pa/Bildagentur Huber Das Bild zeigt die al-Azhar-Moschee und Universität in der Altstadt von Kairo. Die im Jahre 972 n.Chr. gegründete al-Azhar-Universität ist eine der ältesten Ausbildungseinrichtungen Nordafrikas. Sie entwickelte sich zur einflussreichsten Lehrstätte des sunnitischen Islam. Muhammad Abduh (1849-1905), Schüler von Jamal al-Din al-Afghani (1838-1897), studierte und lehrte hier. Zusammen mit seinem Lehrer entwickelte er Ideen für eine Erneuerungslehre, die eine Modernisierung des Islam zum Ziel hatte, ohne dabei für die Wiederherstellung der Einheit von Religion und Politik zu plädieren. Für die Zusammenführung der beiden Sphären setzen sich hingegen fundamentalistische Islamisten ein. Stellvertretend für diese steht die 1928 gegründete Muslimbruderschaft um ihren Gründer Hasan al-Banna (1906-1949), der ebenfalls im Umfeld der al-AzharUniversität anzusiedeln ist. 196 Zur Bedeutung des Islam für Politik und Gesellschaft in Nordafrika Der Islam spielt in Nordafrika, ausgehend von der Eroberung Ägyptens im Jahre 642 und der sich bis Ende des 7. Jahrhunderts hinziehenden Eroberung der Gebiete entlang der Mittelmeerküste bis an den Atlantik, eine zentrale Rolle. Der Islamisierung Nord­ afrikas, die einer Entchristianisierung gleichkam, folgte in Ansätzen auch eine ethnische und sprachliche Arabisierung, die erst im 11. Jahrhundert mit dem Einmarsch der großen arabischen Stämme Banu Sulaiman und Banu Hilal deutlichere Züge annahm. Im westlichen Maghreb (Marokko) fiel allerdings die Arabisierung am geringsten aus; dort ist bis heute die Amazighité (Berbertum) am stärksten ausgeprägt. Nordafrika war bis auf kurze Zeit unter den schiitischen Fatimiden stets Teil des sunnitischen Islam. Politisch-gesellschaftlich bildete sich der Islam seinem Verständnis entsprechend, sowohl Religion zu sein als auch die politische Herrschaft zu gestalten (Islam = Religion und Staat/din wa dawla), seit dem 7. Jahrhundert als dominierende Kraft heraus. Entwickelte staatliche Strukturen in den im Zeitablauf unterschiedlich großen islamischen Reichen waren der Garant der islamischen Ordnung, an deren Spitze der Kalif stand. Die islamischen Religions- und Rechtsgelehrten, die Ulama, wiederum entwickelten die Scharia, also die Pflichtenlehre, die das gesamte religiöse, politische, soziale, häusliche und individuelle Leben der Muslime sowie der im islamischen Staat geduldeten Andersgläubigen regelt. Die Scharia enthält sowohl die eigentlichen Rechtsnormen (primär das Strafrecht, aber auch das Erb- und Familienrecht) sowie die kultischen und religiösen Vorschriften. Als primäre Quelle des islamischen Rechts gilt der Koran. Der Islam bis zur Unabhängigkeit der Staaten Der Islam Nordafrikas ist bei aller Orientierung an der islamischen Gemeinde (Umma), der Befolgung der Pilgerfahrt nach Mekka und der obligatorischen Ausrichtung der Gebete nach Mekka eine stark lokal geprägte Religion. Hierzu trugen die isla197 II. Strukturen und Lebenswelten mischen Universitäten in Kairo, Tunis und Fes sowie berühmte Moscheen, wie die im tunesischen Kairuan, bei. Die islamische Universität al-Qarawiyine im marokkanischen Fes wurde im Jahr 859 gegründet und ist die älteste islamische Universität überhaupt, während die 972 gegründete al-Azhar-Universität in Kairo die bekannteste, renommierteste und einflussreichste sunnitische Lehranstalt wurde. Aber auch die Zaituna-Universität in Tunis hat bedeutende Gelehrte hervorgebracht, die bis heute rezipiert werden. Daneben finden sich im Unterschied zum Nahen Osten in ganz Nordafrika Grabstätten verehrter Lokalheiliger (sog. Marabouts), die Ausdruck der starken sufischen Verwurzelung der Bevölkerung sind, die durch Mitgliedschaft in Zaouias (Versammlungszirkeln) eine individuelle und unmittelbare Bezie­ hung zu Gott sucht. In der Neuzeit sorgte schließlich der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi mit seiner religiösen Neuinterpretation des Islam, der Entmachtung von Religionsgelehrten und der Zurückweisung der Scharia zugunsten positiven Rechts für Aufmerksamkeit und setzte sich dem Vorwurf der Ketzerei durch Saudi-Arabien und islamistischer Gruppen aus. Die islamische Ordnung, deren Hauptkennzeichen die Anwendung der Scharia in ihrer ganzen Bandbreite war, wurde spä­ testens mit der dreijährigen Expedition Napoleons nach Ägypten ab Mai 1798 in Frage gestellt. Napoleons Ägyptenexpedition leitete das koloniale Zeitalter ein: Die europäischen Mächte verstärkten ihre Präsenz in den islamischen Staaten um das Mittelmeer, erpressten Sonderrechte für ihre Staatsbürger und intervenierten schließlich direkt. Vor allem die Gesetzgebung und Rechtsprechung gerieten dadurch unter den Einfluss des Code Napoleon. Dies traf in erster Linie auf das osmanisch beherrschte Beylik Algier zu, das seit 1830 von Frankreich erobert und als Siedlungskolonie in das französische Mutterland integriert wurde. Aber auch in Tunesien und Marokko, die Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts französischen Protektoratsstatus erhielten, wirkte sich der Code Napoleon aus. Gleiches galt für Ägypten, das seit der britischen Besetzung 1882 zum britischen Weltreich gehörte, und für Libyen, das ab 1911 von Italien militärisch erobert und dessen islamische Bevölkerung ihrer Selbstbestimmung beraubt wurde. Auch wenn die Muslime in den nordafrikanischen Staaten weiterhin ihren Kult ausüben 198 pa/Photoshot Zur Bedeutung des Islam für Politik und Gesellschaft Der Islam versteht sich gleichermaßen als Religion wie als staatlichgesellschaftliche Ordnung. Die Scharia ist dabei als Pflichtenlehre angelegt, die das gesamte Leben eines Individuums regelt. Dies garantiert den religiösen Führern die moralische Kontrolle des Einzelnen durch islamische Normen und stabilisiert auf diese Weise ihre eigene religiös-politische Herrschaft. konnten, so war der Einfluss der Scharia auf die Staatsordnung abgeschafft. Der Islam erlebte seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Renaissance, weil unter dem Eindruck der europäischen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Dominanz eine islamische Erneuerungsbewegung einsetzte. Diese ist untrennbar mit dem Iraner Jamal al-Din al-Afghani, in Nordafrika aber vor allem mit dem Wirken seines Schülers, dem im Nildelta geborenen Muhammad Abduh, verbunden. Beide Denker haben im Zusammenwirken mit einer Reihe weiterer Gelehrter den Islam an die Bedürfnisse der sich rasch wandelnden islamischen Gesellschaf­ ten angepasst, ohne für die Wiederherstellung der Einheit von 199 II. Strukturen und Lebenswelten Religion und Politik zu plädieren. Dieses Streben blieb neofundamentalistischen islamistischen Bewegungen vorbehalten, darunter als eine der ersten die in den 1920er-Jahren in Ägypten von Hasan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft, die mit ihrer Forderung nach (Wieder-)Begründung eines islamischen Staates quasi Referenzpunkt aller später entstandenen islamistischen Gruppen wurde. Die islamische Erneuerungsbewegung unterstützte Anfang des 20. Jahrhunderts die in Ägypten und vor allem den drei Maghrebstaaten Algerien, Marokko und Tunesien neu entstehende arabische nationalistische Bewegung. Der Islam wurde Teil ihres antikolonialen Kampfes und stärkte die Identität der Kolonisierten. Das Leitmotiv der maghrebinischen Nationalisten: »Arabisch ist unsere Sprache, der Islam ist unsere Religion, Algerien (Marokko, Tunesien) ist unser Vaterland« geht