1 Marian Füssel, Universität Münster "Cognitive Mapping" und die soziale Logik des Raumes im akademischen Feld der Frühen Neuzeit 1. Einleitung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Frage nach der Konstitution und Wahrnehmung sozialer Rangordnungen und Hierarchien in der Frühen Neuzeit1. Am Beispiel des akademischen Feldes sollen im Folgenden die Anlässe beleuchtet werden, die als Bühne zur symbolischen Manifestation gesellschaftlicher Ordnung dienten. Die Universitäten treten dabei vor allem als Orte einer streng differenzierten ständischen Rangordnung ins Blickfeld. Der Rang des Einzelnen innerhalb der Universitätshierarchie hatte einerseits Einfluss auf seine inneruniversitäre Geltung, andererseits weist ihm die Graduierung einen bestimmten Platz innerhalb der Ständehierarchie an. Die Frage des Vorrangs, der Präzedenz, gab Anlass zu einer Vielzahl von Konflikten zwischen Universität und Stadt, zwischen Universität und Adel, zwischen einzelnen Akademikern und Angehörigen anderer Stände oder innerhalb der Universität. Die historische Forschung übernahm indes bis weit in die Gegenwart das aufgeklärte Verdikt, bei Fragen von Rang und Zeremoniell handele es sich um bloße Äußerlichkeiten, denen eigentlich keine Bedeutung zukomme. Erscheinen doch aus Sicht der Moderne die Formen der Visualisierung und theatralischen Inszenierung von Macht aufgrund ihres nichtdiskursiven Charakters als Form der Manipulation und wurden tendenziell unter Ideologieverdacht gestellt. Erst im Zuge der sogenannten „kulturalistischen Wende“ wuchs das Interesse der historischen Forschung an Ritualen und Formen symbolischer Kommunikation (vgl. Muir 1997). Ritual und Zeremoniell galten nun nicht mehr länger bloß als schöner Schein, sondern wurden als konstitutiv für das Verständnis vormoderner Gesellschaften begriffen. Ausgehend von der Beobachtung, dass soziale Stratifikation sich meist in einer räumlichen Metaphorik ausdrückt, ist dabei innerhalb der Erforschung von Zeremoniell und Ritual die Rolle einer „sozialen Logik des Raumes“ betont worden (vgl. Paravicini 1997)2. So gilt die Umsetzung von Ehre in räumliche Distanz als eines der Grundelemente des Ceremoniels (vgl. Vec 1998: 165). Norbert Elias hat dabei in seiner wegweisenden Studie zur höfischen Gesellschaft auf die Bedeutung von Wohnstrukturen als Indikatoren gesellschaftlicher Machtverhältnisse aufmerksam gemacht (Elias 1997). Im Folgenden soll es jedoch weniger um eine konkrete Architektur höfischer oder städtischer Räume gehen als um die Frage nach der Rolle räumlicher Wahrnehmung für soziale 2 Hierarchien und Rangfolgen, und daran anknüpfend, um die Frage nach der spezifischen Logik räumlicher Ordnungsmodelle und deren Unterschied zu anderen symbolischen Ordnungen. Räumliche Ordnungsmodelle haben sowohl kognitive wie sozial distinktive Funktion. Die kognitive Dimension kann in der Funktion räumlicher Wahrnehmung als das verstanden werden, was in der angloamerikanischen Forschung häufig mit dem Begriff des "cognitive mapping" bezeichnet wird (Jameson 1986; Kitchin/Freundschuh 2000)3. Eine Ordnung komplexer sozialer Beziehungen durch den Entwurf einer Art mentaler "Landkarte des sozialen Raums" (Leach 1978: 68). Im Anschluß an Bourdieu kann dabei der soziale Raum von einem "angeeigneten physischen Raum" oder "reifizierten sozialen Raum" unterschieden werden (Bourdieu 1991). Der soziale Raum bildet ein relationales Geflecht