Darstellendes Spiel Schuljahr 2013/14

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Irmgard Bibermann
30 Jahre Darstellendes Spiel am Abendgymnasium Innsbruck: Theater als
Lern- und Experimentierfeld für die Entfaltung persönlicher und sozialer
Kompetenzen
Ein außergewöhnliches Fach
Seit dem Schuljahr 1984/85 steht auf Initiative von Direktor Gerhard Brandhofer die
unverbindliche Übung Darstellendes Spiel mit zwei Wochenstunden auf dem
Schulprogramm. Die Abendschule Innsbruck war damit das einzige Gymnasium für
Berufstätige, das seinen Studierenden ein derartiges Fach zur Förderung und Entwicklung der
persönlichen Ausdrucks- und Präsentationsfähigkeit innerhalb des schulischen Rahmens
anbot.
Darstellendes Spiel an einem Gymnasium für Berufstätige ist etwas Außergewöhnliches,
allein schon deshalb, weil es keineswegs selbstverständlich ist, dass berufstätige Studierende
neben Arbeit, Schulbesuch und oft auch Familie freiwillig an zusätzlichen Terminen, meist
am Wochenende, in die Schule kommen, um Theater zu spielen. Außerdem sind die
TeilnehmerInnen an der unverbindliche Übung bereit, sich auf neue Methoden einzulassen,
dabei bisweilen über ihren Schatten zu springen und im Falle einer Aufführung konzentriert
und diszipliniert an einem vorzeigbaren Produkt zu arbeiten.
Theater am Abendgymnasium ist Volkstheater1.
In der Theatergruppe passiert Volkstheater im Sinne von Augusto Boal: Theater mit
Menschen aus dem Volk für Menschen aus dem Volk. Theater ist für den „Vater“ des
„Theaters der Unterdrückten“ keine kulturelle Veranstaltung, die an einen bestimmten Ort
gebunden ist, von wenigen SchauspielerInnen veranstaltet wird und einem vorwiegend
intellektuellen Publikum zur Erbauung dient. Nach Boal besitzt jeder Mensch die Fähigkeit,
Theater zu spielen, jeder Ort – ob Bahnhof, Kaffeehaus oder Supermarkt – kann zum
Spielplatz werden. Inhalte dieses Theaters sind die Alltagserfahrungen und alltäglichen
Lebenssituationen der Mitwirkenden.2
Am Innsbrucker Abendgymnasium spielen Menschen im Alter von 17 bis 70, aus
verschiedenen Nationen mit verschiedenen Muttersprachen, unterschiedlichem kulturellen,
religiösen, sozialen Hintergrund zusammen und zeigen alljährlich ihre neuen Spielergebnisse.
An der Theaterwerkstatt nehmen auch Lehrende und AbsolventInnen teil und lassen sich
gemeinsam mit den Studierenden auf szenische Lernprozesse ein. Unsere Aufführungen sind
kein elitäres Theaterereignis für ein vorwiegend bildungsbürgerliches Publikum, sondern eine
wichtige Säule der Schulkultur und ein theatraler Fixpunkt für interessierte ZuschauerInnen
aller Bildungsschichten aus unserem näheren und weiteren Umfeld.
1
Vgl. Artikel von Irmgard Bibermann: Ja, ich mache Volkstheater, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik.
Korrespondenzen. Volkstheater – Bürgertheater 58 (2011), S. 11-12.
2
Ingeborg Altstaedt / Dietlinde Gipser: Animationstheater in der Sozial- und Behindertenpädagogik?, in: Bernd
Ruping (Hrsg): Gebraucht das Theater. Die Vorschläge von Augusto Boal, Lingen-Remscheid 1991, S. 33.
Die Stücke, die wir alljährlich auf die Bühne bringen, wachsen immer aus der Gruppe heraus.
Sie spiegeln die Ideen, Erfahrungen und Erlebnisse der SpielerInnen wider, auch wenn wir
mit einer literarischen Vorlage arbeiten. Die SpielerInnen zeigen sich auf der Bühne mit ihren
jeweils eigenen speziellen Qualitäten, stehen selbstbewusst zu ihren Eigenheiten, bringen sie
ins Spiel ein.
