C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Die craniomandibuläre Dysfunktion – Das Chamäleon der Schmerzen – Die Bedeutung der Elektromyographie und die Schwierigkeit der Differentialdiagnose bei Zahn-, Kiefer- und Kopfschmerzen an Hand einer Kasuistik –! B. Losert-Bruggner Z ahnärzte, HNO-Ärzte, Orthopäden, Schmerztherapeuten, Physiotherapeuten, Manualtherapeuten, Heilpraktiker u.a. Heilberufe werden vermehrt mit Schmerzbildern konfrontiert, die im Zusammenhang mit craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) betrachtet werden müssen. Häufig ist dieser Zusammenhang aber nur schwer zu erkennen. Unter einer craniomandibulären Dysfunktion versteht man die Fehlstellung des Unterkiefers (Mandibula) zum Kopf (Cranium). Vereinfacht ausgedrückt, ist der Unterkiefer zum Oberkiefer nicht physiologisch ausgerichtet, was zu entsprechenden Dysfunktionen der Muskulatur und der Kiefergelenke führt und Zahnschmerzen, Kiefer- und Gesichtsschmerzen auslösen kann. Die CMD als Chamäleon Für den Zahnarzt, der sich spezialisiert hat auf die Behandlung von Patienten mit craniomandibulären Dysfunktionen, stellt sich immer wieder die ! Lesen lohnt sich: Dieser Beitrag nimmt am Wettbewerb teil. Bitte beurteilen Sie ihn nach der Frage: „Ist der Inhalt für meine Berufspraxis wichtig und interessant?“ 1320 Zusammenfassung In den letzten Jahren werden Zahnärzte, HNO-Ärzte, Orthopäden, Schmerztherapeuten, Physiotherapeuten, Manualtherapeuten, Heilpraktiker u. a. Heilberufe vermehrt mit Schmerzbildern konfrontiert, die im Zusammenhang mit craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) betrachtet werden müssen, häufig aber nur schwer als solche zu erkennen sind. Unter einer craniomandibulären Dysfunktion versteht man die Fehlstellung des Unterkiefers (Mandibula) zum Kopf (Cranium). Vereinfacht ausgedrückt, ist der Unterkiefer zum Oberkiefer nicht physiologisch ausgerichtet, was zu entsprechenden Dysfunktionen der Muskulatur und der Kiefergelenke führt und Zahn-, Kiefer- und Gesichtsschmerzen, aber auch Ohr-, Nacken-, Schulter-, Rückenbeschwerden, Tinnitus, Schwindel und Kopfschmerzen auslösen kann. Sehr oft kann die Ursache der CMD in neuromuskulären Störungen der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur gefunden werden. Die hier beschriebene Kasuistik ist kein Einzelfall, son-dern typisch für den Leidensweg vieler CMD-Patienten. Das Anliegen dieses Beitrages ist es, mit wenig Fachvokabular aus dem Bereich der Zahnmedizin eine „Geschichte“ zu schildern, die es Nichtzahnmedizinern ermöglicht, die Zusammenhänge zu verstehen und in ihre Therapieplanungen einzubeziehen. Schlüsselwörter: Craniomandibuläre Dysfunktion, Zahn-, Kiefer- und Gesichtsschmerz Summary Cranio-mandibular dysfunction – a “chameleon” of pain: a case study on the significance of electromyography and the difficulty of differential diagnosis in dental, jaw, and head pains In recent years, dentists, ear-nose-and throat specialists, orthopedists, pain therapists, physiotherapists, manual therapists, health practitioners, and other health professionals find themselves confronted with an increase in clinical pictures which need to be seen in connection with CMD (cranio-mandibular dysfunction), and which, in turn, are often difficult to recongnise as such. CMD can be defined as a malposition between the lower jaw (mandible) and the skull (cranium). Simply put, the upper and lower jaw are not physiologically aligned with one another, leading to muscle and joint dysfunction, thereby possibly causing dental, jaw, and facial pains, as well as ear, neck, shoulder, and back troubles, not to mention tinnitus, dizziness, and headaches. The origins of CMD can often be found in neuromuscular dysfunction of the muscles of mastication, and of the head and neck in general. The case study described here is certainly not one-of- a-kind, but rather typical for the suffering of many CMD patients. The goal of this paper is to tell a Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n clinical story with as little use of dental-medical terminology as possible, in order to allow non-dentists a better understanding of key relationships which need to be taken into account in treatment planning. Key words: cranio-mandibular dysfunction – dental, jaw, and facial pain Résumé La dysfonction cranio-mandibulaire: la douleur aux multiples visages – L’électromyographie et la difficulté d’établir un diagnostic différentiel lors de douleurs dentaires, mandibulaires et crâniennes – une étude de cas Au cours des dernières années, les dentistes, les médecins ORL, les orthopédistes, les thérapeutes qui traitent la douleur, les physiothérapeutes, les praticiens de la thérapie manuelle et les représentants d’autres professions médicales sont de plus en plus souvent confrontés à des phénomènes douloureux qui doivent être mis en relation avec des dysfonctions cranio-mandibulaires (DCM), mais qui sont parfois difficilement identifiables comme telles. Par dysfonction cranio-mandibulaire on comprend une malposition de la mandibule par rapport au crâne. Exprimé plus simplement: la mandibule et le maxillaire ne sont pas orientés de façon physiologique ce qui provoque des dysfonctions au niveau de la musculature et des articulations temporo-maxillaires. Ces dysfonctions peuvent être la cause de douleurs au niveau des dents, des mâchoires et de la