Gibt es Indikationen für Erythropoetin in der Onkologie

Werbung
M E D I Z I N
Ulrich Dührsen
Zusammenfassung
Ungefähr 50 bis 70 Prozent der Krebspatienten
mit einer „Tumoranämie“, einer durch Knochenmarkinfiltration bedingten Anämie oder einer
therapieassoziierten Anämie zeigen unter hohen Erythropoetindosen einen Hämoglobinanstieg um mindestens 2 g/dL. Etwa ein Drittel
der Patienten mit Myelodysplasie-bedingter Anämie spricht auf sehr hohe Erythropoetindosen in
Verbindung mit Granulozytenkolonien-stimulierendem Faktor an. Der Hämoglobinanstieg entwickelt sich langsam über einen mehrmonatigen Zeitraum und ist oft von einer Verbesserung
der Lebensqualität begleitet. Da die publizierten
prädiktiven Faktoren keine sichere Vorhersage
des Erfolgs einer Erythropoetintherapie erlauben, wird zur Ermittlung des Ansprechens in der
Regel ein mehrmonatiger Therapieversuch unternommen. Die Behandlung mit Erythropoetin
muss sich mit der Erythrozytentransfusion messen, die ebenfalls einen Hämoglobinanstieg bewirkt. Die Behandlung mit Erythropoetin ist nahezu nebenwirkungsfrei. Sie ist jedoch langsam
und bei einem beträchtlichen Teil der Patienten
unwirksam. Die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten birgt ein geringes Risiko infektiöser, allergischer oder toxischer Komplikationen,
D
as Hormon Erythropoetin reguliert die Vermehrung und Reifung der für den Sauerstofftransport zuständigen roten Blutkörperchen (38). Als rekombinantes Protein
wird es seit etwa 15 Jahren bei Patienten mit renaler Anämie, „Infekt“oder „Tumoranämie“ oder anderen
krebsassoziierten Anämieformen eingesetzt.
Die durch Erythropoetin induzierte
Zunahme der Sauerstofftransportkapazität führt zu erhöhter Leistungsfähigkeit. Da Hypoxie die genetische
Instabilität von Tumorzellen und die
Ausbildung eines fragilen, die Metastasierung begünstigenden Kapillarnetzes zu fördern scheint, könnte eine verbesserte Sauerstoffversorgung des Tumors zu einer Verlangsamung seiner
Progression führen (28, 63). Außerdem
könnten sauerstoffabhängige Therapiemodalitäten, wie die Strahlenthera-
A 3470
Gibt es Indikationen
für Erythropoetin in der
Onkologie ?
führt aber zuverlässig bei nahezu allen Patienten zu einem sehr raschen Hämoglobinanstieg.
Aus verschiedenen Ländern stammende Kostenanalysen deuten darauf hin, dass die Behandlung mit Erythropoetin bei Patienten mit krebsbedingter Anämie sehr viel teurer ist als die
Bluttransfusion. Die Wahl zwischen den beiden
Verfahren wird daher wesentlich von ökonomischen Überlegungen und den finanziellen Ressourcen des zugrunde liegenden Gesundheitssystems abhängen.
Schlüsselwörter: Anämie, Bluttransfusion, Erythropoetin, Myelodysplasie, Onkologie
Summary
Are there Indications for the Use of
Erythropoietin in Patients with Cancer?
About 50 to 70 per cent of cancer patients
with the “anemia of chronic disorders”, anemia
due to neoplastic bone marrow infiltration or
therapy-related anemia respond to high doses
of erythropoietin with a hemoglobin increase
of at least 2 g/dl. In the myelodysplastic syndromes, about one third of patients will show
a response to very high doses in conjunction
with granulocyte colony-stimulating factor.