Theaterarbeit mit den Leuten aus unserer Schule ist auch insofern bedeutend, weil sich für
Menschen, die sonst keine Gelegenheit hätten, Theaterkurse zu besuchen, eine Bühne
eröffnet. Gleichzeitig handelt es sich um Theaterarbeit, bei der sowohl der Weg hin zur
Aufführung als auch die Aufführung selbst von den SpielerInnen wesentlich mitgestaltet,
mitbestimmt, mitgetragen wird.
Die Arbeit der Spielleitung hat zum Ziel, Emanzipations- und Selbstermächtigungsprozesse
der TeilnehmerInnen aus verschiedensten Bevölkerungsschichten mit Methoden aus der
Theaterpädagogik zu fördern. Die Spielenden werden eingeladen, die Übungen als eine
spezielle Form von Recherchearbeit anzusehen, bei der die Wahrnehmung des eigenen
Erlebens im Mittelpunkt steht. Sie werden ermuntert, von ihren eigenen Erlebnissen in
Übungen und Improvisationen auszugehen, sie als Bausteine für die Annäherung an ein
Thema, ein Stück ernst zu nehmen und als Material für die Gestaltung von Figuren und
Szenen zu nützen. Den eigenen Körper als lebendiges Instrument für das Sammeln von
Erfahrungen zu begreifen, verändert die Haltung gegenüber dem persönlichem Erleben: die
meisten Menschen verlernen im Laufe ihrer Entwicklung auf ihre ureigensten Impulse zu
achten, weil Interventionen von Erziehungsautoritäten sie davon abbringen. Das Eigene wird
einem fremd und das Fremde zum Eigenen gemacht. Spielen bietet die Möglichkeit
verschüttete Fähigkeiten wieder zu finden und sie frei zu legen.
Theaterwerkstatt, Jänner 2011
Foto: Ursula Kronsteiner
Theater als Lern- und Experimentierfeld3
In der Theatergruppe geht es darum, ein „Mehr als Realität“ zu schaffen, das heißt, die
TeilnehmerInnen bewegen sich spielerisch von der Alltagsrealität in eine dramatische und
ästhetische Welt. Es eröffnet sich ihnen im Kunst- und Spielraum Theater ein Lern- und
Experimentierfeld für persönliche, methodische und soziale Kompetenz. Gudrun Libnau, eine
deutsche Schauspielerin und Theaterpädagogin beschreibt sehr treffend, welche
Möglichkeiten der ästhetische Raum eröffnet: „Theater ist unmittelbarer Lebensausdruck. Es
bietet direkte Begegnung und Erfahrung in Zeit und Raum, kann Zeichen setzen, bewegen,
berühren, über das Gegenwärtige hinausweisen, an Vergangenem anknüpfen, Bestehendes
hinterfragen.“4
Handeln im „Als-ob“
Ein methodisches Prinzip im Theater ist der Moment des „Als-ob“. Voraussetzung dafür ist
die Vereinbarung der Mitspielenden, eine vorgestellte Situation als gegeben zu akzeptieren.
Es geht darum, während des Spiels unmittelbare Erfahrungen aus erster Hand zu machen.5 Es
geht um das Einfühlen in Haltungen über theatrale Ausdrucksformen wie Gestik, Mimik,
Bewegung, Körperhaltung, Fokus, Spannung und um die Auseinandersetzung mit einem
Thema im Spielprozess.
Potentiale der Lernenden aktivieren
Da das Unterrichtsgeschehen für die Lernenden oft sinnentleert erscheint und sogar brisante
Themen zu affektneutralem Stoff werden, kommt es zur Entfremdung von eigenen
Erfahrungen, Gedanken, Vorstellungen. Um die Bearbeitung – auch von schwierigen Themen
– an Wahrnehmungen, Erlebnisse, Phantasien, Verhaltensweisen der Lernenden anzubinden,
braucht es methodische Zugänge, die es ermöglichen, Lerninhalte an eigene Erfahrungen
anzuknüpfen. Mit Übungen zu körperlichen und sprachlichen Haltungen nähern sich die
Lernenden einem Thema, ihre konkreten Wahrnehmungen und Vorstellungen werden bewusst
aktiviert und als Potenzial in den Erkenntnisprozess mit einbezogen.6
In der Theaterpädagogik spielen nicht nur Inhalte, sondern auch Raum, Zeit, Gegenstände,
körperliche, gestische, mimische, sprachliche Handlung und die Interaktion mit anderen
Beteiligten eine Rolle. Inhalte werden gesehen, gehört, ertastet, begriffen.