face. En outre, elles peuvent être à l’origine d’une série de troubles au niveau de l’oreille, de la nuque, des épaules et du dos et aussi provoquer des acouphènes, des vertiges et des céphalées. Il n’est pas rare que des troubles neuro-musculaires de l’appareil masticatoire, de la tête et du cou sont la cause des DCM. Les cas décrits dans le présent travail ne sont pas des cas isolés mais emblématiques du »chemin de croix« de nombreux patients souffrant de DCM. Avec la présente contribution, nous souhaitons faciliter l’approche du phénomène DCM sans trop utiliser le vocabulaire de la médecine dentaire pour ceux qui ne sont pas médecin-dentistes et leur permettre d'intégrer ces éléments dans leur plan de traitement. Mots-clés: dysfonction cranio-mandibulaire – douleurs dentaires, mandibulaires, faciales Frage, wie sich manches Schmerzgeschehen erklären lässt. Nicht umsonst wird die CMD als Chamäleon bezeichnet, da durch sie vielfältige Schmerzen verursacht werden können, wie Kopf-, Nacken-, Rückenschmerzen, Schwindel, Tinnitus, Ohr-, Herzbeschwerden u.a.m., die vordergründig gar nicht mit einer Dysfunktion des Kiefers in Zusammenhang gebracht werden würden. Noch schwieriger wird die Betrachtung des Schmerzgeschehens, wenn zusätzlich craniocervicale Dysfunktionen (CCD), also Dysfunktionen des HWS-Bereichs, insbesondere der ersten drei Halswirbel, Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 der sog. Kopfgelenke, ursächlich an dem Geschehen beteiligt sind. Diese führen reflektorisch fast regelmäßig auch zu einer CMD. Umgekehrt kann eine craniomandibuläre Dysfunktion zu ausgeprägten Störungen des HWSBereichs führen. Dies muss erkannt und gemeinsam behandelt werden. ✔ Sowohl für den Zahnarzt, als auch für den HNO-Arzt, den Orthopäden, den Manualtherapeuten, den Osteopathen, den Schmerztherapeuten, ... ist es zwingend erforderlich, diagnostische Maßnahmen einzubringen, die es gestatten, sol- che Zusammenhänge transparent zu machen und im interdisziplinärem Team zu diskutieren. Nur so ist es möglich, eine für den Patienten effektive und für die Allgemeinheit kostenentlastende Behandlung durchzuführen. Nachfolgend möchte ich die „Geschichte“ einer Patientin erzählen. Im Rahmen dieses Krankheitsverlaufs möchte ich konkret und anhand eines praktischen Beispiels die Schwierigkeiten zeigen, die sich bei Diagnostik und Therapie craniomandibulärer Dysfunktionen nicht nur für den Zahnarzt ergeben können. Zahn-, Kiefer- und Gesichtsschmerzen. Schmerzen an Zähnen, die man als kerngesund bezeichnen würde Am 30.10. 2003 untersuchte ich die Patientin erstmals in meiner Praxis. Sie beschrieb permanente, starke, teilweise unerträgliche Gesichts- und Zahnschmerzen. Im akuten Stadium zieht sich das ganze Gesicht zu, sie muss sich über Stunden hinweg von der Familie zurückziehen und kann nur still und alleine in einem Raum verharren. Wegen dieser Schmerzen wurden bereits etliche Zähne extrahiert, ohne dass dies das Beschwerdebild positiv beeinflussen konnte. Bei meiner Erstuntersuchung bestanden neben den Kiefer- und Gesichtsschmerzen akute, starke Schmerzen an dem kerngesunden, zweiten kleinen Backenzahn im rechten Unterkiefer (Zahn 45) und die Angst, diesen auch noch zu verlieren. Außerdem schmerzte das rechte Kiefergelenk, und die rechte Unterlippe war taub. Dem Zahnarzt stellt sich nun die Frage, wodurch diese Schmerzen hervor gerufen werden können, wenn die Zähne selbst nicht dafür verantwortlich sind (Abb. 1, 2). 1321 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 1, 2: Portrait und Mundbefund (Spiegelaufnahme des Unterkiefers) bei meiner Erstuntersuchung im Januar 2003. Die fehlenden Seitenzähne wurden wegen starken Zahnschmerzen zuerst mit Füllungen versorgt. Nachdem die Beschwerden nicht nachgelassen hatten, wurden die Füllungen wieder entfernt, die Zähne über Wurzelfüllungen behandelt. Da immer noch keine Schmerzfreiheit eingekehrt war, erfolgte die chirurgische Entfernung der Wurzelspitzen und wegen abermaligen persistierenden Beschwerden die Extraktion der Zähne. Danach diverse Wundrevisionen des Extraktionsgebietes, ohne Beschwerdefreiheit zu erreichen. Im Rahmen meiner, vorerst manuellen, Funktionsuntersuchung zeigten sich, neben vielen anderen Befunden, die auf eine ausgeprägte CMD hinweisen, eine sehr deutliche Druckschmerzhaftigkeit der Kau-, Kopfund Halsmuskulatur. Dies ist immer ein Zeichen dafür, dass die Muskulatur verspannt ist. Eine entspannte, mit der Körper- und Kiefersituation zufriedene Muskulatur würde beim Abtasten nicht schmerzen. Also ein deutliches Zeichen für die Störung des gesamten neuromuskulären Gleich- Abb. 3: Schmerzen an den Unterkieferseitenzähnen können durch die Verspannung der Kaumuskulatur hervorgerufen werden. Dabei können Zähnen schmerzen, die kerngesund sind, und nicht einmal eine Füllung aufweisen, wie der Zahn 45 bei meiner Erstuntersuchung. Auch die vorangegangenen Zahnschmerzen, wegen derer zum Schluss die Zähne entfernt wurden, lassen sich darüber erklären. 