Die craniomandibuläre Dysfunktion – Das Chamäleon der Schmerzen

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C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n
Die craniomandibuläre Dysfunktion – Das Chamäleon
der Schmerzen – Die Bedeutung der Elektromyographie
und die Schwierigkeit der Differentialdiagnose bei Zahn-,
Kiefer- und Kopfschmerzen an Hand einer Kasuistik –!
B. Losert-Bruggner
Z
ahnärzte, HNO-Ärzte, Orthopäden, Schmerztherapeuten, Physiotherapeuten, Manualtherapeuten, Heilpraktiker u.a. Heilberufe
werden vermehrt mit Schmerzbildern
konfrontiert, die im Zusammenhang
mit craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) betrachtet werden müssen. Häufig ist dieser Zusammenhang
aber nur schwer zu erkennen. Unter
einer craniomandibulären Dysfunktion versteht man die Fehlstellung des
Unterkiefers (Mandibula) zum Kopf
(Cranium). Vereinfacht ausgedrückt,
ist der Unterkiefer zum Oberkiefer
nicht physiologisch ausgerichtet, was
zu entsprechenden Dysfunktionen der
Muskulatur und der Kiefergelenke
führt und Zahnschmerzen, Kiefer- und
Gesichtsschmerzen auslösen kann.
Die CMD als Chamäleon
Für den Zahnarzt, der sich spezialisiert
hat auf die Behandlung von Patienten
mit craniomandibulären Dysfunktionen, stellt sich immer wieder die
! Lesen lohnt sich: Dieser Beitrag nimmt am
Wettbewerb teil. Bitte beurteilen Sie ihn nach
der Frage: „Ist der Inhalt für meine Berufspraxis wichtig und interessant?“
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Zusammenfassung
In den letzten Jahren werden Zahnärzte, HNO-Ärzte, Orthopäden, Schmerztherapeuten, Physiotherapeuten, Manualtherapeuten, Heilpraktiker u. a.
Heilberufe vermehrt mit Schmerzbildern konfrontiert, die im Zusammenhang
mit craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) betrachtet werden müssen,
häufig aber nur schwer als solche zu erkennen sind. Unter einer craniomandibulären Dysfunktion versteht man die Fehlstellung des Unterkiefers (Mandibula) zum Kopf (Cranium). Vereinfacht ausgedrückt, ist der Unterkiefer zum
Oberkiefer nicht physiologisch ausgerichtet, was zu entsprechenden Dysfunktionen der Muskulatur und der Kiefergelenke führt und Zahn-, Kiefer- und
Gesichtsschmerzen, aber auch Ohr-, Nacken-, Schulter-, Rückenbeschwerden,
Tinnitus, Schwindel und Kopfschmerzen auslösen kann. Sehr oft kann die
Ursache der CMD in neuromuskulären Störungen der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur gefunden werden. Die hier beschriebene Kasuistik ist kein Einzelfall, son-dern typisch für den Leidensweg vieler CMD-Patienten. Das Anliegen
dieses Beitrages ist es, mit wenig Fachvokabular aus dem Bereich der Zahnmedizin eine „Geschichte“ zu schildern, die es Nichtzahnmedizinern ermöglicht, die Zusammenhänge zu verstehen und in ihre Therapieplanungen
einzubeziehen.
Schlüsselwörter: Craniomandibuläre Dysfunktion, Zahn-, Kiefer- und Gesichtsschmerz
Summary
Cranio-mandibular dysfunction – a “chameleon” of pain: a case study on the
significance of electromyography and the difficulty of differential diagnosis
in dental, jaw, and head pains
In recent years, dentists, ear-nose-and throat specialists, orthopedists, pain
therapists, physiotherapists, manual therapists, health practitioners, and
other health professionals find themselves confronted with an increase in clinical pictures which need to be seen in connection with CMD (cranio-mandibular dysfunction), and which, in turn, are often difficult to recongnise as
such. CMD can be defined as a malposition between the lower jaw (mandible) and the skull (cranium). Simply put, the upper and lower jaw are not
physiologically aligned with one another, leading to muscle and joint dysfunction, thereby possibly causing dental, jaw, and facial pains, as well as ear,
neck, shoulder, and back troubles, not to mention tinnitus, dizziness, and
headaches. The origins of CMD can often be found in neuromuscular dysfunction of the muscles of mastication, and of the head and neck in general.
The case study described here is certainly not one-of- a-kind, but rather typical for the suffering of many CMD patients. The goal of this paper is to tell a
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clinical story with as little use of dental-medical terminology as possible, in
order to allow non-dentists a better understanding of key relationships
which need to be taken into account in treatment planning.
Key words: cranio-mandibular dysfunction – dental, jaw, and facial pain
Résumé
La dysfonction cranio-mandibulaire: la douleur aux multiples visages –
L’électromyographie et la difficulté d’établir un diagnostic différentiel lors de
douleurs dentaires, mandibulaires et crâniennes – une étude de cas
Au cours des dernières années, les dentistes, les médecins ORL, les orthopédistes, les thérapeutes qui traitent la douleur, les physiothérapeutes, les praticiens de la thérapie manuelle et les représentants d’autres professions médicales sont de plus en plus souvent confrontés à des phénomènes douloureux
qui doivent être mis en relation avec des dysfonctions cranio-mandibulaires
(DCM), mais qui sont parfois difficilement identifiables comme telles. Par dysfonction cranio-mandibulaire on comprend une malposition de la mandibule
par rapport au crâne. Exprimé plus simplement: la mandibule et le maxillaire
ne sont pas orientés de façon physiologique ce qui provoque des dysfonctions au niveau de la musculature et des articulations temporo-maxillaires.
Ces dysfonctions peuvent être la cause de douleurs au niveau des dents, des
mâchoires et de la face. En outre, elles peuvent être à l’origine d’une série de
troubles au niveau de l’oreille, de la nuque, des épaules et du dos et aussi
provoquer des acouphènes, des vertiges et des céphalées. Il n’est pas rare que
des troubles neuro-musculaires de l’appareil masticatoire, de la tête et du cou
sont la cause des DCM. Les cas décrits dans le présent travail ne sont pas des
cas isolés mais emblématiques du »chemin de croix« de nombreux patients
souffrant de DCM. Avec la présente contribution, nous souhaitons faciliter
l’approche du phénomène DCM sans trop utiliser le vocabulaire de la médecine dentaire pour ceux qui ne sont pas médecin-dentistes et leur permettre
d'intégrer ces éléments dans leur plan de traitement.