Forschendes Lernen
Ich bitte daher die Spielenden die Haltung von Forschenden einzunehmen, die neugierig sind
und bereit, sich überraschen zu lassen, um Neues, Fremdes, Ungewöhnliches zu entdecken. Es
gilt daher während der Übungen wach und konzentriert zu sein, um genau wahrnehmen zu
3
Vgl. Irmgard Bibermann: Einführungsreferat zur Lehrveranstaltung: Teambildung und Leitungskompetenz,
Lernen in Spielräumen am Institut für Bildungswissenschaft, Psyko = Institut für Psychosoziale Intervention und
Kommunikationsforschung, Innsbruck, WS 2009/10.
4
Gudrun Libnau in einem Gespräch mit Irmgard Bibermann im Theater Transit, Darmstadt, Juli 2004.
5
Michael Klebl: Kein Theater ohne Theater, in: Jürgen Belgrad (Hrsg.): TheaterSpiel. Ästhetik des Schul- und
Amateurtheaters, Hohengehren 1997, S. 121.
6
Ingo Scheller: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin 2004 4, S. 10-11.
können, wie sie wirken, welche Reaktionen sie in einem hervorrufen, seien es Bilder,
Gedanken, Gefühle, Bewegungs- oder Handlungsimpulse. In der Reflexion nach einer Einheit
steht die Frage im Mittelpunkt: Was kann ich im Spiel bei körperlicher, gestischer, mimischer
Handlung und in der Interaktion mit den Mitspielenden über ein Thema, über soziale
Prozesse, über andere Menschen und vor allem über mich selbst in Erfahrung bringen?
Theater ist Lernen über sich selbst, wenn man sich und anderen beim Spielen über die
Schulter schaut und es erlaubt einem, die gewohnten Rollen zu verlassen und
Handlungsvarianten auszuprobieren.
Ich sehe mich in der Arbeit mit meinen Gruppen ebenfalls als Forschende, als Suchende, als
Lernende: Ich weiß nicht schon vom Anfang an, wohin uns einzelne Übungen führen,
welchen Weg wir danach einschlagen werden. Ich gebe eine Anregung, eine Aufgabe und bin
gespannt, was daraus entsteht, lass mich überraschen, mich vom beabsichtigten Weg
abbringen, folge einer neuen Spur. So entsteht ein lebendiger Dialog: Ich gebe einen Impuls,
die SpielerInnen nehmen ihn auf, spielen mit ihm, bearbeiten, verändern ihn im Spiel, geben
ihrerseits Impulse; ich greife sie auf, verstärke, verkleinere, verdichte sie. Manchmal enden
sie auch im Nirgendwo und oft führen sie uns zu magischen Theatermomenten.
Wenn man mit Menschen unterschiedlichen Alters aus verschiedenen sozialen Schichten und
Kulturen in einer Gruppe arbeitet, geht es auch immer um die Frage, wie können sie ein
Ensemble werden, in dem körperliche Berührung möglich ist und in dem niemand die anderen
an die Wand spielt. In der Theaterwerkstatt geht es darum, einen Ort entstehen zu lassen, wo
man lernt auf sich und andere zu zählen, indem man ein feineres Hören und Sehen entwickelt,
neue Eindrücke auf sich zukommen und sich nicht von alten Mustern einschränken lässt,
damit sich die Phantasie frei entfalten darf. Das ist befreiend!
Spielprozesse sind Lernprozesse: Sie wirken sich auf die Selbstreflexion der spielenden
Person aus. Theater sei die menschliche Fähigkeit, sich selbst im Handeln zu betrachten,
schreibt Augusto Boal in seinem Buch „Regenbogen der Wünsche“ und stellt weiter fest, dass
die Selbsterkenntnis, die der Mensch sich auf diesem Weg erwirbt, ihm erlaube, sich
Variationen seines Handelns vorzustellen und Alternativen zu erproben.7
Sich auf Spielprozesse einzulassen, heißt Grenzen und Verunsicherung zu spüren, beim
Verlassen des vertrauten Verhaltensrepertoires ein Wagnis einzugehen, es bedeutet
Vergewisserung darüber, in welchen Rollen man sich wohl fühlt und leistet so einen Beitrag
zur Identitätsfindung.