The response to erythropoietin is slow, requiring several months to develop. The prediction
models proposed do not allow a reliable identification of potential erythropoietin responders. Therefore, the most common strategy to
determine the responsiveness is a treatment
trial of several months’ duration. Treatment
with erythropoietin needs to be compared
with the transfusion of red blood cells which
also leads to a hemoglobin increase. Erythropoietin is almost devoid of side effects, but it is
slow and ineffective in a substantial proportion of patients. Red blood cell transfusion
is associated with a small risk of infectious,
allergic or toxic complications, but it reliably
induces a rapid hemoglobin increase in virtually
all patients treated. Cost analyses from several
countries indicate that, in patients with cancerrelated anemia, treatment with erythropoietin
is considerably more expensive than blood
transfusion. Thus, the choice between the two
treatment options will be influenced by economic considerations and the financial resources
of the underlying health care system.
Key words: anemia, blood transfusion, erythropoietin, myelodysplasia, oncology
(Grafik 2). Die Erythropoetintherapie muss sich daher
mit der Transfusionsbehandlung messen, die die effektivste Methode zur kurzfristigen
Vermehrung der Erythrozytenmasse darstellt (1 Blutkonserve führt zum Hämoglobinanstieg um 1 g/dL) (16, 25).
Unter derzeitigen HerstelSchlüsselfunktion des Hämoglobinanstiegs bei der Wirlungsbedingungen ist das Risikung von Erythropoetin und Erythrozytentransfusionen
ko infektiöser oder allergischer
Komplikationen sehr gering
pie, durch eine gesteigerte Tumoroxy- (Hepatitis B – 1 : 60 000, Hepatitis C –
genierung eine Wirkungszunahme er- 1 : 100 000, HIV-Infektion – 1 : 650 000,
fahren (28, 63) (Grafik 1).
hämolytische Reaktion – 1 : 60 000, leNach bisherigem Kenntnisstand be- tale AB0-Inkompatibilität – 1 : 600 000)
ruht die Wirkung von Erythropoetin (24, 25). Eine klinisch relevante Eisenbei Krebspatienten ausschließlich auf überladung ist erst nach Transfusion von
einer Steigerung der Erythropoiese etwa 50 Konserven zu erwarten.
Ein randomisierter Vergleich zwischen
Erythropoetin und BluttransfuKlinik für Hämatologie (Direktor: Prof. Dr. med. Ulrich
sion unter Vorgabe gleicher Ziel-HäDührsen), Universitätsklinikum Essen
Grafik 1
 Jg. 99
 Heft 51–52
 23. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
Grafik 2
Abhängigkeit der Wirkung von Erythropoetin auf verschiedene Lebensqualitätsparameter vom Ausmaß des
erreichten Hämoglobinanstiegs. Die Lebensqualitätsparameter wurden durch eine visuelle Skala von 100 mm
Länge quantifiziert. Modifiziert nach Demetri GD, Kris M,
Wade J, Degos L, Cella D: Quality-of-life benefit in chemotherapy patients treated with epoetin alfa is independent of disease response or tumor type: results from
a prospective community oncology study. Procrit Study
Group. J Clin Oncol 1998; 16: 3412–3425. Mit freundlicher
Genehmigung Lippincott, Williams & Wilkins, USA.
moglobinwerte fehlt bisher. In den im
Folgenden dargestellten Studien wurde Erythropoetin ausnahmslos mit einer Behandlung verglichen, die sich an
den üblichen Transfusionspraktiken
(Aufrechterhaltung niedriger Hämoglobinwerte) orientierte.
Ursachen für Anämien bei
Krebspatienten
Anämien bei Krebspatienten können
durch Blutverlust, Hämolyse oder unzureichende Blutbildung bedingt sein
(15, 17, 51). Nur die letztgenannte
Störung ist durch Erythropoetin beeinflussbar. Schematisch lassen sich vier
Ursachengruppen für eine verminderte
Blutbildung abgrenzen: unzureichend
verstandene immunologische Mechanismen, die unter der Bezeichnung
„Tumor“- oder „Infektanämie“ subsumiert werden, die Verdrängung des
Knochenmarks durch infiltrierende
Krebszellen, die therapiebedingte Myelosuppression und die ineffektive
Erythropoese bei Krebserkrankungen
des blutbildenden Systems selbst, insbesondere bei Myelodysplasien. Die
zur Anämie führenden molekularen Mechanismen sind
komplex (15, 17, 51). Im Hinblick auf die Erythropoetintherapie sind folgende Befunde von besonderer Bedeutung: eine inadäquat niedrige
Erythropoetinproduktion bei
der „Tumoranämie“ und der
therapieassoziierten Anämie,
eine Hemmung der Erythropoetinwirkung bei der Tumoranämie und der Anämie
durch Knochenmarkinfiltration und ein vermindertes Ansprechen abnormer erythropoetischer Vorläuferzellen auf
physiologische Erythropoetinkonzentrationen bei den Myelodysplasien (15, 46).