Mots-clés: dysfonction cranio-mandibulaire – douleurs dentaires, mandibulaires, faciales
Frage, wie sich manches Schmerzgeschehen erklären lässt. Nicht umsonst
wird die CMD als Chamäleon bezeichnet, da durch sie vielfältige Schmerzen verursacht werden können, wie
Kopf-, Nacken-, Rückenschmerzen,
Schwindel, Tinnitus, Ohr-, Herzbeschwerden u.a.m., die vordergründig
gar nicht mit einer Dysfunktion des
Kiefers in Zusammenhang gebracht
werden würden. Noch schwieriger
wird die Betrachtung des Schmerzgeschehens, wenn zusätzlich craniocervicale Dysfunktionen (CCD), also Dysfunktionen des HWS-Bereichs, insbesondere der ersten drei Halswirbel,
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der sog. Kopfgelenke, ursächlich an
dem Geschehen beteiligt sind. Diese
führen reflektorisch fast regelmäßig
auch zu einer CMD. Umgekehrt kann
eine craniomandibuläre Dysfunktion
zu ausgeprägten Störungen des HWSBereichs führen. Dies muss erkannt
und gemeinsam behandelt werden.
✔ Sowohl für den Zahnarzt, als auch
für den HNO-Arzt, den Orthopäden, den Manualtherapeuten, den
Osteopathen, den Schmerztherapeuten, ... ist es zwingend erforderlich, diagnostische Maßnahmen
einzubringen, die es gestatten, sol-
che Zusammenhänge transparent
zu machen und im interdisziplinärem Team zu diskutieren. Nur so ist
es möglich, eine für den Patienten
effektive und für die Allgemeinheit kostenentlastende Behandlung
durchzuführen.
Nachfolgend möchte ich die „Geschichte“ einer Patientin erzählen. Im
Rahmen dieses Krankheitsverlaufs
möchte ich konkret und anhand eines
praktischen Beispiels die Schwierigkeiten zeigen, die sich bei Diagnostik
und Therapie craniomandibulärer
Dysfunktionen nicht nur für den Zahnarzt ergeben können.
Zahn-, Kiefer- und Gesichtsschmerzen. Schmerzen an Zähnen, die man
als kerngesund bezeichnen würde
Am 30.10. 2003 untersuchte ich die
Patientin erstmals in meiner Praxis. Sie
beschrieb permanente, starke, teilweise unerträgliche Gesichts- und
Zahnschmerzen. Im akuten Stadium
zieht sich das ganze Gesicht zu, sie
muss sich über Stunden hinweg von
der Familie zurückziehen und kann
nur still und alleine in einem Raum
verharren. Wegen dieser Schmerzen
wurden bereits etliche Zähne extrahiert, ohne dass dies das Beschwerdebild positiv beeinflussen konnte.
Bei meiner Erstuntersuchung bestanden neben den Kiefer- und Gesichtsschmerzen akute, starke Schmerzen an dem kerngesunden, zweiten
kleinen Backenzahn im rechten Unterkiefer (Zahn 45) und die Angst, diesen
auch noch zu verlieren. Außerdem
schmerzte das rechte Kiefergelenk,
und die rechte Unterlippe war taub.
Dem Zahnarzt stellt sich nun die
Frage, wodurch diese Schmerzen hervor gerufen werden können, wenn
die Zähne selbst nicht dafür verantwortlich sind (Abb. 1, 2).
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Abb. 1, 2:
Portrait und Mundbefund (Spiegelaufnahme des Unterkiefers) bei meiner Erstuntersuchung im Januar 2003. Die fehlenden Seitenzähne wurden wegen starken Zahnschmerzen zuerst mit Füllungen versorgt. Nachdem die Beschwerden nicht nachgelassen hatten, wurden die Füllungen wieder entfernt, die Zähne über Wurzelfüllungen behandelt.
Da immer noch keine Schmerzfreiheit eingekehrt war, erfolgte die chirurgische Entfernung der Wurzelspitzen und wegen abermaligen persistierenden Beschwerden die
Extraktion der Zähne. Danach diverse Wundrevisionen des Extraktionsgebietes, ohne
Beschwerdefreiheit zu erreichen.
Im Rahmen meiner, vorerst manuellen, Funktionsuntersuchung zeigten
sich, neben vielen anderen Befunden,
die auf eine ausgeprägte CMD hinweisen, eine sehr deutliche Druckschmerzhaftigkeit der Kau-, Kopfund Halsmuskulatur. Dies ist immer
ein Zeichen dafür, dass die Muskulatur verspannt ist. Eine entspannte, mit
der Körper- und Kiefersituation
zufriedene Muskulatur würde beim
Abtasten nicht schmerzen. Also ein
deutliches Zeichen für die Störung des
gesamten neuromuskulären Gleich-
Abb. 3:
Schmerzen an den Unterkieferseitenzähnen können durch die
Verspannung der Kaumuskulatur hervorgerufen werden. Dabei
können Zähnen schmerzen, die kerngesund sind, und nicht einmal eine Füllung aufweisen, wie der Zahn 45 bei meiner Erstuntersuchung. Auch die vorangegangenen Zahnschmerzen,
wegen derer zum Schluss die Zähne entfernt wurden, lassen
sich darüber erklären.
1322
gewichts der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur.
Wie von Travell und Simon schon
1983 und von Jankelson 1990 beschrieben, können solche neuromuskuläre Störungen Zahn- und Kieferschmerzen hervor rufen, deren Ursachen in der verspannten Muskulatur
zu suchen sind und nicht in der Zahnsubstanz oder im Kieferknochen
selbst. Dabei bildet die unphysiologisch belastete Muskulatur sog. Triggerpunkte aus, deren Schmerzausstrahlung nicht im Muskel selbst, sondern weit entfernt davon stattfinden
kann (Abb. 3-5).
