MEDIZIN EDITORIAL Das unauffällige EKG des Hochdruckpatienten trügt Karl Werdan Zu dem Artikel „Aussagekraft der Elektrokardiografie in der Diagnostik der linksventrikulären Hypertrophie bei Hypertonikern“ von Daniel Pewsner et al. auf den folgenden Seiten J eder dritte Hochdruckpatient hat eine linksventrikuläre Hypertrophie (LVH), je höher der Blutdruck, desto größer die Wahrscheinlichkeit (1), so Pewsner et al. in dem folgenden Artikel, der zeitgleich im British Medical Journal und im Deutschen Ärzteblatt erscheint*1. Der behandelnde Arzt sollte bei jedem Hochdruckkranken wissen, ob er eine Linksherzhypertrophie hat. Diese wird als linksventrikuläre Muskelmasse > 125 g/m2 für Männer und > 110 g/m2 für Frauen definiert entsprechend den aktuellen Hochdruckleitlinien von 2007 der europäischen Hochdruck- und Kardiologie-Gesellschaft. Diagnostisch am häufigsten angewandt wird derzeit die zweidimensionale (2-D)-Echokardiografie mit einer hohen Treffsicherheit (2). Bei den wenigen Patienten, bei denen die Echokardiografie keine ausreichende Information liefert, kann die Kernspintomografie – der zukünftige Goldstandard neben der 3-D-Echokardiografie – angewendet werden (2, 3). Hohe Prävalenz mit steigenden Folgekosten Medizinische Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Universitätsklinikum Halle der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg: Prof. Dr. med. Werdan A 2730 Hochdruck ist eine Volkskrankheit, denn es gibt 16 Millionen betroffene Patienten alleine in Deutschland, die jährliche Kosten von 8,1 Milliarden Euro verursachen. Herz, Hirn und Nieren sind die leidtragenden Organe des Hochdrucks. Für das Herz des Hochdruckpatienten ist die Entwicklung einer linksventrikulären Hypertrophie (LVH) (1) zunächst einerseits ein vernünftiger Kompensationsmechanismus des Herzens, um mit der Hochdruckbelastung fertig zu werden (4). Andererseits ist sie aber auch ein unabhängiger kardiovaskulärer Risikoprädiktor und ein Alarmsignal, denn es drohen: Entwicklung einer hypertensiven Herzerkrankung mit Auftreten einer diastolischen und systolischen Dysfunktion und Herzinsuffizienz Vorhofflimmern maligne Rhythmusstörungen Herzinfarkt plötzlicher Herztod. Liegt die 10-Jahres-Sterblichkeit des Hypertonikers ohne Myokardhypertrophie bei 1 %, so steigt sie bei Wandverdickungen ohne signifikante Erhöhung *1 Die deutsche Fassung ist eine Übersetzung der englischen Publikation. Die Zusammenarbeit mit dem British Medical Journal soll in loser Folge fortgesetzt werden. der Myokardmasse auf 6 %, bei Myokardhypertrophie und Zunahme der linksventrikulären Masse auf 10 % und bei konzentrischer und exzentrischer Hypertrophie auf 24 % (5). Die Regression der Linksherzhypertrophie reduziert das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse (1, 6–8); bei Hochdruckpatienten scheint dies – bei uneinheitlicher Datenlage (9) – am besten mit ACE-Hemmern, Angiotensin-Rezeptorblockern und Calciumantagonisten erreichbar (1, 7). Mit dieser gezielten Hochdrucktherapie allein ist es jedoch bei Patienten mit hypertensiver Herzerkrankung nicht getan: Eine Mitbetreuung durch den Internisten und Kardiologen gehört dazu. Echokardiografie versus Elektrokardiografie Muss man demzufolge bei jedem Patienten mit der Volkskrankheit „Hochdruck“ in regelmäßigen Abständen eine Echokardiografie durchführen? Die Betreuung der Hochdruckkranken liegt ganz überwiegend bei Allgemeinmedizinern, die Echokardiografie ist dagegen eine Untersuchungsmethode des Kardiologen, bei Nicht-Kardiologen wird bei deren Anwendung der Nachweis der Fachkunde „Echokardiografie“ erwartet. Muss es denn die Echokardiografie sein? Schließlich gibt es auch die Elektrokardiografie, die jeder Allgemeinmediziner und Internist einsetzen kann. In allen Lehrbüchern finden sich zahlreiche EKGKriterien der LVH, wobei in Deutschland vor allem der Sokolow-Lyon-Index zur Erkennung der LVH eingesetzt wird. Auch die aktuellen Hypertonie-Leitlinie empfiehlt bei allen Hochdruckpatienten die Bestimmung des Sokolow-Lyon-Index (SV1 + RV5–6 > 38 mm) oder des Cornell-Produkts ([HRaVL + HSV3] × QRS-Dauer > 2 440 mm x ms) zum Nachweis einer LVH. Sensitivität und Spezifität der elektrokardiografischen LVH-Zeichen Zahlreiche kleinere Studien (zum Beispiel [3]) haben gezeigt, dass man bei positiven Sokolow-Lyon- oder Cornell-Kriterien im EKG von einer höhergradigen LVH ausgehen kann. Die Spezifität beträgt etwa 90 % (3). Diese Kriterien können durchaus prognostische Bedeutung haben (8, 10). Entscheidend aber ist, dass, wenn die EKG-Kriterien beim Hochdruckpatienten ⏐ Jg. 104⏐ ⏐ Heft 40⏐ ⏐ 5. Oktober 2007 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN nicht nachgewiesen werden konnten, eine LVH keineswegs auszuschließen ist. Denn mithilfe des EKG wird nur jeder dritte Hochdruckpatient mit LVH und nur jede fünfte Hochdruckpatientin mit LVH