Praktische
Gesichtspunkte
Die einmalige Verabreichung von
40 000 U Erythropoetin pro Woche
scheint eine ähnliche Wirksamkeit
aufzuweisen wie die Gabe von drei
Dosen mit 10 000 U (20). Noch längere Dosierungsintervalle könnten sich
bei Verwendung des lang wirkenden
Erythropoetinabkömmlungs Darbepoietin-α ergeben (23, 64).
Therapieergebnisse
Nur wenige Phase-2- und -3-Studien
konzentrierten sich auf nichtmyelosuppressiv behandelte Patienten mit soliden Tumoren oder nichtmyeloischen
hämatologischen Neoplasien, deren
Anämie durch eine „Tumoranämie“
oder eine Knochenmarkinfiltration bedingt war. Bei Verwendung des genannten Behandlungsalgorithmus ließ sich
bei etwa der Hälfte der Patienten ein
Anstieg der Hämoglobinkonzentration
um mindestens 2 g/dL erreichen (2, 43,
57). Gleichzeitig kam es zu einem
Rückgang der Transfusionsbedürftigkeit (43, 57). Die erfolgreiche Behandlung der Anämie ging mit einer Verbesserung der mit Fragebögen und visuellen Skalen gemessenen Lebensqualität
einher (2, 43, 57).
Bei Patienten mit soliden Tumoren oder nichtmyeloischen hämatologischen Neoplasien unter Chemothera-
Aus Phase-1-Studien (7, 47,
53, 55) ergab sich bei Patienten mit „Tumoranämie“, infiltrationsbedingter Anämie oder therapiebedingter Anämie ein häufig angewandtes Therapieschema aus drei
subkutanen Erythropoetininjektionen
von je 150 U/kg pro Woche (bei einem
normgewichtigen Erwachsenen: dreimal 10 000 U) mit Dosisverdopplung
bei Ausbleiben eines Hämoglobinanstiegs nach vier- bis
Grafik 3
achtwöchiger Therapiedauer. Anämien bei myelodysplastischen Syndromen sprechen meist erst auf Dosen
über 1 000 U/kg pro Woche
an (15). Zur Überwindung eines bei Krebspatienten häufig vorliegenden funktionellen Eisenmangels wird die
gleichzeitige Verabreichung
eines Eisenpräparates empfohlen (17).
Der Hämoglobinanstieg
entwickelt sich bei einer er- Zeitliche Entwicklung des Hämoglobinanstiegs in einer
folgreichen Erythropoetin- plazebokontrollierten randomisierten Studie chemothebehandlung sehr langsam rapierter Patienten. Modifiziert nach Littlewood TJ, Ba(Grafik 3). Zur Ermittlung jetta E, Nortier JW, Vercammen E, Rapoport B: Effects of
des Ansprechens wird daher epoetin alfa on hematologic parameters and quality of
life in cancer patients receiving nonplatinum chemotheraein Therapieversuch von py: results of a randomized, double-blind, placebo-conmindestens zweimonatiger trolled trial. J Clin Oncol 2001; 19: 2865–2874. Mit freundlicher Genehmigung Lippincott, Williams & Wilkins, USA.
Dauer empfohlen (12, 22).