Neben der craniomandibulären
Dysfunktion zeigte sich bei der Inspektion der Körperhaltung eine deutliche
craniocervicale Dysfunktion. Die einzelnen Körperebenen waren nicht so
ausgerichtet, wie man es sich bei einer
physiologischen Körperhaltung wünschen würde. Die Verschiebung der
Wirbelsäule, deren Ende der obere
HWS-Bereich ist, führt fast regelmäßig
auch zu einer Störung der craniomandibulären Region (Abb. 6-8).
Abb. 4:
Auch der aufgetretene Kiefergelenkschmerz rechts kann sich
durch die Schmerzprojektion der verspannten Kaumuskulatur
erklären lassen. Zumal ein Anteil des M. pterigoideus lateralis
mit der Kiefergelenkscheibe verbunden ist und dieser, wenn er
verspannt und kontrahiert, die Kiefergelenkscheibe nach vorne
und vom Unterkiefergelenkfortsatz herunter zieht.
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Abb. 5:
Das ganze Gesicht zuzieht. Dies kann hervorgerufen werden
durch eine Reihe von Kau-, Kopf- und Halsmuskeln, die allesamt
extrem druckempfindlich waren.
Wenn dem behandelnden Zahnarzt
hinreichend Informationen vorliegen,
die die Ursache des Schmerzgeschehens mit craniomandibulären und
craniocervicalen Dysfunktionen erklären lassen, müssen diese entsprechend behandelt werden. Üblicherweise beginnt eine Behandlung für
den Zahnarzt mit reversiblen Maßnahmen in Form einer Aufbiss-Schienentherapie, also einem kleinen,
meist aus Kunststoff bestehendem
Teilchen, das über die Zähne eines
Kiefers gestülpt wird und mit dem
differentialdiagnostisch die Beeinflussung der Beschwerden beobachtet werden kann (Abb. 9, 10).
Im Rahmen der AufbissSchienentherapie steht der
Zahnarzt vor folgendem
Problem
Er weiß um die CMD und darum, dass
die Aufbissschiene die bestehende,
pathologische Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer beseitigen soll.
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Abb. 6:
Der Stützzonenverlust rechts führt zu einer zusätzlichen Verstärkung der primär schon vorhandenen CMD. Das rechte Kiefergelenk wird durch den Verlust der Seitenzähne nicht mehr ausreichend gestützt und gerät in einen kompressiven Zustand, der
mit für die, nach vorne verlagerte Kiefergelenkscheibe verantwortlich sein kann.
Er ist sich also der Kieferfehlstellung
seines Patienten bewusst. Was er aber
noch nicht weiß ist, in welcher Position der Unterkiefer dem Oberkiefer
zugeordnet werden kann, um die
Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur zufrieden zu stellen. Zufrieden stellen
bedeutet, dass sich die Muskulatur in
Abb. 7:
Deutliche Haltungsstörungen, die in Verbindung mit anderen manualtherapeutischen
Testungen eindeutig eine craniocervicale Dysfunktion diagnostizieren lassen (u.a. Schulterschiefstand, Kopfvorhaltung). Typisch für solche CMD/CCD-Schmerzen sind Depressionen und Angstreaktionen. Da eine normale Lebensführung auf Grund der Schmerzen
nicht mehr möglich ist, können die, für einen Gesunden als selbstverständlich gehaltenen, normalen sozialen Kontakte nicht mehr wahrgenommen werden. Dies ruft Traurigkeit und Verzweiflung hervor und ist häufig selbst für die engsten Familienmitglieder
auf Dauer nur schwer zu verstehen. Am Ende wird häufig eine psychosomatische Komponente vermutet, die dann auch zweifellos vorhanden ist, nicht aber primär bestand,
sondern sich sekundär auf Grund der Schmerzen entwickelt hatte. Sehr häufig verschwinden diese psychosomatischen Komponenten, wenn die Ursache, die CMD/CCD,
erfolgreich behandelt werden konnte.
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der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur in dieser Form
zu messen. Zwischenzeitlich wurden auf der ganzen Welt, auch in Deutschland, umfangreiche Studien durchgeführt und die
Elektromyographie von
Zahnärzten als diagnostisches Hilfsmittel zur Ermittlung der neuromuskulär ausgerichteten Kieferzuordnung verwendet.
Über die Elektromyographie wurde es möglich, ein
Stück der Biologie und Physiologie des Menschen und
seiner komplexen körperlichen Zusammenhänge transparent zu machen (Abb. 11, 12).
Bei unserem Beispiel zeigte sich in
der instrumentellen Funktionsuntersuchung eine deutliche Erhöhung der
rechten Schultermuskulatur (RTR) im
Ausgangszustand (s. Abb. 13). Diese
Spannung muss vor der Bissnahme für
die geplante Aufbissschiene wenn
irgend möglich reduziert werden.
Abb. 8:
Wechselwirkung der körperlichen Haltungsstörungen auf den Bereich der
Kiefergelenke. Diese sind
rechts und links oben im
mittleren Bild dargestellt.
Die Kiefergelenke geraten
durch die reflektorische
Beziehung zum HWSBereich aus ihrer physiologischen Position und entwickeln, je nach körperlicher
Verschiebung, eine Kompression oder Distraktion.
Hier gehen CMD und CCD
Hand in Hand und können
zu Beschwerden und
Schmerzen in den dargestellten Regionen führen.
einem physiologischen Ruhepotential
befindet, was über das Elektromyogramm kontrolliert werden kann. Ist
die Muskulatur nicht entspannt und
zeigt sie kein ruhiges Elektromyogramm, ist die Bissnahme für die Positionsermittlung der Aufbissschiene
nicht sinnvoll. Im Gegenteil, die verspannte Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur würde den Kiefer wieder in eine
pathologische Position ziehen. Und
die so eingegliederte Schiene würde
mit ihrer Kaufläche abermals zu einer
Kieferfehlstellung und Überbelastung
der Muskulatur führen, wie in Abb. 9
dargestellt.
Die Elektromyographie wurde
schon lange vor 1970 erforscht und
entwickelt. Das Verdienst von Jankelson war es, 1970 ein Verfahren zu entwickelt, dass es für den Zahnarzt
praktikabel machte, die Spannung
Abb. 9:
Schematische Darstellung der Funktion einer Aufbissschiene.