auf die Symbiose von islamischer Erneuerungsbewegung und Nationalismus zurück. Der Nationalismus war allerdings dem westlichen Nationen­ begriff verhaftet und folgte nicht dem islamischen Verständnis der Umma (religiösen Gemeinde). Nach Erreichen der Unabhängigkeit – Ägypten formal 1922, Libyen 1951, Marokko und Tunesien 1956 und Algerien nach siebenjährigem Befreiungskampf 1962 – verfolgten die Staaten deswegen auch jeweils eine nationale Islampolitik. Der Islam in den postkolonialen Staaten In den postkolonialen Staaten gibt es seit Ende der 1970er-Jahre, verstärkt durch die Islamische Revolution im Iran vom Februar 1979, ein Ringen um das richtige Gesellschaftsmodell. Auf der einen Seite stehen jene Staatsführungen, die in säkular ausgerich­ teten autoritären Staaten kapitalistische und sozialistische Ordnungsmodelle umsetzten, in denen der Islam keine prominente Rolle spielte, sondern nur Referenzpunkt für Einzelmaßnahmen war. So begründete der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser seine Politik sozialer Gerechtigkeit ebenso religiös wie der libysche Revolutionsführer Gaddafi sein 1976 eingeführtes direktdemokratisches System, das ihm zufolge nur den Koranvers »Eure Angelegenheit sei Beratung untereinander« umsetzt. 200 Zur Bedeutung des Islam für Politik und Gesellschaft Auf der anderen Seite stehen islamistische Gruppen wie die Muslimbruderschaft, aber auch die seit den 1970er-Jahren neu gegründeten Gruppen wie beispielsweise die ägyptische Jama’a islamiya (Islamische Gruppe), die tunesische Ennahda (Erneuerungsbewegung), die marokkanische al-Adl wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Wohlfahrt), die algerische Islamische Heilsfront (Front islamique du salut) oder die ostlibysche Jama’a al-islamiya al-Muqatila (Islamische kämpfende Gruppe). Sie wollten die Säkularität der Nationalstaaten abschaffen und – mittels der Einführung der Scharia – wieder islamische Ordnungsprinzipien in Politik und Religion einführen. Ihr Hauptkredo ist die Parole »Der Islam ist die Lösung«. Beide Seiten erheben den Anspruch auf die Wahrheit ihres Gesellschaftsmodells und ringen seit den 1970er-Jahren, teilweise militant unter Einsatz von Waffengewalt, um die Vorherrschaft und die richtige islamische Deutungshoheit. Der Staat und seine Religionspolitik Die nordafrikanischen Staaten verfolgen alle, unabhängig von ihrer Staatsform, seit der Unabhängigkeit eine ausgeprägte Religions- bzw. Islampolitik. Sie unterscheiden sich jedoch deutlich voneinander sowohl hinsichtlich der konstitutionellen Verankerung der Religion als auch der religiösen Institutionen. In allen Verfassungen wird der Islam zur Staatsreligion erklärt und das Arabische als Amtssprache festgelegt; zugleich muss der Staatspräsident in Tunesien und Algerien Muslim sein, in Ägypten gilt dies wegen der koptischen Minderheit zwar nicht de jure, aber de facto. In der marokkanischen Verfassung ist festgeschrieben, dass der »König, Kommandeur der Gläubigen, über die Achtung des Islam und der Verfassung wacht«. Die weiteren Regelungen sind länderspezifisch angepasst, wobei in den Verfassungen von Tunesien und Algerien der Bezug auf den Islam am geringsten ausfällt. In Algerien werden aber die Institutionen aufgefordert, Praktiken zu unterlassen, die der islamischen Moral widersprechen. In Marokko wird die Person des Königs für unverletzlich erklärt und die monarchi­sche Staatsform sowie die Bestimmungen zur islamischen Reli­gion 201 II. Strukturen und Lebenswelten können keiner Verfassungsänderung unterworfen werden. In der ägyptischen Verfassung gibt es den stärksten Islambezug aller Republiken in Nordafrika, weil nicht nur in Artikel 2 die Prinzipien der Scharia als