Das Herz-Sutra - Sylvia Wetzel

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Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Das Herz-Sutra
Sylvia Wetzel
edition tara libre 2015
Reihe Kleine Schriften. K 17
Sylvia Wetzel, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Das Herz-Sutra.
Freiburg 2009. & Hannover 2002. 56 S. edition tara libre 2015.
K17. Kleine Hefte Nr. 17
© Sylvia Wetzel 2015
Zu diesem Heft
Teil 1: Überarbeitete Fassung eines Vortrags in Freiburg im Mai
2009. Ich danke Sabine Müller für die Abschrift und eine erste
Überarbeitung.
Teil 2: Essay zu einem Vortrag von Sylvia Wetzel im buddhistischen
Zentrum Choeling in der Vietnamesischen Pagode in Hannover im
April 2002. Abschrift von Annemarie Becker.
Erstabdruck in Form ist Leere – Leere Form. Band 4:
Weisheit und Erkennen. Buddhistischer Studien-Verlag 2006.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Die edition tara libre
Eine Auswahl von Titeln finden Sie im Anhang, im jeweils aktuellen Veranstaltungsprogramm und auf der Homepage.
Bezug: edition tara libre, Lindenstr.6, D-14974 Ludwigsfelde
Fax (03378) 80 49 56. [email protected]
Büro: Nives Bercht, Heckmannufer 4a, 10997 Berlin
(030) 618 12 14. [email protected]
www.sylvia-wetzel.de, www.tara-libre.org
Mögen alle Fehler in dieser Broschüre keine Eindrücke im Geist
der geschätzten Leserinnen und Leser hinterlassen.
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Inhalt
Zur Einstimmung
Das Herz-Sutra. Fassung des Zen-Instituts
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Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Vortrag in Freiburg. 2009
Zwei Wahrheiten – Konventionelle Wirklichkeit – Unfassbare
Wirklichkeit – Das Symbol des Kreuzes– Die via negativa –
Weisheit: Prajna und Jnana – Ich und Nicht-Ich – Vier Wege:
Dekonstruktives Hinterfragen und Bodhicitta, Hingabe und direkte
Einführung – Rezitation ist Hingabe – Heilige Orte, Zeiten und
Liturgien – Jenseits von Raum, Zeit und Denken – Geborgenheit
und Vertrautheit – Form ist Leere. Leere ist Form – Wir erleben
mehr als wir begreifen – Die kostbare bedingte Existenz: Leerheit
und Bedingtes Entstehen
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Wer bin ich?
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Essay zum Vortrag in Hannover. 2002. 2006
Zwei Ebenen von Wirklichkeit – Wie „existiert“ eine Tasse? –
Leerheit ist ein Heilmittel fürs Festhalten – Wege zur Leerheit –
Die Dinge sind die Bedeutung, die wir ihnen geben – Poesie der
Leerheit – Paradoxe Logik: Weder Weltflucht noch Weltsucht –
Die Weisheit des Herzens – Das Koan vom Stock
Leseempfehlungen und die edition tara libre
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Zur Einstimmung
Seit Ende der 1970er Jahre kenne und schätze ich das Herz-Sutra,
und seit Ende der 1980er Jahre rezitiere ich es auf Deutsch in der
Fassung meiner verehrten Zen-Lehrerin Prabhasa Dharma Roshi.
Seit seiner Entstehung im 3. Jh. u. Z. berührt es die Herzen der
Menschen. Und weil dieser devotionale Text die Herzen berührt,
wird er auch heute noch, in der Regel rhythmisch, rezitiert. Dieses
kurze Sutra enthält die Kernlehren des Mahayana, die Lehre vom
großen Paradox: Form ist Leere, und Leere ist Form, und Form ist
Form, und Leere ist Leere. Wer das versteht, ist frei.
Wenn wir einen Text, den wir schätzen und ein wenig verstehen,
häufig rezitieren, klopft er an unser Herz. Und plötzlich verstehen
wir einen Satz und dann einen anderen. Wenn wir das Herz-Sutra
immer wieder rezitieren, kann uns das entscheidende Licht aufgehen, und wir entdecken die große Freiheit: „Weil es nichts zu erreichen gibt, leben Bodhisattvas Prajna-Paramita, und ihr Geist ist
unbefleckt und frei von Angst. Befreit von allen Verwirrungen,
allen Träumen und Vorstellungen, verwirklichen sie (und wir) vollständiges Nirvana.“
Ich habe bereits einen ausführlichen Kommentar zum Herz-Sutra
verfasst und möchte Ihnen mit diesem Vortrag einen kleinen Geschmack der Leerheit von allen Zuschreibungen geben.
Mögen diese Überlegungen zum Herz-Sutra dazu beitragen, Leiden zu verringern und Glück zu vermehren, bei uns und anderen.
Jütchendorf im Oktober 2015
Sylvia Wetzel
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Das Herz-Sutra. Deutsche Fassung: Zent-Institut
Rahulas Lobpreis der Prajnaparamita. Tibetische Tradition
Unbeschreibbar, unfassbar und jenseits von Worten
ist die Vollendung der erhabenen Weisheit.
Sie ist ungeboren und ohne Ende wie der Raum.
Es ist das Reich deines Gewahrseins,
das sich selbst erkennt, jenseits der Zeit.
Lob dir, Mutter aller Buddhas der Drei Zeiten.
Das Große Herz der Vollkommenen Weisheit Sutra
Avalokiteshvara Bodhisattva, in tiefste Weisheit versenkt,
erkannte, dass die fünf Skandhas leer sind
und verwandelte damit alles Leid und allen Schmerz.
Shariputra! Form ist nichts anderes als Leere
und Leere ist nichts anderes als Form.
Form ist identisch mit Leere, und Leere ist identisch mit Form.
Und so ist es auch mit Empfindung, Wahrnehmung,
geistiger Formkraft und Bewusstheit.
Shariputra! Alle Dinge sind in Wahrheit leer.
Nichts entsteht, und nichts vergeht.
Nichts ist unrein, nichts ist rein.
Nichts vermehrt sich, und nichts vermindert sich.
Es gibt in der Leere keine Form, keine Empfindung,
Wahrnehmung, geistige Formkraft und kein Bewusstsein.
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Keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper oder Geist.
Es gibt nichts zu sehen, hören, riechen,
schmecken, fühlen oder denken.
Keine Unwissenheit und auch kein Ende der Unwissenheit,
kein Altern und keinen Tod, noch deren Aufhebung.
Kein Leiden und keine Ursache des Leidens,
kein Auslöschen und keinen Weg der Erlösung.
Keine Erkenntnis und auch kein Erreichen.
Weil es nichts zu erreichen gibt, leben Bodhisattvas
Prajnaparamita, und ihr Geist ist unbeschwert und frei von Angst.
Befreit von allen Verwirrungen, allen Träumen
und Vorstellungen, verwirklichen sie vollständiges Nirvana.
Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben
Prajnaparamita und erreichen damit die höchste Erleuchtung.
Erkenne deshalb, dass Prajnaparamita das große Mantra ist,
das strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra,
das höchste Mantra, das alles Leiden stillt.
Dies ist die Wahrheit, die Wahrheit ohne Fehl,
deshalb sprich das Prajnaparamita Mantra.
Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi svaha!
Alle Buddhas aller Zeiten und Räume /
Alle Bodhisattva-Mahasattvas /
Das Große Herz der Vollkommenen Weisheit Sutra.
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Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Das Herz-Sutra. Freiburg 2009
Wenn man über das Leben nachdenkt, stellt man fest, dass es
zwei unterschiedliche Arten von Erfahrungen gibt. Es gibt Erfahrungen, die man mit den fünf Sinnen und dem Verstand fassen
kann. Und es gibt Erfahrungen, die man nicht fassen kann und die
trotzdem nicht nichts sind.
Am deutlichsten ist das, wenn man sich verliebt. Natürlich sieht
und hört, riecht und schmeckt man die andere Person und man
kann anfassen. Aber es ist so offensichtlich, dass da noch etwas
anderes geschieht, das man irgendwie nicht fassen kann. Das erlebt man auch, wenn man tiefe Dankbarkeit verspürt. Manchmal
auch in schweren Zeiten, z.B. bei einem großen Schock. Wenn
man erfährt: „Ich bin krank“, und drei Tage vorher hatte man noch
das Gefühl, man ist gesund. Und dann heißt es: „Ja, ich muss ihnen leider sagen, wir müssen noch ein paar Untersuchungen machen, die Befunde stimmen nicht sehr optimistisch.“ Bei Krankheit, Verlust oder einer Trennung, bekommt das Leben plötzlich
Risse und man hat das Gefühl: „Da passiert etwas, das ich nicht
fassen kann.“ Alle Religionen versuchen das dann irgendwie doch
zu fassen. Auch die griechischen Philosophen versuchten es. Man
versucht es irgendwie zu fassen.
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Zwei Wahrheiten
In der buddhistischen Tradition spricht man von den zwei Wahrheiten. Schon die Übersetzung der Begriffe ist eine große Herausforderung. Die europäischen, christlichen Missionare, die die ersten buddhistischen Texte übersetzt haben, sprachen von relativer
und absoluter Wirklichkeit oder Wahrheit, weil sie diese Begriffe
kannten. Ich halte den Begriff „absolute“ Wirklichkeit für „absoluten“ Blödsinn, denn das lateinische absolutus bedeutet losgelöst.
Die buddhistische Tradition lehrt aber gerade, dass alles mit allem
zusammenhängt. Von daher passen folgende Begriffe vielleicht
besser: herkömmliche oder konventionelle und letztendliche
Wirklichkeit, englisch conventional and ultimate truth.
Die Sanskritbegriffe sind sehr anschaulich: Die konventionelle
Wirklichkeit heißt samvriti-satya, von satya, Wahrheit, und vriti,
Gedanken, wörtlich also in etwa: die durch Gedanken verhüllte
Wahrheit. Das ist die relative, die herkömmliche Wirklichkeit. Und
param-artha-satya, von param höchstes, artha, Anliegen, Zweck,
und satya, Wirklichkeit oder Wahrheit, also: Die Wirklichkeit, die
der letztendliche Zweck, das letztendliche Anliegen, das letztendliche Ziel ist.
Ich verwende im Folgenden die Begriffe „herkömmliche Wirklichkeit“ und „letztendliche Wirklichkeit“, weil darin schon eine Botschaft enthalten ist, wie man sie erkennen kann. Das Herkömmliche, die herkömmliche Wirklichkeit ist das, was durch Übereinkunft besteht. Der Raum, in dem wir hier sitzen, wird normalerweise Theatersaal genannt und heute nennen wir ihn Meditationsraum. Wir benennen die Dinge so oder so. Das ist ein Tisch
und das ist ein Hocker. Das ein großer Hocker, das ist es ein kleiner
Tisch. Im Übergang wird es dann ein bisschen ungenau. Ist man
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jetzt noch Teenager oder schon erwachsen oder eigentlich noch
ein Kind? Na ja, vielleicht ein junges Mädchen, aber eigentlich
schon eine junge Frau. Aber manchmal eben ein Kind: „Mama, du
musst mir das Schulbrot schmieren, du bist ja schließlich meine
Mama.“ Und dann: „Ich komme heute Abend nach Hause, wann
ich will. Ich bin ja schon fast siebzehn.“ In den Übergängen wird es
immer ungenau. Aber man kann sich im mittleren Bereich einigermaßen verständigen, wenn man nicht weiter nachdenkt.
Das entspricht der Newton´schen Mechanik. Die stimmt im mittleren Bereich. Wenn man den Mikrokosmos und den Makrokosmos,
das Allerkleinste und das große Ganze betrachtet, stimmt sie nicht
mehr. Aber sie ist nicht falsch. Sie funktioniert im mittleren Bereich. Deswegen funktionieren Begriffe, Sinneserfahrungen und
Benennungen in einem mittleren Bereich von Erfahrung meist
ziemlich gut.
Konventionelle und unfassbare Wirklichkeit
Wer behauptet, dass Begriffe bescheuert und überhaupt nicht
wirklich wichtig sind, hat ein Problem, und zwar ein Problem mit
dem Leben. Nur weil in der Mikro- und Makrophysik die Newton´schen Gesetze nicht gelten, kann man nicht sagen, dass die
Newton´schen Gesetze falsch sind. Das ist einfach Blödsinn. Wer
so denkt, hat etwas Wichtiges nicht verstanden. Man muss allerdings bemerken, dass man Vorstellungen benutzt und auch begreifen, dass sie die Wirklichkeit nicht genau abbilden können.
Konventionen und Übereinkünfte, Begriffe, Benennungen und
Sinneserfahrungen sind hilfreich und sinnvoll. Sie gestalten die
herkömmliche Wirklichkeit. Damit kann man Kaffee kochen, einkaufen und Rechnungen bezahlen, Häuser und Computer bauen,
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Beziehungen pflegen und Konflikte klären, sich ärgern und sich
wieder versöhnen. Das ist alles eine Wirklichkeit, die Bedeutung
hat. Das ist die herkömmliche, konventionelle, auf Übereinkunft
beruhende Wirklichkeit.