Diese soll durch Neupositionierung des Unterkiefers in einer, für
das Individuum, physiologischen Position die Muskulatur beruhigen und somit zur Schmerzreduktion beitragen.
1324
Abb. 10:
Im oberen Bild wird eine einfache Aufbissschiene in Form einer
Miniplastschiene dargestellt. Im unteren Bild eine Aufbissschiene, deren Kieferzuordnung vorher individuell ermittelt
wurde und deren Kauflächengestaltung (nach Jankelson) eine
störungsfreie Kontaktbeziehung des Unterkiefers zum Oberkiefer ermöglicht.
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Abb. 11:
Anordnung der Elektroden im Elektromyogramm zum Messen
der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur. Die Kabel sind mit einem
speziellen Messgerät verbunden und die Muskelspannungen
können am Bildschirm des Computers dargestellt werden.
Therapie
Die Kaumuskulatur wurde über 45
Minuten mittels niedrigfrequenter
TENSTherapie entspannt, eine sehr
wirksame Entspannungsmethode für
die Muskulatur, wenn nicht ausgeprägte Blockaden im Wirbelsäulenbereich vorliegen. Die TENS-Therapie
wurde ursprünglich im orthopädischen Bereich für die Körpermuskulatur verwendet und 1970 von Jankelson in den USA über das Einstellen
bestimmter Parameter zur Entspannung der Kaumuskulatur entwickelt.
Da auch noch andere, in meiner
Praxis mögliche Entspannungsmaßnahmen nicht weiter zur Beruhigung
beitragen konnten, die Überprüfung
des Bisses nach TENS-Therapie mit
dem Hüftabduktionstest nach PatrickKubis aber eine deutliche De-Blockade der Hüfte zeigte, wurde diese
Position als erste Ausgangsposition
für die Aufbissschiene verwendet.
Wohl wissend, dass zusätzlich manualtherapeutische Maßnahmen erforderlich werden und mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine Neueinstel1326
Abb. 12:
Die Muskelgruppen, die durch den Zahnarzt alleine am schwersten zu beruhigen sind und häufig die Mitarbeit eines erfahrenen
Krankengymnasten oder Manualtherapeuten benötigen, sind
hier dargestellt. Es handelt sich um die vordere und hintere
Halsmuskulatur, die Unterzungen- und Schultermuskulatur. Vor
der Bissnahme für eine Aufbissschiene sollte gewährleistet sein,
dass diese Muskelgruppen eine physiologische Muskelspannung
aufweisen. Die Normwerte stehen unter den einzelnen Muskelgruppen, müssen aber selbstverständlich individuell bewertet
werden.
lung der Kauflächen in Folge dieser
Maßnahmen anfallen würden. Wenn
nicht ein sehr belastendes, starkes und
akutes Schmerzgeschehen vorgelegen
hätte, hätte ich diese Maßnahmen
noch vor der Bisslageermittlung eingeleitet und die Entspannung über
das Elektromyogramm erneut kontrolliert. Der akute Schmerz zwang
aber zu sofortigem Handeln.
Auch wenn die HWS-Blockaden
nicht vollständig gelöst werden konnten, zeigten andere Ergebnisse der
Funktionsuntersuchung, dass zumindest eine nicht unbedeutende Beruhigung des Geschehens herbeigeführt
werden könnte (Abb. 14).
Verlauf
Zwei Monate nach Eingliederung der
Aufbissschiene war eine ca. 70-%tige
Besserung des Beschwerdebildes eingetreten, insgesamt war der Verlauf
aber noch nicht ganz befriedigend.
Maßnahmen für eine neue Bisslagestimmung in Verbindung mit der Therapie des oberen HWS-Bereichs wurden eingeleitet. Abb. 15 zeigt die
muskuläre Situation nach zwei Monaten Schienentherapie und vor der
Therapie des HWS-Bereichs, Abb. 16
das Elektromyogramm nach der Therapie des HWS-Bereichs und zusätzlich
niedrigfrequenter TENS-Therapie der
Kaumuskulatur.
Die nochmalige Beruhigung nach
manueller Therapie und TENS erlaubte eine neue Bissnahme und die
Reokklusion der Schiene in dieser Position. Zusätzlich zu Aufbiss-Schienentherapie wurden weitere manualtherapeutische Maßnahmen, Akupunktur und homöopathische Behandlungen durchgeführt. Die definitive
Schienenposition war im Juli 2004
erreicht, das Beschwerdebild trat nur
noch sehr selten und wenn, nur ganz
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Abb. 13:
Elektromyogramm bestimmter Kau-, Kopf- und Halsmuskelgruppen (Vergl. Abb. 11) im Ausgangzustand. Sofort augenfällig
wird die erhöhte Spannung des rechten Schultermuskels (RTR).
schwach auf (Abb.17). Die Kontrolle
der Aufbissschiene zeigte eine sehr
gut eingestellte Kieferposition. Trotzdem stellen sich plötzlich Probleme im
rechten Ohr ein (Abb. 18).
Die HNO-ärztliche Abklärung des Ohrs
war ohne pathologischen Befund.
Die Kernspin-Aufnahme des Kopfes
zeigte einen gutartigen, aber chronisch entzündeten Lymphkoten im
rechten Unterkiefer, nahe des ehema-
ligen Operationsgebiets der 2003
extrahierten Zähne 46, 47. Im September 2004 wurde der Lymphknoten
entfernt, danach traten keine Beschwerden mehr auf.
Elektromyografische Schienenkontrolle entscheidend
Wenn die Schienenkontrolle über die
Elektromyographie nicht möglich
Abb. 15:
Elektromyogramm nach zwei Monaten Aufbissschienentherapie.
Die rechte Schultermuskulatur zeigte noch eine deutlich erhöhte
Spannung, wodurch die teilweise, wenn auch deutlich abgeschwächten, verbliebenen Schmerzen erklärt werden können.
Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12
Abb. 14:
Elektromyogramm bestimmter Kau-, Kopf- und Halsmuskelgruppen (Vergl. Abb. 11) nach niedrigfrequenter TENS-Therapie der
Kaumuskulatur. Die Spannung des rechten Schultermuskels (RTR)
konnte um die Hälfte reduziert werden. Die verbleibende Restspannung ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Blockaden, besonders im oberen HWS-Bereich, diese Entspannung verhindern.
gewesen wäre, hätte vielleicht ein falscher therapeutischer Weg eingeschlagen werden können. Beschwerden im Ohr werden häufig über eine
Kieferfehlstellung ausgelöst. Wenn
nun der HNO-Arzt keinen pathologischen Befund im Ohr feststellen kann,
erfolgt in der Regel eine Überprüfung
der Schienenposition, beziehungsweise eine aufwendige Neueinstellung der Schiene. Da im Vorfeld die
Position der Schiene über die Beiß-
Abb. 16:
Elektromyogramm nach zwei Monaten Aufbissschienentherapie
und manuelle Therapie des oberen HWS-Bereiches (Atlasimpulstherapie nach Arlen). Die rechte Schultermuskulatur konnte
nochmals um fast die Hälfte beruhigt werden.
1327
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Abb. 17:
Beim Abschluss der Aufbissschienentherapie treten kaum mehr
Beschwerden auf.
kraft und das Ruhe-Elektromyogramm überprüft werden konnte, sich
diese in den Aufzeichnungen als sehr
gut herausstellte und auch die manualtherapeutischen Testungen auf eine
gute Schienenposition hinwiesen,
wurden weitere Schritte zur Abklärung der Beschwerden wie oben dargestellt eingeleitet und nicht der
Fehler in der Schienenposition gesucht.
Zu dieser Kasuistik möchte ich abschließend noch erwähnen,
dass es bei leichten, teilweise auch bei
mittleren neuromuskulär bedingten
Kiefergelenkstörungen häufig auch
ohne den Einsatz der Elektromyographie möglich ist, sinnvolle therapeutische Wege zu beschreiten. Handelt es
sich aber um schwere und chronifizierte Störungen, wie sie täglich in
Spezialpraxen auftreten, ist der Einsatz der Elektromyographie bei der
Therapie neuromuskulärer Störungen
unabdingbar. Würde man auf diesen
Einsatz verzichten, wäre es so, als
würde ein Augenarzt eine Brille verschreiben, ohne vorher die Sehstärke
zu vermessen oder ein Internist eine
1328
Abb. 18:
Trotz gut eingestellter Aufbissschiene treten plötzlich Probleme
im Bereich des rechten Ohres auf.
Herzoperation in die Wege leiten,
ohne vorherige Abklärung über ein
EKG.
Ein Blick in die Literatur
zum Thema
Sehr schwierig gestaltet sich die Therapie der craniomandibulären Dysfunktionen, wenn diese in Wechselwirkung zu craniocervicalen Dysfunktionen stehen, wie in obigem Beispiel
geschildert. Dass dies kein Einzelfall
ist, zeigt die Literatur der letzten Jahrzehnte:
So schreiben Ahlers und Jakstat
(2001) in Klinische Funktionsanalyse,
2. Auflage, dentaConzept, S 23: Die
unglückliche Trennung zwischen
Medizin und Zahnmedizin hat lange
verhindert, dass Zusammenhänge jenseits der einzelnen Fachgebiete in der
täglichen Praxis ausreichend berücksichtigt werden. Angesichts der vorliegenden Literatur ist schon heute
unstrittig, dass Veränderungen der
Körperhaltung und Dysfunktionen im
Kauorgan äthiologisch verknüpft sein
können. ... So wird auch der mittelbare Einfluss von Fehlhaltungen und
anderen orthopädischen Problemen
auf den Funktionszustand der Kaumuskulatur und damit wiederum auf
die okklusale Harmonie verständlich.
Auf Seite 269 schreiben die Autoren:
Die Erkenntnis der multifaktoriellen
Äthiologie und Pathogenese der craniomandibulären Dysfunktion hat sich
zunächst in der Nomenklatur niedergeschlagen. ... Mit der aktuellen
Bezeichnung als craniomandibulären
Dysfunktion trägt die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) noch stärker der
Tatsache Rechnung, dass hier Beschwerden verschiedener Genese im
Schnittpunkt zwischen den Organen
stehen. Auf Seite 270 schreiben die
Autoren: Spätestens mit der Erkenntnis, dass enge funktionelle Zusammenhänge zwischen Körperhaltung,
Statik und Beweglichkeit der Halswirbelsäule sowie des gesamten Achsenorgans einerseits und des Kauorgans
andererseits gegeben sind, ist in der
Behandlung von CMD jedoch eindeutig diese fachliche Beschränkung
überschritten und eine interdiszipliZ. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12
C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n
näre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gebietsärzten zwingend
erforderlich.
auf neurophysiologischen Verknüpfungen.
ärztliche Funktionstherapie, Hanser,
München, S. 103: Kraniomandibuläre
und kraniozervikale Funktionen stehen
in kausalem Zusammenhang und sind
weder physiologisch noch pathophysiologisch voneinander zu trennen. ...
Dies liegt darin begründet, dass der
Kopf über die Halswirbelsäule ausschließlich muskulär ausbalanciert wird
– posteriore Stabilisierung – und über
die Lage des Unterkiefers zum Oberkiefer reflektorisch und muskulär stabilisiert wird – anteriore Stabilisierung.
Zusammenhänge gegeben hat, welche
vielfach noch bis heute andauern. ...
Schließlich ist auch Fakt, dass es in der
Zahnmedizin alltäglich ist, invasiv und
irreversibel zu arbeiten. Zähne, wenn
sie einmal extrahiert sind, können
nie mehr wirklich gleichwertig ersetzt
werden. Gerade beim chronischen
Schmerzpatienten, bei dem sich in
der Therapie durchaus der Konsens
abzeichnet, irreversible Maßnahmen
hinten anzustellen, kann der Zahnarzt
sogar ungewollt zu Verschlechterungen beitragen, wie viele Fallbeschreibungen von Schmerzpatienten mit
erfolglosen multiplen Zahnextraktionen deutlich machen.
Kares, Schindler, Schöttl in Der
Hülse äußert sich zu diesen Proble-
etwas andere Kopf- und Gesichtsschmerz, International College of Cranio-Mandibular Orthopedics, 2001,
S.14: Wegen des oft unspezifischen
klinischen Erscheinungsbildes wurde
die CMD in den USA in einer Broschüre auch einmal „The big imposter“ genannt, der große Betrüger.