Soziales Lernen
Spielerische Aktionen verlangen nach Kooperation und fördern diese nachhaltig. Jede Aktion
verlangt die Rücksichtnahme auf andere, verlangt danach, dass ich die Mitspielenden im
Auge habe, dass ich mit ihnen agiere. Die TeilnehmerInnen lernen, dass ihr persönlicher
Beitrag wesentlich ist für das Gelingen einer Übung, einer Szene. Sie entscheiden selbst, in
welchem Maße sie sich einzubringen wollen. Ihr persönlicher Einsatz ist gefordert. Sie
nehmen unterschiedliche Perspektiven ein und lernen so unterschiedliche Sichtweisen kennen
und verstehen. In theaterpädagogischen Einheiten werden sie zum Probehandeln angeleitet.
Sie reflektieren nach den jeweiligen Einheiten ihr Tun und das der anderen und erweitern so
den eigenen Horizont.
7
Augusto Boal: Der Regenbogen der Wünsche, Seelze 1999, S. 24.
Ein Grundsatz der theaterpädagogischen Arbeit ist das Ja-Sagen zum Angebot, zu Impulsen
der anderen. In diesem Sinne gibt es beim Spiel keinen Fehler, außer dem des Nein-Sagens,
der Verweigerung.8 Jedes spielerische Angebot ist grundsätzlich gut. Aus dem Verlauf der
Interaktion, aus den Rückmeldungen der Mitspielenden und aus der Reflexion am Ende einer
Einheit können die einzelnen Rückschlüsse auf ihr persönliches Verhalten ziehen und die
eigenen Erfahrungen benennen.
Probenarbeit zu „Der Krieg ist (kein) Kinderspiel“, Mai 2009
Foto: Ursula Kronsteiner
Die Methode fördert und fordert die TeilnehmerInnen, leitet sie aber auch dazu an, mit und in
der Gruppe zu arbeiten. Denn Theaterspiel gelingt nur im Miteinander.
Bei der Präsentation eines szenischen Produkts stellen sich die Lernenden auch immer wieder
die Fragen, wie wirke ich, was macht meine Wirkung aus, wie setze ich mich in Szene, wie
verschaffe ich mir Gehör, wie drücke ich mich aus. Bei jeder Improvisation steht die
Auseinandersetzung mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten im Mittelpunkt.
Somit stellt Darstellendes Spiel einen kreativen Weg zur sozialen Kompetenz dar. Denn zu
den Voraussetzungen für ein gutes, gelungenes Spiel gehört es, sich mitzuteilen, sich
auszutauschen, zu geben und zu nehmen, sich zu präsentieren, zu kooperieren, sich auf die
Mitspielenden einzulassen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sich in die Gruppe zu
integrieren, sich aber auch in ihr und bisweilen auch gegen sie zu behaupten.
8
Keith Johnstone: Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und Theatersport, Berlin 2006 6, S. 158-173.
Vielfalt der Zugänge
Theaterpädagogik wendet sich an alle Sinne: Beobachten, Zuschauen, Zuhören, SichBewegen, Spielen, Argumentieren, Lesen, Schreiben, Interagieren sind methodische
Bausteine der theaterpädagogischer Arbeit.
Jede und jeder kann spielen.9 Wesentlich ist nicht die Qualität des spielerischen Ausdrucks,
sondern die Bereitschaft, sich auf die jeweilige Themenstellung einzulassen. Da sich
Theaterpädagogik nicht nur an den Intellekt, sondern vor allem auch an das Gefühl richtet,
sind TeilnehmerInnen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen angesprochen. Der Körper
wird hierbei als zusätzliches Erfahrungs- und Erkenntnisinstrument genützt.
Verbindungen zwischen ästhetischen Raum und alltäglichen Räumen schaffen
Theaterpädagogische Methoden ermöglichen szenische Handlungsforschung. Spielprozesse
helfen bei der Veranschaulichung von Themen, beim Begreiflichmachen von abstrakten
Inhalten. In gestalterischer Form wird zwischen den Zeilen eines Textes geforscht, werden
tiefere Bedeutungen eines Wortes sichtbar gemacht. Spielen regt das szenische Denken an,
fordert zum Bebildern von Wörtern, Sätzen auf. Beim Umsetzen von Inhalten in Bilder erfolgt
auch die persönliche Aneignung von Aussagen, es passiert Rezeption in szenischer Form.