die Hauptquelle der Gesetzgebung genannt werden, sondern auch postuliert wird, dass die »Familie die Grundlage der Gesellschaft ist und auf Religion, Moral und Patriotismus beruht«; zudem wird die religiöse Erziehung als grundlegender Bereich im Rahmen der Allgemeinbildung eingestuft. In Libyen, wo es statt einer Verfassung nur eine 1977 verabschiedete kurze Proklamation der Volksmacht gibt, wird zwar der Koran zur Rechtsgrundlage des Staates erklärt, die Neuinterpretation koranischer Aussagen im Lichte der Gegenwart aber den lokalen Volkskonferenzen überlassen, die sich an Gaddafis Interpretation orientieren. Hinsichtlich der institutionellen Ausprägung gilt: Während in Marokko der König, seit 1999 König Mohammed VI., nicht nur weltlicher Herrscher ist, sondern zugleich als »Kommandeur der Gläubigen« fungiert, liegt in den Republiken die religiöse Führerrolle nicht bei den Präsidenten, sondern ist an Organe delegiert und unterschiedlich geregelt. In Tunesien ernennt der Staatspräsident den Mufti der Republik, also die Person, die zusammen mit seinem Diwan (Büro) oberste Kompetenz beim Erstellen von Fatwas (Rechtsgutachten) hat; gleiches gilt für Ägypten. In Algerien gibt es hingegen keinen Mufti, sondern nur vom Religionsministerium ernannte Imame (religiöse Vorbeter), während Fragen zur religiösen Rechtmäßigkeit politischer Entscheidungen vom Höchsten Islamischen Rat, einem kollektiven Verfassungsorgan, beantwortet werden. Libyen wiederum kennt weder einen Mufti noch einen Höchsten Islamischen Rat, allerdings konzipierte Revolutionsführer Gaddafi seit 1978 in verschiedenen Reden seine neue Islampolitik; er vermischte bei vielen Anlässen, nicht nur an religiösen Feiertagen, das Amt des weltlichen Herrschers mit dem des Imam. Wenngleich die aus Mufti, Höchstem Islamischen Rat, Religionsministerium, islamischen Hochschulen usw. gebildete institutionelle Ordnung des religiösen Sektors in allen fünf nordafrikanischen Staaten unterschiedlich ausfällt, so ist der staatliche Monopolanspruch zur Ausgestaltung des religiösen islamischen Raumes unverkennbar. 202 Jemen Anerkennen Zaid († 740) als 5. und letzten Imam. Tolerante Richtung. Ablehnung der Auseinandersetzung zw. Mu‘awiya (Sunnit) und Ali (Schiit) um das Kalifenamt; Begründung einer eigenen Lehre ab 657. Oman, Libyen und Algerien Zaiditen ca. 6 Mio. Indien, Ostafrika und Tadschikistan Anerkennen Ismail († 760) als 7. und letzten Imam. Geheimlehren. Oberhaupt Aga Khan. Ismailiten ca. 15 Mio. Alawiten ca. 2 Mio. Syrien, Türkei Abspaltung 872. Verehren Ali als Gott. Geheimlehre. Schiiten ca. 130 Mio. Libanon und Syrien Iran und Nachbarländer, Aserbaidschan und Südkaukasus 05384-10 © MGFA Geheimlehre des ad-Darasi († 1019). Erklärte den Fatimidenkalifen Hakim für göttlich. Werden von den anderen nicht als Muslime anerkannt. Drusen ca. 0,6 Mio. Anerkennen Mohammed ibn Hassan (bis 873) als 12. und letzten Imam. Er lebt im Verborgenen weiter und wird als Erlöser (Mahdi) wiederkommen. Imamiten ca. 105 Mio. Ab 656 Partei (Schia) Alis, des Schwiegersohns Mohammeds (4. Kalif). Schiiten erkennen nur Nachkommen Mohammeds und Alis als Oberhaupt (Imam) an. Später Entwicklung besonderer Rituale und Lehrinhalte. Die verschiedenen Richtungen unterscheiden sich insbesondere durch die Zahl der anerkannten Imame. Charidschiten ca. 1 Mio. Quelle: IzpB aktuell, 2002; Themenheft: Islam und Politik. Asien und Afrika 8 bis 20 Mio. Aleviten in der Türkei: weltlich orientierte Gemeinschaft mit schiitischen Einflüssen Die Sunna ist die orthodoxe Hauptrichtung des Islam. Richtschnur sind Koran, Brauch (Sunna) und Überlieferung (Hadith). Fundamentalistische Bewegungen, u.a.: Wahhabiten in Saudi-Arabien, Senussi in Libyen Sunniten