Denn nicht selten äußert sie sich durch
irreführende Symptome, die dann
auch allzu oft nur symptomatisch
behandelt werden, wie mit Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen, während die eigentliche Ursache unbekannt bleibt.
men in dem 2005 erschienen Buch Die
obere Halswirbelsäule (Hrsg. Hülse,
Neuhuber, Wolff; Springer, Heidelberg) auf S. 134: Die Bedeutung des
kraniomandibulären Systems für das
gesamte muskuloskeletale aber auch
für das neuromuskuläre System wird
erst in den letzten Jahren zunehmen
erkannt. Zwar wurde 1933 von Goodfriend und 1934 von Costen das „Temporomandibulargelenk-Syndrom“ mit
nach vorn und in die Schläfe ausstrahlenden Gesichtsschmerzen, Globusgefühl, Glossalgie, Hörstörungen
und Tinnitus beschrieben, aber noch
1996 findet sich im Syndrom-Buch von
Leiber zum Costensyndrom die
Anmerkung: „häufige Fehldiagnose“.
Demgegenüber stehen epidemiologische Studien (Türp 1998), dass in
der Bevölkerung bei 40-75 % aller
Erwachsenen mindestens ein objektives Symptom einer Kiefergelenkstörung nachweisbar ist. Dass die gegenseitige Beeinflussung von kraniomandibulärem und neuromuskulärem System erst in den letzten Jahren wahrgenommen wird, ist sicherlich in der
getrennten Ausbildung von Zahnärz-
Freesmeyer schreibt 1993 in Zahn Auf S. 419 schreibt Peros bezüglich
der Verbindung von Tinnitus, Otalgien
und CMD: Der amerikanische HNOArzt Costen war einer der ersten, der
HNO-Symptome und Symptome, die
man heute der CMD zuordnet, zu
einem einheitlichen Symptom zusammengefasst und damit eine Schnittstelle zwischen der HNO-Heilkunde
und der Zahnmedizin herstellte.
Wolff schreibt 1992 in Gesichts- und
Kopfschmerzen, ein interdisziplinärer
Überblick für Mediziner, Zahnmediziner und Psychologen, Hrsg. Siebert,
Hanser, Wien, S. 316: Nur wenige Zentimeter trennen den Arbeitsbereich
der Zahnärzte, Kieferorthopäden und
Kieferchirurgen von dem der HNOÄrzte, der Neurologen und der Orthopäden und Manualmediziner (soweit
es um die Halswirbelsäule geht). Die
äthiologische Rolle der Halswirbelsäule bzw. des Kopfgelenkbereichs
wird bei einer einheitlichen Betrachtung am häufigsten außer Acht gelassen. Es sind nicht nur medizinischhistorische, sondern auch praktisch
technische Sachverhalte, die dieses
oft beziehungslose Nebeneinander
bewirkt haben. Dass es in den letzten
Jahrzehnten zu einer gegenläufigen,
synthetischgeprägten Tendenz gekommen ist, hat ebenfalls gleichermaßen konzeptionelle wie praktische
Gründe. Die Folge ist, dass z. B. das
Interesse an Probleme der HWS von
Seiten der HNO-Mediziner (z. B. Hülse
1983, Moser 1974, Scherer 1984, Seifert 1988) und der Neurologen (z. B.
Lewit 1987, Gerstenbrand 1974, Thoden 1988) deutlich gestiegen ist...
Auch die klinischen Beziehungen zwischen HWS und Kauapparat beruhen
1330
Schöttl schreibt im ICCMO-Kompendium 2004 auf S. 4: Fakt ist, dass der
Zahnmediziner in seiner universitären
Ausbildung über das Feld der Schmerztherapie im Dunkeln gelassen wird.
Hier besteht in der Tat die Gefahr, dass
in Unkenntnis von Chronifizierungsprozessen etc. ineffektive, teure und
gar schädliche Therapieversuche unternommen werden. Fakt ist ebenso, dass
es in der Zahnmedizin in der Vergangenheit viele, wenn auch erklärbare
Missverständnisse über funktionelle
Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12
C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n
ten und Humanmedizinern zu sehen.
Die Häufigkeit der meist nur als
„Befindlichkeitsstörung“ eingestuften
Beschwerden der Craniomandibulären
Dysfunktion (CMD) wie Kopfschmerz,
Schwindel, Hörstörungen, Tinnitus,
vasomotorische Rhinitis, Stimmstörungen und vor allem die sehr engen
Wechselbeziehungen zwischen funktionellen Kiefergelenkstörungen und
Halswirbelsäulenstörungen und bis ins
Becken reichende Störungen mit
Kreuzschmerzen und ischialgiformen
Schmerzen zwingen die Zahnärzte wie
auch die Humanmediziner zu einem
radikalen Umdenken, da erst eine gute
Zusammenarbeit eine erfolgreiche Behandlung ermöglicht.
Fazit für die Praxis
Die oben aufgeführten Zitate zeigen,
dass die Ursachen der CMD multifaktoriell sein können und die Therapie
interdisziplinär in Absprache der verschiedenen Fachgebiete durchgeführt
werden sollte. Dies setzt voraus, dass
jedes in die CMD involvierte Fachgebiet die Möglichkeit und vor allem
auch Fähigkeit der Diagnosestellung
besitzen muss, so wie es dem jeweiligen Gebiet angemessen ist. So stehen
z.B. dem Orthopäden oder dem HNOArzt, vor allem dann, wenn diese eine
manualtherapeutische Spezialausbildung für die Dysfunktionen im HWSBereich vorweisen können, andere
diagnostische Möglichkeiten zur Verfügung, als einem gnathologisch tätigen Zahnarzt. „Viele Wege führen
nach Rom“, wichtig ist nicht die Art
des Weges (sofern dieser noninvassiv
ist), sondern die Zuverlässigkeit der
Diagnosestellung. Die Anwendung
der Elektromyographie ist für den
Zahnarzt ein wichtiges Hilfsmittel zur
differentialdiagnostischen Abklärung
Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12
und gibt ihm eine wertvolle Entscheidungshilfe, wann er zu welchem Zeitpunkt Co-Therapeuten in die Behandlung seines Patienten involvieren
sollte.