Eindrücke werden verarbeitet und in Szenen wieder zum Ausdruck gebracht, die die
Perspektive der SpielerInnen aufzeigt.
Kreativität stärkt das Selbstbewusstsein und die Rollenflexibilität
Beim Spielen wird die natürliche Kreativität der Menschen freigesetzt. Auf diesem Weg wird
ihr Vertrauen in die Fähigkeit, sich die eigene Welt schaffen zu können, gestärkt. Sie
erkennen, dass sie in der Lage sind, nicht nur eine Rolle sondern viele zu spielen. Diese
Erfahrung ist nicht nur befreiend, sondern stärkt auch noch das Immunsystem, wie
medizinische Studien belegen. Auf diese verweist die Musikwissenschaftlerin Angelika
Hauser von der Universität Wien, die die spannenden Zusammenhänge zwischen Musik,
Bewegung und Sprache untersucht.10 Kreativität heißt, dass etwas Neues entsteht, und zwar
durch die neue Kombination von bereits Vorhandenem – die Verbindung von Stimme und
Geste, Stimme und Haltung, Stimme und Bewegung. Und wie geht das? Indem man sich
bewusst macht, was man tut. Spielprozesse bieten die Gelegenheit, Handlungen bewusst zu
setzen, sich darüber klar zu werden, was man gerade tut, welche Rolle bzw. Aspekte einer
Rolle man gerade übernimmt. Das ermöglicht einem Handlungen klar und entschieden zu
setzen und bringt außerdem Rollenklarheit.
9
Augusto Boal: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler,
Frankfurt am Main 1979, S. 69: „Jeder kann Theater spielen – sogar die Schauspieler. Überall kann Theater
stattfinden – sogar im Theater.“
10
Angelika Hauser in einem Referat beim 17. Weltkongress Drama in Education, Burg Schlaining, 4.4.2009
(vgl. dazu: Irmgard Bibermann: 17. Weltkongress Drama in Education: Vom Impuls zum Drama, in: Subtext:
Zeitschrift für amateur/theater/pädagogik. Drama in Education / Praxis. Methode. Diskurs, 1/1 (2010), S. 5-9,
hier: S. 9.
Ein produktives Jahrzehnt
Für die 60-Jahrfeier des Abendgymnasiums haben wir Rückschau gehalten auf die ersten 20
Jahre Darstellendes Spiel. Jetzt, zehn Jahre später, schauen wir auf ein produktives Jahrzehnt
in diesem Fach zurück. Wir haben unsere theatralen Leistungen gesteigert, waren mehrmals
bei den Schultheatertagen in den Kammerspielen des Tiroler Landestheaters zu Gast und
wurden auch zu Aufführungen an Bühnen außerhalb der Schule und zur Teilnahme an
internationalen Festivals eingeladen: Mit „Rubel, Rüpel, Reize“ präsentierte die
Theatergruppe eine eigenwillige Interpretation des Einakters „Der Bär“ von Aton Tschechow
und beteiligte sich damit am EU-Projekt „Teatro forma – Theater bildet“. Das Stück
„Verloren. Manhattan Medea“ (nach Dea Loher), in dem es um den Verlust von Heimat, den
Versuch sich ein eigenes Leben in der Fremde zu schaffen und dabei zu scheitern, ging,
zeigten die SpielerInnen anlässlich des Weltflüchtlingstages im Kulturgasthaus Bierstindl und
in der Alten Gerberei in St. Johann. Die Theatergruppe nahm am von Hermann Freudenschuß
und Irmgard Bibermann organisierten Großprojekt „Held/ -in Tirol“ teil. Der Anlass für das
Projekt ergab sich aus dem Wunsch zum 2009 stattfindenden Gedächtnisjahr rund um
Andreas Hofer und die Tiroler Freiheitskämpfe 1809 einen konstruktiven und gleichzeitig
kritischen Beitrag im Tiroler Schulleben zu leisten. Heldenverehrung sollte kritisch hinterfragt
werden. Dazu wurden von den InitiatorInnen des Großprojektes 13 europäische
Theatergruppen eingeladen, sich im Laufe eines Arbeitsjahres mit dem Thema
„Heldenverehrung“ auseinanderzusetzen und die Ergebnisse bei einem internationalen
Festival in Hall zu präsentieren. Ausgehend von Fernando Arrabals Anti-Kriegs-Parabel
Generalprobe zu „Verloren. Manhattan Medea“, April 2008
Foto: Ursula Kronsteiner
„Picknick im Felde“ entwickelten die SpielerInnen am Abendgymnasium die szenische
Collage „Der Krieg ist (kein) Kinderspiel“, in der die Absurdität von Kriegen aufgezeigt und
Heldentum im Feld mit szenischen Mitteln dekonstruiert wurde.
