MEDIZIN ZUR FORTBILDUNG Frank Erbguth Lokale Injektionsbehandlung fokaler Hyperkinesen mit Botulinum-Toxin A Botulinum-Toxin A lähmt nach lokaler Injektion die entsprechende Muskulatur durch Blockade der Acetylcholinfreisetzung an der motorischen Endplatte. Diese Wirkung ist für die symptomatische Therapie von Erkrankungen mit fokaler Muskelüberaktivität unterschiedlicher Genese oder einem erhöhten Muskeltonus einsetzbar. Botulinum-Toxin A ist otulinum-Toxin ist dem Arzt bislang als Verursacher der lebensbedrohlichen Erkrankung „Botulismus" bekannt. Es mag daher erstaunen, daß dieses Gift jetzt als Therapeutikum Anwendung findet. Bereits im 18. Jahrhundert wurden die Symptome des Botulismus nach dem Genuß von Räucherfleisch oder Blutwurst beschrieben (Botulismus von lat. „botulus" = Wurst): nach Übelkeit, Brechdurchfall und Kopfschmerzen treten Akkomodationsstörungen, Erweiterung der Pupillen, Schluckbeschwerden, Herabsetzung der Speichelsekretion, Blasen- und Darmlähmung und Lähmung der quergestreiften Muskulatur auf. Übersteht der Betroffene den Höhepunkt der Erkrankung, sind die Symptome innerhalb von mehreren Wochen reversibel (29). Die ersten systematischen Untersuchungen zum Botulismus stammen vom schwäbischen Arzt und Dichter Justinus Kerner (1786 bis -1862) (34). Bemerkenswert ist, daß Kerner im letzten Kapitel seiner zweiten Monographie über das „Wurstgift" von 1822 spekulierte, daß die erregungsdämpfende Wirkung des damals unbekannten Giftes bei krankhaften Übererregungen des motorischen Systems, zum Beispiel dem Veitstanz, therapeutisch eingesetzt werden könnte (35). Erst vor 100 Jahren wurde entdeckt, daß das Toxin von einem Bakterium gebildet wird: 1895 erkrankten im belgischen Ort Ellezelles mehrere Personen — drei davon tödlich — am Botulismus, nachdem sie nach einer Beerdigung 8 in Deutschland bisher zur Therapie des „idiopathischen Blepharospasmus", des „Spasmus hemifacialis" und des „Torticollis spasmodicus"zugelassen. Die. Behandlung darf nur in Einrichtungen mit spezieller Erfahrung erfolgen. Andere weltweit gut erprobte Indikationen sind unter anderem der „Schreibkrampf" und die „spasmodische Dysphonie". gepökelten Schinken gegessen hatten. Der Mikrobiologe Emile Pierre van Ermengem konnte ein anaerobes Bakterium als Ursache dieser Lebensmittelvergiftung identifizieren, das er in der Publikation seiner Untersuchungen 1897 „Bacillus botulinus" nannte (52). Später wurde der Erreger in „Clostridium botulinum" umbenannt. Außer im Rahmen der beschriebenen Lebensmittelvergiftung kann Botulismus selten nach einer Wundinfektion als „Wundbotulismus" oder bei Säuglingen nach Kolonisierung des Darmes mit Clostridien als „Säuglingsbotulismus" auftreten (37). Vom tödlichen Gift zum Therapeutikum Kontakte des Ophthalmologen Dr. Alan B. Scott in San Francisco zum amerikanischen Botulinum-Toxin-Experten Dr. Edward Schantz führten zur therapeutischen Nutzung des Toxins. Scott hatte zur nichtoperativen Therapie des Schielens Substanzen gesucht, mit denen Augenmuskeln auf chemische Weise geschwächt werden könnten. Botulinum-Toxin A erwies sich 1973 zunächst bei Primaten als hierfür tauglich. 