von Kräfteverhältnissen, die sich im physischen Raum manifestieren. Die gesellschaftliche Rangordnung im (metaphorischen) sozialen Raum findet so ihren materiellen Ausdruck in den verschiedenen symbolischen Akten des Sitzens, Stehens oder Gehens im "angeeigneten physischen Raum". In der sozialen Wirklichkeit der ständischen Gesellschaft bildeten die symbolischen Ausdrucksformen die Ständehierarchie nicht einfach ab, indem "Rangplatz und Rang, Zeichen und Bezeichnetes ununterscheidbar zusammenfielen", verlieh vielmehr der performative Charakter der Rangposition demjenigen, der eine bestimmte Position einnahm, im gleichen Augenblick auch die entsprechende Stellung (Stollberg-Rilinger 2001). Symbolische Praktiken sind von daher als Strategien zur Positionierung im sozialen Raum zu verstehen. "Der soziale Raum ist somit zugleich in die Objektivität der räumlichen Strukturen eingeschrieben und in die subjektiven Strukturen, die zum Teil aus der Inkorporation dieser objektivierten Strukturen hervorgehen." (Bourdieu 1991: 28). Anders ausgedrückt: die Akteure bilden bestimmte räumliche Wahrnehmungsmuster aus, die ihre Wahrnehmung der Machtverhältnisse (ihren "sense of ones place") strukturieren. Die Bedeutung räumlicher Ordnungen für soziale Distinktion liegt im Wesentlichen darin, dass es sich hierbei im Gegensatz zu anderen Distinktionspraktiken um eine Art Nullsummenspiel handelt, in dem jeder Platz nur einmal zu vergeben ist. So etwa im Unterschied zum Tragen besonderer Kleidungsstücke – was tendenziell mehreren offen steht. So formuliert Michael Zapf im Anschluß an die Machttheorie Niklas Luhmanns: „Die Verteilung der Machtpositionen um einen Tisch oder in einem Raum erlaubt nur eindeutige Positionierung, und der Usurpator würde sofort in Konflikt mit dem eigentlichen Platzinhaber geraten. Dieser Code der Machtverteilung im Raum ist daher ein wesentlich effizienterer als alle anderen, weil er keine Fehldeutungen zulässt, und keiner der Beteiligten kann ihn ändern. 3 Er ist ein Metacode, der paradoxe Rückkopplungen vermeidet, weil selbst der Machtinhaber ihm gehorcht.“ (Zapf 2000: 20). 2. Symbolische Praktiken: Prozessionen und Sitzordnungen Prozessionen bildeten in der vormodernen Gesellschaft bekanntlich eines der bevorzugten Medien zur Visualisierung ständischer Ordnung (Felbecker 1995). Dabei spielte nicht nur die Ordnung innerhalb der Prozession eine Rolle, sondern auch die Route, die sie durch die Stadt nahm, wie nicht zuletzt zahlreiche Arbeiten zum Thema "Herrscheradventus" gezeigt haben. In Indien etwa diente der Weg, den ein Leichenzug bis zum Ort der Verbrennung nahm, zur rituellen Markierung der Grenzen einzelner Stadtviertel (Kölver 1993). Anhand der Totenwege wurde so die soziale Topographie einer Stadt lesbar. Robert Darnton hat am Beispiel Montpelliers untersucht, wie ein Bürger des 18. Jahrhunderts anhand von Prozessionsbeschreibungen die soziale Ordnung seiner Stadt „kartographierte“ und in einen Text umsetzte (Darnton 1989)4. Dass auch die bildliche Darstellung von Prozessionen an deren linearem Repräsentationsmodell festhielt, belegen zahlreiche Abbildungen, auf denen die einzelnen corpora und Personen nur noch ameisengroß in Erscheinung treten. Die Zeremonialbeschreibungen bzw. bildlichen Darstellungen als Quellengattung sind dabei nicht als Repräsentation einer Repräsentation, sondern als eine eigene Form von Repräsentation zu begreifen, d.h. sie