogar die Beleidigung der Wassergeister einher. Der Islam ist zudem wenig spirituell, und wenn man aus einem Milieu kommt, wo Beschwörung und der Dialog mit der Gottheit eine große Rolle spielen, ist man beim Islam an der völlig falschen Adresse. Die Turkvölker, die in ihrer Weltsicht und Lebensweise den Mongolen relativ nahe standen, nämlich Kasachen und Kirgisen, wurden daher erst sehr spät und teilweise nur oberflächlich islamisiert. Hat sich denn das Osmanische Reich als islamisches Reich verstanden? Oder als türkisches? Foto: Privat TÜRKEI dann, Ende des 17. Jahrhunderts, beginnt man, Istanbul als »Islambol« zu bezeichnen. Warum wurden die Osmanen in Europa eigentlich immer als Türken bezeichnet? Wen hat man mit »Türke« gemeint? Sie haben sich selbst »Türk« genannt, die Bezeichnung gab es. Das wurde dann über die Byzantiner, wahrscheinlich auch über die italienischen Seehandelsstädte übermittelt. Daher wusste man, dass es eine ganze Reihe von »Türken« gab, von denen die Osmanen zunächst nur eine Gruppe waren. In Europa kannte man den Begriff »Türke« seit den Kreuzzügen. CLAUS SCHÖNIG wurde 1955 in Mainz geboren, wo er Islamwissenschaften, Turkologie und Islamische Philologie studierte. 1995 habilitierte er sich an der Freien Universität Berlin. Von 2001 bis 2007 war er unter anderem Leitender Referent am OrientInstitut Istanbul. Zurückgekehrt an die Freie Universität übernahm er 2007 den Lehrstuhl für Turkologie. Derzeit arbeitet Schönig an einer neuen Klassifikation aller Türksprachen: von den Gagausen in Zentraleuropa bis zu den Tuva im Altai-Gebirge. Das hat sich natürlich im Laufe der Zeit geändert. Für viele Türken, die so genannten Ghazis, war der Glaubenskrieg eine Erwerbsquelle. Weder die frühen Araber noch die Türken haben ihre Feldzüge zur Verbreitung des Islams eingesetzt. Warum waren die Osmanen auf dem Balkan? Dort gibt es viele Silberbergwerke. Die Serben und Bulgaren dort sind in Ruhe gelassen worden. Es war sogar in keinem dieser Gebiete für die Osmanen wünschenswert, den Islam zu verbreiten, denn damit hätte man sich eine wichtige Einnahmequelle, die Kopfsteuer, genommen. Ein großer Teil des Steueraufkommens des Osmanischen Reichs wurde von Christen aufgebracht. Die Ausbreitung des Reichs war kein Akt glaubenskämpferischer Tätigkeit, das war Politik. Und ab einer gewissen Zeit vielleicht auch ein imperialistischer Akt. Die Krise des Osmanischen Staates beginnt in dem Moment, in dem er aufhört sich auszudehnen. Und die Rückbesinnung auf den Islam kommt auch erst mit den Rückschlägen zum Tragen. Erst Ist denn der Begriff »Türke« in unserer Sprache grundsätzlich negativ konnotiert, wenn man an Begriffe wie »getürkt« denkt? So allgemein würde ich das nicht sagen. Das hängt von der jeweiligen Periode ab. Martin Luther hat zum Beispiel einen »Türkenhammer« verfasst, der dazu anleitet, wie man »dem Türken« zu begegnen hat. Das entstand natürlich zu einer Zeit, als das Osmanische Reich militärisch massiv in Richtung Mitteleuropa vordrang. Das wurde dann abgelöst durch Phasen, in denen es in Europa ausgesprochene »Türkenmoden« gab. Beispiele dafür sind etwa die »Porzellantürken« aus Meissen oder die Tulpenmoden. Dies schwankte also sehr stark, abhängig von der Bedrohungslage durch die Osmanen. Die Vorstellung vom »kranken Mann am Bosporus« aus dem 19. Jahrhundert zielte auf die politischwirtschaftliche Schieflage des Osmanischen Reiches ab, hatte aber keinerlei ethnische Verunglimpfung der Türken im Auge. Die negative Verwendung von »Türk« fand man eigentlich viel eher im Osmanischen Reich selbst. Wie hat es Atatürk geschafft, aus Muslimen stolze Türken zu machen? »Die Besinnung auf die Religion kam erst mit den militärischen Rückschlägen und Niederlagen der Osmanen« Atatürk hatte einen großen Trumpf: Er hatte den Bürgerkrieg gegen die Griechen gewonnen, sein Kapital als Staatsmann. Ansonsten wurde der Stolz den Leuten antrainiert. Das kann man ja heute noch sehen: In türkischen Volksschulen geht es zu wie auf dem Kasernenhof. Nicht umsonst gibt es Slogans wie »Türke, sei stolz! Vertraue und arbeite!« Hinzu kommt, dass die Türkische Republik durchaus einige Erfolge vorweisen konnte, so dass der Begriff »Türk« aufgewertet werden konnte. Wichtig ist natürlich auch die forcierte Identitätsbildung beziehungsweise deren Konstruktion, so etwa die türkische Geschichtsthese, nach der die Türken letztendlich für alle kulturellen Leistungen auf der Welt verantwortlich sind. Die Regierungspartei AKP wird in letzter Zeit häufig mit dem Begriff der »Neuen Osmanen« in Verbindung gebracht. Wie stark ist der Rückgriff auf das osmanische Erbe und was versteht die AKP eigentlich darunter? Die AKP verfolgt als Leitlinie eine Rückkehr zu einer islamisch determinierten Gesellschaft. Da kann man natürlich mit der Größe und der Kulturleistung der Osmanen argumentieren. Auf diese Weise versucht man, die Leute stolz zu machen und das Verlangen zu fördern, diese Bedeutung wiederzuerlangen. Auf politischer Ebene korrespondiert das mit dem Anspruch, wieder zur regionalen Hegemonialmacht aufzusteigen. Inwiefern die AKP-Politiker nun selbst »Opfer« dieser Ideologie sind, lässt sich wohl nur im Einzelfall sagen. Die wachsen ja in diesem Milieu auf, sie sind meist keine knallharten Zyniker, die den Rückgriff auf das Osmanische Reich lediglich instrumentalisieren. Die Kombination von AKP und Osmanischem Reich bedeutet natürlich eine klare Frontstellung gegen den kemalistischen Staat und die kemalistischen Kräfte in der türkischen Gesellschaft. Nationale Größe, Islam und regionale Vormachtstellung – das sind die drei wichtigsten Leitlinien der AKP, beziehungsweise Erdogans. Denn was ist die AKP anderes als dessen Gefolgschaft? Werden die Türken durch diese Politik jetzt weniger nationalistisch? Der Nationalismus wird sich anders orientieren. Dem osmanischen Erbe wird einfach mehr Platz eingeräumt. Da sind auch die meisten AKPMitglieder »Opfer« der nationalen Ideologie, in der sie ja aufgewachsen sind. »Osmanisch« heißt einfach, dem Islam mehr Gewicht innerhalb des Nationalismus zu geben. << zenith 1/2011 29