1981 berichtete Scott die erfolgreiche Anwendung von Botulinum-Toxin A am Menschen zur Korrektur des Strabismus (47). Neurologische Klinik mit Poliklinik (Direktor: Prof. Dr. med. Bernhard Neundörfer), FrieErlangen-Nürndrich-Alexander-Universität A-2726 (40) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 In den folgenden Jahren wurden Anwendungen an den periorbitalen mimischen Muskeln beim „Blepharospasmus" und beim „Spasmus hemifacialis" erfolgreich erprobt (10, 31, 45). Da das Prinzip der chemischen Denervierung mit Botulinum-Toxin als symptomatische Therapie grundsätzlich auch bei anderen Erkrankungen mit fokaler Überaktivität der quergestreiften und glatten Muskulatur anwendbar ist, wurde seit Mitte der 80er Jahre eine Vielzahl von möglichen Indikationen vor allem in der Neurologie, aber auch in der Ophthalmologie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Chirurgie, Orthopädie und der Inneren Medizin erarbeitet. In Deutschland wurde Botulinum-Toxin A vom Bundesgesundheitsamt bereits im Jahr 1993 für die Indikationen „idiopathischer Blepharospasmus" und „Spasmus hemifacialis" und im Jahr 1995 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für die Indikation „rotierender Torticollis spasmodicus" zugelassen (3). Für weitere Indikationen, die hier beschrieben werden (Schreibkrampf, spasmodische Dysphonie), oder die oromandibuläre Dystonie besteht in Deutschland noch keine Zulassung; Wirksamkeit und Sicherheit des Präparates sind jedoch durch klinische Studien ausreichend belegt, so daß es im Einzelfall im Rahmen eines „Heilversuches" vom Spezialisten eingesetzt werden kann. Auch in der Behandlung der anderweitig nicht beeinflußbaren Spa- ZUR FORTBILDUNG stik verschiedenster Ursachen zeichnen sich günstige Ergebnisse ab (5, 13, 28, 50). Andere publizierte Indikationen, wie beispielsweise Injektion im Bereich des Gastrointestinal- oder Urogenitaltraktes (etwa bei Achalasie, Analfissur, spastischer Blase), (17, 42) , gelten noch als experimen- Wirkprinzip Botulinum-Toxin A mit einem Molekulargewicht von etwa 150 000 Dalton ist eines von sieben immunologisch unterscheidbaren Subtypen (Abis G) des Toxins (49). Auch die Typen B und F werden zur Zeit auf ihre therapeutische Verwendbarkeit hin Tabelle Anwendungen von Botulinum-Toxin A .... Vom BGA (und BfArM) bisher zugelassene Indikationen: - Idiopathischer Blepharospasmus - Spasmus hemifacialis - Rotierender Torticollis spasmodicus ..,.. Andere Einsatzmöglichkeiten: a) dystone Muskelkontraktionen: - oromandibuläre Dystonie** - laryngeale Dystonie (spasmodische Dysphonie)** - aufgabenspezifische Dystonie (zum Beispiel Schreibkrampf)** - andere Extrernitätendystonien** b) abnorme Muskelkontraktionen: - Tremor (Stimme, Kopf, Extremitäten)*, Gaumensegelmyoklonus** - Tics*, Strabismus**, Nystagmus*, endokrine Orbitopathie* - Myokymie*, Bruxismus*, Stottern*, Epilepsia partialis continua* - Spastik (nach Schlaganfall, infantiler Zerebralparese, Schädel-HirnTrauma, Paraplegie, multipler Sklerose, soweit anderweitig therapieresistent)*, zum Teil** - Spannungskopfschmerz*, Rückenschmerzen*, Fibromyalgie* - spastische Blase*, Achalasie*, Anismus*, Analfissur* - andere Spasmen und Sphinkterspasmen * ..,.. Weitere Indikationen: - protektive Ptose * - kosmetisch (Krähenfüße, Gesichtsasymmetrie)* - postoperative Muskelruhigstellungen * - parasympathikolytische Wirkung bei Injektionen in Drüsen*, wie zum Beispiel Tränendrüse (bei "Krokodilstränen" nach peripherer Fazialisparese), Schweißdrüsen im Gesicht (bei gustatorischem Schwitzen) sie als Zinkendopeptidase enzymatisch ein Protein ("SNAP-25" = "synaptosomal assoziiertes Protein") spaltet, welches zum Ankoppeln der Acetylcholinvesikel an der präsynaptischen Plasmamembran benötigt wird (7) (Grafik). Wenn das Ankoppeln der Vesikel unterbleibt, kann keine Freisetzung von Acetylcholin erfolgen. Die daraus resultierende Blockade der neuromuskulären Übertragung führt zu einer Schwächung