Mit dem Erinnerungstheaterstück „Alte Heimat /Schnitt/ Neue Heimat“ haben wir uns als
Theatergruppe in der „Freien Szene“ endgültig einen Namen gemacht, einerseits wegen der
neuen Erarbeitungsmethoden, andererseits aufgrund der innovativen Inszenierungsform und
vor allem wegen der achtsamen Herangehensweise an das schwierige Thema: Erinnerungen
von Menschen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis aus Innsbruck vertrieben
worden sind und in England bzw. Israel eine neue Heimat gefunden haben.
Dorli Neale und Abraham Gafni haben ihre Erinnerungen an die alte Heimat, an Flucht und
Vertreibung und das Leben in der neuen Heimat in Interviews geschildert. Ihre Erzählungen
bildeten die Grundlage für das Stück, das im April, Mai und November 2011 im
Westbahntheater in Innsbruck sowie in der Alten Gerberei in St. Johann zu sehen war.
Auf Einladung des Organisationsteam, das im Auftrag der Stadt und des Instituts für
Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck die Veranstaltungen zum Gedenken an das
Novemberpogrom 1938 koordinierte, hat die Theatergruppe nachtACTiv das 2011
entwickelte Stück „Alte Heimat/Schnitt/Neue Heimat“ wieder aufgenommen und im
November 2013 im Freien Theater und im Westbahntheater aufgeführt.
SpielerInnen wie Musiker, die im Ausland arbeiten oder studieren, nahmen weite
Anreisewege zu Proben und Aufführungen in Kauf, weil sie davon überzeugt waren, dass
dieses Stück von möglichst vielen Menschen gesehen werden soll. Die weibliche
Hauptdarstellerin kam sogar aus Zagreb, wo sie derzeit als Sprachassistentin in verschiedenen
Schulen arbeitet.
Veröffentlichung des Stücks im Gaismair-Jahrbuch 2013
Die Proben für die Wiederaufnahme wurden durch den Umstand erleichtert, dass eine
schriftliche Textfassung vorlag. Der Vorstand der Gaismair-Gesellschaft hatte Irmgard
Bibermann eingeladen, das Stück im Gaismair-Jahrbuch 2013 zu veröffentlichen und über die
neuen Wege, die bei der Erarbeitung des Stücks beschritten wurden, sowie die besondere
Form der Inszenierung, das Feature-Theater, zu schreiben.
Mit unserem Stück sollten besondere Wege der Vermittlung von Zeitgeschichte beschritten
werden. In den Erzählungen der ZeitzeugInnen wird Erinnern sichtbar, hörbar, begreifbar.
Ihnen eine Stimme zu geben, damit ihre Geschichte nicht verloren geht, war ein wesentliches
Ziel des Theaterprojekts.
Für unser Stück mussten also neue Formen der theatralen Gestaltung gefunden werden. Das
Besondere an dieser Art von Theaterarbeit ist es, dass es zunächst kein geschriebenes Stück
gab. Uns lagen nach der Recherchephase in England und Israel lebensgeschichtliche
Interviews auf Video vor. Mit dem Rohmaterial der Interviewprotokolle haben wir uns in
szenischen Prozessen intensiv auseinandergesetzt und dabei Schritt für Schritt den Theatertext
erarbeitet. Manche Textteile der späteren Stückfassung entstanden überhaupt erst in
Improvisationen: Die SpielerInnen „schreiben“ sie in theatraler Aktion.
Die HauptautorInnen des Stücks sind aber die ZeitzeugInnen. Ihre Erzählungen sind die
inhaltliche Grundlage des Stücks. Durch die Auswahl der Interviewpassagen und das
Entwickeln eines roten Fadens, der dem Stück einen für das Publikum nachvollziehbaren
Aufbau und auch einen klaren Spannungsbogen gibt, war die Spielleiterin nicht nur
Dramaturgin, sondern auch Mitautorin. Das gilt ebenso für die SpielerInnen, deren in den
Improvisationen erarbeiteten Texte zum Teil in die Inszenierung aufgenommen wurden.