Wenn man einmal längere Zeit im Ausland gelebt hat, merkt man,
dass Leben viel mit Konventionen zu tun hat. Ich bin nach zwei
Jahren in Indien glücklich und selig in mein gut organisiertes
Deutschland zurückgekehrt, weil ich da die großen und kleinen
Signale, die Körpersprache und die Bedeutung vieler Dinge wieder
verstanden habe. Ich komme mit den USA nicht besonders gut
klar, denn ich kann die Menschen nicht „lesen“. Ich verstehe nicht,
wie sie ticken und kann sie emotional nicht gut einschätzen, selbst
in buddhistischen Kreisen ist das so. Ich habe bemerkt, ich verstehe ihre Kommunikationsformen und ihr Verhalten nur schwer.
Es gibt also Konventionen und die sind kulturell bedingt. Das bemerkt man, wenn man längere Zeit im Ausland lebt und sich in
einer fremden Sprache unterhält. Ich werde z.B. nie so gut Englisch können, dass ich Märchen oder Gedichte wirklich mit Genuss
lesen kann. Dazu fehlen mir einerseits die Vokabeln und andererseits der emotionale Klangraum. Der fehlt mir bei englischen Texten, obwohl ich ziemlich gut Englisch kann.
Ich denke, das verstehen wir. Die herkömmliche Wirklichkeit hat
mit Konventionen und mit Vertrautheit zu tun. Das ist eine wichtige Dimension des Lebens, und diese Dimension muss man verstehen und kennen. Man kann sie auch untersuchen, differenzieren
und durch Dialoge klären usw.
Dann gibt es Erfahrungen, die wir nicht fassen können. Sie fangen
nicht erst dort an, wo man die Aura und besondere Energien und
esoterische Zusammenhänge sehen oder spüren kann. Unfassbare
Erfahrungen fangen damit an, dass man im Frühling in den Garten
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geht und mit offenem Mund stehen bleibt, weil innerhalb von drei
Tagen plötzlich alles grün geworden ist, wo es vorher nur grau und
schwarz gab. Das geschieht jedesmal, wenn man sich freut oder
dankbar ist oder zusammen singt. Wenn man irgendetwas mit
ganzem Herzen tut, dann geschieht etwas, das man nicht ganz
fassen kann.
Das Symbol des Kreuzes
Hilfreiche Philosophien und Religionen zeigen uns die Grenzen des
Verstandes und helfen uns, über den Bereich hinaus zu schauen,
den man mit den fünf Sinnen und dem Verstand fassen kann. Das
ist der Sinn von Transzendenz: transcedere, über das Bekannte
hinaus, trans, gehen, cedere. Mein Lieblingsbild ist nicht buddhistisch, sondern vorchristlich. Es ist das gleichschenkelige Kreuz ohne Jesus. Als Symbol ist es viel älter als das Christentum.
Der waagerechte Balken steht für die Welt der fünf Sinne und des
Denkens, für die konventionelle, herkömmliche Realität. In der
Dimension funktionieren Natur- und Sprachwissenschaft, Psychologie und Handwerk, Newton´sche Mechanik usw.
Dann gibt es den senkrechten Balken, er steht für die Dimension
des Unfassbaren. Wir nennen es Transzendenz, und die Buddhisten nennen es letztendliche Wirklichkeit, Leerheit, Buddha-Natur,
Dharmakaya oder das Wahre Wesen. Es gibt bestimmte Begriffe,
bei denen man genau weiß, dass man nicht weiß, was sie wirklich
bedeuten, wenn man sie in den Mund nimmt. Wir sagen „Gott“,
und kein Mensch weiß, was das ist. Was ist Buddha-Natur? Das ist
zunächst einmal eine schlechte Übersetzung des englischen
buddha nature, das man eigentlich mit Buddha-Wesen übersetzen
müsste, und so steht es auch in älteren Übersetzungen. Aber das
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ist jetzt nicht so wichtig. Ja, was ist Buddha-Natur? Leerheit. Ja
was bedeutet denn das? Leerheit? Im Christentum, in den indischen Traditionen und im Buddhismus, das System, das ich am
besten kennen, beschreibt man die vertikale oder senkrechte
Dimension, die letztendliche Wirklichkeit vor allem mit negativen
Begriffen. In Europa nennt man das via negativa oder negative
Theologie. Man nimmt Begriffe aus der horizontalen oder waagerechten Dimension, wie z.B. „fassbar“ und setzt eine Negationssilbe davor: „unfassbar“. Aus endlich wird unendlich. Man nimmt
Begriffe aus der Erfahrungswelt und setzt ein „nicht“ oder ein
„un“ davor.
Die via negativa
Rudolf Otto, ein wunderbarer Religionswissenschaftler, der den
Klassiker Das Heilige geschrieben hat, vergleicht in seinem Buch
West-Östliche Weisheit die Lehren des indischen Vedanta-Lehrers
Shankara aus dem achten Jahrhundert mit den Schriften von
Meister Eckhart, einem christlichen Mystiker aus dem Europa des
dreizehnten Jahrhunderts. Rudolf Otto war Religionswissenschaftler und er konnte „natürlich“ Sanskrit und Latein lesen. Die beiden Weisen verwenden überwiegend die gleichen Begriffe und
Bilder. Er hat die entsprechenden Begriffe in Sanskrit und Latein
einander gegenübergestellt. Ich saß mit offenem Mund da und
staunte, wie ähnlich die beiden die letztendliche Wirklichkeit beschreiben. Primär lehren sie die via negativa. Sie treiben Negative
Theologie, ein Verneinen dessen, was man kennt.
Wenn irgendetwas geschieht, wofür wir keine Erklärung haben,
sagen wir: „Es ist unfassbar“. Und man bekommt interessanterweise sehr leicht einen Zugang zur letztendlichen Realität, wenn
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man die Grenzen der fünf Sinne und des Verstandes erlebt und
auch intellektuell begreift, dass man mit dem Verstand nicht alles
fassen kann.
Weisheit: Prajna und Jnana
Eines der größten Geschenke des Verstandes ist für mich die Entdeckung, dass der Verstand verstehen kann, dass er Grenzen hat.
Das ist doch genial. Man kann intellektuell verstehen, dass man
nicht alles intellektuell verstehen kann. Das ist für mich die Definition von Intelligenz. Intelligent sind die Menschen, die verstehen,
dass sie mit dem Verstand nicht alles fassen können. Zu begreifen,
dass man nicht alles verstehen kann oder die Grenzen des Denkens zu entdecken, bedeutet nicht unklar und vage zu sein: „Ja
irgendwie ist alles so geheimnisvoll und ein Mysterium. Ich weiß
auch nicht“. So ist das nicht gemeint, sondern man kann mit dem
Verstand, mit der Logik verstehen, dass der Verstand nicht alles
fassen kann. Das nennen Buddhisten Weisheit, prajna. Das ist die
Weisheit des Weges, die an die Grenzen des Verstandes führt. Und
von da aus kann man den Sprung in die uranfängliche Weisheit,
jnana, machen, in „die Klarheit, die sich selbst erkennt“. Das ist
tiefes, uranfängliches Wissen oder uranfängliche Weisheit, wie
auch immer das genannt wird.
Es gibt in der tibetischen Dzogchen-Tradition zwei Begriffe für tiefes Verstehen: Prajna und Jnana. Im japanischen Zen verwendet
man für beides Prajna. Nach dem Dzogchen-Ansatz verwendet
Prajna, die Weisheit des Weges, noch Begriffe und Bilder, die uns
an den Rand des Denkens führen. Diese Weisheit heißt im Sanskrit prajna und tibetisch sherab. Und dann gibt es die nichtduale
Weisheit, Sanskrit jnana, tibetisch yeshe, die kein Objekt hat und
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auch kein gewöhnliches Subjekt ist, sondern eine Art absolutes
Subjekt, das „irgendwie“ oder intuitiv oder nicht-dualistisch Ganzheit versteht. Mein Herzenslama ist Lama Yeshe (1935-1984). Es
hat mir natürlich sehr gefallen, dass sein Name auf diese letztendliche Wirklichkeit hinweist.
Der Weg besteht darin, die Grenzen des Verstandes zu erkennen.
Das ist die zentrale Methode. Und das wendet man an auf alle
Bereiche des Lebens. Jetzt könnte ich eigentlich den Vortrag beenden. Das bedeutet nicht, dass man aufhört nachzudenken oder
zu untersuchen. Es bedeutet nicht Resignation: „Ich kann mein
Leben eh nicht verstehen. Es ist alles jenseits des Verstandes“. Das
ist dummes Zeug. Wer so denkt, ist entweder zu faul zum Nachdenken oder hat vom Gift der Leerheit gegessen. Dann hat man
eine Schlagseite in Richtung Transzendenz. Damit kann man nicht
leben. Dann wackelt der waagerechte Balken, und das Leben ist
nicht stabil, nicht geerdet. Man muss in dieser fassbaren Realität
verortet sein, man muss mit beiden Beinen auf der Erde stehen
und ganz tief begreifen: „Ich verstehe nicht alles“.
Ich und Nicht-Ich
Ein anderer buddhistischer Fachbegriff dafür ist Nicht-Ich, Sanskrit
anatman, Pali anatta, von atman bzw. atta Selbst oder Ich und der
Negationssilbe an. Wenn Europäer den Begriff „Nicht-Ich“ hören,
verstehen sie ihn meist falsch und glauben: „Ich darf nicht mehr
´ich´ sagen. Ich muss jetzt immer in unpersönlichen Sätzen sprechen: ´Es schneit. Es regnet. Es fühlt sich an. Es denkt. Es merkt´“.
Manche Leute verwenden das Wort „ich“ nicht mehr, weil sie
denken, das dürften sie nicht, weil sie damit nur ihr Ich-Gefühl
stärken.
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Wir brauchen ein psychologisch stabiles Ichgefühl mit allen IchFunktionen, die unsere Psychologie beschreibt. Das braucht man,
damit man sich auf die Grenzen des Denkens und Wissens einlassen kann. Man muss gut geerdet sein und dann begreifen: „Ich
weiß nicht alles“. Sokrates erkannte: „Ich weiß, dass ich nichts
weiß“. Er hat nicht gesagt: „Ich bin ein Dummkopf, ich kann nicht
bis drei zählen“. Das hat er nicht gemeint. Er konnte gut argumentieren, aber er wusste, sein Verstand hat Grenzen. Und wenn man
das versteht, steht der Himmel offen.
Es gibt unterschiedliche Methoden, die uns an die Grenzen des
Denkens und darüber hinaus – zur Einsicht in die Natur des Geistes führen. Traditionell werden in der tibetischen Tradition vier
genannt: Hinterfragen oder Analyse, Bodhicitta, Vertrauen oder
Hingabe und die direkte Einführung in die Natur des Geistes. Diese
vier Zugänge hängen zusammen und ergänzen sich, aber meist
steht einer im Vordergrund.
Vier Wege: Dekonstruktives Hinterfragen und Bodhicitta
Hingabe und direkte Einführung
Der erste Zugang ist dekonstruktives Hinterfragen, wie wir das
heute formulieren würden oder Analyse, der Ansatz von Nagarjuna. Da führt man jede Aussage über das, was ist, ad absurdum.
Das ist auch eine Art Negative Theologie. Man darf theoretisieren
soviel man will, und dann wird man argumentativ aufs Kreuz gelegt. Das ist das Prinzip der indischen Debatte und die Tibeter lieben das. Wer den analytischen Weg mag, findet viel Material im
Buddhismus, z.B. Nagarjunas „Verse aus der Mitte“, in der Interpretation von Stephen Batchelor. Er hat Nagarjunas etwas sperrigen Text in wunderschöne Verse übertragen, die man leicht rezi15
tieren kann und sie sehr gut kommentiert. Stephen Batchelor ist
drei Jahre jünger als ich, er ist ein kritischer Mensch, der nach der
Aufklärung lebt. Das ist wunderbar, denn da leben nicht viele
Menschen unserer Zeit.
Die meisten Buddhisten glauben, es gäbe eine richtige Interpretation des Buddhismus, und in der Regel ist das die Interpretation
der eigenen Schule oder Tradition. Das glaube ich nicht. Ich gehe
davon aus, dass die Lehren des Buddha Werkzeuge sind, die uns
helfen, die Grenzen des Denkens zu entdecken. Sie sind nicht dazu
gedacht, Lehrsysteme zu bauen, die wahr man dann für begrifflich
richtig und wahr hält. Das wäre Festhalten an einer Interpretation.
Das Festhalten an einem Finger, der auf den Mond zeigt, statt auf
den Mond zu schauen.
Ein zweiter Zugang ist Bodhicitta, der Wunsch zum Wohle aller zu
erwachen und die Bereitschaft, sich dafür mit Leib und Seele einzusetzen. Dieser Wunsch entsteht, wenn wir die tiefe Verbundenheit mit allen Wesen vor allem im gemeinsamen Leiden entdecken
und ihnen Glück und Wohlbefinden wünschen. Nicht nur das Aufgaben oder Durchschauen aller Ansichten als Ansichten führen
uns an die Grenzen des Denkens und dann zur Entdeckung der
Natur des Geistes. Auch Liebe, Mitgefühl und Verantwortung für
das Wohl aller Wesen führen uns dahin.
