zu 4.3 Radikalität des modernen Funktionsbegriffs

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October 22, 2013
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EINFÜHRUNG IN DAS MATHEMATISCHE ARBEITEN
zu 4.3
Radikalität des modernen Funktionsbegriffs
Michael Grosser
Der moderne“ Funktionsbegriff (Peter Gustav Lejeune Dirichlet, 1837) ist
”
äußerst radikal: Die Zuordnung der Funktionswerte braucht keiner wie immer
gearteten Gesetzmäßigkeit zu folgen, sie kann absolut willkürlich sein!
Bei kleinen endlichen Mengen kann man sich unter einer willkürlichen Funktion noch etwas vorstellen:
Hier gibt es 32 = 9 solche willkürliche“ Funktionen. (Eine Gesetzmäßig”
”
keit“, die diese Willkürlichkeit einschränkt, wäre etwa: Bei obiger Anordnung
der Elemente dürfen sich die Pfeile nicht überkreuzen; dies ließe von unseren
vorherigen neun willkürlichen“ Funktionen nur mehr drei übrig.)
”
Eine willkürliche“ Funktion f : N → N kann man sich gerade noch als
”
die Folge natürlicher Zahlen f (0), f (1), f (2), . . . vorstellen; die Frage ist allerdings, ob eine solche willkürliche“ Funktion/Folge überhaupt kommuni”
zierbar ist: Eine Regel, nach der die Werte bestimmt werden, darf man ja
keine nennen, und ein Menschenleben reicht nicht aus, um unendlich viele willkürlich gewählte Funktionswerte zu kommunizieren. Falls man unter
willkürlich“ überdies ganz streng versteht, dass eine menschliche Person je”
den der Werte aus Tageslaune heraus beliebig festgelegt hat, dann gibt es
eine willkürliche Funktion auf N eigentlich gar nicht, und genaugenommen
auch schon nicht auf einer endlichen Menge mit, sagen wir, 1015 Elementen,
denn wann und wie sollen alle diese 1015 menschlichen Wahlakte tatsächlich
getroffen werden?
Bei f : R → R schließlich kann man sich den Graphen einer willkürlichen“
”
Funktion gar nicht mehr vorstellen (a):
(a)
und so weiter“
”
(b)
Eine Funktion der Art (b), wie wir sie immer aufzeichnen, ist viel zu schön“
”
für eine beliebige“ Funktion, sie ist nicht mehr willkürlich“, sondern ste”
”
tig, meist sogar differenzierbar etc. Solche schönen“ Funktionen bilden nur
”
EmA: Implikation
22. Oktober 2013
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eine verschwindend kleine Minderheit unter allen (= den willkürlichen“)
”
Funktionen — siehe den Nachsatz.
Für den berühmten Mathematik Leonhard Euler (1707–1783) war eine Funktion noch durch einen anständigen“ Formelausdruck gegeben: Eine Funkti”
”
on einer veränderlichen Zahlgröße ist ein analytischer Ausdruck [was ist das
genau?], der auf irgend eine Weise aus der veränderlichen Zahlgröße und
aus eigentlichen Zahlen oder aus konstanten Zahlgrößen zusammengesetzt
ist“ (zitiert nach Horst Hiescher, Zur Geschichte des Funktionsbegriffs).
Aber auch schon die Zahlenwerte jeder empirisch erhobenen Tabelle befolgen
im Allgemeinen kein (formelmäßiges) Gesetz“; allerdings haben wir es im
”
Falle einer Tabelle wiederum mit endlichem Definitionsbereich zu tun, haben
also keine Vorstellungsprobleme beim Begriff einer willkürlichen“ Funktion.
”
Angesichts dieser Lage ist auch die Definition einer Funktion als Zuord”
nungsvorschrift“ nicht ideal für den modernen Funktionsbegriff, denn Vor”
schrift“ klingt viel zu sehr nach Gesetzmäßigkeit“. Erst der mengentheo”
retische Funktionsbegriff (mit Graph(f ) ⊆ X × Y ) entspricht wirklich der Radikalität des Dirichletschen Konzepts: Solange man nur die
bekannte Funktionsbedingung“ einhält, gemäß der der Graph von f für je”
des Element des Definitionsbereichs genau ein Paar mit ebendiesem Element
als erste Komponente enthält, kann der Graph von f : X → Y tatsächlich
eine beliebige“ (= willkürliche) Teilmenge von X × Y sein.
”
Nachsatz. Die Cantorsche Arithmetik unendlicher Kardinalzahlen zeigt, das es erdrückend mehr beliebige Funktionen f : R → R gibt als stetige solche Funktionen.
Beweis: Sei c die Mächtigkeit von R. Die Menge aller Funktionen f : R → R hat
dann die Mächtigkeit1
|RR | = |R||R| = cc = (2ℵ0 )c = 2ℵ0 ·c = 2c .
Eine stetige Funktion g : R → R ist schon durch ihre Einschränkung g|Q auf Q
eindeutig bestimmt (oB), daher bestimmen wir zunächst einmal die Mächtigkeit
der Menge der beliebigen“ Funktionen von Q nach R:
”
c ≤ |RQ | = |R||Q| = cℵ0 = (2ℵ0 )ℵ0 = 2ℵ0 ·ℵ0 = 2ℵ0 = c,
woraus |RQ | = c folgt; die erste Ungleichung in der obenstehenden Kette kommt
daher, dass für jede reelle Zahl α die konstante Funktion gα : Q → R mit Wert α
in RQ vorkommt. Somit erhalten wir insgesamt
|Stetige Fkt.: R → R| ≤ |RQ | = c < 2c = |RR |,
wobei in der letzten Gleichung das Kleinerzeichen in Wirklichkeit gigantisch viel
”
kleiner“ bedeutet.
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Wir verwenden im Folgenden die Gleichungen 2ℵ0 = c , ℵ0 · c = c und ℵ0 · ℵ0 = ℵ0 .
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