erkannt und kann somit der erforderlichen Betreuung zugeführt werden. Die Sensitivität beträgt für Männer etwa 30 %, für Frauen circa 20 % (3). Nun könnte man argumentieren, dass die geringe Sensitivität nur auf den Sokolow-Lyon-Index zutrifft. Aber immerhin, so Pewsner et al. in ihrem Beitrag, gibt es mehr als 30 verschiedene EKG-HypertrophieIndizes, und immer wieder – auch 2007 – findet man Publikationen, die aufzeigen, dass der eine Index besser als der andere sei (8, 10). Dass diese Hoffnung unberechtigt ist, zeigen Pewsner et al. in der systematischen Auswertung der Literaturdaten. Die Autoren haben 1 761 Zitate und 21 Studien mit 5 608 Patienten der 6 verbreitetsten EKGLinksherzhypertrophie-Indizes gesichtet und analysiert. Sie kommen zu folgendem Ergebnis: Alle EKG-Linksherzhypertrophie-Indizes sind nicht in der Lage, mit ausreichender Sicherheit eine Linksherzhypertrophie bei Hochdruckpatienten auszuschließen. Sie besitzen zwar alle eine hohe Spezifität (Medianwert 89 % bis 99 %), aber bedauerlicherweise nur eine geringe Sensitivität (Medianwert 10,5 bis 21 %). Echokardiografie Methode der Wahl für LVH-Screening und Verlaufkontrolle Zugegeben, das Wissen um die geringe Sensitivität der LVH-Kriterien ist nicht neu, und viele Ärzte haben sich schon bisher nicht auf ein unauffälliges EKG verlassen und mit der Echokardiografie nach der LVH bei ihren Hochdruckpatienten gesucht. Die vorliegende systematische Literaturanalyse erhöht den Evidenzgrad und bestärkt demzufolge die Meinung, dass das EKG als LVH-Screening bei Hypertonikern ungeeignet ist. Methode der Wahl für LVH-Screening und LVH-Verlaufskontrolle beim Hochdruckpatienten ist nicht das EKG, sondern die Echokardiografie! Im Interesse der Hochdruckpatienten wäre es auch wünschenswert, dies deutlicher in den HochdruckLeitlinien formuliert zu sehen, selbst wenn man derzeit noch nicht weiß, in welchem Ausmaß Morbidität und Letalität der Hochdruckpatienten dadurch reduziert werden können und auch Kosten-Nutzen-Analysen dazu noch fehlen. Qualifizierte Versorgungsforschung könnte diese Daten liefern. Bis dahin: im Zweifel, zugunsten des Patienten. 2. Lenstrup M, Kjaergaard J, Petersen CL, Kjaer A, Hassager C: Evaluation of left ventricular mass measured by 3D echocardiography using magnetic resonance imaging as gold standard. Scand J Clin Lab Invest 2006; 66: 647–58. 3. Alfakih K, Walters K, Jones T, Ridgway J, Hall AS, Sivananthan M: New gender-specific partition values for ECG criteria of left ventricular hypertrophy – recalibration against cardiac MRI. Hypertension 2004; 44: 175–9. 4. Chinali M, De Marco M, D'Addeo G, Benincasa M, Romano C, Galderisi M, de Simone G: Excessive increase in left ventricular mass identifies hypertensive subjects with clustered geometric and functional abnormalities. J Hypertension 2007; 25: 1073–8. 5. Koren MJ, Devereux RB, Casale PN et al.: Relation of left ventricular mass and geometry to morbidity and mortality in uncomplicated essential hypertension. Ann Intern Med 1991; 114: 345–52. 6. Kannel WB, d'Agostini RB, Levy D, Belanger AR: Prognostic significance of regression of left ventricular hypertrophy. Circulation 1988; (Suppl. 2): 78. 7. Okin PM, Devereux RB, Jern S et al.: Regression of electrocardiographic left ventricular hypertrophy by losartan versus atenolol: The LIFE Study. Circulation 2003; 108: 684–90. 8. Okin PM, Wachtell K, Devereux RB et al.: Regression of electrocardiographic left ventricular hypertrophy and decreased incidence of new-onset atrial fibrillation in patients with hypertension. JAMA 2006; 296: 1242–8. 9. Solomon SD, Janardhanan R, Verma A et al.: For the Valsartan In Diastolic Dysfunction (VALIDD) Investigators: Effect of angiotensin receptor blockade and antihypertensive drugs on diastolic function in patients with hypertension and diastolic dysfunction: a randomized trial. Lancet 2007; 369: 2079–86. 10. Palmieri V, Okin PM, de Simone G et al.: Electrocardiographic characteristics and metabolic risk factors associated with inappropriately high left ventricular mass in patients with electrocardiographic left ventricular hypertrophy: The LIFE study. J Hypertension 2007; 25: 1079–85. Unremarkable ECGs in Hypertensive Patients can Mislead Prof. Dr. med. Karl Werdan Medizinische Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III Universitätsklinikum Halle der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Ernst-Grube-Straße 40 06096 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] @ The English version of this article is available online: www.aerzteblatt.de/english Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht 22. 7. 2007, angenommen 22. 7. 2007 LITERATUR 1. Lip GYH, Felmeden DC, Li-Saw-Hee FL, Beevers DG: Hypertensive heart disease. European Heart J 2000; 21: 1653–65. ⏐ Jg. 104⏐ ⏐ Heft 40⏐ ⏐ 5. Oktober 2007 Deutsches Ärzteblatt⏐ A 2731