und Atrophie der betreffenden Muskulatur. Die muskellähmende Wirkung von Botulinum-Toxin A tritt klinisch erst nach Stunden bis Tagen auf und ist durch Regenerationsvorgänge reversibel; die Chemodenervierung wird nämlieh durch Nachbildung von SNAP-25, vermehrte Bildung von Acetycholinrezeptoren und vor allem durch eine axonale Neuaussprossung und Bildung neuer Endplatten kompensiert. Diese Reinnervation setzt bereits nach wenigen Tagen ein, ist bei niedrigen Dosen nach etwa 10 bis 14 Wochen abgeschlossen, und ihr zeitlicher Verlauf entspricht damit der durchschnittlichen Dauer der klinischen Wirkung. Somit ist die lokale Injektion von Botulinum-Toxin in hyperaktive Muskulatur eine rein symptomatische Therapie, die von ihrem Wirkprinzip her nicht in ursächliche Erkrankungsmechanismen eingreift. Eine anhaltende Symptomunterdrückung ist nur durch wiederholte Injektion zu erreichen. ** Indikation durch Studien ausreichend belegt oder bei vielen Patienten erfolgreich ange* wandt kasuistisch erfolgreich oder in Prüfung tell: sie sind bislang lediglich in kleinen Fallzahlen berichtet worden oder befinden sich noch in klinischer Prüfung (Tabelle). Verschiedene amerikanische Fachverbände und medizinische Institutionen haben zur Anwendung von Botulinum-Toxin in unterschiedlichen Konsensuspapieren positiv Stellung genommen: die "American Academy of Ophthalmology" (1) , "American Academy of Neurology" (4) , "American Academy of Otolaryngology" (2) und das " National Institute of Health" (40). Nebenwirkungen und Risiken überprüft (23 , 39). Der gerraue Wirkmechanismus von Botulinum-Toxin A wurde erst in den letzten Jahren aufgeklärt: es besteht aus zwei durch mindestens eine Disulfidbrücke verbundenen Proteinketten, wobei die schwere Kette (100 000 Dalton) eine hohe Bindungsaffinität zu präsynaptischen Akzeptor-Proteinen an der motorischen Endplatte aufweist und für die Aufnahme des Toxins in die Nervenendigung verantwortlich ist. Innerhalb der Nervenendigung wirkt dann die kurze Kette (50 000 Dalton) als eigentliches Toxin, indem A-2728 (42) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41 , 13. Oktober 1995 Die geschätzte tödliche Dosis beim Menschen (LD50) beträgt etwa ein 10- bis lOOfaches der je nach Indikation zur Therapie verwendeten Dosierungen (48). Die häufigsten Nebenwirkungen entstehen durch Diffusion des Toxins vom Zielmuskel in benachbarte Muskelgruppen, es kommt auch dort zu unerwünschten Lähmungen. Auch die Schwächung des Zielmuskels kann ein unerwünscht hohes Ausmaß annehmen. Diese Nebenwirkungen werden in den jeweiligen Beschreibungen der verschiedenen Anwendungsgebiete detailliert aufgeführt. I> MEDIZ ZUR FORTBILDUNG des Toxins ins Zentralnervensystem hat wahrscheinlich keine klinische Bedeutung (25, 26). Messungen der Beeinflussung der autonomen kardialen Regulation nach therapeutischen Injektionen von Botulinum-Toxin A liefern momentan noch widersprüchliche Ergebnisse (11, 41). Klinisch bedeutsame Veränderungen wurden je- Systemische Muskellähmungen sind klinisch extrem selten und treten nur bei massiver Überdosierung auf. Allerdings läßt sich durch neurophysiologische Methoden (Einzelfaser-Elektromyographie) eine subklinische Systemwirkung therapeutischer Dosen in Form einer Beeinflussung der neuromuskulären DA Grafik Synoptisches Vesikel Fusionspore Kopplungskomplex VAMP II Typ B,D,F,G Vesikelmembran verlässig sind, kann die Häufigkeit einer Antikörperbildung nur annähernd geschätzt werden und beläuft sich auf drei bis fünf Prozent der längerfristig mit höheren Dosierungen