entwerfen ein idealisiertes Bild des zeremoniellen Ablaufs (vgl. Vec 1998: 230). Dass dieser nicht immer einer geregelten Inszenierung entsprach, zeigt ein Tübinger Beispiel. In Tübingen kam es an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mehrfach zu handgreiflichen Auseinandersetzungen um den Rang bei akademischen Leichenbegängnissen. Nach der Beerdigung des Kanzlers Johann Adam Osiander 1697 beschwerten sich die Studenten des Tübinger Stifts über das schlechte Benehmen der Stadtstudenten5. Ihre Klage gliederte sich in fünf Punkte. Nach "höchster Verwirrung der gantzen Procession" hätten sich die Stadtstudenten 1. "unterwunden" vor dem ganzen "corpore deß hochfürstl. Theologisch Stipendii" in die Prozession einzutreten, um dann 2. mit Gewalt den Repetenten Berlin, Prosetgten und andere ältere Magister, die vorrangierten, zurück und auf die Seite zu treiben. Desweiteren habe 3. ein Student mit Namen Lux nicht einmahl den Hut vor dem ganzen Collegio abgenommen, sondern es namentlich mit dem "so garstigen Titul salvo honore Excellentia Vestra [venera?] (ihr fozgesichter) beleget", 4. hätten etliche "der allerjüngsten Studiosis, die noch unserer Information sich bedienen, sich nicht geschämet ihren Lehrmeistern vorzugehen", desgleichen 5. "Herr Mühlberg in dem Auditorio vor der Abdanckung mit höchster Violenz und intendirten Stößen Mr. Dumanoir auß unsern sonst 4 assignirten subselliis [Bank, Sitz] herauß und zurück treiben wollen", so daß der Herr Diakon Hochstetter "endlich weichen, und aufstehen" mußte. Sie bitten daher den akademischen Senat, diese vielfältigen "injurien und öffentlich verübte violenz, so dem gantzen corpori des Hochfürstl. Stipendii gestern angefügt worden mit ernster Strafe" anzusehen. Es folgen nun drei Argumente dafür, dass die Stiftsstudenten "wie sonsten gewöhnlich gewesen, denen H. Baronen Nobilibus, und anderen Graduirten Studiosis, als Licentiaten oder sonst ansehnlich characterisirten, zwar nach, doch aber den anderen, die keinen Gradum oder Vorzug des Geblütes oder characterem splendidiorem haben oder darthun können vorgehen mögen". Neben den Prozessionen waren es vor allem die unterschiedlichen Formen der Sitzordnung, durch die sich die Hierarchisierungen des sozialen Raumes in den "physischen Raum" einschrieben6. Die Bedeutung von Sitzordnungen für eine „gesellschaftliche Kartographie“ kann anhand eines der wichtigsten Aspekte räumlicher Wahrnehmung - ihrer Funktion für Gedächtnis und Erinnerung - verdeutlicht werden (Yates 1991; Assmann 1999). Die Begründung der Mnemotechnik wird bekanntlich meist auf die von Cicero überlieferte Geschichte vom Gastmahl des Simonides zurückgeführt (Goldmann 1989). Nachdem die Decke des Hauses, in dem das Festmahl stattgefunden hatte, eingestürzt war, gelang es Simonides anhand der memorierten Sitzordnung, die total verstümmelten Leichen zu identifizieren. Der Zusammenhang zwischen dem Gastmahl des Simonides und der ständischen Rangordnung wird deutlich, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass sich die landesherrlichen Rangordnungen der frühen Neuzeit aus den höfischen Tischordnungen entwickelt haben (Willoweit 1984: 304f.). Wie wichtig die Wahrnehmung des Sitzplatzes für die Orientierung über soziale Positionen sein kann, läßt sich auch durch einen Blick auf die Literatur verdeutlichen. Goethe berichtet im Rahmen seiner italienischen Reise von einem „wundersamen Rangstreit“ in einer