1322 gewichts der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur. Wie von Travell und Simon schon 1983 und von Jankelson 1990 beschrieben, können solche neuromuskuläre Störungen Zahn- und Kieferschmerzen hervor rufen, deren Ursachen in der verspannten Muskulatur zu suchen sind und nicht in der Zahnsubstanz oder im Kieferknochen selbst. Dabei bildet die unphysiologisch belastete Muskulatur sog. Triggerpunkte aus, deren Schmerzausstrahlung nicht im Muskel selbst, sondern weit entfernt davon stattfinden kann (Abb. 3-5). Neben der craniomandibulären Dysfunktion zeigte sich bei der Inspektion der Körperhaltung eine deutliche craniocervicale Dysfunktion. Die einzelnen Körperebenen waren nicht so ausgerichtet, wie man es sich bei einer physiologischen Körperhaltung wünschen würde. Die Verschiebung der Wirbelsäule, deren Ende der obere HWS-Bereich ist, führt fast regelmäßig auch zu einer Störung der craniomandibulären Region (Abb. 6-8). Abb. 4: Auch der aufgetretene Kiefergelenkschmerz rechts kann sich durch die Schmerzprojektion der verspannten Kaumuskulatur erklären lassen. Zumal ein Anteil des M. pterigoideus lateralis mit der Kiefergelenkscheibe verbunden ist und dieser, wenn er verspannt und kontrahiert, die Kiefergelenkscheibe nach vorne und vom Unterkiefergelenkfortsatz herunter zieht. Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 5: Das ganze Gesicht zuzieht. Dies kann hervorgerufen werden durch eine Reihe von Kau-, Kopf- und Halsmuskeln, die allesamt extrem druckempfindlich waren. Wenn dem behandelnden Zahnarzt hinreichend Informationen vorliegen, die die Ursache des Schmerzgeschehens mit craniomandibulären und craniocervicalen Dysfunktionen erklären lassen, müssen diese entsprechend behandelt werden. Üblicherweise beginnt eine Behandlung für den Zahnarzt mit reversiblen Maßnahmen in Form einer Aufbiss-Schienentherapie, also einem kleinen, meist aus Kunststoff bestehendem Teilchen, das über die Zähne eines Kiefers gestülpt wird und mit dem differentialdiagnostisch die Beeinflussung der Beschwerden beobachtet werden kann (Abb. 9, 10). Im Rahmen der AufbissSchienentherapie steht der Zahnarzt vor folgendem Problem Er weiß um die CMD und darum, dass die Aufbissschiene die bestehende, pathologische Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer beseitigen soll. Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 Abb. 6: Der Stützzonenverlust rechts führt zu einer zusätzlichen Verstärkung der primär schon vorhandenen CMD. Das rechte Kiefergelenk wird durch den Verlust der Seitenzähne nicht mehr ausreichend gestützt und gerät in einen kompressiven Zustand, der mit für die, nach vorne verlagerte Kiefergelenkscheibe verantwortlich sein kann. Er ist sich also der Kieferfehlstellung seines Patienten bewusst. Was er aber noch nicht weiß ist, in welcher Position der Unterkiefer dem Oberkiefer zugeordnet werden kann, um die Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur zufrieden zu stellen. Zufrieden stellen bedeutet, dass sich die Muskulatur in Abb. 7: Deutliche Haltungsstörungen, die in Verbindung mit anderen manualtherapeutischen Testungen eindeutig eine craniocervicale Dysfunktion diagnostizieren lassen (u.a. Schulterschiefstand, Kopfvorhaltung). Typisch für solche CMD/CCD-Schmerzen sind Depressionen und Angstreaktionen. Da eine normale Lebensführung auf Grund der Schmerzen nicht mehr möglich ist, können die, für einen Gesunden als selbstverständlich gehaltenen, normalen sozialen Kontakte nicht mehr wahrgenommen werden. Dies ruft Traurigkeit und Verzweiflung hervor und ist häufig selbst für die engsten Familienmitglieder auf Dauer nur schwer zu verstehen. Am Ende wird häufig eine psychosomatische Komponente vermutet, die dann auch zweifellos vorhanden ist, nicht aber primär bestand, sondern sich sekundär auf Grund der Schmerzen entwickelt hatte. Sehr häufig verschwinden diese psychosomatischen Komponenten, wenn die Ursache, die CMD/CCD, erfolgreich behandelt werden konnte. 1323 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur in dieser Form zu messen. Zwischenzeitlich wurden auf der ganzen Welt, auch in Deutschland, umfangreiche Studien durchgeführt und die Elektromyographie von Zahnärzten als diagnostisches Hilfsmittel zur Ermittlung der neuromuskulär ausgerichteten Kieferzuordnung verwendet. Über die Elektromyographie wurde es möglich, ein Stück der Biologie und Physiologie des Menschen und seiner komplexen körperlichen Zusammenhänge transparent zu machen (Abb. 11, 12). Bei unserem Beispiel zeigte sich in der instrumentellen Funktionsuntersuchung eine deutliche Erhöhung der rechten Schultermuskulatur (RTR) im Ausgangszustand (s. Abb. 13). Diese Spannung muss vor der Bissnahme für die geplante Aufbissschiene wenn irgend möglich reduziert werden. Abb. 8: Wechselwirkung der körperlichen Haltungsstörungen auf den Bereich der Kiefergelenke. Diese sind rechts und links oben im mittleren Bild dargestellt. Die Kiefergelenke geraten durch die reflektorische Beziehung zum HWSBereich aus ihrer physiologischen Position und entwickeln, je nach körperlicher Verschiebung, eine Kompression oder Distraktion. Hier gehen CMD und CCD Hand in Hand und können zu Beschwerden und Schmerzen in den dargestellten Regionen führen. einem physiologischen Ruhepotential befindet, was über das Elektromyogramm kontrolliert werden kann. Ist die Muskulatur nicht entspannt und zeigt sie kein ruhiges Elektromyogramm, ist die Bissnahme für die Positionsermittlung der Aufbissschiene nicht sinnvoll. Im Gegenteil, die verspannte Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur würde den Kiefer wieder in eine pathologische Position ziehen. Und die so eingegliederte Schiene würde mit ihrer Kaufläche abermals zu einer Kieferfehlstellung und Überbelastung der Muskulatur führen, wie in Abb. 9 dargestellt. Die Elektromyographie wurde schon lange vor 1970 erforscht und entwickelt. Das Verdienst von Jankelson war es, 1970 ein Verfahren zu entwickelt, dass es für den Zahnarzt praktikabel machte, die Spannung Abb. 9: Schematische Darstellung der Funktion einer Aufbissschiene. Diese soll durch Neupositionierung des Unterkiefers in einer, für das Individuum, physiologischen Position die Muskulatur beruhigen und somit zur Schmerzreduktion beitragen. 