Behandelten (zum Beispiel beim Torticollis). Bei den Indikationen mit niedrigen Dosierungen (wie Blepharospasmus, Spasmus hemifacialis) ist eine Antikörperbildung extrem selten. Während der Schwangerschaft und Stillperiode sollten Injektionen vorsichtshalber unterbleiben. Obwohl im mittlerweile überschaubaren Anwendungszeitraum von 15 Jahren keine nachteiligen Langzeitfolgen der Injektionen von Botulinum-Toxin A beobachtet wurden, besteht diesbezüglich doch eine Restunsicherheit durch den Mangel an Erfahrungen in der Dauerbehandlung. Präparate Plasmamembran Syntaxin SNAP 25 Kalziumkanal Wirkung der Botulinum-Toxine an der motorischen Endplatte. Vor der Ausschüttung von Acetylcholin koppelt das synoptische Vesikel mit Hilfe des Kopplungskomplexes an die Innenseite der Plasmamembran; diese Bindung wird von den Kopplungsproteinen VAMP (vesikelassoziiertes Membranprotein), Syntaxin und SNAP-25 (synaptosomal assoziiertes Protein) hergestellt. Danach kommt es durch die Öffnung der Fusionspore zur Transmitterousschüttung. Botulinumtoxine verhindern die Kopplung der Vesikel an die Membran durch proteolytische Spaltung der Kopplungsproteine: die Toxine A und E spalten SNAP-25, die Toxine B, D, F und G spalten VAMP, und Toxin C spaltet Syntaxin. Übertragung auch in solchen Muskeln nachweisen, die weit vom Injektionsort entfernt sind (21, 36). Daher können lokale Injektionen von Botulinum-Toxin gleichzeitig bestehende Erkrankungen der neuromuskulären Übertragung (etwa Myasthenie, Lambert-EatonSyndrom) verschlechtern (19). Alle auftretenden Nebenwirkungen sind reversibel und werden in der Regel problemlos toleriert. Bislang wurde ein Todesfall im Zusammenhang mit einer Botulinum-Toxin-Behandlung bei zervikaler Dystonie berichtet: aufgrund lokaler Nebenwirkungen in Form von Schluckstörungen kam es zur Aspiration und Entwicklung einer Pneumonie (3). Der in Tierversuchen nachgewiesene retrograde axonale Transport doch nie beobachtet. Bisherige histologische Studien am humanen M. orbicularis oculi zeigten eine Reversibilität der atrophischen Veränderungen nach wiederholten Toxininjektionen (8). Anaphylaktische Reaktionen nach Injektion von Botulinum-Toxin sind bislang nicht berichtet worden. Als immunologische Wirkungen wurden beschrieben: Guillain-B an& Syndrom (Kausalzusammenhang unwahrscheinlich) (27), Armplexusneuritis (46) und Bildung von Antikörpern (24). Im Falle einer Antikörperbildung kommt es nach anfangs erfolgreichen Behandlungen bei Wiederholungsinjektionen zu einem klinischen Wirkungsverlust. Da die Nachweismethoden von Antikörpern gegen Botulinum-Toxin A noch unzu- A-2730 (44) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 In Deutschland sind zwei verschiedene Präparationen von Botulinum-Toxin A für die periorbitalen Indikationen zugelassen: Botox ® und Dys-(Alergan,US;MzD) port® (Speywood, UK). Die Zulassungserweiterung für die Indikation Torticollis ist 1995 bislang nur für Dysport® erfolgt; für Botox® ist sie angekündigt. Die biologische Potenz beider Präparate und ihre Dosierungen werden in der Einheit „Mouse Unit" (M.U.) angegeben. Dabei ist eine M.U. als diejenige Toxinmenge definiert, die bei intraperitonealer Injektion bei 50 Prozent von 18 bis 20 g schweren weiblichen Swiss-WebsterMäusen zum Tode führt („Maus-LD50"). Trotz dieser Standardisierung der Systemwirkung unterscheiden sich gleiche „Maus-Einheiten" beider Toxinpräparate erheblich in der lokalen Wirksamkeit. Bei klinischer Anwendung entspricht eine Einheit (M.U.) des Präparates Botox ® etwa drei bis fünf Einheiten des