Kutsche. „Bald nach Tische kam der Abbé mit einem Wagen, da er uns den entfernteren Teil der Stadt zeigen sollte. Beim Einsteigen ereignete sich ein wundersamer Rangstreit. Ich war zuerst eingestiegen und hätte ihm zur linken Hand gesessen, er, einsteigend, verlangte ausdrücklich, daß ich herumrücken und ihn zu meiner Linken nehmen sollte; ich bat ihn, dergleichen Zeremonien zu unterlassen. »Verzeiht«, sagte er, »daß wir also sitzen, denn wenn ich meinen Platz zu Eurer Rechten nehme, so glaubt jedermann, daß ich mit Euch fahre, sitze ich aber zur Linken, so ist es ausgesprochen, daß Ihr mit mir fahrt, mit mir nämlich, der ich Euch im Namen des Fürsten die Stadt zeige.« Dagegen war freilich nichts einzuwenden, und also geschah es.“ (Catania, Freitag, den 4. Mai 1787, Goethe 1997: 296f.). Die soziale Logik des Raumes wird von mehreren Leitdifferenzen organisiert. Oben ist besser als unten, rechts ist besser als links, vorn ist besser als hinten (Heimpel 1994: 2f.). Diese von Heimpel am Beispiel der Sitzordnungen des Basler Konzils entwickelten Unterscheidungen 5 sind natürlich von Fall zu Fall variabel. In einer Prozession beispielsweise gingen die Ranghöchsten Personen und Korporationen hinten. Der Platz zur Rechten galt allgemein als der vornehmere Platz, obwohl es Ausnahmen gab. Männer saßen in der Kirche meist rechts, Frauen links (gesehen von der Eingangstür mit Blick auf den Altar, (vgl. Müller 1961)). In einer venezianischen Gondel galt die linke Seite als "Place d'honneur", da man "an dieser Seite der Besprützung von den Rudern am wenigsten unterworfen wäre."(Hellbach 1742: 117). Sitzen hatte in der Vormoderne bekanntlich den Charakter eines Rechtsrituals (Erler 1990; Goetz 1992). Das Recht zu sitzen, wenn andere stehen, schafft eine asymmetrische Kommunikationssituation, die gerade in Ritualen eine entscheidende Rolle spielt (z.B. bei Reichstagen und Ständeversammlungen; im Plenum mußten Ständevertreter stehen!). Während akademischer Examen etwa stand der Kandidat, während die Prüfer saßen (Clark 1999: 35ff.). In den Sitzungen des akademischen Senats hatten vielfach nur die Mitglieder der drei oberen Fakultäten das Recht zu sitzen7. Die Philosophen mussten stehen. In Helmstedt erstritt die philosophische Fakultät 1746 das Recht auf Stühle. An der Tübinger Adelsschule, dem "Collegium Illustre", spiegelte sich die soziale Hierarchie in der "Mensa Academica" (vgl. Conrads 1982: 108, 171, 299)8. Hier wurden die Mahlzeiten an drei verschiedenen Tischen serviert. Die Tische differierten nach Rang, Kosten und Zahl der Gänge. Der erste Tisch war "für die Herren unnd gar reiche vom adel" bestimmt (Kosten 156fl., 10 Gänge), der zweite "für andere vom adel unnd vermöglicher Burger kinder" (117fl, 6 Gänge), der dritte für den Rest der Studenten (78fl.). Der erste Tisch war durch ein Podest erhöht und wurde daher auch Obertisch genannt. Er war für die "fürnembsten personen ratione generis et eruditionis" bestimmt. Der Tisch, verstanden als "Freitisch" eines Stipendiums oder der Tischgemeinschaft im Haus eines Professoren lieferte gleichzeitig auch das Ordnungskriterium für die Reihenfolge der Studenten bei öffentlichen Prozessionen (s.o.). Eine anschauliche Bildquelle für die Sitzordnungen akademischer Rituale finden wir in den sogenannten Pegmata oder Diagrammen, die in einem Salzburger Kalendarium academicum überliefert sind9. Die ersten beiden Bilder zeigen die Ordnung des