1324 Abb. 10: Im oberen Bild wird eine einfache Aufbissschiene in Form einer Miniplastschiene dargestellt. Im unteren Bild eine Aufbissschiene, deren Kieferzuordnung vorher individuell ermittelt wurde und deren Kauflächengestaltung (nach Jankelson) eine störungsfreie Kontaktbeziehung des Unterkiefers zum Oberkiefer ermöglicht. Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 11: Anordnung der Elektroden im Elektromyogramm zum Messen der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur. Die Kabel sind mit einem speziellen Messgerät verbunden und die Muskelspannungen können am Bildschirm des Computers dargestellt werden. Therapie Die Kaumuskulatur wurde über 45 Minuten mittels niedrigfrequenter TENSTherapie entspannt, eine sehr wirksame Entspannungsmethode für die Muskulatur, wenn nicht ausgeprägte Blockaden im Wirbelsäulenbereich vorliegen. Die TENS-Therapie wurde ursprünglich im orthopädischen Bereich für die Körpermuskulatur verwendet und 1970 von Jankelson in den USA über das Einstellen bestimmter Parameter zur Entspannung der Kaumuskulatur entwickelt. Da auch noch andere, in meiner Praxis mögliche Entspannungsmaßnahmen nicht weiter zur Beruhigung beitragen konnten, die Überprüfung des Bisses nach TENS-Therapie mit dem Hüftabduktionstest nach PatrickKubis aber eine deutliche De-Blockade der Hüfte zeigte, wurde diese Position als erste Ausgangsposition für die Aufbissschiene verwendet. Wohl wissend, dass zusätzlich manualtherapeutische Maßnahmen erforderlich werden und mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine Neueinstel1326 Abb. 12: Die Muskelgruppen, die durch den Zahnarzt alleine am schwersten zu beruhigen sind und häufig die Mitarbeit eines erfahrenen Krankengymnasten oder Manualtherapeuten benötigen, sind hier dargestellt. Es handelt sich um die vordere und hintere Halsmuskulatur, die Unterzungen- und Schultermuskulatur. Vor der Bissnahme für eine Aufbissschiene sollte gewährleistet sein, dass diese Muskelgruppen eine physiologische Muskelspannung aufweisen. Die Normwerte stehen unter den einzelnen Muskelgruppen, müssen aber selbstverständlich individuell bewertet werden. lung der Kauflächen in Folge dieser Maßnahmen anfallen würden. Wenn nicht ein sehr belastendes, starkes und akutes Schmerzgeschehen vorgelegen hätte, hätte ich diese Maßnahmen noch vor der Bisslageermittlung eingeleitet und die Entspannung über das Elektromyogramm erneut kontrolliert. Der akute Schmerz zwang aber zu sofortigem Handeln. Auch wenn die HWS-Blockaden nicht vollständig gelöst werden konnten, zeigten andere Ergebnisse der Funktionsuntersuchung, dass zumindest eine nicht unbedeutende Beruhigung des Geschehens herbeigeführt werden könnte (Abb. 14). Verlauf Zwei Monate nach Eingliederung der Aufbissschiene war eine ca. 70-%tige Besserung des Beschwerdebildes eingetreten, insgesamt war der Verlauf aber noch nicht ganz befriedigend. Maßnahmen für eine neue Bisslagestimmung in Verbindung mit der Therapie des oberen HWS-Bereichs wurden eingeleitet. Abb. 15 zeigt die muskuläre Situation nach zwei Monaten Schienentherapie und vor der Therapie des HWS-Bereichs, Abb. 16 das Elektromyogramm nach der Therapie des HWS-Bereichs und zusätzlich niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur. Die nochmalige Beruhigung nach manueller Therapie und TENS erlaubte eine neue Bissnahme und die Reokklusion der Schiene in dieser Position. Zusätzlich zu Aufbiss-Schienentherapie wurden weitere manualtherapeutische Maßnahmen, Akupunktur und homöopathische Behandlungen durchgeführt. Die definitive Schienenposition war im Juli 2004 erreicht, das Beschwerdebild trat nur noch sehr selten und wenn, nur ganz Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 13: Elektromyogramm bestimmter Kau-, Kopf- und Halsmuskelgruppen (Vergl. Abb. 11) im Ausgangzustand. Sofort augenfällig wird die erhöhte Spannung des rechten Schultermuskels (RTR). schwach auf (Abb.17). Die Kontrolle der Aufbissschiene zeigte eine sehr gut eingestellte Kieferposition. Trotzdem stellen sich plötzlich Probleme im rechten Ohr ein (Abb. 18). Die HNO-ärztliche Abklärung des Ohrs war ohne pathologischen Befund. Die Kernspin-Aufnahme des Kopfes zeigte einen gutartigen, aber chronisch entzündeten Lymphkoten im rechten Unterkiefer, nahe des ehema- ligen Operationsgebiets der 2003 extrahierten Zähne 46, 47. Im September 2004 wurde der Lymphknoten entfernt, danach traten keine Beschwerden mehr auf. Elektromyografische Schienenkontrolle entscheidend Wenn die Schienenkontrolle über die Elektromyographie nicht möglich Abb. 15: Elektromyogramm nach zwei Monaten Aufbissschienentherapie. Die rechte Schultermuskulatur zeigte noch eine deutlich erhöhte Spannung, wodurch die teilweise, wenn auch deutlich abgeschwächten, verbliebenen Schmerzen erklärt werden können. Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 Abb. 14: Elektromyogramm bestimmter Kau-, Kopf- und Halsmuskelgruppen (Vergl. Abb. 11) nach niedrigfrequenter TENS-Therapie der Kaumuskulatur. Die Spannung des rechten Schultermuskels (RTR) konnte um die Hälfte reduziert werden. Die verbleibende Restspannung ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Blockaden, besonders im oberen HWS-Bereich, diese Entspannung verhindern. gewesen wäre, hätte vielleicht ein falscher therapeutischer Weg eingeschlagen werden können. Beschwerden im Ohr werden häufig über eine Kieferfehlstellung ausgelöst. Wenn nun der HNO-Arzt keinen pathologischen Befund im Ohr feststellen kann, erfolgt in der Regel eine Überprüfung der Schienenposition, beziehungsweise eine aufwendige Neueinstellung der Schiene. Da im Vorfeld die Position der Schiene über die Beiß- Abb. 16: Elektromyogramm nach zwei Monaten Aufbissschienentherapie und manuelle Therapie des oberen HWS-Bereiches (Atlasimpulstherapie nach Arlen). Die rechte Schultermuskulatur konnte nochmals um fast die Hälfte beruhigt werden. 1327 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 17: Beim Abschluss der Aufbissschienentherapie treten kaum mehr Beschwerden auf. kraft und das Ruhe-Elektromyogramm überprüft werden konnte, sich diese in den Aufzeichnungen als sehr gut herausstellte und auch die manualtherapeutischen Testungen auf eine gute Schienenposition hinwiesen, wurden weitere Schritte zur Abklärung der Beschwerden wie oben dargestellt eingeleitet und nicht der Fehler in der Schienenposition gesucht. Zu dieser Kasuistik möchte ich abschließend noch erwähnen, dass es bei leichten, teilweise auch bei mittleren neuromuskulär bedingten Kiefergelenkstörungen häufig auch ohne den Einsatz der Elektromyographie möglich ist, sinnvolle therapeutische Wege zu beschreiten. Handelt es sich aber um schwere und chronifizierte Störungen, wie sie täglich in Spezialpraxen auftreten, ist der Einsatz der Elektromyographie bei der Therapie neuromuskulärer Störungen unabdingbar. Würde man auf diesen Einsatz verzichten, wäre es so, als würde ein Augenarzt eine Brille verschreiben, ohne vorher die Sehstärke zu vermessen oder ein Internist eine 1328 Abb. 18: Trotz gut eingestellter Aufbissschiene treten plötzlich Probleme im Bereich des rechten Ohres auf. Herzoperation in die Wege leiten, ohne vorherige Abklärung über ein EKG. Ein Blick in die Literatur zum Thema Sehr schwierig gestaltet sich die Therapie der craniomandibulären Dysfunktionen, wenn diese in Wechselwirkung zu craniocervicalen Dysfunktionen stehen, wie in obigem Beispiel geschildert. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt die Literatur der letzten Jahrzehnte: So schreiben Ahlers und Jakstat (2001) in Klinische Funktionsanalyse, 2. Auflage, dentaConzept, S 23: Die unglückliche Trennung zwischen Medizin und Zahnmedizin hat lange verhindert, dass Zusammenhänge jenseits der einzelnen Fachgebiete in der täglichen Praxis ausreichend berücksichtigt werden. Angesichts der vorliegenden Literatur ist schon heute unstrittig, dass Veränderungen der Körperhaltung und Dysfunktionen im Kauorgan äthiologisch verknüpft sein können. ... So wird auch der mittelbare Einfluss von Fehlhaltungen und anderen orthopädischen Problemen auf den Funktionszustand der Kaumuskulatur und damit wiederum auf die okklusale Harmonie verständlich. Auf Seite 269 schreiben die Autoren: Die Erkenntnis der multifaktoriellen Äthiologie und Pathogenese der craniomandibulären Dysfunktion hat sich zunächst in der Nomenklatur niedergeschlagen. ... Mit der aktuellen Bezeichnung als craniomandibulären Dysfunktion trägt die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) noch stärker der Tatsache Rechnung, dass hier Beschwerden verschiedener Genese im Schnittpunkt zwischen den Organen stehen. Auf Seite 270 schreiben die Autoren: Spätestens mit der Erkenntnis, dass enge funktionelle Zusammenhänge zwischen Körperhaltung, Statik und Beweglichkeit der Halswirbelsäule sowie des gesamten Achsenorgans einerseits und des Kauorgans andererseits gegeben sind, ist in der Behandlung von CMD jedoch eindeutig diese fachliche Beschränkung überschritten und eine interdiszipliZ. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n näre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gebietsärzten zwingend erforderlich. auf neurophysiologischen Verknüpfungen. ärztliche Funktionstherapie, Hanser, München, S. 103: Kraniomandibuläre und kraniozervikale Funktionen stehen in kausalem Zusammenhang und sind weder physiologisch noch pathophysiologisch voneinander zu trennen. ... Dies liegt darin begründet, dass der Kopf über die Halswirbelsäule ausschließlich muskulär ausbalanciert wird – posteriore Stabilisierung – und über die Lage des Unterkiefers zum Oberkiefer reflektorisch und muskulär stabilisiert wird – anteriore Stabilisierung. Zusammenhänge gegeben hat, welche vielfach noch bis heute andauern. ... Schließlich ist auch Fakt, dass es in der Zahnmedizin alltäglich ist, invasiv und irreversibel zu arbeiten. Zähne, wenn sie einmal extrahiert sind, können nie mehr wirklich gleichwertig ersetzt werden. Gerade beim chronischen Schmerzpatienten, bei dem sich in der Therapie durchaus der Konsens abzeichnet, irreversible Maßnahmen hinten anzustellen, kann der Zahnarzt sogar ungewollt zu Verschlechterungen beitragen, wie viele Fallbeschreibungen von Schmerzpatienten mit erfolglosen multiplen Zahnextraktionen deutlich machen. Kares, Schindler, Schöttl in Der Hülse