Liebe und Mitgefühl sind ein Weg können wir sagen. Denn in der
Liebe ahnen selbst sehr intellektuell fixierte und verkopfte Menschen, dass es mehr gibt als Tatsachen, die man auf einen Zettel
schreiben, ausrechnen und messen kann. Wenn sie verliebt sind,
werden selbst die rationalsten Menschen für Momente lyrisch
und schreiben Gedichte. Die sind zwar meist nicht besonders gut,
aber gut genug, um ihren Horizont zu erweitern. In Momenten
der Liebe oder Dankbarkeit, und manchmal auch in einer Krise
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und bei schwerem Leid, öffnen sich Herz und Geist für die Tiefendimension des Lebens. Liebe und Mitgefühl, Zuneigung und Verbundenheit sind ein zweiter Zugang zur unfassbaren Dimension,
zur Natur des Geistes, zum Erwachen aus dem Schlaf der Unwissenheit und Getrenntheit.
Ein dritter Zugang ist der Weg der Hingabe und des Vertrauens. Im
engeren Sinne bedeutet das Hingabe an eine spirituelle Praxis und
Vertrauen zum eigenen Lehrer und zur Überlieferungslinie. Man
geht einen religiösen Weg mit großer Hingabe, rezitiert und singt.
Das ist praktische religiöse Hingabe. Dazu gehört meiner Interpretation auch die Rezitation des Herz-Sutra. Dass Vertrauen zu weisen Menschen und zu einer Tradition dazu beitragen können, die
eigenen Vorstellungen und Ansichten zu relativieren und sich dem
Unfassbaren zu öffnen, ist leicht zu verstehen. Das kennen wir
vermutlich alle aus Kindergarten und Schule. Weil man einer Lehrerin vertraut und sie liebt, interessiert man sich für die seltsamsten Themen und ist bereit, völlig neue Perspektiven auszuprobieren.
Dann gibt es noch einen vierten Zugang, die direkte Einführung in
die Natur des Geistes. Das wird möglich, wenn man einer Lehrerin
vertraut und mit Hingabe und Leidenschaft übt. Dann gibt es
manchmal Momente, in denen man plötzlich etwas kapiert. Ein
Satz verändert die Welt und uns geht ein Licht auf. Bei mir geschah das ab und zu in Vorträgen von Lama Yeshe, von Ann
McNeil und später bei Rigdzin Shikpo. Ich mochte sie, und ihre
Hinweise leuchteten mir auch intellektuell ein. Es gab eine große
Offenheit, viel Vertrauen und Hingabe. Manchmal, wenn sie die
Natur des Geistes beschrieben, war plötzlich alles klar. Für zehn
Sekunden. Und gleich danach war es schon wieder bloß eine Erinnerung. Aber nach solchen Erfahrungen weiß man irgendwie, in
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welche Richtung es geht. Wenn wir die Grenzen des Verstandes
spüren, öffnen sich Herz und Geist. Manchmal zumindest.
Rezitation ist Hingabe
Zum Weg des Vertrauens und der Hingabe gehört auch das Singen
und Rezitieren. Das werden wir heute machen. Wir werden zusammen das Herz-Sutra rezitieren. Das ist einer der kürzesten Texte, der die beiden Dimensionen von Wirklichkeit in poetische
Worte fasst. Ich habe von Stephen Batchelors Einführung zum
Herz-Sutra gelernt, dass das kein Text ist, den man primär studiert.
Das ist ein liturgischer Text, und solche Texte rezitiert man so lange, bis die Worte an unser Herz klopfen, solange, bis das Herz aufgeht. Der Ansatz ist nicht: „Ich will erst einmal verstehen, was ich
da überhaupt rezitiere“. Es ist schon hilfreich, intellektuell etwas
zu verstehen. Aber die Einsicht, die uns das Herz-Sutra ermöglicht,
geschieht nicht primär über das intellektuelle Verstehen, sondern
über die Wiederholung. Das ist eine Hingabe-Praxis. Das ist auch
ein Weg zu tiefer Einsicht.
Alle vier Zugänge hängen mit einander zusammen, und Vertrauen
scheint der Schlüssel zu allen Übungen und Methoden zu sein.
Ohne Vertrauen stürzt uns der Weg der Dekonstruktion in die
große Verzweiflung. Davon künden viele Texte und Gedicht aus
dem zwanzigsten Jahrhundert, deren Verfasser nach dem Zusammenbruch ihrer jeweiligen Weltbilder – Romantik, Idealismus,
Nationalismus, Kommunismus, Sozialismus usw. – in ein schwarzes Loch gestürzt sind. Ohne Vertrauen fallen wir in eine Art kulturelle Depression, man kann das auch Nihilismus nennen. Der folgt
der intellektuell depressiven Devise: Wenn meine Theorie nicht
mehr stimmt, dann gibt es objektiv keinen Sinn mehr.
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Ohne Vertrauen bleiben wir an den Grenzen des Denkens und
Fühlens stehen, aus lauter Angst, das vertraute Terrain zu verlasen. Ohne Vertrauen auf eine tiefere Weisheit, die uns trägt, zerbrechen wir, wenn wir großes Leid erleben, sei es eigenes oder
fremdes. Und wir brauchen Vertrauen, damit wir uns bestimmten
Übungen mit Leib und Seele hingeben können. Schlüsselsätze
können Herz und Geist nur dann öffnen, wenn wir darauf vertrauen, dass das Leben Sinn hat, und dass es den Mond des Erwachens gibt, auf den die poetischen und spirituellen Texte zeigen.
Hingabe und Vertrauen sind der Schlüssel zum Erwachen. Wie
entstehen sind? Und wie können wir sie fördern?
Heilige Orte, Zeiten und Liturgien
Über den Weg der Hingabe und des Vertrauens habe ich sehr viel
durch die Lektüre von Mircea Eliade verstanden, und zwar nicht
nur auf den Buddhismus bezogen. Mircea Eliade ist ein rumänischer Ethnologe, der in Kalkutta lehrte und in Paris lebte und v.a.
in den 1960ern seine Bücher in einem sehr verständlichen Französisch schrieb. Sein kleines Büchlein Das Heilige und das Profane
hat mich sehr inspiriert. Als Ethnologe hat er alte und aktuelle
Religionen untersucht und sich immer wieder gefragt, wie Religion
„funktioniert“. Bei seinen Thesen zu heiligen Orten, Zeiten und
Texten sind mir Lichter aufgegangen.
Wir definieren als Menschen bewusst oder unbewusst heilige
Orte. Wir nennen einen Ort z.B. Kirche oder Tempel. Das machen
wir, wenn wir zuhause einen kleinen Altar herrichten, einen kleinen Tisch mit einem Blümchen, einer Tara- oder Buddha-Statue,
einer Kerze und einem Meditationskissen. Nach ein paar Wochen
ist das mein kleiner Tempel in der Wohnung. Auf dem Altar darf
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man dann bei einem Fest nicht die Getränke abstellen: „Halt, das
ist der Altar!“ Oder wenn jemand fragt: „Kann ich diese Schale als
Aschenbecher benutzen?“ „Nein, auf keinen Fall, das sind die Gabenschalen.“ Ich weiß natürlich, dass diese Glasschale früher eine
Eisschale war. Und jetzt ist es meine heilige Schale mit einer Blume auf dem Altar. Ich weiß natürlich, dass das keine aus sich heraus existierende heilige Schale ist. Ich habe das so definiert. Aber
das wirkt. Das wird dann ein heiliger Ort.
Dann gibt es heilige Zeiten, z.B. periodische Feste, Feste, die sich
wiederholen. Ich komme z.B. immer am Wochenende nach Christi
Himmelfahrt nach Freiburg. Das ist auch etwas Periodisches. Oder
man rezitiert zu Vollmond, zu Neumond, zu Halbmond bestimmte
Texte. Man geht sonntags in die Kirche, und zwar am Sonntagvormittag. Man feiert Heiligabend und Karfreitag und Ostern. Viele von uns kennen und schätzen immer noch diese periodisch
wiederkehrenden Feste.
Und wir kennen heilige Liturgien. Man rezitiert jedesmal das Gleiche. Und singt das gleiche Lied wieder und das gleiche Mantra und
das gleiche Vaterunser und das gleiche Gegrüßet-seist-du-Maria
und die erste Sure des Korans. Man wiederholt dieselben Texte.
Immer und immer wieder.
Jenseits von Raum, Zeit und Denken
Mircea Eliade sagt jetzt: Heilige Orte helfen uns, die lineare Auffassung von Orten zu transzendieren. Wenn man in einer fremden
Stadt eine Kirche betritt, hat man das Gefühl, eine andere Art von
Raum zu betreten. Man tritt über die Schwelle der Kirche und
plötzlich, mitten in einer lauten Stadt, ist irgendetwas völlig anders. Wir kennen dieses Gefühl, in christlichen Kirchen und an
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religiösen Versammlungsorten anderer Religionen. Heilige Zeiten,
sich periodisch wiederholende Feste, führen uns ganz leicht hinaus über das lineare Verständnis von Zeit. Und heilige Texte führen uns jenseits von Worten.
Mir geht das manchmal so: Ich mache viele Kurse und wir singen
immer wieder die Tara-Puja und rezitieren täglich das Herz-Sutra.
Wenn ich das rezitiere, weiß ich manchmal nicht, ist es Morgen
oder Abend, Frühling oder Herbst, bin ich jetzt im Engl, in Roseburg, im Waldhaus oder auf dem Beatenberg. Für Momente verschwindet das Gefühl von Ort und Zeit. Das ist eine Erfahrung von
Zeitlosigkeit, jenseits von Zeit oder eine heilige Zeit. Und es ist
eine Erfahrung von Raum- oder Ortlosigkeit, jenseits von Ort und
Raum oder eben ein heiliger Raum. Und durch die Wiederholung
von Texten wird man ganz leicht hinausgeführt über die lineare
und relative Bedeutung von Worten. Man tritt ein in das, was jenseits von Worten ist.
Das ist für Mircea Eliade der Kontext religiöser Praktiken. Wir denken und sagen aber manchmal: „Das ist doch altes Zeug, von wegen heilige Orte. Ich weiß doch, dass die Kirche erst vor dreihundert Jahren gebaut wurde, und die war zu Beginn überhaupt nicht
heilig“. So denken wir manchmal. Oder: „Was soll´s, ob ich Heiligabend heute feiere oder drei Tage später, das ist doch egal. Ob
ich jetzt bei Neumond oder Vollmond oder an irgendeinem anderen Tag bete, das ist doch egal. Ich meine, was soll das? Das ist
doch altmodisch. Ich bete, wann mir danach ist“. Und wenn wir
immer das Gleiche rezitieren, wird das nicht langsam langweilig?
Kann man nicht einmal eine andere Version des Herz-Sutra rezitieren oder überhaupt einen anderen Text? Oder etwas anderes machen, damit es nicht so langweilig wird? Das ist nicht der Punkt.
Heilige Orte, heilige Zeiten und heilige Liturgien helfen uns, Raum
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und Zeit, Worte und Vorstellungen zu transzendieren. Und zwar,
ohne dass man sich anstrengen muss. Es geschieht einfach. Für
mich macht das sehr viel Sinn. Für euch auch?
Geborgenheit und Vertrautheit
Das sind Eliades Thesen aus seiner Analyse der alten Religionen.
Nicht alle Leute ticken mehr so. Aber er meint, dass das auch in
der heutigen Zeit noch wirkt. Für mich stimmt das, sogar bei weltlichen Festen. Wir laden oft dieselben Freundinnen zum Geburtstag ein. Dann sitzt die eine immer dort und wir kochen oft das
gleiche Gericht. Und Weihnachten gibt es auch fast immer das
gleiche Essen: „Was, gibt es heute nicht wieder diesen köstlichen
Nachtisch?“ Wir machen das auch. Wir haben unsere Rituale.
„Kannst du nicht wieder das Gedicht vorlesen? Das hast du letztes
Jahr vorgelesen, das war so schön.“ Ja, wir kennen das auch im
säkularen Bereich, dass man Dinge wiederholt. „Wir feiern doch
wieder bei dir. Das gehört irgendwie zu Weihnachten dazu.“ Wir
kennen und spüren die wohltuende Wirkung von Wiederholungen. Ich denke, wir tun das, weil uns das ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrautheit gibt, das jenseits von Raum und Zeit und
Worten ist. Das ist auch ein Zugang zu dieser Dimension.
Form ist Leere. Leere ist Form.
Jetzt komme ich noch einmal zur Struktur des Herz-Sutra, damit
ihr nicht irritiert seid, wenn ihr es gleich rezitieren. Ihr kennt bestimmt die berühmte Formel: Form ist Leere oder Leerheit und
Leerheit ist Form. Form ist nichts anderes als Leerheit und Leerheit ist nichts anderes als Form. Das wird unterschiedlich übersetzt, mal mit Leere, mal mit Leerheit. .
22
Form steht für die waagrechte Dimension: Für das, was man mit
den fünf Sinnen und dem Verstand fassen kann. Und Leere oder
Leerheit steht für die senkrechte Dimension. Das ist jetzt wieder
der Ansatz der via negativa. Nicht leer im Sinne von: Da ist nichts.