Zeremoniells zum Fest des Universitätspatrons, des hl. Karl Borromäus, am 4. November 1700. Das erste Bild zeigt die Ordnung in der akademischen Kirche, das zweite die Ordnung der Aula Academica. Links oben saßen an einem eigenen erhöhten Tisch die erzbischöflichen Kommissäre, drei Mitglieder des Domkapitels. Die Szepter der Universität lagen auf einem eigenen Tisch links. In der mit E gekennzeichneten Bank saßen der Rektor, der Kanzler und die theologische Fakultät10. In F saß die juristische Fakultät, in G die philosophische Fakultät und der Notar 6 und in H schließlich die Artistenfakultät (eine medizinische Fakultät gab es nicht). Das zweite Bild zeigt die Aula. In ihrer Mitte befand sich das Betpult des Rektors, an dem dieser als erster den Eid auf das Glaubensbekenntnis erneuerte. Auch hier haben die drei Kommissäre einen erhöhten Platz, diesmal im Zentrum des Raumes. Die Universitätsszepter lagen auf dem Tisch rechts. Die Professoren saßen an dem langen Tisch in der Mitte (4). Der Adel saß auf den Bänken unterhalb der Fenster (7). Die Studenten "zweiten Ranges" saßen auf den Bänken in der Mitte (8). Zwei weitere Bilder zeigen die Sitzordnungen bei Magister- und Doktorpromotionen. Beim ersten Bild handelt es sich um die Graduierung mehrerer Kandidaten, die an dem mit grünem Tuch verkleideten Staffelpodium in der Mitte platziert wurden. Kanzler und Promotor hatten ihren Platz auf der Tribüne an der Stirnwand. Der Pedell saß in der rechten Ecke (I). Der Rektor saß auf einem größeren Stuhl rechts, ihm folgten die Sitze der Professoren (F). Links saßen der Abt von St. Peter und Vertreter des Domkapitels, sowie auf etwas niedrigeren Sesseln die adeligen Studenten. Das zweite Bild zeigt die Magistrierung eines einzelnen Kandidaten "in privatim". Der Kandidat ist an dem mit rotem Tuch bedeckten Sitz (C) in der Mitte platziert, davor die Bank für den Schwur (B). Der Rektor ist diesmal links vorne platziert, ihm folgen Gäste der Universität. Rechts saßen die Professoren der Fakultät des Kandidaten. Die minutiöse Gestaltung des räumlichen Arrangements verdeutlicht die Bedeutung (nichtsprachlicher) Symbolisierungen für die Etablierung und Visualisierung von Machtverhältnissen. Der den Beteiligten meist unbewusst bleibende Code der räumlichen Machtverteilung entlastet so die Kommunikation von häufig zeitraubender sprachlicher Verständigung. Darüberhinaus wird durch die räumliche Positionierung der Akteure die Zuschreibung bestimmter sozialer Rollen erleichtert. Ein weiterer Aspekt, der hier nur angedeutet werden kann, ist die unterschiedliche Semiotisierung von Räumen. Denn nicht nur das Innere der Universitätsgebäude ist mit den Bildnissen bedeutender Professoren geschmückt, sondern auch zahlreiche Stadtkirchen sind häufig mit den Epitaphen von Rektoren und Professoren derart gepflastert, dass sie die öffentlichen Räume regelrecht in universitäre "lieux de memoire" (Nora) verwandeln (Bsp. Helmstedt, Tübingen). Auch räumliche Enge, die häufig nur Platz für einen Passanten ließ, konnte zu Streitigkeiten führen. Ein häufiger Streitpunkt zwischen Studenten und Handwerkern in Helmstedt etwa war die Frage des Vortritts auf dem sogenannten "breiten Stein", einer Art gepflasterten Fußgängerweg durch die oft morastigen Straßen. Die Studenten konnten sich schließlich durchsetzen. In einem herzoglichen Reskript wurde den Studiosi 1761 der Vorrang 7 zugestanden11. "Zedlers