 Jg. 99
 Heft 51–52
 23. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
A 3471
M E D I Z I N
´
Tabelle 1
C
´
Ausgewählte randomisierte Studien zum Einfluss von Erythropoetin auf die Hämoglobinkonzentration und die Transfusionsbedürftigkeit von Krebspatienten mit Chemotherapie-assoziierter Anämie (Therapieindikation: Hämoglobin < 10,5 – 11,0 g/dL)
Autoren
Therapie
Patientenzahl
Wochendosis
(U/kg)
Therapiedauer
(Wochen)
Ansprechrate*1
Mittlerer
Hämoglobinanstieg (g/dL)
Transfundierte
Patienten*2
(Prozent)
Mittlere Blutkonservenzahl pro
Patient und Monat*2
Placebo
74
–––
12
14
0,4
27 ! 37
0,7 ! 0,8
Erythropoetin
79
450
12
58
2,3
25 ! 29
0,7 ! 0,5
Placebo
124
–––
12–24
19
0,5
36 ! 40
0,8
Erythropoetin
251
450 ! 900
12–24
71
2,2
28 ! 25
0,5
Placebo
61
–––
12
7
0,4
44 ! 56
1,2 ! 1,0
Erythropoetin
64
450
12
48
2,0
44 ! 27
1,7 ! 0,6
Placebo
76
–––
12
9
0,0
37 ! 47
k. A.
Erythropoetin
69
450 ! 900
12
58
1,8
36 ! 28
k. A.
Placebo
10
–––
16
k. A.
k. A.
0 ! 100
3,3
Erythropoetin
10
450 ! 900
16
k. A.
k. A.
0 ! 90
1,1
Chemotherapie ohne Cisplatin
Abels et al. (2)
Littlewood et al. (41)
Chemotherapie mit Cisplatin
Abels et al. (2)
Multiples Myelom
Dammacco et al. (10)
Pädiatrische Patienten
Porter et al. (56)
*1 Prozentsatz der Patienten mit einem Hämoglobinanstieg 2 g/dL
*2 Prä- ! posttherapeutische Werte
k.A., keine Angabe
pie wurden zahlreiche Phase-2-, -3und -4-Studien durchgeführt. Etwa 50
bis 70 Prozent der Patienten mit manifester Anämie reagierten auf die Behandlung mit einem Anstieg der Hämoglobinkonzentration um 2 g/dL (Tabellen 1, 2). Durch frühzeitigen (präventiven) Einsatz von Erythropoetin
ließ sich das Neuauftreten einer Anämie unter der Chemotherapie erfolgreich verhindern (11). Nach einer Metaanalyse publizierter randomisierter
Studien (Behandlungsdauer: 9 bis 24
Wochen) müssen im Mittel 4,4 Patienten mit Erythropoetin behandelt werden, um eine einzige Bluttransfusion zu
vermeiden (59). Unterschiede zwischen Patienten mit oder ohne Knochenmarkinfiltration, Chemotherapien
mit oder ohne Cisplatin oder pädiatrischen versus erwachsenen Patienten
waren nicht erkennbar (Tabelle 1).
Die Anhebung der Hämoglobinkonzentration führte in der Regel zu
einer Verbesserung der Lebensqualität (2, 10, 12, 20, 22, 41, 54, 57) (Grafik
A 3472
2). Die wissenschaftliche Aussagekraft
der hierzu vorliegenden Studien wurde allerdings in einer kürzlich veröffentlichten Metaanalyse infrage gestellt (4). Tierexperimentelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass die
Chemotherapie bei höheren Hämoglobinkonzentrationen eine stärkere
antineoplastische Wirkung entfalten
könnte (67). In einer im letzten Jahr
veröffentlichten Studie am Menschen
zeigte sich ebenfalls ein Trend zu einer
– statistisch allerdings nicht signifikanten – Lebensverlängerung (41).
Im Hinblick auf die Sauerstoffabhängigkeit der Strahlentherapie verfolgt
die Behandlung oder Prävention einer
Anämie bei radiotherapierten Patienten mit soliden Tumoren das vorrangige Ziel, die Sauerstoffversorgung des
Tumors zu verbessern (28, 63). Zahlreiche retrospektive Studien zeigten
eine Korrelation zwischen dem Vorliegen einer Anämie und einem schlechten Behandlungsergebnis (13, 14, 18,
40, 60). Eine mögliche Erklärung lie-
fert die Vorstellung, dass eine niedrige
Hämoglobinkonzentration zu einer
schlechten Tumoroxygenierung führt,
welche ihrerseits die Wirksamkeit der
Radiotherapie einschränkt. Diese Interpretation wird durch Tierexperimente gestützt, in denen die Behandlung der Anämie durch Bluttransfusionen oder Erythropoetin zu einer
Verbesserung der Sauerstoffversorgung der Tumoren (36, 37) und einer
höheren Wirksamkeit der Strahlentherapie führte (65, 68). Allerdings
ließen sich diese Wirkungen nur bei
sehr kleinen Tumoren nachweisen.