Präparates Dysport® (11, 58). Dieser wichtige Unterschied ist beim Wechsel der Präparate und bei der Handhabung von Dosierungsempfehlungen strikt zu beachten (61, 65). Botox® ist als Ampulle mit 100 Einheiten im Handel, Dysport® als Packung mit zwei Ampullen zu je 500 Einheiten. Beide Präparate müssen MEDIZIN ZUR FORTBILDUNG zur Injektion in 0,9prozentiger Kochsalzlösung gelöst werden. Die Kosten therapeutisch äquivalenter Dosen beider Präparate liegen etwa in der gleichen Größenordnung und werden bei den Beschreibungen der einzelnen Indikationen genannt. Anwendungsgebiete Das Prinzip der lokalen chemischen Denervierung mit BotulinumToxin A eignet sich grundsätzlich zur Behandlung umschriebener abnormer Muskelkontraktionen und deren Folgen, wie beispielsweise Fehlbewegungen, Fehlhaltungen, Bewegungsblockaden, Muskelhypertrophie und Schmerzen (15, 31). Die größte Grup- rospasmus, den Torticollis spasmodicus (zervikale Dystonie), den Schreibkrampf und die spasmodische Dysphonie existierten bislang keine befriedigenden konservativen Behandlungsmethoden. Dies gilt auch für den Spasmus hemifacialis, dem keine Dystonie, sondern eine Irritation des N. facialis im peripheren Verlauf zugrundeliegt (32). Viele andere Formen von Muskelkontraktionen wurden experimentell mit lokalen Injektionen von Botulinum-Toxin A behandelt: die Spanne reicht von therapeutischen Lähmungen im Bereich des Gastrointestinal- und Urogenitaltraktes (17, 42) bis zu postoperativen Muskelruhigstellungen im chirurgischorthopädischen Bereich (22). Auch Abbildung 1: Patientin mit dystonem Blepharospasmus: willkürlich nicht überwindbarer Augenschluß durch Überaktivität des M. orbicularis oculi pe solcher Erkrankungen stellen dabei die fokalen Dystonien dar. Unter dem Begriff „Dystonien" werden Bewegungsstörungen zusammengefaßt, bei denen es durch unwillkürliche Muskelkontraktionen zu abnormen Haltungen und/oder Bewegungsmustern des Körpers kommt Die genauen Ursachen idiopathischer Dystonien sind noch unbekannt; wahrscheinlich bestehen Neurotransmitterstörungen im Bereich des extrapyramidalen Systems. Je nach ihrem Auftreten in den verschiedenen Körperregionen unterscheidet man generalisierte (gesamter Körper betroffen), multifokale (nicht benachbarte Körperteile betroffen), segmentale (zwei benachbarte Körperteile betroffen) und fokale (auf ein Körperteil begrenzt) Formen (20).,Für die häufigsten fokalen Dystonien, nämlich den Blepha- zur Verringerung pathologisch gesteigerter Sekretion von Schweißund Tränendrüsen wurde die lokale parasympathikolytische Wirkung des Toxins erfolgreich verwendet (siehe Tabelle). Auf die wichtigsten Anwendungen auf neurologischem Gebiet wird im folgenden näher eingegangen. Indikation: Idiopathischer Blepharospasmus Bei der auch als „Lidkrampf" bezeichneten Erkrankung kommt es phasenweise oder ständig zur Überaktivität des M. orbicularis oculi mit zwanghaftem Augenschluß und Unfähigkeit zur Augenöffnung bis hin zur funktionellen Blindheit (Abbildung 1). Treten unwillkürliche A-2732 (46) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 Mund- oder Kieferbewegungen (oromandibuläre Dystonie) hinzu, spricht man vom „Meige-Syndrom" oder „Brueghel-Syndrom" (38). Die Injektion von BotulinumToxin erfolgt subkutan im Bereich des M. orbicularis oculi an drei bis sechs Stellen, wobei der mittlere Teil des Oberlides ausgespart werden muß, um eine Diffusion des Toxins in den M. levator palpebrae mit konsekutiver Ptose zu vermeiden. Die mittleren Dosierungen pro Auge liegen mit Botox® bei etwa 12,5 bis 25 Einheiten