Schlussbemerkung
Es wurde eine Reihe von Beschwerdebildern beschrieben, die man ursächlich nicht sofort mit einer CMD in Verbindung bringen würde. An diese
Stelle soll nochmals auf die heraus
ragende Bedeutung der Wechselwirkung der craniomandibulären und
craniocervicalen Region hingewiesen
werden. Nicht nur, dass eine HWS-Störung eine CMD hervor rufen kann,
sondern umgekehrt kann durch eine
CMD eine empfindliche Störung im
HWS-Bereich indiziert werden. Die
obere Halswirbelsäule ist der Schnittpunkt zwischen Medizin und Zahnmedizin. Über die ersten drei Halswirbel (C0-C3), die sog. Kopfgelenke, also
den Okziput-Atlas-Axis-Komplex, werden alle motorischen, sensorischen
und vegetativen Körperfunktionen
gesteuert. Vereinfachter ausgedrückt
bedeutet dies, dass die gesamte Körperregulation über diesen Bereich
erfolgt und die Therapie der CMD
eine Entgleitung des gesamten Organismus verhindern kann (Abb. 19, 20).
Moderne Irrlehren
Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen ist es unbegreiflich, dass einige
Therapeuten immer noch oder in der
Neuzeit schon wieder zur Therapie
der CMD ein biopsychosoziales
Schmerzmodell empfehlen, welches
die Therapie von Kieferfehlstellungen
und Okklusionsstörungen als nebensächlich betrachtet. Hierzu schreibt
Madsen in Schmerztherapie 2/2006
(22. Jg.), Zeitschrift der Deutschen
Gesellschaft für Schmerztherapie e. V.,
S. 21: „Temporomandibuläre Dysfunktion: Biopsychosoziales statt mechanisches Schmerzmodell: ... haben
zahlreiche epidemiologische Studien
gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen Zähnen und der Entstehung der
TMD sehr schwach und im Regelfall
vernachlässigbar klein ist. Dazu haben
diverse Therapiestudien erwiesen,
dass therapeutische Kieferverlagerungen nicht besser als konservative
Therapien und damit unnötig invasiv
sind, weil bewährte, weniger invasive
Optionen zur Verfügung stehen.“
In dieser Aussage stecken
gravierende Denk- und
Wissensfehler
Ad 1 wurde die Bedeutung okklusaler
Störungen und Kiefergelenkfehlstellungen als ätiologische Faktoren zu
Entstehung craniomandibulärer und
craniocervicaler Dysfunktionen in der
Vergangenheit hinreichend anhand
von seriösen Untersuchungen dargelegt. Hierzu auch die Stellungnahme
der Deutschen Gesellschaft für Zahn-,
Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK):
„Positionspapier zum Thema Epidemiologische Studien über kraniomandibuläre Dysfunktionen (CMD): ...Die
Ätiopathogenese von CMD ist multifaktoriell. Entsprechend einem biopsycho-sozialen Krankheitsverständnis sind traumatische, anatomische,
neuromuskuläre und psychosoziale
Faktoren an der Prädisposition, Auslösung und Unterhaltung der Erkrankungen beteiligt.“
Ad 2 kann es aufgrund der Definition
des biopsychosozialen Modells keine
Ausklammerung physischer, anatomi1331
C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n
Abb. 19:
Der Bereich der Kopfgelenke (C0-C3) steuert die gesamte Körperfunktion. Führt eine CMD zur Störung dieser Region, kann
diese zur Entgleisung des gesamten Organismus beitragen.
scher und neuromuskulärer Komponenten geben, wie sie von Madsen
formuliert und das biopsychosoziale
Schmerzmodell einer neuen, monogamen Definition zugeführt wird.
Aufgrund der von der DGZMK geschilderten Ätiologie der CMD werden
regelmäßig gnathologisch tätige
Zahnärzte in die schmerztherapeutischen Kolloquien der Schmerzkliniken
aufgenommen. Ihre Teilnahme würde
ad absurdum geführt, wäre nicht die
okklusale Therapie der TMD syn. CMD
von Bedeutung.
Ad 3 wird ein mechanisches Schmerzmodell erwähnt und dem biopsychosozialen Modell gegenübergestellt
(„Biopsychosoziales statt mechanisches Schmerzmodell“). Was auch
immer mit mechanischem Modell
gemeint sein sollte, so ist es mit
Bestimmtheit nicht im Bereich der
neuromuskulären Zahnheilkunde zu
finden, die jeder Art des Mechanischen entbehrt. Die neuromuskuläre
Zahnheilkunde geht immer auf dynamische, individuell ausgerichtete neuromuskuläre Parameter des Patienten
1332
Abb. 20:
Darstellung der funktionellen Zusammenhänge zwischen craniomandibulärer und craniocervicaler Region und deren Bedeutung für den Gesamtorganismus.
ein. Ohne diese Gesichtspunkte wäre
ein sinnvolles biopsychosoziales
Schmerzmodell nicht denkbar. Und
ohne die Einbeziehung der Therapie
der Kieferfehlstellungen in das interdisziplinäre Konzept könnte vielen
Schmerz- und CMD-Patienten nicht
geholfen werden. Aussagen, wie die
von Madsen, sind sehr gefährlich und
können dazu verleiten, eine CMDBehandlung z. B. mittels Aufbissschiene gar nicht erst aufzunehmen,
wenn doch okklusale Faktoren bei der
Entstehung der CMD keine Rolle spielen sollen. Ebenso gefährlich ist die
häufig formulierte Behauptung, dass
es keinen evidenzbasierten Nachweis
für die Wirkung von Aufbissschienen
bei der Schmerztherapie von CMDPatienten gibt. Leider ist die Situation
in der Medizin und Zahnmedizin nicht
so einfach, wie die in der Pharmakologie. Im Vergleich zu einem Placebo
kann leicht bei einer größeren Population die Wirkung eines Medikaments bestimmt werden. Das Eingliedern einer Placebo-Aufbissschiene ist
nicht durchführbar. Jede Schiene hat
eine Wirkung auf die Muskulatur und
das Kiefergelenk, was aber über die
Qualität der Wirkung und der Schiene
nichts aussagt. Es ist nämlich, entgegen der Behauptung einiger Therapeuten, nicht egal, welche Schiene
eingegliedert wird. Bei einem Tisch
mit einem zu kurzem Bein würde auch
niemand die Behauptung aufstellen,
dass es egal ist, wie hoch die Unterlage für das verkürzte Bein sein muss,
damit er nicht mehr wackelt und ins
Gleichgewicht kommt.