Beim Menschen sind die Auswirkungen der Anämiebehandlung auf
die Wirksamkeit der Strahlentherapie
weniger gut untersucht. Eine viel zitierte randomisierte Studie zeigte für
Zervixkarzinompatientinnen mit unbehandelter Anämie eine höhere
Lokalrezidivrate als für Patientinnen,
deren Anämie durch Bluttransfusionen ausgeglichen wurde (6). Methodische Schwächen dieser Studie ließen
 Jg. 99
 Heft 51–52
 23. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
´
Tabelle 2
C
´
Praxisorientierte Großstudien zum Einfluss von Erythropoetin auf die Hämoglobinkonzentration und die Transfusionsbedürftigkeit
von Krebspatienten mit Chemotherapie-assoziierter Anämie (Therapieindikation: Hämoglobin < 11,0 g/dL)
Patientenzahl*1
Wochendosis
(U)
Therapiedauer
(Wochen)
Ansprechrate*2
(Prozent)
Mittlerer
Hämoglobinanstieg (g/dL)*3
Transfundierte
Patienten*3
(Prozent)
Mittlere Blutkonservenzahl
pro Patient und Monat*3
Glaspy et al. (22)
2030 ! 1187
3 x 10 000 !
3 x 20 000
16
53
1,8
22 ! 10
0,6 ! 0,3
Demetri et al. (12)
2289 ! 1085
3 x 10 000 !
3 x 20 000
16
61
2,0
29 ! 5
1,0 ! 0,2
Gabrilove et al. (20)
2964 ! 1715
1 x 40 000 !
1 x 60 000
16
68
1,8
14 ! 5
0,4 ! 0,1
Autoren
*1 Patientenzahlen zu Beginn ! am Ende der Therapie (vorzeitiger Therapieabbruch/fehlende Abschlussbefunde bei 42 bis 53 Prozent der Patienten).
*2 Prozentsatz der Patienten mit einem Hämoglobinanstieg 2 g/dL (12; 20; 22) oder Erreichen einer Hämoglobinkonzentration von 12 g/dL (12, 20).
*3 Prä- ! posttherapeutische Werte. Eingeschränkte Interpretierbarkeit wegen Zugrundelegung unterschiedlicher Patientenkollektive für die prä- und posttherapeutischen Berechnungen (50).
´
Tabelle 3
´
Ausgewählte Studien zum Einfluss von Erythropoetin (mit oder ohne G-CSF) auf die Hämoglobinkonzentration und die Transfusionsbedürftigkeit von Myelodysplasiepatienten mit Anämie (Therapieindikation: Hämoglobin < 9 – 10 g/dL)
Autoren
Therapie
Patientenzahl
Wochendosis
(U)
Therapiedauer
(Wochen)
Ansprechrate*1
(Prozent)
Mittlerer
Hämoglobinanstieg (g/dL)
Transfundierte
Patienten*2
(Prozent)
Mittlere Blutkonservenzahl pro
Patient und Monat*2
Hellström et al. (32)
Erythropoetin
12
600 ! 3,000
12
17
0,1
67 ! 58
1,1 ! 1,5
Italienische
Studiengruppe (1)
Placebo
Erythropoetin
37
38
–––
1,050
8
8
0
13
–0,3
1,7
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
Negrin et al. (49)
Erythropoetin
+ G-CSF
24
700 ! 2,100
16
29
1,0
92 ! 71
2,6 ! 2,0
Hellström-Lindberg
et al. (30)
Erythropoetin
+ G-CSF
47
500 ! 1,000
10–12
38
k. A.
k. A.
k. A.
Mantovani et al. (44)
Erythropoetin
+ G-CSF
25
600 ! 1,200
36
56
2,2
82 ! 44*3
k. A.