und mit Dysport ® bei etwa 75 bis 125 Einheiten. Die Wirkung tritt nach zwei bis fünf Tagen auf und hält etwa zwei bis vier Monate an. Etwa 80 Prozent der Patienten zeigen einen guten Behandlungserfolg (10). Lokale Nebenwirkungen können mit folgenden durchschnittlichen Häufigkeiten auftreten (16): Ptose (zwölf Prozent), Keratitis (vier Prozent), vermehrter Tränenfluß (vier Prozent), trockene Augen (2,5 Prozent), Doppelbilder (zwei Prozent), periorbitales Ödem (je nach Ausmaß zwei Prozent bis 92 Prozent). Mit einer Häufigkeit unter einem Prozent treten auf: Ekchymosis, Entropion, Ektropion, Schwäche der Gesichtsmuskulatur. Alle Nebenwirkungen bilden sich meist bereits nach zwei bis vier Wochen vollständig zurück, so daß sie gut toleriert werden. Zur Keratitisprophylaxe bei unvollständigem Lidschluß hat es sich bewährt, über Nacht eine Augensalbe zu verwenden. Die jährlichen Kosten für die benötigte Toxinmenge liegen zwischen 1 000 und 1 800 DM. Indikation: Spasmus hemifacialis Einseitig kommt es zu unwillkürlichen Zuckungen der Gesichtsmuskulatur, vor allem im Augenbereich. Ursächlich sind meist Kompressionen des N. facialis an seiner Austrittszone aus dem Hirnstamm durch aberrierende Gefäße. Durch Dekompressionsoperationen können die pathologischen Erregungsmechanismen bei 70 bis 90 Prozent der Patienten beseitigt werden (32). Eine befriedigende konservative Behandlungsalternative stand bisher nicht zur Verfügung. > M E D ZUR FORTBILDUNG Die Toxininjektion erfolgt analog zum Blepharospasmus einseitig in den M. orbicularis oculi. Selten sind Injektionen der unteren Gesichtshälfte notwendig. Die Erfolgsraten liegen bei 90 Prozent, im Vergleich mit der Behandlung des Blepharospasmus ist die benötigte Toxindosis etwas geringer, die Wirkungsdauer etwas länger und das Nebenwirkungsspektrum identisch (6). Die Kosten für das Toxin betragen jährlich zwischen 400 und 800 DM. bilateraler Injektion von Nackenmuskeln), Mundtrockenheit (fünf bis zehn Prozent), lokale Schmerzen (fünf bis zehn Prozent), unspezifische Nebenwirkungen (Schwindel, Müdigkeit und so weiter bis maximal zehn Prozent). Alle auftretenden Nebenwirkungen sind reversibel und werden in der niert in mehreren Sitzungen appliziert, um das enge therapeutische Fenster nicht zu verfehlen. Die Dosierungen beim Schreibkrampf betragen für mehrere Unterarmmuskeln 30 bis 50 Einheiten Botox® und 150 bis 250 Einheiten Dysport®. Als Nebenwirkungen kann ein unerwünscht hohes Ausmaß an vor- Indikation: Torticollis spasmodicus (zervikale Dystonie) Bei der auch als „Schiefhals" bezeichneten Erkrankung kommt es zu abnormen Kopfbewegungen oder -haltungen als Folge dystoner Überaktivität von Hals- und Nackenmuskulatur. Dabei gibt es nicht nur reine Drehungen („Torticollis"), sondern auch Kippungen („Laterocollis"), Vor- und Rückwärtsneigungen („Ante- und Retrokollis") und komplexe Kombinationen dieser Grundmuster (14). Die Muskelkontraktionen können tonischen, rhythmischen oder tremorösen Charakter haben. Injektionen von Botulinum-Toxin A in die jeweils überaktive Muskulatur erzielen bei 70 bis 80 Prozent der Patienten eine deutliche Besserung (30, 51) (Abbildung 2). Begleitende Schmerzen werden zu 90 Prozent gebessert (18, 44). Bei der Auswahl der zu injizierenden Muskulatur stützt man sich auf die klinische Analyse des Muskelaktivierungsmusters und, vor allem bei komplexen Störungen, auf mehrkanalige elektromyographische Analysen der überaktiven Muskulatur (12). Die Durchschnittsdosierungen pro Sitzung betragen, je nach Schweregrad, bei Botox® 100 bis 