Sondern leer im Sinne von: Das, worum es geht, ist leer von allem,
was ich ihm zuschreibe. Ich kann so lange über die Liebe reden
wie ich will, ich erfasse sie nicht. Liebe ist mehr als alles, was ich
darüber sagen kann, jenseits von allen Vorstellungen und Begriffen. Leer von allem, was ich darüber sage, aber nicht nichts. Auch
das Wunder des Lebens, die Wunder der Natur kann man zwar
physikalisch und biologisch und mit vielen Worten beschreiben.
Aber fassen kann man es nicht. Die Definition von Leerheit ist
schlicht: Alles ist leer von Zuschreibung. Leer von dem, was ich
darüber denke. Positiv formuliert würde es heißen: Jede Erfahrung ist immer mehr, als ich darüber denken und sagen kann.
Wir erleben mehr als wir begreifen
Einer meiner Lieblingsautoren, der Quantenphysiker Hans-Peter
Dürr, Jahrgang 1929, hat ein Buch mit dem wunderbaren Titel Wir
erleben mehr als wir begreifen geschrieben. Dieser Satz bringt es
genau auf den Punkt: Wir erleben tatsächlich immer mehr als wir
begreifen. Ich kann dieses kleine Herder-Bändchen sehr empfehlen. Für mich beschreibt Dürr Buddha-Natur in physikalischen Begriffen als Feld der Möglichkeiten. Aus dem unfassbaren Feld der
Potentialität manifestiert sich in einem Korridor der Möglichkeiten
die sicht- und fassbare Welt. Dürr beschäftigt sich mit Buddhismus
und kann das Nichtfassbare physikalisch beschreiben. Das finde
ich wunderschön.
Das Herz-Sutra erfüllt eine wichtige pädagogische Funktion. Je23
desmal wenn wir sagen „Ja, Form! Jawoll, das ist eine Rose. Das
war schon immer eine Rose und das wird auch immer eine Rose
sein.“ Naja, wenn dann die Vergänglichkeit ins Spiel kommt, ist es
sehr bald eine Rose gewesen. Aber wenn man an der Form festhält, heißt es im Herz-Sutra: „Form ist nichts anderes als Leerheit.“ Ich bekomme quasi eine Ohrfeige. Wenn ich „Form“ sage
und daran festhalte, bekomme ich eine gescheuert – denn da
heißt es „Form ist Leerheit“. Form ist auch leer von der Zuschreibung von Form. Dann denke ich vielleicht: „Jetzt habe ich es endlich kapiert. Es gibt nichts, alles ist leer.“ Wenn ich dann an der
Leerheit festhalte, heißt es: „Leerheit ist nichts anderes als Form.“
Ja wie? Man kann Leerheit nicht anfassen und verstehen, wie man
Dinge versteht. Leerheit manifestiert sich immer als Form. Ja, was
nun? Und dann kommt die Krönung des Ganzen: Auch Leerheit ist
leer und Leben ist ein Paradox.
Meine tibetischen Lehrer haben immer wieder betont: Es gibt
keine Leerheit „an sich“. Das ist verdinglichtes europäisches Denken. „Das Absolutum. Das Absolute im Buddhismus ist die Leerheit. Der buddhistische Gott ist die Leerheit. Das ist das Absolutum im Buddhismus.“ Europäische Philosophen oder Religionswissenschaftler denken gerne so. Sie glauben, jetzt haben sie endlich
ein Absolutum im Buddhismus gefunden und das ist die Leerheit.
Nein. Im Buddhismus heißt es immer: Alle Dinge sind leer von
Zuschreibung. Alle Wesen und Dinge, Erfahrungen und Zustände
usw. sind leer sind von Zuschreibungen. Alles ist leer sind von Zuschreibung, leer von allem, was wir darüber denken. Es sitzt nicht
irgendwo ein Phänomen, das Leerheit heißt. Christen stellen sich
den unfassbaren Gott, von dem sie sich kein Bild machen sollen,
als jüdischen Patriarchen im Himmel vor, mit einem langen Bart.
Das ist der unfassbare Gott, der Vater. Natürlich ist er „eigentlich“
24
jenseits von Geschlecht, aber aus kulturellen Gründen hat er halt
ein Bart und ist ein alter Mann.
Buddhisten denken nicht so. Sie sagen: Leere und Form sind zwei
Seiten einer Medaille. Und diese Medaille heißt Wirklichkeit. Die
waagerechte Dimension der Erfahrungen ist mehr oder weniger
fassbar, und die senkrechte Dimension, Leerheit oder BuddhaNatur, ist nicht fassbar. Wirklichkeit ist beides gleichzeitig. Das
kann man nicht wirklich denken. Auch aus dem Grund schätze ich
das Bild des gleichschenkligen Kreuzes. Es ist ein Finger, der auf
den Mond der Wirklichkeit zeigt. Und wir leben im Schnittpunkt
beider Dimensionen. Wir haben Zugang zu beiden Dimensionen,
zum Fassbaren und zum Unfassbaren. Das ist wunderbar. Wir
Menschen können das leben, zumindest haben wir die Chance. Es
geht nicht um die Aussage: Es gibt nichts. Es geht nicht um die
Aussage: Das einzige, was es gibt, ist das, was man messen kann.
Wirklichkeit ist nicht nur das, was man messen kann, sondern
Wirklichkeit ist paradox, nämlich beides.
Staunen
Das kann man, wenn man nur am Verstand festhält, nicht mehr
verstehen. Darin liegt für mich der Unterschied zwischen indischer
und westlicher Aufklärung. Buddha war für mich ein Aufklärer. Er
hat gesagt: „Prüft alles nach“, aber er hat das Unfassbare nicht auf
Begriffe reduziert. Das ist bei der europäischen Aufklärung leider
schief gelaufen. Die europäischen Aufklärer sind dann doch wieder am Verstand hängen geblieben. Kant noch nicht. Kant hat
sinngemäß sagt: „Man kann über Gott nichts sagen. Denn alles,
was wir sagen könnten, hat mit unserem Verstand zu tun, und
Zeit und Raum sind Kategorien des Denkens“. Das finde ich ziem25
lich genial. Kant hat das Transzendente einfach stehen gelassen
und gesagt: „Das kann man nur über Glauben erfassen. Und nicht
mit dem Verstand.“ Aber seine Nachfolger, die Kantianer, haben
sozusagen nur noch seine Religionskritik aufgenommen und das
Hinterfragen der eigenen Ansichten vergessen.
Kant sagte: „Zwei Dinge bringen mich zum Staunen: Der gestirnte
Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Das eine, das
ihn zum Staunen bringt, ist der Sternenhimmel in der Nacht. Wer
darüber nicht staunt, hat aus meiner Sicht ein Problem. Wenn
man sagt: „Ja, da gibt es ein paar Sonnen da oben, und die kann
man zählen oder auch nicht“. Und das zweite ist das moralische
Gesetz in uns. Wir alle tragen die Goldene Regel im Herzen. In
allen Kulturen der Welt gibt es eine Variante davon: Was du nicht
willst, das man dir tu, das füge keinem anderen zu. Das ist das
Gesetz der waagerechten Dimension: Die Goldene Regel. Wenn
man das nicht versteht, hat man auch ein Problem.
Die kostbare bedingte Existenz: Leerheit und Bedingtes Entstehen
Ein letzter Punkt. Meine tibetischen Lehrer haben oft zwei Dingen
betont. Erstens: Wenn man Leerheit tief versteht, dann versteht
man bedingtes Entstehen immer besser. Das ist der Garant dafür
bzw. ein Hinweis darauf, dass man Leerheit richtig verstanden hat:
Man versteht das Bedingte Entstehen besser und kann die relative, bedingte Existenz mehr schätzen.
Und zweitens: Wenn man die bedingte Existenz, die horizontale
oder waagerechte Dimension, genauer untersucht, versteht man
Leerheit immer besser. Weil man die Grenzen des Denkens besser
versteht. Wenn man genau hinschaut, genau untersucht, entdeckt
man die Grenzen des Denkens und Wissens. Und nur wenn sie
26
ihre eigenen Grenzen erkennt, handelt es sich um echte Wissenschaft. Das sind die Kriterien für rechte Einsicht: Wenn man Leerheit richtig versteht, schätzt man die bedingte Existenz immer
mehr. Und wenn man die bedingte Existenz genau untersucht,
kommt man immer an seine Grenzen und entdeckt das Unfassbare. Das sind die Kriterien für rechte Einsicht.
Wenn man sich mit Leerheit befasst und dann sagt: „Jetzt brauche
ich meine Rechnungen nicht mehr zu bezahlen, denn Rechnungen
sind leer von Selbstexistenz. Und ich zerreiße jetzt meinen Pass,
denn es gibt eh keine Identität“, dann hat man ein Problem. Wenn
man Bedingtes Entstehen und die Gesetze von Ursache und Wirkung studiert und dann sagt: „Also ich muss jetzt ganz genau auf
mein Karma aufpassen und dies und das und jenes tun und dies
und das und jenes lassen. Und wenn ich das nicht mache, dann
komme ich nämlich in die Hölle“, hat man auch ein Problem. Da
fehlt die Leerheit. Da fehlt die Relativierung aller Kategorien.
Das Herz-Sutra enthält für mich das Herz des Buddhismus. Abgesehen davon, dass die Grüne Tara für mich natürlich das Herz des
Buddhismus ist. Aber Herz-Sutra und Tara-Praxis passen gut zusammen. Das Herz-Sutra bringt das Paradox des Lebens wunderbar auf den Punkt und es ist zudem auch noch in ein liturgischer
Text, den man rezitieren kann. Und es gibt sogar ein Mantra dazu.
Auch damit kann man sich vertraut machen.
So. Das war´s (Lachen). Der Rest ist Übung.
*** Ende gut. Alles gut ***
27
2
Wer bin ich? Die Weisheit des Herz-Sûtra.
Essay zu einem Vortrag in Hannover 2002.
Erstabdruck in: Form ist Leere – Leere Form.
Bd. 4: Weisheit und Erkennen.
im Buddhistischen Studienverlag. 2006
Was fällt um, wenn eine Blumenvase umfällt? Was fällt nicht um,
wenn eine Blumenvase umfällt? Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Etwas davon erzählt uns die paradoxe Weisheit des Herz-Sûtra.
Ich möchte an den Anfang einige Zitate des indischen Meisters
Nagârjûna aus dem 2.Jh. u. Zt. stellen:
Buddhas sagen: Leerheit ist das Aufgeben von Ansichten.
Wer an Leerheit glaubt, ist unheilbar.
Gläubige glauben an Buddhas, die im Nirvana erlöschen.
Stellt Euch keine leeren Buddhas vor, die erlöschen oder nicht.
Gibt es Bewegung, bevor ich den Fuß hebe?
Gibt es einen vergangenen oder künftigen Schritt,
in dem das Gehen einen Anfang hätte?
Das ist das Löwengebrüll des Nagârjûna. Dieser war ein indischer
Weiser, der erste, der sechs Jahrhunderte nach dem Tode des
Buddha mit einer ähnlichen Kraft sprach. So sieht das der Übersetzer und Herausgeber von Nagârjûnas Text, Verse aus der Mitte,
Stephen Bachelor (Berlin, Theseus Verlag 2002). Nagârjûna lebte
im 2. Jahrhundert, über ein halbes Jahrtausend nach dem histori28
schen Buddha, und er sagte auch: „Wer an Leerheit glaubt, ist
unheilbar“.
„Form ist Leere, und Leere ist Form.“ Das ist die Kernaussage
des Mahâyâna, die Kernaussage des Herz-Sûtra. Das Herz-Sûtra
spricht, wie der Name bereits andeutet, über das Herz der Lehren, den Kern des Kern-Losen. In der Wirklichkeit gibt keinen
substantiellen, von allem unabhängigen Kern, und genau das
ist der Kern der Lehren des Mahâyâna. Philosophisch ausgedrückt, geht es dabei um den Zusammenhang zwischen Leerheit und bedingtem Entstehen. Das Mahâyâna spricht von den
zwei Ebenen der Wirklichkeit. In diesen Lehren wird versucht,
zwei Erfahrungen begrifflich auf den Punkt zu bringen, die sich
völlig widersprechen. Wir alle erleben mit unseren fünf Sinnen
die Welt: Wir sehen Farben und Formen, mehr nicht. Wir sehen weder Menschen, noch Stühle, noch Bäume. Wir sehen
nur Form und Farbe, genau genommen sogar nur Farben, und
die Formen ergeben sich aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Farben. Wir riechen Gerüche, schmecken unterschiedliche Arten von Geschmack, hören Töne, spüren Empfindungen,
und wir denken uns eine ganze Menge dazu. Erst wenn das
Denken hinzukommt, „sehen“ wir Bäume und „hören“ wir ein
Auto hupen.