Erythropoetin allein
Erythropoetin + G-CSF
*1 Hämoglobinanstieg 1,5 – 2,0 g/dL oder Verschwinden einer vorbestehenden Transfusionsbedürftigkeit
*2 Prä- ! posttherapeutische Werte
*3 Eingeschränkte Interpretierbarkeit wegen Zugrundelegung unterschiedlicher Patientenkollektive für die prä- und posttherapeutische Berechnung.
k.A., keine Angabe; G-CSF, Granlulozyten-Kolonien-stimulierender Faktor
jedoch Zweifel daran aufkommen,
dass die beobachteten Unterschiede
einer höheren Wirksamkeit der Strahlentherapie zuzuschreiben waren. Eine
„intent to treat“-Analyse ergab keine
signifikanten Überlebensunterschiede
zwischen den beiden Studienarmen
(19).
In Phase-3-Studien bewirkte Erythropoetin bei circa 60 bis 80 Prozent
der strahlentherapierten Patienten einen Hämoglobinanstieg (39, 66). Die
Auswirkungen auf die Tumorbehandlungsergebnisse werden gegenwärtig
untersucht (33). In einer retrospektiven Analyse von Patienten mit KopfHals-Tumoren zeigten Patienten mit
unbehandelter Anämie schlechtere
Behandlungsergebnisse als mit Erythropoetin behandelte Patienten (21).
Die Bestätigung dieser Beobachtung
durch eine prospektive randomisierte
Studie steht aus.
Anämien im Rahmen myelodysplastischer Syndrome sprachen in weniger als 20 Prozent auf eine Erythropoetintherapie an. Durch den gleichzeitigen Einsatz von niedrigdosiertem
 Jg. 99
 Heft 51–52
 23. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
Granulozytenkolonien-stimulierendem Faktor (G-CSF) ließen sich bei
etwa einem Drittel der Myelodysplasie-Patienten Hämoglobinanstiege erreichen (Tabelle 3).
Vorhersage der
Erythropoetinwirkung
Zur Identifikation von Patienten, die
von einer Erythropoetintherapie profitieren könnten, wurden zwei verschiedene Ansätze verfolgt.
A 3473
M E D I Z I N
´
Tabelle 4
C
´
Prädiktive Faktoren für das Ansprechen von Krebspatienten auf eine Erythropoetintherapie
Retrospektiv ermittelte prädiktive Faktoren
Autoren
Patientenzahl
vor Therapie
nach 2-wöchiger Therapie
nach 4-wöchiger Therapie
Myeloische und nichtmyeloische Neoplasien mit oder ohne Chemotherapie
Ludwig et al. (42)
40
Cazzola et al. (8)
48
S-Erythropoetin < 100 U/L
Hämoglobin " 0,5 g/dL
S-Ferritin < 400 ng/mL
S-Erythropoetin < 100 U/L
S-Transferrinrezeptor " 25%
Hämoglobin " 1 g/dL
Retikulozyten " 40,000/µL
Nichtmyeloische Neoplasien mit oder ohne Chemotherapie
Henry et al. (34)
Hämoglobin " 1 g/dL
Retikulozyten " 40,000/µL
206
Multiples Myelom und Non-Hodgkin-Lymphome mit oder ohne Chemotherapie
Cazzola et al. (7)
57
S-Erythropoetin 50 U/L
Österborg et al. (53)
121
S-Erythropoetin < 50 U/L
Hellström-Lindberg (29)
Erythropoetin allein
179
S-Erythropoetin 200 U/L
Keine Transfusionen
Keine RARS
Hellström-Lindberg et al. (31)
Erythropoetin + G-CSF
98
S-Erythropoetin < 100 U/L
< 2 Transfusionen/Monat
Hämoglobin " 0,3 g/dL
Myelodysplastische Syndrome
S-Erythropoetin/S-Ferritin/S-Transferrinrezeptor: Serumkonzentrationen von Erythropoetin/Ferritin/löslichem Transferrinrezeptor;
RARS: Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten; G-CSF: Granulozytenkolonien-stimulierender Faktor
Der erste Ansatz beschäftigte sich
mit der retrospektiven Datenanalyse
von Patienten, die unter einer Chemotherapie eine transfusionsbedürftige
Anämie entwickelten (27, 58, 62).