Universallexikon" berichtet von einem Rangstreit zweier Pariser Kutscher im Jahr 1696, "die in einer engen Straße einander nicht ausweichen und dadurch den Respect ihrer Herrschaften erhalten wollten". Da keiner dem anderen weichen wollte "so hielten sie mit ihren Carossen stille von früh an bis des Nachmittags um 4 Uhr und liessen ihren Pferden Futter bringen. Endlich kam ein Fuhrmann mit einem Fuder Wein gefahren, dieser klagte es dem Commisario der Gegend, welcher hernach die Verfügung that, sie sollten beyde zurückfahren, und keiner diesen Abend wieder auf der Straße sich sehen lassen, womit denn beyde zufrieden waren, und dieser Präcedenzstreit sich endigte."12 3) Grenzen räumlicher Ordnungsmodelle Die Möglichkeiten und Grenzen räumlicher Ordnungsmodelle gründen im Problem der Komplexität. Einerseits liegt der Vorteil räumlicher Ordnungen in ihrer Reduktion von Komplexität, indem sie die Machtkette von zeitaufwendiger (sprachlicher) Kommunikation entlasten. Andererseits lassen sich immer komplexere soziale Relationen nur schwer in lineare räumliche Ordnungen übersetzen. Die spezifische Logik eines streng hierarchisch strukturierten Gesellschaftsmodells mußte angesichts zunehmender gesellschaftlicher (Rollen-) Differenzierung zwangsläufig zu Konflikten um den legitimen Platz führen, so dass man sich mehr und mehr um die Etablierung von Kommunikationsräumen mit egalitärer Binnenstrukturierung bemühte, um die Reibungsverluste durch entsprechende Konflikte einzuschränken. Innerhalb der Akademiebewegung beispielsweise lassen sich hinsichtlich der Rangordnung ihrer Mitglieder zahlreiche egalisierende Momente beobachten. So trugen die Mitglieder der von Giovanni Francesco Loredano 1630 in Venedig gegründeten Akademie der Incogniti bei ihren Sitzungen Masken, um eine vom sozialen Rang der Gesprächsteilnehmer unbeeinflusste Gesprächssituation herzustellen. Die Etablierung von Kommunikationsräumen mit einer egalitären Binnenstrukturierung wird auch am Beispiel der Berliner Akademie der Wissenschaften deutlich. In den Statuten vom 3. Juni 1710 heißt es: "Und wie dem Director sein gebührender Ort zu Beobachtung seines Ambts verbleibet, also haben die übrigen Mitglieder ohne Nachteil ihres anderweiten Rangs durcheinander ihren Sitz zu nehmen und mit dem Votiren zur Rechten des Directoris herumbzugehen, damit ein jeder wissen möge, wie er in seiner Ordnung zu reden habe." (Harnack 1900: 195). Auch innerhalb des zeitgenössischen juristischen Diskurses über das Ius praecedentiae wurden Ratschläge zur Vermeidung von Rangkonflikten gegeben, die häufig auf die räumliche Dimension Bezug nahmen. Johann Theodor Hellbach empfiehlt zur Vermeidung von Rangkonflikten einen runden Tisch: "consellum orbicularem admittendo; quo nullius 8 praerogativa aut loci injuria reperiri queat, nec facile de alicujus praecedentia judicari possit" (Hellbach 1742: 96). Sein Neffe Johann Christian Hellbach bietet eine andere Möglichkeit an: "Man setzt sich im Zimmer nicht nieder, sondern geht blos auf und ab." (Hellbach 1804: 95). Der wirksamste und häufig praktizierte Weg zur Vermeidung von Rangkonflikten war zweifellos das Fortbleiben von entsprechenden Orten und Anlässen. In Ausnahmefällen scheint das Selbstbewußtsein Einzelner die Rangordnung jedoch gesprengt zu haben. Als Königin Augusta, die Gemahlin Wilhelms I., beanstandete, dass die Frauen der Minister allen voran Bismarcks Gattin - an der Hoftafel höher rangierten, als ihnen zukam, erwiderte Bismarck angeblich: "Meine Frau gehört zu mir und darf nicht schlechter platziert werden als ich. Mich aber können Sie hinsetzen, wo es ihrer Majestät beliebt. Wo ich sitze ist immer oben." (Eschenburg 1987: 78f.). 