✔ Wenn man nun abermals bedenkt,
dass die craniomandibuläre Region
über Muskeln und Fascien in direkter funktioneller Wechselwirkung
zum oberen HWSBereich steht, dieser Bereich der Schnittpunkt zwischen Medizin und Zahnmedizin ist
und alle motorischen, sensorischen
und vegetativen Funktionen des
Körpers steuert (Abb. 20), erhält die
ursächlich funktionell neuromuskuläre und okklusale Therapie einer
CMD einen sehr hohen Stellenwert.
✔ Für den Zahnarzt bietet die Elektro-
myographie viele diagnostische EinZ. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12
C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n
Abb. 21:
Sie zeigt die vielfältigen diagnostischen Einsatzmöglichkeiten
der Elektromyographie für den Zahnarzt.
satzmöglichkeiten bei der CMDBehandlung (Abb. 21), wodurch
viele Dysfunktionen transparenter
und besser Einschätzbar gemacht
werden können.
Abschließend noch eine Bemerkung
zur interdisziplinären Zusammenarbeit
Wir können in unserem Fachgebiet,
ob dem zahnmedizinischen, dem
orthopädischen, dem manualtherapeutischen, dem HNO-ärztlichen,
u.a.m. noch so sorgfältig arbeiten.
Niemals werden wir es fertig bringen,
Abb. 22
1334
all die Dinge, die
für das Wohl unseres
Patienten
erforderlich sind,
alleine zu erarbeiten. In der überwiegenden Zahl
unserer CMD/CCDPatienten werden
wir die Hilfe von
fachübergreifenden Kollegen benötigen (Abb. 22,
23). Freuen wir
uns darüber, wenn
wir darauf zugreifen können!
Internetadressen
1. International College of CranioMandibular Orthopedics, deutsche
Section (http://www.iccmo.de)
2. Cranial Facial Therapy Academy
http://www.crafta.de
3. Manuelle Medizin
(http://link.springer.de)
4. Krankengymnastik
(http://www.ptnet. de)
5. International College of CranioMandibular Orthopedics, amerikanische Section
http://www.tmj-iccmo.org
6. Myotronics
http://www.myotronics.com
7. Institut für Temporo-Mandibuläre
Regulation (ITMR) http://itmr.org
8. Barry C. Cooper
http://www.tmjtmd.com/info.html
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von otolaryngologischen Symptomen bei
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0-9675046-1-9) 6: 40 – 47
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5. Hansson T, Honée W, Hesse J (1990) Funktionsstörungen im Kausystem. 2. Aufl.
Hüthig Verl. Heidelberg
6. Hülse M, Losert-Bruggner B (2003) Die
Bedeutung elektromyographischer Messungen in der Diagnostik und Therapie von craniomandibulären Dysfunktionen. Z. f.
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7. Hülse M, Losert-Bruggner B, Schöttl R,
(2003) CMD, CCD und neuromuskulär ausgerichtete Bisslagebestimmung. Dental-Praxis, XX, Heft 7/8
8. Hülse M, Losert-Bruggner B, Kuksen J
(2001) Schwindel und Kiefergelenkprobleme
nach HWS-Trauma. Man Med Osteheopath
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Osteopath. Med 40:
10. Hülse M, Losert-Bruggner B, Schöttl R,
Zawadski W (2003) Neuromuskulär ausgerichtete Bisslagebestimmung mit Hilfe nied-
Abb. 23
Z. f. Physiotherapeuten 58 (2006) 12
C r a n i o m a n d i b u l ä re D y s f u n k t i o n
- seit 1985 zahnärztliche Kassenpraxis in Lampertheim-Hüttenfeld
- seit 1993 Privatpraxis
- Arbeitsschwerpunkte in neuromuskulär und ganzheitlich orientierter Zahnheilkunde
- zahlreiche Veröffentlichungen über neuromuskuläre Zahnheilkunde und Therapie schlafbedingter Atemstörungen mit Hilfe
von Schnarcherschienen
- Master of International College of Cranio-Mandibular Orthopedics (ICCMO, www.iccmo.de)
D R . MED . DENT.
B RIGITTE
L OSERT-B RUGGNER
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
- Referentin für Öffentlichkeitsarbeit – ICCMO-Sektion Deutschland
rigfrequenter transcutaner elektrischer
Nervenstimmulation. Wechselwirkung der
kraniozervikalen und kraniomandibulären
Region. Man Med Osteopath. Med 41:
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Hülse M, Neuhuber W, Wolff HD (2005)
Die obere Halswirbelsäule. Springer Berlin,
Heidelberg
Hülse M, Neuhuber WL, Wolff HD (1998)
Der kraniozervikale Übergang. Springer Berlin, Heidelberg
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44. Türp JC (1998) Zum Zusammenhang zwischen Myoarthropathien des Kausystems
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mit Gesichts- und Kopfschmerzen – Orthopädische und manualmedizinische Aspekte.
In Gesichts- und Kopfschmerzen: ein interdisziplinärer Überblick für Mediziner, Zahnmediziner und Psychologen. Hrsg. Siebert
GK. Hanser, Wien. S. 316-346.
46. Wolff HD (1996) Neurophysiologische
Aspekte des Bewegungssystems. Springer
Berlin, Heidelberg
47. Wolff HD (1998) Anmerkungen zur Pathophysiologie der Funktionsstörungen des
Kopfgelenkbereiches. in Hülse M, Neuhuber
WL, Wolff HD: Der kraniozervikale Übergang. Springer Berlin, Heidelberg.
S. 33 – 41
Das umfangreiche Verzeichnis der
englischsprachigen Literatur kann in
der Redaktion angefordert werden.
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Korrespondenzadresse:
Dr. Brigitte Losert-Bruggner
Lorscher Straße 2
68623 Lampertheim-Hüttenfeld
Tel.: 0 62 56/15 55
1335
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