ca. 750 Mio. Glaubensrichtungen des Islam Lehrtätigkeit des Propheten Mohammed 610 bis 632. Offenbarung des Koran Zur Bedeutung des Islam für Politik und Gesellschaft 203 II. Strukturen und Lebenswelten Der Staat sorgt erstens für die materielle Infrastruktur, also den Bau der Moscheen und der religiösen Ausbildungsstätten, insbesondere die Bereitstellung der islamischen universitären Ausbildungszweige; hierzu zählen die al-Azhar-Universität in Kairo, die Fakultät für islamische Mission in Tripolis, die tunesi­sche Zaituna-Universität, die religiöse Hochschule in Constantine, die Qarawiyine in Fes. Der Staat sorgt zweitens für die Ausbildung und die Rekrutierung des notwendigen Moscheepersonals, also Freitagsprediger, Imame und Muezzine. Drittens sind die allesamt autoritären Staaten stets bemüht gewesen, den religiö­ sen Diskurs, also die Predigtinhalte, zu überwachen. Zum einen sollte Propaganda der Prediger zugunsten islamistischer Islamvorstellungen und dadurch die Bildung islamistischer Gruppen vermieden werden, zum anderen durch Handbücher aus dem Religionsministerium, die von den Imamen bei der Ausarbeitung ihrer Predigten obligatorisch zu konsultieren waren, dafür gesorgt werden, dass in den Predigten die staatlichen Modernisierungsziele nicht unterlaufen wurden. Die islamistischen Bewegungen Die staatliche Islampolitik wird von den Protagonisten einer Reislamisierung der Gesellschaften gemäß den Vorstellungen der islamischen Frühzeit und der ersten rechtgeleiteten Kalifen abgelehnt, weil sie zu säkular ausgerichtet ist und keine Wiedereinführung der Scharia betreibt. Die islamistische Bewegung ihrerseits kämpft in allen nordafrikanischen Staaten auf zweierlei Weise für ihr Fernziel: zum einen politisch, sei es in Form politischer Parteien oder ziviler Vereinigungen, zum anderen militant unter Einsatz bewaffneter Gewalt; oftmals werden die Mitglieder der bewaffneten Gruppen als Jihadisten (Gotteskrieger) bezeichnet. Dabei gab es Perioden, in denen islamistische Gruppen zweigleisig agierten; das heißt in der Öffentlichkeit wurde das Bild einer moderaten, Gewalt ablehnenden Organisation gepflegt, während im Untergrund ihre bewaffneten Zellen aktiv waren. So verhielten sich zum Beispiel in den 1980er- und 1990erJahren die tunesische Ennahda und die algerische Islamische Heilsfront. 204 Zur Bedeutung des Islam für Politik und Gesellschaft In Marokko und Algerien wurden nach anfänglicher rigoroser Verfolgung der islamistischen Gruppen ab den 1990er-Jahren einzelne islamistische Parteien wie die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la justice et du développement, PJD; Marokko) legalisiert. In Tunesien, Libyen und Ägypten blieben islamistische Parteien hingegen verboten; die ägyptischen Muslimbrüder wurden zwar als Organisation toleriert, konnten hingegen keine Partei gründen und bei den Parlamentswahlen nur als unabhängige Kandidaten antreten. Bewaffnete Auseinandersetzungen mit islamistischen Gruppen gab es vor allem in den 1990er-Jahren, als viele nordafrikanische Jihadisten, die auf Seiten des afghanischen Widerstandes gegen die sowjetische Besatzung kämpften, nach dem sowjeti­ schen Abzug 1989 bzw. dem Sieg der Taliban in ihre Heimatländer zurückkehrten, wo sie ab 1991/92 den bewaffneten Kampf gegen die in ihren Augen gottlosen Regime aufnahmen, indem sie bestehende Gruppen radikalisierten oder neue Formationen gründeten. Die algerische Bewaffnete islamische Gruppe (Groupe islamique armé, GIA), die libysche Islamische Kampfgruppe, die Bewegung der libyschen Märtyrer oder auch der ägyptische Islamische Jihad sind hierfür Beispiele. Allerdings konnten die Sicherheitskräfte in den meisten Staaten die islamistischen Gruppen im