Zwei Ebenen von Wirklichkeit
Wir erleben die Welt mit den fünf Sinnen und dem Denken. Alle
erleben eine Welt: Wir sehen Menschen und Stühle, und wir hören Worte, denen wir eine Bedeutung zuschreiben. Manchmal
gibt es dann Momente, vielleicht sogar heute Abend, da erleben
29
wir etwas, das wir mit Worten nicht erfassen können. Wir sehen
jemanden an, und da springt ein Funke über. Die andere Person
lächelt, und etwas kommt im Herzen an. Wir können uns nun
hundert Jahre lang hinsetzen und hunderttausend Wörter auf
Papier bringen, wir könnten nicht beschreiben, was im Moment
eines Lächelns, einer Begegnung geschieht.
Das Mahâyâna versucht nun, im Einklang mit vielen Philosophien und Religionen, diese beiden Erfahrungen zu fassen. Die
eine Erfahrung können wir dreidimensional beschreiben. Wir sehen, riechen, hören, schmecken und spüren. Da bist Du, und da ist
die Welt. Das kann man messen und beschreiben. Und dann gibt
es die „wirklich“ wichtigen Momente, die Momente, die uns noch
tiefer berühren als Sehen, Riechen, Hören, Schmecken. Das geschieht in der Liebe und im Verstehen, in der Meditation und, wie
es heißt, sogar beim Niesen! Da gibt es besondere Momente. Es
geschieht auch beim Sehen, wenn es nicht mehr um Form und
Farbe geht, sondern um das Schauen. Es geschieht beim Hören,
wenn es nicht mehr um Melodien geht, sondern um „reines“ Hören. Da gibt es Momente, die sind nicht fassbar. Das fasst unsere
Schulweisheit nicht. Es ist un-fassbar, un-greifbar, unsagbar. Man
kann es nur in Negativen formulieren, weil es anders ist als unsere
gewöhnlichen Erfahrungen. Und doch ist es eine positive Erfahrung, die uns tief berührt. Diese andere Dimension nennt der
Buddhismus philosophisch nüchtern und gleichzeitig psychologisch treffend „Leerheit“. Das lebendige Leben ist „leer“ von unseren normalen Vorstellungen. Sie passen nicht mehr. Sie fassen das
nicht.
Leben in seiner intensivsten Dimension ist erlebbar, aber nicht
begreifbar, nicht fassbar. Leben hat eine Dimension, da versagen
Worte. Da ist etwas eindeutig erlebbar, es ist nicht „nichts“, aber
30
man kann den Finger nicht darauf legen. Im Zen heißt es: „Worte
sind Finger, die auf den Mond zeigen.“ Wenn jemand auf den
Mond zeigt, dann schauen wir auf den Mond und nicht auf den
Finger. Wenn wir den Fingerzeig aber nicht verstehen, nicht begreifen, dass es um den Mond geht, dann beschäftigen wir uns
eben mit dem Finger. Wir beschreiben und messen die Finger.
Wir bemerken, dass wir uns in sinnlosen Beschreibungen der
Fingerzeige verloren haben, wenn wir existentielle Fragen stellen:
„Was sind Gedanken und Gefühle, Zeit und Raum? Wo ist hier?
Was ist Sehen, jenseits dessen, was man mit Worten sagen kann:
Rot, Gelb, Blau? Was ist Farbe? Was ist Hören, was ist Lieben, Begegnen? Was ist das?“ „Das weiß ich nicht.“, sagen unisono die
Weisen aller Zeiten und Räume. Das bleibt ein Geheimnis für den
denkenden Geist. Was wir sind und was die Welt ist, wissen wir
nicht. Das heißt im Buddhismus Leerheit. Wir glauben „es“ aber
zu wissen und reden darüber. Wir denken: „Natürlich, Form ist
Form. Das ist doch logisch! Tasse ist Tasse, und wenn nichts darin
ist, ist das Leerheit. Also Form ist Form, und Leerheit ist Leerheit.
Jetzt ist alles klar! Aber das Mahâyâna behauptet: "Form ist Leere
und Leere ist Form!" Sind sie verrückt geworden, die Buddhisten?
Manchmal klingt Nagârjûna ein bisschen verrückt. Form ist
Form, Leere ist Leere. Entweder die Tasse ist da, oder sie ist nicht
da. Das Mahâyâna behauptet, es gäbe diese dreidimensionale
Erfahrung der Form, aber gleichzeitig „ist“ die Tasse auch Leerheit.
Das bemerken wir allerdings erst dann, wenn wir darüber nachdenken, was eigentlich Tasse ist. Man kann es letztlich nicht beschreiben, weil man immer nur von einem bekannten Ding auf
etwas anderes Bekanntes und dann auf das nächste Bekannte
verweisen kann. Eine Tasse ist Ton plus Glasur plus eine bestimmte Form. Wenn man dann immer weiter geht – das nennt man im
31
Buddhismus letztendliche Analyse – fragt man sich: „Ja, und was
ist Glasur und was ist Ton?“ Irgendwann landet man bei Atomen
und Elektronen und fragt sich: „Ja und was sind Atome und Elektronen? Irgendwann sagen selbst unsere Wissenschaftler dann:
„Tja, da wird man religiös.“ Das hat die ältere Generation von Wissenschaftlern auch gesagt: „Da fällt mir nichts mehr ein, außer
Gott oder Transzendenz.“
Das Mahâyâna behauptet, dass man keine dieser beiden Erfahrungen auf die andere reduzieren kann. Man kann nicht sagen:
„Form ist letztendlich Leere. Die Form gibt es eigentlich gar nicht.
Das ist alles nur Schein. Form gibt es gar nicht!“ Man kann auch
nicht sagen: „Aber die Tasse ist eine Tasse. Sie war immer eine
Tasse und wird immer eine Tasse sein!“ Das geht auch nicht. Irgendwie ist Form Leere und Leere Form. Keins von beiden existiert allein für sich, als nur Form oder nur Leere. Keins von beiden
kann man auf das andere reduzieren. Schauen wir uns die Form
einmal genauer an: „Was ist die Welt, die Welt der Formen?“ Das
Mahâyâna sagt: „Das sind Sinneseindrücke – Hören, Riechen,
Schmecken, Spüren und Sehen plus Konzepte.“ Unsere Benennungen und Vorstellungen sind Konzepte, sind Übereinkünfte, Konventionen, Zuschreibungen, und alles, was es gibt, entsteht bedingt. Es gibt Ursachen und Bedingungen, Bestandteile und Konzepte. Alles entsteht bedingt: Buddhas, frisch gebügelte Hemden,
Essen, Bücher, Tassen, Tee, Dharma-Vorträge und Mikrophone,
einfach alles. Was wir sind und was die Welt ist, sind Sinneseindrücke plus Konzepte.
32
Wie „existiert“ eine Tasse?
Die Dingen entstehen bedingt durch viele Faktoren. Wenn man
mit einem analytischen Geist versucht, alle Faktoren zu sammeln,
z.B. mit einem Computerprogramm, dann klappt das nicht. Ein
Gesamtbild der Wirklichkeit eines Dings entsteht nicht, wenn man
alle Daten darüber sammelt. Dabei kommt nicht viel Brauchbares
heraus. An den Dingen ist etwas unfassbar, das nennen die Buddhisten Leerheit. Und dennoch gibt es die Dinge, und deswegen
wird manchmal die paradoxe Formulierung verwendet: „Die Tasse
ist, und sie ist nicht. Alles ist, und es ist nicht.“
Philosophisch-buddhistisch ausgedrückt, heißt es: „Alles ist
leer von Selbstexistenz.“ So sagen es die Gelehrten der GelugSchule des tibetischen Buddhismus, die sehr gut ausgebildet und
begrifflich genau sind: „Alles ist leer von Selbstexistenz, und es
funktioniert doch!“ Letzteres ist nach der Gelugschule die Definition von Existenz: „Etwas existiert, wenn es funktioniert.“ Also: Die
Tasse existiert, wenn sie als Tasse funktioniert. Eine Familie existiert, wenn sie als Familie funktioniert. Mit Hilfe dieses Ansatzes
bemerkt man schnell: Die Dinge sind bedingt. Sie entstehen, bestehen eine Weile und vergehen wieder. Beziehungen existieren,
wenn sie funktionieren, und wenn sie nicht mehr funktionieren,
dann sind sie im Prozess des Vergehens, was jeder Buddhist und
jede Buddhistin akzeptiert als Teil des Lebens: „Alles ist unbeständig.“
Also: Kaffee existiert, wenn das schwarze Gebräu als Kaffee
funktioniert. Eine Beziehung existiert, wenn sie als Beziehung
funktioniert, ein Dharma-Vortrag existiert, wenn er als solcher
funktioniert. Es gibt Dharma-Vorträge nicht aus sich heraus. Wenn
in einem Dharma-Vortrag zwei, drei Leute säßen, die keine Ah33
nung von Buddhismus haben und sich auch nicht dafür interessieren – sie kommen vielleicht von der Tankstelle nebenan –, dann
würden sie keinen Dharma-Votrag hören, sondern nur seltsame
Wörter. Sie würden natürlich einzelne Worte verstehen, aber das
Ganze würde keinen großen Sinn für sie ergeben. Es gibt also nicht
einmal Dharma-Vorträge aus sich heraus. Auch sie sind bedingt.
Leerheit ist ein Heilmittel fürs Festhalten
Was bedeutet Leerheit, Leerheit von Selbstexistenz, Leerheit von
Zuschreibungen? Man kann sich der Leerheit über das Faktum der
Unbeständigkeit annähern. Man denkt über die Tasse nach und
überlegt: „Diese Tasse war nicht immer eine Tasse, sie ist zwar
jetzt eine Tasse, aber sie wird irgendwann keine Tasse mehr sein.
Spätestens, wenn ich sie an die Wand werfe und sie zerbricht,
dann war das eine Tasse.“ Nachdenken über Unbeständigkeit ist
eine Annäherung an Leerheit. Man versteht: „Nichts bleibt immer
so.“ Bei materiellen Dingen versteht man das relativ leicht.
Es ist schwer zu begreifen, wenn es um komplexere Einheiten
geht, wie „Mein Zuhause“ oder um eine Gesellschaft mit unterschiedlichen Schichten oder um Staaten mit Grenzen. Unbeständigkeit ist schwer zu begreifen, wenn wir uns fragen: „Was ist eine
richtige Frau? Was ist ein richtiger Mann? Was ist eine richtige
Beziehung? Was ist ein richtiges Dharma-Zentrum?“ Bei diesen
Fragen gerät man sich leicht in die Haare.
Die meisten Menschen können sich mit einigem Nachdenken
darauf verständigen , dass alles veränderlich und unbeständig ist.
Wir verstehen dann: „Das ist nicht immer einfach so.“ Das ist der
erste Schritt zur Verständigung. Dann können wir leichter Kompromisse schließen. Wenn wir Unbeständigkeit auf dieser Ebene ver34
stehen, können wir besser mit Unterschieden leben. Wir ahnen,
dass alles unbeständig ist, auch die eigene Meinung. Auch sie ist
bedingt entstanden, vielleicht durch sehr selektive Informationen,
sehr einseitige Blickwinkel. Wir haben immer nur von einer Perspektive aus geschaut und die anderen möglichen Blickwinkel nicht
in Betracht gezogen. Alles wandelt sich unablässig. Und so bedeutet Leerheit, dass Wirklichkeit letztlich nicht fassbar ist. Philosophisch formuliert: Der Verstand begreift nur die Oberfläche der
Dinge. Er kann nicht begreifen, was Wirklichkeit ist, und deswegen
wird Leerheit manchmal die letztendliche Wahrheit genannt.
Lama Yeshe hat uns Ende der siebziger Jahre im Kloster Kopan
in Nepal eine sehr einfache Meditation über Leerheit beigebracht.
Er hat gesagt: „Denkt bitte nicht darüber nach, was Wirklichkeit
ist, dann kommt Ihr in Teufels Küche. Denkt nicht darüber nach,
was das wirkliche Kopan ist, jenseits Eurer Verblendung, sondern
überlegt lieber, was Ihr über Kopan denkt. Was bedeutet dieses
Kloster für Euch? Sammelt eure Ansichten und Meinungen und
lasst diese eine nach der anderen los. Am Schluss steht ihr mit
offenem Mund da und sagt: ´Ich weiß nicht, was Kopan ist.´ Bleibt
für eine Weile dabei, ruht in diesem Staunen, in diesem ´Ich weiß
nicht.´“ Diese Übung kann man auch mit Menschen machen, die
man ablehnt. Es ist eine sehr hilfreiche Meditation. Man kann sie
auch mit Menschen durchführen, die man liebt, aber das fällt ein
bisschen schwerer.
Leerheit ist ein Heilmittel für das Festhalten. Es ist eine Medizin, die man einnehmen sollte, wenn man denkt: „Es ist so, und
ich habe Recht, und mein Standpunkt ist objektiv der Beste. Natürlich gibt es andere Standpunkte, aber meiner ist wirklich besser. Ich hab am meisten studiert und am meisten nachgedacht. Ich
bin das älteste Mitglied der Gruppe. Ich weiß Bescheid. Ich bin
35
eine Pionierin, ich kenne die früheren Zeiten.“ Wer so denkt,
braucht die Medizin der Leerheit als Heilmittel gegen das Festhalten. „Aber bitte nehmt zur Kenntnis“, sagen die Lamas gerne, „die
Buddhas laufen nicht durch die Welt und sagen ´Alles ist leer, alles
ist leer´, sondern sie sagen: ´Die Welt ist, wie sie ist.´, und sie machen sich keine falschen Vorstellungen. Sie müssen nicht immer
über Leerheit reden.“ Leerheit ist ein Heilmittel für die, die keine
Fragen mehr haben, die alles wissen. Sie machen um alles, was
sie erleben, einen schönen schwarzen Rahmen und glauben: „So
ist es! Ich weiß Bescheid.“ Wenn wir so denken, brauchen wir
Leerheit als Heilmittel fürs Festhalten.