300 Einheiten und bei Dysport® 500 bis 1 000 Einheiten. Die Wirkung hält etwa drei Monate an. An lokalen Nebenwirkungen sind möglich: Schluckstörungen (10 bis 20 Prozent, durch lokale Diffusion des Toxins in benachbarte Schluckmuskeln), Instabilität der Kopfhaltung (zirka 20 Prozent, vor allem bei Abbildung 2: Patientin mit tonischem rotatorischen Torticollis spasmodicus nach rechts (Videoaufnahmen Vor Injektion mit hyperaktivem M. sternocleidomastoideus links (A: spontane Fehlhaltung des Kopfes, C: willkürliche Drehung nach rechts). Nach Injektion mit Atrophie des injizierten M. sternocleidomastoideus (B: normalisierte Spontanhaltung des Kopfes, D: willkürliche Drehung nach rechts). (Abbildung aus: Ceballos-Baumann et al: Akt Neurol 1990; 17: 139-145, mit freundlicher Genehmigung des Thieme-Verlags, Stuttgart) Regel problemlos toleriert. Die jährlichen Kosten für das Toxin liegen je nach Schwere der Erkrankung zwischen 2 500 und 6 500 DM. Indikationen: Schreibkrampf und spasmodische Dysphonie Aufgabenspezifische Dystonien der Extremitäten treten beispielsweise beim Schreiben oder Musizieren auf. Der „Schreibkrampf" mit dystonen Verkrampfungen der Hand- und Unterarmmuskulatur ist die bekannteste Form dieser Bewegungsstörungen. Elektromyographisch gesteuerte Injektionen von Botulinum-Toxin A führen bei 60 bis 70 Prozent der Betroffenen zu einer deutlichen Besserung (33). Die Injektionen werden meistens fraktio- A-2734 (48) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 ) übergehender Schwächung der Handfunktionen eintreten. Bei der „spasmodischen Dysphonie" kommt es zu dystonen Verkrampfungen der Kehlkopfmuskulatur (laryngeale Dystonie). Man unterscheidet einen „Adduktor-Typ", der durch Hyperadduktion der Stimmbänder eine krächzende, gepreßte Stimme aufweist, und den wesentlich selteneren „Adduktor-Typ" mit phasenweise leise hauchend-flüsternder Stimme. Injektionen mit BotulinumToxin A in die überaktive Kehlkopfmuskulatur werden meistens von Phoniatern und Neurologen kooperativ endoskopisch transoral oder transkutan vorgenommen (9). Vor allem beim „Adduktor-Typ" sind die Erfolge mit etwa 80 Prozent eindrucksvoll. In Deutschland besteht noch keine Zulassung für diese Indikationen. MEDIZON ZUR FORTBILDUNG/FUR SIE REFERIERT Beurteilung und Ausblick Die lokale Injektion von B otulinum-Toxin A stellt bei den beschriebenen Indikationen einen deutlichen Therapiefortschritt dar. Die Behandlung ist sicher und effektiv. Nebenwirkungen sind tolerabel und reversibel. Bei einigen in Studie befindlichen Anwendungen, wie zum Beispiel der Spastik oder der infantilen Zerebralparese, bestehen gute Aussichten, daß Botulinum-Toxin bei kritischer Indikationsstellung eine Bereicherung des therapeutischen Arsenals darstellen wird. Obwohl mittlerweile ein Anwendungszeitraum von 15 Jahren überblickt werden kann, besteht ein Mangel an Erfahrung über langfristige Folgen der Daueranwendung. Zwar ist die Behandlung nicht aufwendig und kann weitgehend ambulant erfolgen, es sind jedoch große Erfahrung in Diagnose, Differentialdiagnose und Therapie von Bewegungsstörungen wie auch im Umgang mit dem Toxin notwendig. Die für viele Patienten wichtige Therapieform darf nicht durch unkritische Anwendung in Mißkredit gebracht werden. Daher darf die Behandlung laut Bundesgesundheitsamt (seit 1. Juli 1994: „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM") nur an Kliniken vorgenommen werden, die mit dieser Behandlungsmethode spezielle Erfahrungen besitzen. Es sind dies, je nach Indikation, bundesweit einige neurologische, ophthalmologische oder HNOFachkliniken, deren Anschrift man von den nächstgelegenen Fachabteilungen oder Fachärzten erfahren kann. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärzteb11995; 92: A-2726-2736 [Heft 41] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser. Phlebothrombosen klinisch erkennen In einer multizentrischen klinischen Studie wurde an 529 ambulanten Patienten mit der Verdachtsdiagnose einer tiefen Venenthrombose untersucht, wie sicher klinische Untersuchung und Sonographie eine Phlebothrombose nachweisen oder ausschließen können. Als Goldstandard und Kontrolle wurde bei allen Patienten eine Phlebographie durchgeführt. Es konnte gezeigt werden, daß allein durch die klinische Untersuchung Phlebothrombosen in 85 Prozent der Fälle richtig vorhergesagt und in 95 Prozent der Fälle richtig ausgeschlossen werden konnten. Bei Einsatz des Ultraschalls lag die Sensitivität bei 78 Prozent und die Spezifität bei 98 Prozent. Für den klinischen Alltag empfehlen die Autoren bei Verdacht auf tiefe Venenthrombosen die Kombination aus klinischer Untersuchung und Sonographie; nur bei diskordanten Ergebnissen hierbei ist ihres Erachtens eine Phlebographie zur Klärung indiziert. Bei allen übrigen Patienten kann mit ausreichender Sicherheit auch ohne Phlebographie eine Phlebothrombose nachgewiesen oder ausgeschlossen werden. acc Wells PS et al.: Accuracy of clinical assessment of deep-vein thrombosis. Lancet 1995; 345: 1326-1330. Dr. P. S. Wells, Ottawa Civic Hospital, Ottawa, Ontario, K1Y 1J8, Canada TIPS bei refraktärem Aszites Der transjuguläre intrahepatische portosystemische Stent-Shunt stellt eine neue, recht erfolgreich praktizierte Alternative zur Sklerotherapie bei der Ösophagusvarizenblutung dar. Wie die Autoren zeigen, kommt diese Maßnahme auch bei therapierefraktärem Aszites zum Tragen, wobei allerdings bislang noch keine kontrollierte prospektive Studie vorliegt. A-2736 (50) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 An der Erstellung vorstehender Arbeit waren folgende Autoren mit beteiligt: Prof. Dr. med. Reiner Benecke, Universität Düsseldorf Dr. med. Andres 0. Ceballos-Baumann, Technische Universität München Prof. Dr. med. Reinhard Dengler, Medizinische Hochschule Hannover Prof. Dr. med. Günther Deuschl, Universität zu Kiel Dr. med. Dirk Dressier, Universität Göttingen Prof. Dr. med. Wolfgang Oertel, Universität München Prof. Dr, med. Werner Poewe, Universität Innsbruck Anschrift für die Verfasser: Dr. med. Frank Erbguth Dipl.-Psychologe Neurologische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg Schwabachanlage 6 91054 Erlangen Die Autoren berichten über ihre Ergebnisse bei 50 Patienten, die im Schnitt 426 ± 333 Tage danach beobachtet werden konnten. Die Stent-Implantation führte zu einer durchschnittlichen Drucksenkung um 63 Prozent. Bei 37 Patienten (74 Prozent) kam es zu einem vollständigen Verschwinden des Aszites innerhalb von drei Monaten. Während der Beobachtungszeit verstarben relativ viele Patienten an Komplikationen der Grundkrankheit (29). Die Autoren stellen fest, daß das überleben nach einem Jahr insbesondere davon abhängt, ob die Patienten jünger als 60 Jahre alt sind, ein Serum-Bilirubin vor Stent-Implantation von unter 1,3 mg/dl aufweisen und die Patienten eine komplette Remission bieten. Ochs A, Rössle M, Haag K et al: The transjugular intrahepatic Portosystemic Stent-Shunt procedure for refractory ascites. N Engl J Med. 1995; 332: 1192 1197. - Dr. Rössle, Medizinische Universitätsklinik II, Hugstetter Straße 55, 79106 Freiburg