äußert sich zu diesen Proble- etwas andere Kopf- und Gesichtsschmerz, International College of Cranio-Mandibular Orthopedics, 2001, S.14: Wegen des oft unspezifischen klinischen Erscheinungsbildes wurde die CMD in den USA in einer Broschüre auch einmal „The big imposter“ genannt, der große Betrüger. Denn nicht selten äußert sie sich durch irreführende Symptome, die dann auch allzu oft nur symptomatisch behandelt werden, wie mit Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen, während die eigentliche Ursache unbekannt bleibt. men in dem 2005 erschienen Buch Die obere Halswirbelsäule (Hrsg. Hülse, Neuhuber, Wolff; Springer, Heidelberg) auf S. 134: Die Bedeutung des kraniomandibulären Systems für das gesamte muskuloskeletale aber auch für das neuromuskuläre System wird erst in den letzten Jahren zunehmen erkannt. Zwar wurde 1933 von Goodfriend und 1934 von Costen das „Temporomandibulargelenk-Syndrom“ mit nach vorn und in die Schläfe ausstrahlenden Gesichtsschmerzen, Globusgefühl, Glossalgie, Hörstörungen und Tinnitus beschrieben, aber noch 1996 findet sich im Syndrom-Buch von Leiber zum Costensyndrom die Anmerkung: „häufige Fehldiagnose“. Demgegenüber stehen epidemiologische Studien (Türp 1998), dass in der Bevölkerung bei 40-75 % aller Erwachsenen mindestens ein objektives Symptom einer Kiefergelenkstörung nachweisbar ist. Dass die gegenseitige Beeinflussung von kraniomandibulärem und neuromuskulärem System erst in den letzten Jahren wahrgenommen wird, ist sicherlich in der getrennten Ausbildung von Zahnärz- Freesmeyer schreibt 1993 in Zahn Auf S. 419 schreibt Peros bezüglich der Verbindung von Tinnitus, Otalgien und CMD: Der amerikanische HNOArzt Costen war einer der ersten, der HNO-Symptome und Symptome, die man heute der CMD zuordnet, zu einem einheitlichen Symptom zusammengefasst und damit eine Schnittstelle zwischen der HNO-Heilkunde und der Zahnmedizin herstellte. Wolff schreibt 1992 in Gesichts- und Kopfschmerzen, ein interdisziplinärer Überblick für Mediziner, Zahnmediziner und Psychologen, Hrsg. Siebert, Hanser, Wien, S. 316: Nur wenige Zentimeter trennen den Arbeitsbereich der Zahnärzte, Kieferorthopäden und Kieferchirurgen von dem der HNOÄrzte, der Neurologen und der Orthopäden und Manualmediziner (soweit es um die Halswirbelsäule geht). Die äthiologische Rolle der Halswirbelsäule bzw. des Kopfgelenkbereichs wird bei einer einheitlichen Betrachtung am häufigsten außer Acht gelassen. Es sind nicht nur medizinischhistorische, sondern auch praktisch technische Sachverhalte, die dieses oft beziehungslose Nebeneinander bewirkt haben. Dass es in den letzten Jahrzehnten zu einer gegenläufigen, synthetischgeprägten Tendenz gekommen ist, hat ebenfalls gleichermaßen konzeptionelle wie praktische Gründe. Die Folge ist, dass z. B. das Interesse an Probleme der HWS von Seiten der HNO-Mediziner (z. B. Hülse 1983, Moser 1974, Scherer 1984, Seifert 1988) und der Neurologen (z. B. Lewit 1987, Gerstenbrand 1974, Thoden 1988) deutlich gestiegen ist... Auch die klinischen Beziehungen zwischen HWS und Kauapparat beruhen 1330 Schöttl schreibt im ICCMO-Kompendium 2004 auf S. 4: Fakt ist, dass der Zahnmediziner in seiner universitären Ausbildung über das Feld der Schmerztherapie im Dunkeln gelassen wird. Hier besteht in der Tat die Gefahr, dass in Unkenntnis von Chronifizierungsprozessen etc. ineffektive, teure und gar schädliche Therapieversuche unternommen werden. Fakt ist ebenso, dass es in der Zahnmedizin in der Vergangenheit viele, wenn auch erklärbare Missverständnisse über funktionelle Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n ten und Humanmedizinern zu sehen. Die Häufigkeit der meist nur als „Befindlichkeitsstörung“ eingestuften Beschwerden der Craniomandibulären Dysfunktion (CMD) wie Kopfschmerz, Schwindel, Hörstörungen, Tinnitus, vasomotorische Rhinitis, Stimmstörungen und vor allem die sehr engen Wechselbeziehungen zwischen funktionellen Kiefergelenkstörungen und Halswirbelsäulenstörungen und bis ins Becken reichende Störungen mit Kreuzschmerzen und ischialgiformen Schmerzen zwingen die Zahnärzte wie auch die Humanmediziner zu einem radikalen Umdenken, da erst eine gute Zusammenarbeit eine erfolgreiche Behandlung ermöglicht. Fazit für die Praxis Die oben aufgeführten Zitate zeigen, dass die Ursachen der CMD multifaktoriell sein können und die Therapie interdisziplinär in Absprache der verschiedenen Fachgebiete durchgeführt werden sollte. Dies setzt voraus, dass jedes in die CMD involvierte Fachgebiet die Möglichkeit und vor allem auch Fähigkeit der Diagnosestellung besitzen muss, so wie es dem jeweiligen Gebiet angemessen ist. So stehen z.B. dem Orthopäden oder dem HNOArzt, vor allem dann, wenn diese eine manualtherapeutische Spezialausbildung für die Dysfunktionen im HWSBereich vorweisen können, andere diagnostische Möglichkeiten zur Verfügung, als einem gnathologisch tätigen Zahnarzt. „Viele Wege führen nach Rom“, wichtig ist nicht die Art des Weges (sofern dieser noninvassiv ist), sondern die Zuverlässigkeit der Diagnosestellung. Die Anwendung der Elektromyographie ist für den Zahnarzt ein wichtiges Hilfsmittel zur differentialdiagnostischen Abklärung Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 und gibt ihm eine wertvolle Entscheidungshilfe, wann er zu welchem Zeitpunkt Co-Therapeuten in die Behandlung seines Patienten involvieren sollte. Schlussbemerkung Es