Wege zur Einsicht in Leerheit
Wie kann man sich einem Verständnis von Leerheit annähern?
Das ist die große Frage. Man kann darüber sprechen, und es klingt
auch gut und leuchtet auch ein. Wir sind alle intelligent genug und
begreifen das mit unserem Verstand. Das ist das Schöne am Verstand. Er kann ziemlich viel verstehen. Das ist sehr anziehend.
Wenn man aber denkt, das sei alles, dann kriegt man Probleme.
Wie kann man sich der Leerheit nähern? Wie kann man die Weisheit entdecken, die Leerheit versteht? So heißt es in der Gelugschule. Wie kann man sie entwickeln? Es gibt drei unterschiedliche Herangehensweisen: die logische, die poetische oder symbolische, und die devotionale. Zu jedem Ansatz gibt es Übungen.
Eine logische Annäherung an Leerheit ist: „Alles ist leer, weil es
bedingt entsteht.“ Weil alles veränderlich und abhängig von sehr
vielen Bedingungen ist, deshalb ist alles „leer von Eigenexistenz“.
So lange die Bedingungen da sind, bleibt ein Ding bestehen, und
wenn die Bedingungen sich verändern, verändert es sich, und ir36
gendwann vergeht es. Deshalb ist es leer. Deswegen gibt es nichts,
von dem man sagen kann: „So ist es immer und ewig, und so ist es
richtig.“ Alles verändert sich mit der Zeit. Das Römische Reich hat
einige Jahrhunderte bestanden, auch die Herrschaft der Kaiser
von China hat ziemlich lange gedauert, sogar bis zum Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts. Die katholische Kirche ist die älteste
„Firma“ der Welt, sie besteht schon zweitausend Jahre. Manche
Reiche bestehen ziemlich lange, das „Tausendjährige Reich“ des
Adolf Hitler zum Glück nur zwölf Jahre. Manche Zentren in
Deutschland bestehen schon seit den fünfziger Jahren. Die Buddhistische Gesellschaft Berlin hat 2001 ihr fünfzigjähriges Bestehen gefeiert. Manche Phänomene dauern also etwas länger, aber
alles vergeht. Das ist die erste Begründung für Leerheit, die erste
Annäherung: Alles ist leer von Eigenexistenz, weil es bedingt entsteht, weil es veränderlich ist. Dann heißt es umgekehrt: Weil alles
bedingt entsteht, ist es leer.
Man kann sich meditativ von beiden Seiten annähern. Eine beliebte Meditation in der Gelug-Schule ist das Bedingte Entstehen.
Wenn man darüber nachdenkt, wie alles bedingt entstanden ist,
landet man schließlich bei der Einsicht: „Alles entsteht bedingt.
Also ist es leer von Eigenexistenz. Und dennoch funktioniert es.“
Andere Schulen, wie die Zen-Schulen, arbeiten mehr mit Leerheit.
Da muss man absurde Koans lösen, und irgendwann bricht der
Verstand zusammen, und es öffnet sich etwas, der Raum, in dem
alles geschieht. Das ist eine beliebte Annäherung an Leerheit.
37
Die Dinge sind die Bedeutung, die wir ihnen geben
Eine weitere Übung, auch sehr beliebt in der Gelug-Tradition, geht
ebenfalls eher analytisch vor. Man reflektiert über die bedingte
Bedeutung der Dinge: Alles ist leer von Eigenexistenz, weil erst die
Bedeutung, die wir den Dingen geben, sie zu dem machen, was
für uns wichtig ist. Der US-amerikanische Dharma-Lehrer Alex
Berzin, der seit Anfang der neunziger Jahre in Berlin lebt, sagt
häufig: „Dinge sind die Bedeutungen, die wir ihnen geben.“ Sein
Lieblingsbeispiel ist die Armbanduhr in Indien. Angenommen, ich
besitze eine billige Casio-Uhr für zehn Euro. Wenn ich nach Indien
reise und sie indischen Kindern zeige, ist diese Uhr ein Symbol des
westlichen Reichtums. Sie ist einfach toll! Wenn ich mit derselben
Casio-Uhr eine Vernissage in Berlin besuche, trage ich für die
Kunst-Schickeria Schund. Eine billige Casio-Uhr mit einer verkratzten Plastikhülle ist einfach das Letzte. In Indien ist es ein Schatz,
Ausdruck des reichen Westens, ein Vermögen, doch auf einer Berliner Vernissage ist es nur Ausdruck von schlechtem Geschmack.
Für ein Kind von zwei Jahren ist eine Uhr ein hinreißendes
Spielzeug, und wenn dann die berühmte indische Ziege kommt
und die Uhr mit einem Biss verschlingt, dann ist sie für sie köstliches Futter. Was ist jetzt richtig, was ist es jetzt objektiv? Vom
Standpunkt der Menschen ist es zumindest eine Uhr, allerdings
erst ab einem bestimmten Alter. Zweijährige sind auch schon
Menschen und erkennen es nicht als Uhr. Ältere Leute, die bereits
etwas verwirrt sind, legen sie den Kühlschrank und finden sie
dann nicht mehr, weil sie die Bedeutung vergessen. Das ist eine
weitere Annäherung an Leerheit. Man macht sich klar: Alles, was
wir benutzen, ist erst dann „etwas“ für uns, wenn wir ihm eine
Bedeutung geben oder seine Bedeutung erkennen.
38
Als ich das erste Mal im Sommer 1977 in Dharamsala, Nordindien, war, machte ich einen Spaziergang, und es begann heftig zu
regnen, denn es herrschte Monsun. Da lud mich eine tibetische
Familie in ihr Haus ein, und sie boten mir (auf Tibetisch) Tee an.
Ich setzte die Tasse mit Tee an meine Lippen und nahm einen ersten Schluck und war fassungslos: Der Tee schmeckte salzig und
fettig. Ich dachte: „Ich habe sie nicht richtig verstanden, die meinten wohl Suppe.“ Ich lernte schnell: Das war Buttertee. Ich konnte
das Getränk zunächst nicht als köstlichen tibetischen Buttertee
wertschätzen, weil ich das Konzept nicht kannte. Ich kannte alle
Bestandteile: Butter, Salz, Tee, Milch, aber in dieser Kombination
war mir das Gebräu fremd. Überlegungen dieser Art können uns
begreifen helfen, dass nichts einfach so ist, sondern erst durch die
Benennung, die wir ihm geben, zu etwas wird.
Es gibt eine berühmte Geschichte über die Ankunft der ersten
Weißen in Australien. Die weißen Eroberer näherten sich mit ihren Segelschiffen dem Ufer, und einige Eingeborene am Strand
sahen ihnen dabei zu. Als die Verständigung ein paar Wochen später einigermaßen klappte, erzählten die Eingeborenen den Weißen, sie hätten keine Schiffe gesehen, obwohl sie natürlich etwas
sahen, das sich dem Ufer näherte. Sie „sahen“ Fische, die in einer
ganz seltsamen Formation durch die Luft sprangen, wie sie das
vorher noch nie gesehen hatten. Sie sahen also Formen und Farben und interpretierten sie im Kontext ihrer Weltsicht. Da sie keine großen Segelschiffe kannten, „sahen“ sie weiter oben weiße
Fische und weiter unten braune Fische, die in einer ganz seltsamen Formation durch die Luft sprangen. So sind die Dinge die
Bedeutung, die wir ihnen auf Grund unserer Erfahrung geben. Das
ist eine Annäherung an Leerheit über die Benennung. Man kann
Leerheit also über Bedingtes Entstehen verstehen, und damit über
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die Vergänglichkeit, über die Unbeständigkeit der Dinge oder über
die Benennung. Wir denken darüber nach, dass die Dinge durch
ihre Bedeutung für uns wichtig sind. Darüber, wie wichtig die Bedeutung ist, damit etwas für uns als dies oder das funktioniert.
Das war die eher logisch Herangehensweise, die logische Annäherung an Leerheit.
Poesie der Leerheit
Dann gibt es die poetische, die symbolische Annäherung. Viele
Verse in Nagârjûnas Text Verse aus der Mitte nehmen Bilder aus
der Alltagswelt auf und spielen mit unseren Wahrnehmungen, mit
dem Sehen und mit dem Gehen. Nagârjûna nimmt alle fünf Sinne
als Beispiel: Hören, Riechen, Schmecken, Gehen und Spüren. Dann
gibt es Mahâyâna-Sûtras, in denen unglaubliche Welten beschrieben werden: „In jeder Pore meiner Hand sind Millionen
Buddhafelder und Buddha Amithaba spricht zu vielen Bodhisattvas mit diesen und jenen Namen, und in einem Paralleluniversum
spricht ein Buddha gleichen Namens, dessen Schüler und Schülerinnen auch alle dieselben Namen tragen, und es läuft alles millionenfach parallel.“ Irgendwann gibt der Verstand auf. Ich habe in
einer meiner letzten Einzelklausuren das Avatamsaka-Sûtra mit
seinen über tausend Seiten von vorne bis hinten gelesen, auf
Empfehlung meines englischen Dharmalehrers Rigdzin Shikpo.
Mein Verstand hat irgendwann kapituliert. Einfach immer nur
Millionen und Billionen Bilder und Welten und das überall und in
jeder Pore. Sinn und Zweck dieser Texte ist es, auf der symbolischen Ebene zu uns zu sprechen.
40
Irgendwann kapieren wir mit dem Herzen, dass diese Welt nicht
so ist, wie wir sie sehen. Das geschieht auch durch Gedichte und
durch absurde Gelübde, wie die Bodhisattva-Gelübde im Zen. Da
heißt es:
Der Wesen sind unendlich viele,
ich gelobe, sie alle zu retten.
Die Leidenschaften sind unerschöpflich,
ich gelobe, sie alle zu überwinden.
Der Tore der Wahrheit sind unzählbar viele,
ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Der Weg des Buddha ist unendlich,
ich gelobe, ihn bis zum Ende zu gehen.
Für den Verstand ist das einfach nur absurd. Erst sage ich: „Der
Wesen sind unendlich viele.“ und dann: „Ich gelobe, sie alle zu
retten“. Oder: „Die Leidenschaften sind unerschöpflich, ich gelobe,
sie alle zu überwinden.“ Der Verstand sagt da: „Entweder sie sind
unerschöpflich, oder ich kann sie alle überwinden. Beides geht
nicht.“ Oder: „Der Tore der Wahrheit sind unzählbar viele, ih gelobe, sie alle zu durchschreiten. Der Weg des Buddha ist unendlich,
ich gelobe, ihn bis zum Ende zu gehen.“ Das sind paradoxe Formulierungen, die unseren Verstand in die Enge treiben. Wenn wir das
mit Hingabe immer wieder rezitieren, dann klickt es – manchmal
Leider ist der Einsichtsprozess nicht manipulierbar, er ist nicht zu
kontrollieren. Man kann das nicht „machen“, und doch bereitet
uns das Lesen solcher Texte auf die Einsicht vor.
41
Diese Texte stimmen uns auf den dritten Zugang zur Leerheit
ein, den devotionalen. Stephen Bachelor betont in seiner Einführung zu einem Kommentar des Herz-Sûtra von Geshe Rabten
(Echoes of Voidness, Boston: Wisdom Publications), dass das HerzSûtra in erster Linie ein devotionaler Text ist. Das Herz-Sûtra ist
nicht in erster Linie dafür gedacht, dass es gelehrt wird – natürlich
kann man darüber lehren –, sondern man soll es immer wieder
rezitieren, singen, halblaut sprechen. Ich tue das seit 1988. Ich
rezitiere es auf sino-japanisch und auf Deutsch, und stelle fest,
dass dieses rhythmische Rezitieren im Zenstil irgendwann so ans
Herz klopft, dass man etwas versteht. Plötzlich kommt eine Zeile
an, und ich weiß: „Das ist ja wahr!“. „Befreit von allen Vorstellungen, leben die Bodhisattvas im Jetzt.“ Wenn man einen Satz Hunderte von Malen rezitiert, klickt plötzlich etwas, und man versteht.