Hierzu gehörten Patienten mit Leukämien, Lungenkrebs oder bereits vor
Beginn der Chemotherapie manifester
Anämie (62). Als Risikofaktoren für
eine transfusionsbedürftige Anämie
wurden die Faktoren Hämoglobin 12 g/dL, schlechter Allgemeinzustand
und Lymphozyten 700/µL identifiziert (58).
Der zweite Ansatz verfolgte das
Ziel, prädiktive Faktoren für eine erfolgreiche Erythropoetintherapie bei
manifester Anämie zu ermitteln (Tabelle 4). Die Vorhersagemodelle beruhten meist auf kleinen Fallzahlen
und wurden bisher nicht durch prospektive Studien bestätigt. Für verschiedene Patientenkollektive ergaben sich unterschiedliche prädiktive
Faktoren. Selbst bei der Analyse ähnlicher Patientengruppen erwiesen sich
A 3474
die publizierten Modelle zum Teil als
widersprüchlich (31, 34, 42, 44). Ihr
praktischer Wert ist daher beschränkt.
Zu den prätherapeutischen Faktoren,
die zumindest bei einigen Patienten
einen Erfolg der Erythropoetintherapie vorhersagen lassen, gehören eine
inadäquat niedrige Erythropoetinserum-Konzentration und das Fehlen einer Transfusionsbedürftigkeit. Ob ein
mehrere Wochen nach Beginn der
Erythropoetintherapie beobachteter
Hämoglobinanstieg als „prädiktiv“
anzusehen ist, erscheint fraglich.
Kosten- und Kosten-NutzenAnalysen
Mehrere Veröffentlichungen beschäftigen sich mit einem Vergleich der
Kosten der Erythropoetin- beziehungsweise Transfusionstherapie bei Patienten mit therapieinduzierter Anämie.
Trotz unterschiedlicher Ausgangsdaten, Berechnungsmodalitäten und Ge-
sundheitssysteme kommen die in Tabelle 5 zitierten Arbeiten übereinstimmend zu dem Schluss, dass die Kosten
der Erythropoetintherapie weit höher
sind als die der Transfusionsbehandlung (drei- bis 38facher Kostenunterschied).
Für Patienten mit myelodysplastischen Syndromen liegen bisher keine Kostenanalysen vor. Wendet man
den derzeitigen Preis von Erythropoetin laut „Roter Liste“ (10 000 U
= 190 Euro) auf die Daten einer amerikanischen Studie zur Langzeittherapie von Myelodysplasie-Patienten
(48) an, so ist rechnerisch ein Betrag
von 285 000 Euro aufzubringen, um in
einer Gruppe nichtselektierter Patienten in einem einzigen Fall ein Ansprechen von einjähriger Dauer zu beobachten.
Da Erythropoetin in den Vereinigten
Staaten von Amerika nur etwa halb so
viel kostet wie in Deutschland, errechnet sich dort ein Betrag von 150 000
US-Dollar.
 Jg. 99
 Heft 51–52
 23. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
´
Tabelle 5
C
´
Vergleich der Kosten von Erythropoetin und Bluttransfusion zur Prävention und Behandlung von Anämien bei Krebspatienten
Behandlungskosten pro Patient und Monat
Autoren
Land
Datenquelle
Erythropoetin
Bluttransfusion
Kostenverhältnis
Erythropoetin/Transfusion
Chemotherapie-assoziierte Anämie
Sheffield et al. (61)
USA
8 publizierte Studien
2 162 $
747 $
3
Ortega et al. (52)
Kanada
2 publizierte Studien
1 197 $
194 $
6
Barosi et al. (3)
Italien
2 publizierte Studien
1 142 $
52 $
22
Meadowcroft et al. (45)
USA
174 publizierte Artikel
50 Brustkrebspatientinnen
2 161 $
56 $
38
Cremieux et al. (9)
USA
4 publizierte Studien
1 888 $
354 $
5
2 579 $
660 $
4
Radiochemotherapie-assoziierte Anämie
Kavanagh et al. (35)
USA
1 publizierte Studie
12 Zervixkarzinompatientinnen
Zusätzlich zu den Kosten für Erythropoetin (10 000 U = 94 – 125 US-Dollar) und Blutkonserven (1 Konserve = 137 – 422 US-Dollar; Median: 329 US-Dollar) gingen zahlreiche Nebenkosten in die Analyse ein.