wurde eine Reihe von Beschwerdebildern beschrieben, die man ursächlich nicht sofort mit einer CMD in Verbindung bringen würde. An diese Stelle soll nochmals auf die heraus ragende Bedeutung der Wechselwirkung der craniomandibulären und craniocervicalen Region hingewiesen werden. Nicht nur, dass eine HWS-Störung eine CMD hervor rufen kann, sondern umgekehrt kann durch eine CMD eine empfindliche Störung im HWS-Bereich indiziert werden. Die obere Halswirbelsäule ist der Schnittpunkt zwischen Medizin und Zahnmedizin. Über die ersten drei Halswirbel (C0-C3), die sog. Kopfgelenke, also den Okziput-Atlas-Axis-Komplex, werden alle motorischen, sensorischen und vegetativen Körperfunktionen gesteuert. Vereinfachter ausgedrückt bedeutet dies, dass die gesamte Körperregulation über diesen Bereich erfolgt und die Therapie der CMD eine Entgleitung des gesamten Organismus verhindern kann (Abb. 19, 20). Moderne Irrlehren Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen ist es unbegreiflich, dass einige Therapeuten immer noch oder in der Neuzeit schon wieder zur Therapie der CMD ein biopsychosoziales Schmerzmodell empfehlen, welches die Therapie von Kieferfehlstellungen und Okklusionsstörungen als nebensächlich betrachtet. Hierzu schreibt Madsen in Schmerztherapie 2/2006 (22. Jg.), Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e. V., S. 21: „Temporomandibuläre Dysfunktion: Biopsychosoziales statt mechanisches Schmerzmodell: ... haben zahlreiche epidemiologische Studien gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen Zähnen und der Entstehung der TMD sehr schwach und im Regelfall vernachlässigbar klein ist. Dazu haben diverse Therapiestudien erwiesen, dass therapeutische Kieferverlagerungen nicht besser als konservative Therapien und damit unnötig invasiv sind, weil bewährte, weniger invasive Optionen zur Verfügung stehen.“ In dieser Aussage stecken gravierende Denk- und Wissensfehler Ad 1 wurde die Bedeutung okklusaler Störungen und Kiefergelenkfehlstellungen als ätiologische Faktoren zu Entstehung craniomandibulärer und craniocervicaler Dysfunktionen in der Vergangenheit hinreichend anhand von seriösen Untersuchungen dargelegt. Hierzu auch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK): „Positionspapier zum Thema Epidemiologische Studien über kraniomandibuläre Dysfunktionen (CMD): ...Die Ätiopathogenese von CMD ist multifaktoriell. Entsprechend einem biopsycho-sozialen Krankheitsverständnis sind traumatische, anatomische, neuromuskuläre und psychosoziale Faktoren an der Prädisposition, Auslösung und Unterhaltung der Erkrankungen beteiligt.“ Ad 2 kann es aufgrund der Definition des biopsychosozialen Modells keine Ausklammerung physischer, anatomi1331 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 19: Der Bereich der Kopfgelenke (C0-C3) steuert die gesamte Körperfunktion. Führt eine CMD zur Störung dieser Region, kann diese zur Entgleisung des gesamten Organismus beitragen. scher und neuromuskulärer Komponenten geben, wie sie von Madsen formuliert und das biopsychosoziale Schmerzmodell einer neuen, monogamen Definition zugeführt wird. Aufgrund der von der DGZMK geschilderten Ätiologie der CMD werden regelmäßig gnathologisch tätige Zahnärzte in die schmerztherapeutischen Kolloquien der Schmerzkliniken aufgenommen. Ihre Teilnahme würde ad absurdum geführt, wäre nicht die okklusale Therapie der TMD syn. CMD von Bedeutung. Ad 3 wird ein mechanisches Schmerzmodell erwähnt und dem biopsychosozialen Modell gegenübergestellt („Biopsychosoziales statt mechanisches Schmerzmodell“). Was auch immer mit mechanischem Modell gemeint sein sollte, so ist es mit Bestimmtheit nicht im Bereich der neuromuskulären Zahnheilkunde zu finden, die jeder Art des Mechanischen entbehrt. Die neuromuskuläre Zahnheilkunde geht immer auf dynamische, individuell ausgerichtete neuromuskuläre Parameter des Patienten 1332 Abb. 20: Darstellung der funktionellen Zusammenhänge zwischen craniomandibulärer und craniocervicaler Region und deren Bedeutung für den Gesamtorganismus. ein. Ohne diese Gesichtspunkte wäre ein sinnvolles biopsychosoziales Schmerzmodell nicht denkbar. Und ohne die Einbeziehung der Therapie der Kieferfehlstellungen in das interdisziplinäre Konzept könnte vielen Schmerz- und CMD-Patienten nicht geholfen werden. Aussagen, wie die von Madsen, sind sehr gefährlich und können dazu verleiten, eine CMDBehandlung z. B. mittels Aufbissschiene gar nicht erst aufzunehmen, wenn doch okklusale Faktoren bei der Entstehung der CMD keine Rolle spielen sollen. Ebenso gefährlich ist die häufig formulierte Behauptung, dass es keinen evidenzbasierten Nachweis für die Wirkung von Aufbissschienen bei der Schmerztherapie von CMDPatienten gibt. Leider ist die Situation in der Medizin und Zahnmedizin nicht so einfach, wie die in der Pharmakologie. Im Vergleich zu einem Placebo kann leicht bei einer größeren Population die Wirkung eines Medikaments bestimmt werden. Das Eingliedern einer Placebo-Aufbissschiene ist nicht durchführbar. Jede Schiene hat eine Wirkung auf die Muskulatur und das Kiefergelenk, was aber über die Qualität der Wirkung und der Schiene nichts aussagt. Es ist nämlich, entgegen der Behauptung einiger Therapeuten, nicht egal, welche Schiene eingegliedert wird. Bei einem Tisch mit einem zu kurzem Bein würde auch niemand die Behauptung aufstellen, dass es egal ist, wie hoch die Unterlage für das verkürzte Bein sein muss, damit er nicht mehr wackelt und ins Gleichgewicht kommt. ✔ Wenn man nun abermals bedenkt, dass die craniomandibuläre Region über Muskeln und Fascien in direkter funktioneller Wechselwirkung zum oberen HWSBereich steht, dieser Bereich der Schnittpunkt zwischen Medizin und Zahnmedizin ist und alle motorischen, sensorischen und vegetativen Funktionen des Körpers steuert (Abb. 20), erhält die ursächlich funktionell neuromuskuläre und okklusale Therapie einer CMD einen sehr hohen Stellenwert. ✔ Für den Zahnarzt bietet die Elektro- myographie viele diagnostische EinZ. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n Abb. 21: Sie zeigt die vielfältigen diagnostischen Einsatzmöglichkeiten der Elektromyographie für den Zahnarzt. satzmöglichkeiten bei der CMDBehandlung (Abb. 21), wodurch viele Dysfunktionen transparenter und besser Einschätzbar gemacht werden können. Abschließend noch eine Bemerkung zur interdisziplinären Zusammenarbeit Wir können in unserem Fachgebiet, ob dem zahnmedizinischen, dem orthopädischen, dem manualtherapeutischen, dem HNO-ärztlichen, u.a.m. noch so sorgfältig arbeiten. Niemals werden wir es fertig bringen, Abb. 22 1334 all die Dinge, die für das Wohl unseres Patienten erforderlich sind, alleine zu erarbeiten. In der überwiegenden Zahl unserer CMD/CCDPatienten werden wir die Hilfe von fachübergreifenden Kollegen benötigen (Abb. 22, 23). Freuen wir uns darüber, wenn wir darauf zugreifen können! Internetadressen 1. International College of CranioMandibular Orthopedics, deutsche Section (http://www.iccmo.de) 2. Cranial Facial Therapy Academy http://www.crafta.de 3. Manuelle Medizin (http://link.springer.de) 4. Krankengymnastik (http://www.ptnet. de) 5. International College of CranioMandibular Orthopedics, amerikanische Section http://www.tmj-iccmo.org 6. Myotronics http://www.myotronics.com 7. Institut für Temporo-Mandibuläre Regulation (ITMR) http://itmr.org 8. Barry C. Cooper http://www.tmjtmd.com/info.html Literatur (deutschsprachig) 1. Ahlers MO, Jakstat HA, Hrsg. (2001) Klinische Funktionsanalyse, 2. Auflage, dentaConzept, Hamburg 2. Becke H, Wagner R, Wander R (2000) Taschenatlas Naturheilkundliche Untersuchungstechniken. Hippokrates, Stuttgart 3. Cooper BC, Cooper DL (1999) Das Erkennen von otolaryngologischen Symptomen bei Patienten mit temporomandibulären Erkrankungen. ICCMO (International College of Cranio-Mandibular Orthopedics) (ISBN 0-9675046-1-9) 6: 40 – 47 4. Freesmeyer WB (1993) Zahnärztliche Funktionstherapie. Hanser, München, Wien 5. Hansson T, Honée W, Hesse J (1990) Funktionsstörungen im Kausystem. 2. Aufl. Hüthig Verl. Heidelberg 6. Hülse M, Losert-Bruggner B (2003) Die Bedeutung elektromyographischer Messungen in der Diagnostik und Therapie von craniomandibulären Dysfunktionen. Z. f. Physiotherapeuten 55: 230-234 7. Hülse M, Losert-Bruggner B, Schöttl R, (2003) CMD, CCD und neuromuskulär ausgerichtete Bisslagebestimmung. Dental-Praxis, XX, Heft 7/8 8. Hülse M, Losert-Bruggner B, Kuksen J (2001) Schwindel und Kiefergelenkprobleme nach HWS-Trauma. Man Med Osteheopath Med. 39: 20 – 24 9. Hülse M, Losert-Bruggner B (2002) Der Einfluß der Kopfgelenke und/oder der Kiefergelenke auf die Hüftabduktion. Man Med Osteopath. Med 40: 10. Hülse M, Losert-Bruggner B, Schöttl R, Zawadski W (2003) Neuromuskulär ausgerichtete Bisslagebestimmung mit Hilfe nied- Abb. 23 Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n - seit 1985 zahnärztliche Kassenpraxis in Lampertheim-Hüttenfeld - seit 1993 Privatpraxis - Arbeitsschwerpunkte in neuromuskulär und ganzheitlich orientierter Zahnheilkunde - zahlreiche Veröffentlichungen über neuromuskuläre Zahnheilkunde und Therapie schlafbedingter Atemstörungen mit Hilfe von Schnarcherschienen - Master of International College of Cranio-Mandibular Orthopedics (ICCMO, www.iccmo.de) D R . MED . DENT. B RIGITTE L OSERT-B RUGGNER 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. - Referentin für Öffentlichkeitsarbeit – ICCMO-Sektion Deutschland rigfrequenter transcutaner elektrischer Nervenstimmulation. Wechselwirkung der kraniozervikalen und kraniomandibulären Region. Man Med Osteopath. Med 41: 120-128 Hülse M, Neuhuber W, Wolff HD (2005) Die obere Halswirbelsäule. Springer Berlin, Heidelberg Hülse M, Neuhuber WL, Wolff HD (1998) Der kraniozervikale Übergang. 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Physiotherapeuten 52-11: 1923-1927 Losert-Bruggner B, Schöttl R, Zawdadzki W (2003) Neuromuskulär ausgerichtete Bisslagebestimmung mit Hilfe niedrigfrequenter TENS-Therapie. GZM 8-1: 12-18 Losert-Bruggner B, Schöttl R, Zawdadzki W (2003) Craniomandibuläre Dysfunktion und Schwindel. GZM 8-3: 38-41 Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12 22. Lynn J (tr.Messinger H): Zusammenhänge zwischen dem Ruhe- und Funktions – EMG und 17 Schmerzlokalisationen der Kopfund Halsregion. ICCMO Brief 6;2:16,1999. 23. Marx G (2000) Über die Zusammenarbeit mit der Kieferorthopädie und Zahnheilkunde in der Manuellen Medizin. Manuelle Medizin 38-6: 342 – 345 24. Neuhuber WL (1998) Der kraniozervikale Übergang: Entwicklung, Gelenke, Muskulatur und Innervation. in Hülse M, Neuhuber WL, Wolff HD: Der kraniozervikale Übergang. Springer Berlin, Heidelberg, S. 11 – 31 25. Piper, H.: Electophysiologie menschlicher Muskeln. Springer Verlag, 1912 26. 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