Paradoxe Logik: Weder Weltflucht noch Weltsucht
Was versteht man da? Welche Schicht in uns versteht da was? In
der westlichen Philosophie nennt man die Logik des Herz-Sûtra
paradoxe Logik, paradoxe Weisheit. Wir kennen die normale,
zweiwertige Logik „A ist A und B ist B“, also entweder ist A A, dann
ist es nicht B. Das ist doch logisch. Entweder ich nehme eine Kaffeetasse oder eine Teetasse oder ein Glas. Ein Glas ist eindeutig
keine Teetasse. Das ist doch logisch. Wer behauptet, dass eine
Tasse ein Glas sei, hat ein kleines Problem in der Welt. Eine Frau
ist kein Mann, ein Mann ist keine Frau. Das ist doch logisch. Man
muss doch ein bisschen Ordnung schaffen in dieser Welt. Es gehört entweder in diese Schublade oder in jene. Entweder ist es
Buddhismus oder Hinduismus, es kann nicht beides gleichzeitig
sein. Entweder ist man Christ oder Buddhist. Man muss sich schon
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für eine Zuflucht entscheiden. Entweder nimmt man Zuflucht zu
Buddha, Dharma, Sangha oder man hängt noch an der Kirche und
am lieben Gott, aber beides geht nicht. Der Verstand ist sich da
sehr klar: Entweder – Oder. Beides geht nicht.
Das funktioniert auf der relativen Ebene und hat da auch seine
Berechtigung. Wenn es darum geht, den Tisch zu decken, ist es
günstig, wenn man Teetassen und Wassergläser unterscheiden
kann, und Kindern bringt man das bei. Wenn man jetzt aber versucht, das ganze Leben mit dieser zweiwertigen Logik zu erklären,
endet man entweder als Buchhalter oder – wie der Philosoph Karl
Jaspers über Hegel sagt – als „Einsarger“, dann „sargt man das
Leben ein“. Man ordnet es wunderbar und hat ganz viele Schubladen, aber alles ist tot. Wenn man mit dieser zweiwertigen Logik an
„Form ist Leere und Leere ist Form“ herangeht, sagt man: „Entweder ist die Welt wirklich oder unwirklich. Wenn sie wirklich ist,
dann gilt: A ist A und B ist B. Dann ist die Welt das Wichtigste.
Oder: Die Welt ist leer. Dann ist alles Schein! Mit dieser Haltung gibt es interessante Diskussionen: „Also, ich finde, ich muss
die Küche nicht aufräumen, das ist ja bloß die relative Ebene, und
sauber und dreckig ist doch dualistisches Denken. Die Unterscheidung zwischen bezahlten und unbezahlten Rechnungen ist doch
dualistisch, das wollen wir doch überwinden. Geschmackvoll und
nicht geschmackvoll, das ist doch bloß Wertung, das überwinden
wir jetzt. Ich hab keine Zeit, die Küche aufzuräumen, ich hab
Wichtigeres zu tun, ich muss nämlich über Leerheit meditieren.“
Solange man ausschließlich mit der zweiwertigen Logik arbeitet, mit Entweder – Oder, verliert man sich in der Welt der Dinge:
„Ich muss wirklich Rechnungen schreiben (oder bezahlen, je
nachdem), ich kann leider nicht meditieren. Außerdem habe ich
drei Kinder und einen Job. Ich habe wirklich objektiv keine Zeit!
43
Ich muss nämlich eins, zwei, drei, vier ... tausend Dinge tun.“ Wir
haben alle unsere fünfundzwanzig Listen oder eben keine Listen,
je nach Mentalität. Wir haben alle unsere Vorstellungen, was man
alles wie erledigen müsste.
Das andere Extrem klingt etwas anders. Man hat eine vage Ahnung von Leerheit und sagt: „Ach, komm, es ist doch alles egal!
Aufgeräumt oder nicht aufgeräumt, bezahlt oder nicht bezahlt,
das ist kein Problem! Mir geht es ums Wesentliche, ich meditiere
jetzt, ich bin auf dem Weg. Diese Kinkerlitzchen sind nicht mehr
wichtig!“ Wenn man nur logisch argumentiert, wenn man „Form
ist Leere und Leere ist Form“ nicht wirklich ganz tief versteht,
wenn man nur logisch herangeht, landet man entweder beim Materialismus oder beim Idealismus. Es geht entweder um die Welt,
um die Dinge, und dann müssen wir jetzt etwas tun. Dann sitzen
wir nicht nur auf dem Meditationskissen und denken vor uns hin,
sondern wir tun etwas Sinnvolles und verbessern die Welt.
Oder man geht in die Transzendenz, da ist alles gut, und Gut
und Böse gibt es nicht! Krieg? Nein, auf der tiefsten Ebene gibt es
keinen Palästinakonflikt, wirklich nicht! Der ist leer von Selbstexistenz, auf ganz tiefer Ebene, so tief, dass man nicht mal mehr hinkommt. Mit der zweiwertigen Logik fällt man von einem Extrem
ins andere, und das machen auch die meisten Leute. Wenn sie
ihren politischen Tag haben, wollen sie aktiv werden und die Welt
verändern, und dann versinken sie wieder in ihren Meditationsgeschichten. Der spirituelle Weg ist ja so kompliziert und so komplex, vor allem bei den Tibetern, da hat man so viel zu tun, dass
man vergisst, wann Cousine Martha Geburtstag hat und dass die
Oma keine Gladiolen mag, denn das ist ja alles nur relativ.
Begriffe sind sehr entlarvend. Es geht bloß um die „relative“
Wahrheit, und dann sagt man schnell: „Es geht bloß um das Welt44
liche“. Das machen alle, die Partei für eine Seite ergreifen. Materialisten behaupten: „Liebe, das ist bloß ein bisschen Biochemie.
Religion ist Projektion und Opium fürs Volk. Beide Triebe, der spirituelle und der sexuelle, sind bloß Biochemie, was soll's also. Man
reduziert das, was man nicht versteht, auf das, was man kennt.
Das ist ja alles bloß Psychologie, bloß symbolisch, das gibt es ja gar
nicht wirklich! Das ist ja bloß eine Projektion, Du siehst das falsch,
das sind bloß deine Projektionen! Ich habe keine Probleme mit
Dir, ist alles bloß Projektion. Steht man auf der anderen Seite, sagt
man: „Die Welt ist eben bloß Schein. Mâyâ. Lila. Die Welt ist ein
Traum Gottes, man braucht sich keine Sorgen zu machen, ist alles
nur Schein.“
Die Weisheit des Herzens
Paradoxe Weisheit kann der Verstand nicht verstehen, und das
Wunderbare am Verstand ist, dass er seine Grenzen erkennen
kann. Wenn man ein bisschen nachdenkt, kann man „mit dem
Verstand“ verstehen, dass man bestimmte Dinge nicht verstehen
kann. Aber man sollte sich dann auch daran halten und weiter
gehen. In der Philosophie spricht man von der Fähigkeit, Paradoxa
zu verstehen. Im Buddhismus nennt man es Weisheit. Wenn der
Buddha sagt: „Die Welt ist, und sie ist nicht“, dann ist das paradoxe Weisheit, Herzensweisheit. Es geht um das „Sowohl – als-auch“.
Der Kulturphilosoph Jean Gebser nennt das polares oder mythisches Bewusstsein. Das mentale Bewusstsein kann ordnen, trennen, unterscheiden, das ist sehr wertvoll. Man sollte den Verstand
respektieren, ihn schätzen, aber er kann eben nicht alles. Wenn
der Verstand sich zum Herrn macht, geht die Welt „den Bach hinunter“, so wie sie im Moment den Bach hinuntergeht. Dann ver45
sucht man, mit großen Plänen zu retten, was so nicht zu retten ist.
Die Weisheit des Herzens versteht das „Sowohl - Als Auch“. Jeder
Mensch, der liebt oder geliebt hat, kann problemlos Widersprüche zusammenbringen. Widersprüche sind kein Problem, wenn
man mit dem Herzen versteht! Dann kann man Verständnis haben
und beides fassen. Wie kann man die Weisheit des Herzens wecken? Durch Singen, Rezitieren, Rituale, Gebete und Symbole. Symbole sprechen zum Herzen. Wenn der Verstand versucht, Symbole
zu erklären, muss man aufpassen, denn Symbole bedeuten eben
nicht „bloß“ dies oder das. Symbole muss man wirken lassen. Ein
bisschen kann man mit dem Verstand schon in die Richtung deuten. Man kann mit dem berühmten Finger auf den Mond zeigen.
Aber man muss sich den Mond auch anschauen.
Am Anfang sind Berge Berge und Flüsse Flüsse.
Dann sind Berge keine Berge mehr und Flüsse keine Flüsse.
Und am Ende sind Berge wieder Berge und Flüsse Flüsse.
Dies ist ein berühmter Zen-Spruch, ein Versuch, mit Worten auf
das Unsagbare hinzuweisen. „Am Anfang sind Berge Berge und
Flüsse Flüsse“. Das ist die gewöhnliche materialistische Sicht. Nun
wendet man das Heilmittel der Leerheit an. „Dann sind Berge keine Berge mehr und Flüsse keine Flüsse“. Man sitzt da und versteht
überhaupt nichts mehr. Man lebt in diesem Staunen, man ist berührt von diesem Unfassbaren des Berges, des Flusses, der Liebe,
der Meditation, des Hörens. Wenn man das verdaut und nicht
wegrationalisiert hat, kann der nächste Schritt geschehen. Man
kann die Erfahrung des Staunens natürlich auch leugnen oder
weginterpretieren: „Ich hab ein bisschen gesponnen. Dieses Erlebnis war nicht wirklich. Das war bloß eine Meditationserfahrung.
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Ich habe mir da etwas ausgedacht, und jetzt ist alles wieder normal, wie vorher.“ Das kann man natürlich auch machen. Das ist
nicht besonders hilfreich.. Im dritten Schritt heißt es dann wieder:
„Berg ist Berg und Fluss ist Fluss“.
Wenn man die Erfahrung des Unfassbaren, des ganz tiefen existentiellen Staunens auf sich wirken lässt, sie zulässt, dann geschieht ein „Paradigmenwechsel“. Dann geschieht etwas: „Am
Ende sind Berge wieder Berge und Flüsse Flüsse“, aber jetzt sehen
wir sie mit unendlichem Respekt, mit ganz viel Liebe, mit großer
Wertschätzung. Das ist eine Art, wie man das mit Worten beschreiben kann. Vier Worte werden verwendet – Berg, Fluss, ist,
nicht – , und sie werden unterschiedlich kombiniert. Dabei verstehen wir etwas. Bei mir hat dieser Spruch sehr viel ausgelöst, und
er tut das immer wieder.
Das Koan vom Stock
Mein derzeitiges Lieblings-Koan ist das Koan vom Stock.
Ein Meister – in unserem Fall ist es eine Lehrerin – sitzt vor den
ZuhörerInnen und fragt: „Was ist das? Wenn du es einen Stock
nennst, kriegst du dreißig Hiebe. Wenn du sagst, es ist kein Stock,
kriegst du auch dreißig Hiebe. Was machst du?“
Eine Lösung ist: Man benutzt den Stock und demonstriert damit, der Stock funktioniert als Stock, also ist es ein Stock. Wenn
Du sagst: „Das ist ein Stock.“ klebst du am Stock und denkst: „Das
ist ein Stock, das war immer ein Stock und wird auch immer ein
Stock sein. Das ist überhaupt der Stock an sich, und die Stockheit
war – wie Platon sagt – schon vor dem Stock da. Das ist der Stock
an und für sich.“ Wenn du also sagst: „Das ist ein Stock.“, bekommst du dreißig Stockhiebe, denn der Stock ist nicht immer ein
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Stock. Die Vergänglichkeit schlägt dich, wenn der Stock auf deinem Rücken zerbricht! Sie schlägt dir auf die Finger.
Wenn du schlau sein willst und sagst: „Das ist kein Stock, das ist
bloß ein Gedanke, ein Konzept. Der Stock existiert nicht wirklich,
er ist nur Mâyâ, eine Illusion, eine relative Wahrheit.“, dann hast
du vom „Gift der Leerheit“ gegessen. Du bist krank und nicht in
der Lage, etwas mit dem Stock zu unternehmen, weil du denkst:
„Das ist ja gar kein Stock!“ Wenn ich sage: „Das ist ein Stock!“,
klebe ich an der Form. Wenn ich sage: „Das ist kein Stock!“, klebe
ich an Leerheit. Wenn ich ihn benutze, bin ich aus dem Schneider.
Man kann nun ganz abstrakt und distanziert über den Stock des
Zen nachdenken und die paradoxe Realität des Stockes entdecken.
In Zen-Sesshins meditiert man gezielt über das Koan vom Stock.
Man kann das aber auch auf sein eigenes Leben beziehen: „Ich
habe zur Zeit ein Problem in meiner Beziehung, so ein richtiges,
echtes Problem.“ Wenn man das denkt, bekommt man viele
Schläge, bestimmt mehr als nur dreißig, weil man so sehr an diesem Problem klebt. Wir sind festgefahren. Es gibt überhaupt keinen Ausweg. Es ist einfach so ein großes Problem: „ Ich weiß nicht,
was ich machen soll.“ Wenn man so denkt, bekommt man viele
Schläge vom Schicksal, weil man so an diesem Problem klebt.
Wenn man statt dessen sagt: „Ich und Probleme? Was ist das?
Ich meditiere doch schließlich! Ich habe keine Probleme. Alles ist
leer, es gibt kein Gut und kein Böse, und niemand ist verletzt. Verletzungen gibt es auch nicht. Sie sind alle leer von Selbstexistenz.