Laufe der Jahre – unter massiver Verletzung der Menschenrechte – zerschlagen. Ausnahme war Algerien, wo sich die islamistische Terrorgruppe Salafitische Gruppe für Predigt und Kampf (Groupe salafiste pour la prédication et le combat, GSPC), die ihre Wurzeln in der GIA hat, halten konnte und sich im Ja­nuar 2007 in »al-Qaida im islamischen Maghreb« umbenannte. Diese Umbenennung dokumentiert den Anspruch, über Algerien hinaus im gesamten maghrebinisch-sahelischen Raum die führende islamistische Organisation zu sein, die für die Umsetzung eines islamischen Ordnungsmodells kämpft. De facto hat aber al-Qaida im islamischen Maghreb keine Chance, ihr politisches Ziel zu erreichen, weil eine Massenbasis fehlt. Die Anschläge auf Sicherheitskräfte oder zuletzt der am 28. April 2011 verübte Bombenanschlag auf das von westlichen Touristen besuchte Restaurant Argana in Marrakesch tun ein Weiteres, um die Organisation ins politische Abseits zu manövrieren. Durch die Verwicklung in den transsaharischen Drogenhandel und die 205 II. Strukturen und Lebenswelten Entführung westlicher Staatsbürger mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen, trägt die Gruppe deshalb eher kriminelle Züge denn solche einer politischen Organisation. Die arabischen Revolutionen 2011: Neue Handlungsspielräume Die politischen Umbrüche in Nordafrika, die am 14. Januar 2011 zur Flucht des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali und am 11. Februar zum Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak führten, aber auch in Algerien und Marokko eine Beschleunigung der politischen Reformen auslösten, hatten in Tunesien und Ägypten eine Neuordnung der politischen Landschaft zur Folge. Der Wegfall der staatlichen Kontrollobsession und die Liberalisierung des politischen Lebens erleichterte in Tunesien und Ägypten die Legalisierung zahlreicher politischer Parteien, darunter auch islamistische Parteien, wie in Ägypten die Wasat-Partei oder die Partei Freiheit und Gerechtigkeit der Muslim­brüder sowie in Tunesien die Partei Ennahda von Rachid Ghannouchi. In diesen beiden Staaten einschließlich dem seit Februar 2011 von der Herrschaft Gaddafis befreiten Ostlibyen befinden sich derzeit die islamistischen Gruppen und Parteien in einem Prozess der Reorganisation und des Auf- sowie Ausbaus ihrer Strukturen, um bei den bevorstehenden Parlamentswahlen möglichst gut abzuschneiden. Insofern die bisherigen Staatsparteien in Tunesien und Ägypten inzwischen verboten wurden, stehen die Chancen hierfür nicht schlecht, so dass sich in der lokalen Presse Berichte häufen, die vor der »Islamisierung« Tunesiens und Ägyptens und ihren Folgen warnen, und es in Tunis bereits zu Protesten von säkularen Frauenorganisationen kam. Berichte vom März und April 2011 weisen darauf hin, dass es erste Übergriffe auf Imame, die zu tolerant predigten, auf Künstler (Vorwurf »unislamischer Kunst«) und Prostituierte (»unmoralischer Lebenswandel«) gab. Aber auch Übergriffe auf Christen – Mord an einem Priester in Tunesien, Übergriffe auf Kopten in Ägypten 206 pa/dpa Zur Bedeutung des Islam für Politik und Gesellschaft Am 11. Februar 2011 musste Präsident Hosni Mubarak zurücktreten. Das Vakuum, das seine Herrschaft hinterließ, droht sich mit radikalen Kräften zu füllen. – scheinen sich zu häufen, so dass die ägyptische Presse die Kopten als »Verlierer der Revolution« bezeichnet. Die seit einigen Jahren von Denkern wie Nasr Abu Zaid, ­Mohamad Talbi oder Mohamed Arkoun angestoßene Reformdebatte im Islam wird durch das sich abzeichnende Erstarken der Islamisten eingeengt, obwohl sich insgesamt die Handlungsspielräume des nichtstaatlichen Sektors gegenüber der Staatsgewalt erweitert haben. Hanspeter Mattes 207