1 Die folgenden Ausführungen beleuchten einen Teilaspekt meines Dissertationsprojekts "Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Untersuchungen zu Rang und Repräsentation im akademischen Feld der Frühen Neuzeit". 2 “It is virtually impossible to do without spatial metaphors when talking about society” (BURKE 1992: 8). Zur sozialwissenschaftlichen Diskussion der Kategorie Raum vgl. LÖW 2001. 3 Ein in diesem Zusammenhang interessantes Beispiel der Kartierung menschlicher Eigenschaften ist Johann Andreas Schnebelins "Schlaraffenlandkarte". Schnebelin hat diese Karte in Anlehnung an Joseph Halls Mundus alter et idem entworfen (Hall 1613 / 1981). Die Karte zeigt 17 Länder mit insgesamt 1771 Namen, die jeweils bestimmte Laster und Tugenden symbolisieren. Innerhalb der Territorien "Starzer Regnum" und "Superbia Regnum" finden wir Orte wie Praecedenz, Hoh Ansehen, Alamode, Gr. Hoffart, Hohen Titul, Kleiderville oder Prang. Über die Stadt Praecedentz heißt es "Praecedentz / allwo sich wegen des Vorzugs und der rechten Hand / bey hohem und mittlerm Stand / sonderlich dem Frauenzimmer / sehr viel Strittigkeiten ereignen / die gemeiniglich nicht aufs beste und zu beyderseits vergnügen ausgetragen werden." (Schnebelin 1694: 241). 4 Der zweite Teil der Description ähnelt eher einem Haus als einer Prozession: Die Bourgeoisie okkupierte das wichtigste Stockwerk des Gebäudes, nachdem sie den Adel vom piano nobile in das Dach des ‚Überbaus’ verdrängt hatte, während das gemeine Volk unter der Treppe bleiben musste“ (Darnton 1989: 145). 5 Universitätsarchiv Tübingen 29/1 22,1-2. 6 An prominenter Stelle steht hier der schon häufig thematisierte "Platz in der Kirche". Zu nennen ist vor allem die wegweisende Arbeit von Reinhold Wex, der auf die Bedeutung von Kirchenstühlen als Austragungsort sozialer Rangkonflikte in der ständischen Gesellschaft aufmerksam gemacht hat (vgl. WEX 1984; PETERS 1985). 7 In Tübingen verfügte auch die philosophische Fakultät über Sitze, die jedoch von denen der drei oberen Fakultäten abgesondert waren. Andere Fakultätsmitglieder, die aus bestimmten Gründen in den Senat beordert wurden, mussten den Sitzungen bis 1631 stehend beiwohnen. Ihnen wurde so symbolisch bedeutet, dass sie keine Mitglieder waren (vgl. THÜMMEL 1975: 148f.). 8 "Diese Tischordnung war innerhalb einer jeden Adelsschule der augenfällige Indikator dafür, welchen Rang jeder Kollegiat in der Adelshierarchie dieser in sich abgeschlossenen Adelsgesellschaft besaß" (CONRADS 1982: 171). 9 "Kalendarium academicum seu Feriae et Festae quae in Universitate Salisburgensi singulis annis celebrari solitae / Pars 2: De Solennitatibus ac rituis in actibus academicis" Landesarchiv Salzburg / Universitätsarchiv Hs. 63, abgedruckt in KAINDL-HÖNIG / RITSCHEL 1964: 54-57. 10 Die Buchstaben und Zahlen beziehen sich auf die Indices der Abbildungen. 11 Verordnung vom 13.4.1761, zit. bei HÄBERLIN 1876: 54. 12 „Vorzugs-Streit, Präcedenz-Streit“, in: ZEDLER, Grosses vollständiges Universallexikon Bd.50, Sp.1360-1376, hier Sp.1365. 9 Literatur ASSMANN, ALEIDA: Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. 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