Ich habe keine Probleme. Hast Du ein Problem? Pech für dich,
aber dich gibt es zum Glück auch nicht!" Solche Sätze habe ich
gehört. Es sind alles Aussagen von aufrichtig übenden, ernsthaften BuddhistInnen.
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Sagt man: „Es gibt kein Problem bei uns, denn wir streiten nie!
Gut, manchmal wird die Stimme ein bisschen lauter, aber das ist
kein Problem. Das ist einfach so.“ Denkt man das, bekommt man
viele Hiebe vom Schicksal, weil man blind in Schwierigkeiten hinein läuft. Absprachen gelingen nicht, weil man Probleme nicht
zur Kenntnis nimmt. Wie könnte eine Lösung aussehen, wo man
nicht an Problemen klebt und sie auch nicht leugnet oder übersieht? Zunächst muss man lernen, genauer hinzuschauen. Ohne
regelmäßige Meditation gelingt das nur wenigen Menschen.
Wenn man dann Unstimmigkeiten oder Missverständnisse, unterschiedliche Standpunkte oder Erfahrungen entdeckt, kann man
sich in Ruhe hinsetzen und miteinander reden. Manchmal ist es
leichter, etwas miteinander auszuprobieren, um mehr Klarheit zu
gewinnen. Man redet dann nicht nur, sondern unternimmt etwas,
um das Problem zu klären, aufzulösen, die Bedingungen zu verändern!
Dazu kann man die Lehren vom Bedingten Entstehen heranziehen und fragen: „Hat es dieses Problem schon immer gegeben?“
„Nein, vor zwanzig Jahren gab es das Problem noch nicht. Vielleicht auch nicht vor zehn Jahren, und vor fünf Wochen auch
nicht.“ „Was ist dann geschehen?“ „Ja, dann ist das passiert und
das und das...“ Dazu gibt es die hübsche Geschichte des kleinen
Mönchs in Lhasa. Der kleine Mönch in Lhasa besucht den PotalaPalast, diesen großen Palast, wo der Dalai Lama früher residierte.
Da entdeckt er ein kleines Fenster, von dem aus er auf den Marktplatz hinausschauen will. Er zwängt seinen Kopf durch die kleine
Fensteröffnung und schaut hinaus. Plötzlich ruft er um Hilfe:
„Mein Kopf steckt fest, ich komme nicht mehr heraus!“ Ein großer
Mönch kommt und fragt: „Was ist denn los?“ „Mein Kopf steckt
fest, ich komme nicht mehr heraus!“ „Ja, wie bist Du denn hinein
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gekommen?“ „Also so!“, und der kleine Mönch zieht den Kopf
schnell und geschickt aus der Fensteröffnung...
So, wie man in ein Problem hinein gerät, kommt man häufig
auch wieder heraus. Das gelingt nicht immer, aber man kann es
versuchen. Man kann auf diese Weise das bedingte Entstehen zur
Kenntnis nehmen. Man überlegt: „Was hat dazu beigetragen, dass
sich die Situation so und so verändert hat?“ Dann kann man versuchen, praktische Wege aus der schwierigen Situation heraus zu
finden. Man kann das Koan vom Stock für die Lösung von Problemen heranziehen. Sagst du: „Das ist ein Problem, ein aus sich
heraus existierendes Problem, das sich nie verändert, immer so
war und immer so sein wird.“, bekommst du Schläge, und zwar
mindestens dreißig. Sagst du: „Ich habe kein Problem. Das ist kein
Problem.“, dann bekommst du auch Schläge.
Was ist die Lösung? Augen aufmachen, hingucken, hinspüren:
Bedingtes Entstehen zur Kenntnis nehmen, Ärmel aufkrempeln
und das Beste aus der Situation machen. Und das, was wir jetzt in
diesem Augenblick tun können, ist gut genug. Wenn wir die Bedingungen besser verstehen, können wir vielleicht mehr tun.
Ich kann dieses Koan sehr empfehlen, wann immer Sie sich
festgefahren fühlen. Wir stecken oft fest. Ich habe zur Zeit Probleme mit meiner Stimme. Wenn ich jetzt denke: „Oh, das ist
schwierig, da weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Ich habe
eine Stimmbandentzündung, das ist wirklich ein Problem.“ Meist
rechnen wir das Problem dann hoch auf immer und denken: „Das
wird nie besser, das wird jetzt immer schlimmer.“ Wenn man ein
„echtes“ Problem hat, dann deshalb, weil man das Problem „auf
ewig“ hochrechnet. Dabei vergisst man, dass es einst anders war
und glaubt nicht, dass es sich je verändern könnte. Mit der Haltung „hat“ man ein Problem. Wenn man aber sagt: „Ich und
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Stimmbandentzündung. Das wäre ja gelacht. Das ist gar kein Problem!“, dann hat man ein Problem. Wenn ich nichts tue, wenn ich
kein Stimmtraining mache und nicht ein bisschen weniger rede
und meine Stimme schone, wird die Entzündung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem „echten“ Problem.
Was hilft? Nicht jammern, nicht zusammenbrechen, das Problem nicht auf ewig hochrechnen. Es auch nicht ignorieren und
wegleugnen, sondern die Bedingungen so genau wie möglich anschauen, spüren, auf sich wirken lassen. Dann kann man das verändern, was man verändern kann, das annehmen, was man nicht
verändern kann, und durch Meditation und Schulung die Weisheit
entwickeln, das eine vom anderen zu unterscheiden.
***Ende ***
51
Lese- und Hörempfehlungen von Sylvia Wetzel
Schriften
B7: Das Herz-Sutra. Ein Kommentar. 228 S. 2007
K7: Siebe Schritte zum Erwachen oder d. Taubenschule. 32 S. 2004
Audio- (V) und MP3-CDs (M) von öffentlichen Vorträgen
V 42: Wahres Selbst & bedingtes Ich. Hannover 9.12.2006
V 10: Wer bin ich? Die vier Schleier. Zollikon 19.5.2004
V 49: Ich, Ego, wahres Selbst. Hamburg 27.4.2007
M 81: Das Herz-Sutra. Freiburg 24.5.2009 (110 Min)
M 35: Vertrauen & Zweifel. 21.-22.5.2008 (230 Min)
M 84: Wie viele Wahrheiten gibt es? 7.8.2009 (81 Min)
M 103: Wer bin ich? Freiburg 15.5.2010 (160 Min)
M 119: Sehnsucht nach Erwachen… 19.11.2010 (100 Min)
52
Bücher und Broschüren von und mit Sylvia Wetzel
Im Buchhandel
Vertrauen. Finden, was uns wirklich trägt. Scorpio. Herbst 2015
Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout.
Reihe Leben Lernen. Klett-Cotta. 2014
Einladung zur Muße. Kreuz 2012. Bezug über die Autorin.
Das Herz des Lotos. Frauen und Buddhismus. 1999. 2011
Hoch wie der Himmel, Tief wie die Erde. Beziehungen, Liebe, Arbeit.
Theseus 1999. 2010
Leichter Leben. Über Gefühle. 2002. Lehmanns Media. 2013
Worte wirken Wunder. 2007. Lehmanns Media. 2013
L. Reddemann, S. Wetzel u.a., Kontexte von Achtsamkeit.
Vorträge Lindau 2010. Kohlhammer 2011
L. Reddemann, S. Wetzel. Der Weg entsteht unter deinen
Füßen. Achtsamkeit u. Mitgefühl… Kreuz 2011. Hörbuch. 2012
Die edition tara libre. Auswahl
B1: Das Herz des Weges. 186 S. 1996/2000. 2006. 2011
B2: Buddhismus und Politik. 2000. Erweitert. 296 S. 2013
B3: Übung im Alltag. 194 S. 1997/2000. 2006. 2011
B4: Das Patriarchat ist zu Ende. 1996/2000. Erweitert. 256 S. 2013
B5: Herz & Verstand. Fünf Vorträge. 160 S. 2006. 2010
B6: Ich und Du. Fünf Vorträge. 180 S. 2006
B7: Das Herz-Sutra. Ein Kommentar. 228 S. 2007
B8: Grüne Tara - Freie Frau und die Taubenschule. 220 S. 2007
B9: Geistestraining und Herzensschulung (Lojong). 220 S. 2008
B11: Die kleine und die große Liebe. 244 S. 2010
53
B12: Mut zur Muße und Freude am Tun. 244 S. 2010
B13: Mitgefühl. Tonglen. Acht Verse. Bodhicitta. 188 S. 2010
B14: Die Bodhisattva-Gelübde. Ein Kommentar. 292 S. 2011
B15: Frei und geborgen. Kommentar. zu den Sechs Paramitas. 280 S. 2012
Kleine Schriften
K1: Entspannung, Meditation, Buddhismus. 32 S. 1995/2000
K2: Lojong. Erziehung von Herz und Geist. 56 S. 1998/2000
K3: Allein & mit anderen. Über Gruppen. 32 S. 2004
K4: Arbeit & Muße, Leben & Sinn. Hannah Arendt. 56 S. 2004
K5: Die Vier Schleier. Drei Vorträge. 60 S. 2006
K6: Auftanken und Entspannen. 24 S. 2007
K7: Siebe Schritte zum Erwachen: Taubenschule. 32 S. 2004
K8: Buddhismus und Christentum. Vortrag. 44 S. 2008
K9: Krieg und Frieden. Vortrag. 44 S. 2010
K10: Geld und Identität. Vortrag. 44 S. 2010
K11: Das Unmögliche wagen: Bodhicitta. Vortrag. 44 S. 2010
K12: Die dunkle Nacht. Johannes vom Kreuz. Vortrag. 44 S. 2010
K13: Verantwortung, Schuld, Vergeben. Vortrag. 44 S. 2011
K14: Liebe, Lust und Leidenschaft. Vortrag, 44 S. 2012
K15: Achtsamkeit &Mitgefühl statt Ehrgeiz…Thesen. 60 S. 2012
K16: Höflich währt am längsten. Umgehen mit Mobbing. 44 S. 2014
LTY1: Lama Thubten Yeshe: Denken und Sein. 154 S. 1987. 2002
LTY5: Thubten Yeshe. Leben in Würde und Weisheit. 240 S. 2013
T2: Claudia Webinger (Hrsg.): Die 21 Taras. A4, 108 S. 2002
T3: Sabine Hayoz-Kalff: Mütter, Kinder, Alltag. 24 S. 2002
T4: Sabine H. Kalff: Grüne Tara. Zur Tara-Legende. 160 S. 2007
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Poesie des Erwachens
Poesie Eins: Buddhismus. 1999
Poesie Zwei: Erwachen, Lehren und Lernen. 2003
Poesie Drei: Abendland: Buber, Rilke, Meister Eckhart u,a. 2004
Poesie Vier: Dualität und Nicht-Dualität. 2014
Poesie Fünf: Perlen der Weisheit. 25 Texte mit Kommentar. 2015
Die Vedanta-Reihe
V1: Swami Suddhananda: Wer bin ich? Meditation. 24 S. 2002
V2: J. B. Swartz (Ram): Seligkeit & Erkenntnis. 44 S. 2003
V3: J. B. Swartz (Ram): Was ist Advaita Vedanta? 60 S. 2003
V4: J. B. Swartz (Ram): Ramana Maharshi. 60 S. 2003
V5: Swami Suddhananda: Selbsterkenntnis. 380 S. 2007
V6: Erkenntnis, Handeln, Hingabe. Zitate. 32 S. 2007.
V7: Swami Dayananda: Bhagavad Gita. 148 S. A4. 2012. PDF-Datei
V8: Wer bin ich? Nisargadatta Maharaj. Zitate. 40 S. 2009
Öffentliche Vorträge und Kurse
75 Vorträge auf Audio-CD. 2001-2008. Max. 80 Min. 10 €
2015: über 200 MP3-CDs. 2000-2015. Vortrag, Übungen, Fragen.
Wird fortgesetzt. Je € 12 (bis 150 Min). Je € 15 (ab 160 Min)
Bezug der edition tara libre
Lindenstr.6, D-14974 Ludwigsfelde.
Fax (03378) 80 49 56, [email protected]
Büro: Nives Bercht
Heckmannufer 4a, 10997 Berlin
(030) 618 12 14. [email protected]
www.sylvia-wetzel.de, www.tara-libre.org
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Weitere Infos zum Thema Buddhismus unter
www.dharma.de (Deutsche Buddhistische Union e.V., DBU)
www.sylvia-wetzel.de
www.buddhistische-akademie.de
www.buddhistische-perspektiven.de
www.frauenundbuddhismus.de
www.berzinarchives.com
Buddhistische Zeitschriften
Buddhismus Aktuell
www.buddhismus-aktuell.de
Chökor
www.choedzong.de
Dharma-Nektar
www.dharma-nektar.de
Intersein
www.intersein-zeitschrift.de
Tibet u.Buddhismus
www.tibet.de
Ursache & Wirkung
www.ursache.at
Buddhistische Verlage
www.arbor-verlag.de
www.buddhareden.de
www.buddhistischer-studienverlag.de
www.dharmata-verlag.de
www.diamant-verlag.info
www.edition-steinrich.de
www.theseus-verlag.de
www.zeh-verlag.de
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