Beim derzeitigen Kenntnisstand beschränkt sich der Nutzen der Erythropoetintherapie auf eine Verbesserung der Lebensqualität. Um diesen Nutzen als Geldbetrag auszudrücken, wurden zwei verschiedene
Modelle angewendet. Im ersten Ansatz wurden Krebspatienten gefragt,
welche Summe sie selbst gewillt
wären, für die Vorteile einer dreimonatigen Erythropoetintherapie auszugeben (52). Die durchschnittliche Bereitschaft, sich finanziell zu beteiligen,
deckte weniger als 20 Prozent der tatsächlichen Erythropoetinkosten; nur 4
Prozent der Patienten waren bereit,
den vollen Betrag zu bezahlen.
Im zweiten Ansatz wurde durch
Multiplikation der Lebensjahre mit einem von 0 (Tod) bis 1 (perfekte Gesundheit) reichenden Qualitätskoeffizienten eine Qualitätsanpassung der
tatsächlich verlebten Jahre erreicht
(so genanntes „quality-adjusted life
year“).
Eine qualitativ gute Lebensphase
wurde hierdurch rechnerisch länger
als eine qualitativ schlechte Phase
gleicher zeitlicher Dauer (5, 26). Bei
derartigen Berechnungen ergab sich
für den Hinzugewinn eines einzigen
„quality-adjusted life year“ durch eine Erythropoetinbehandlung ein Preis
zwischen 110 769 und 214 391 USDollar (3, 9).
Schlussfolgerungen
Zur Prävention oder Behandlung von
Anämien bei Krebspatienten können
Erythropoetin oder Bluttransfusionen
verwendet werden. Erythropoetin ist
nahezu nebenwirkungsfrei, jedoch auch
teuer, langsam in seiner Wirkung und
bei einem beträchtlichen Teil der Patienten unwirksam. Bluttransfusionen
sind mit einem geringen Risiko infektiöser, allergischer oder toxischer Komplikationen behaftet, sie sind jedoch kostengünstig und in ihrer prompten Wirkung sehr verlässlich.
Bei vielen Krebspatienten tritt eine
Anämie erst in weit fortgeschrittenen
Stadien auf. Wegen ihrer kurzen
Lebenserwartung werden diese Patienten durch langfristige Transfusionsrisiken nicht gefährdet. Bei anderen
Patienten ist die Anämie ein vorübergehendes therapieinduziertes Problem. Da diese Patienten meist keine
oder nur sehr wenige Bluttransfusionen benötigen, ist das Risiko eines
langfristigen Transfusionsschadens gering. Die Behandlung mit Erythropoetin wäre insbesondere bei Patienten
mit langer Lebenserwartung und chronischer Transfusionsbedürftigkeit attraktiv, zum Beispiel bei prognostisch
günstigen myelodysplastischen Syndromen. Leider sprechen diese Patienten nur selten auf Erythropoetin an.
 Jg. 99
 Heft 51–52
 23. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
Kostenanalysen aus verschiedenen
Ländern kommen übereinstimmend zu
dem Ergebnis, dass die Erythropoetintherapie beträchtlich teurer ist als die
Erythrozytentransfusion. Die Wahl zwischen den beiden Behandlungsmöglichkeiten wird daher in entscheidendem
Maße von ökonomischen Überlegungen
und den finanziellen Ressourcen des
zugrunde liegenden Gesundheitssystems
abhängen.
Manuskript eingereicht: 14. 8. 2002, angenommen:
21. 8. 2002
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 3470–3475 [Heft 51–52]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit5102 abrufbar ist.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Ulrich Dührsen
Klinik für Hämatologie
Universitätsklinikum Essen
Hufelandstraße 55
45122 Essen
E-Mail: [email protected]
A 3475
Herunterladen