Unser Stück bot ein theatrales Fotoalbum, in dem die Lebensgeschichten der ZeitzeugInnen in
einer ausdrucksstarken Bilderfolge mit chorischen Elementen und Life-Musik11 zu einer
szenischen Collage verdichtet wurden. Ähnlich dem Feature im Hörfunk wurde authentisches
Ton- und Bildmaterial aus der Recherchephase eingesetzt, das heißt, zwei SpielernInnen
erzählten im Originalton als Dorli Neale und Abraham Gafni, was diese im Interview
berichtet haben. Als Bühnenbild diente eine Installation von Fotos, die einzelne Lebensphasen
der beiden ZeitzeugInnen dokumentierten. Alte Stühle, Koffer und Taschen, die als
Requisiten verwendet wurden, ließen die Vorstellung von einem „Dachboden der Erinnerung“
entstehen. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass die SpielerInnen Kostüme trugen,12
die an die 1930er Jahre erinnerten und auch durch die Beleuchtung, mit der das
Bühnengeschehen in ein Licht getaucht wurde, das an die Farbe alter Fotos denken ließ.13 Das
Stück begann, als die Tür zum Theaterraum für das Publikum geöffnet wurde, denn damit
betraten die ZuschauerInnen ebenfalls diesen Raum der Erinnerung.
Öffentliches Interesse am Stück
Abraham Gafni und Dorli Neale bei der Aufführung von „Alte Heimat /Schnitt/ Neue Heimat“ im Westbahntheater, Mai 2011
Ursula Kronsteiner
11
Musiker der Band INNtro (Leitung: Emir Handžo, ehemaliger Studierender des Abendgymnasiums).
Alexia Engl, Bühnen- und Kostümbildnerin im Kellertheater und beim Sommertheater Hall, war
verantwortlich für Bühnenbild und Kostüme.
13
Dietmar Scherz, Beleuchter im Westbahntheater, erstellte das Lichtkonzept.
12
Foto:
Die Bürgermeisterin von Innsbruck, Christine Oppitz-Plörer, war drei Mal im Publikum,
zahlreiche GemeinderätInnen, Landtagsabgeordnete und VertreterInnen des Landesschulrats
sowie Esther Fritsch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und
Vorarlberg, besuchten die Aufführungen im Mai und im November 2011 sowie am
Gedenktag, dem 10. November 2013. Der Verein _erinnern.at_ organisierte am 28. November
2013 im Rahmen seines alljährlichen Fortbildungsseminar einen Aufführungsbesuch für 70
LehrerInnen aus ganz Österreich.
Christine Frei, Theaterkritikerin in verschiedenen Tiroler Zeitungen und selbst Theaterautorin
und Regisseurin, schrieb über unser Stück: „Eine sehr ästhetische Theaterarbeit, die den
Betroffenen jene Würde zurückgibt, derer sie hier beraubt wurden. Die Art Ihrer Darstellung
und Aufarbeitung hat mich sehr angesprochen und tief berührt. (…) Ihr Theaterabend war für
mich ein großes und nachhaltiges Erlebnis.“14
Aufführung von „Alte Heimat /Schnitt/ Neue Heimat“ im Westbahntheater, April 2011
Foto: Ursula Kronsteiner
Politisches Theater
Die Theatergruppe am Abendgymnasium beschäftigte sich immer wieder mit aktuellen
sozialen und politischen Ereignissen und Entwicklungen. Oft geschieht das auch mit den
Methoden des Theaters der Unterdrückten nach Augusto Boal. So entstand im Schuljahr
2009/10 eine Zeitungstheater-Aufführung zum Thema Arbeitsmarkt: Arbeitssuche, belastende
Situationen am Arbeitsplatz, immer mehr Arbeit in immer weniger Zeit für gleich viel Geld.
14
Christine Frei in einem E-Mail an Irmgard Bibermann vom 6.4.2011.
Barbara Hörl übernahm 2012/13 die Leitung der Theatergruppe. Gemeinsam mit den
SpielerInnen entwickelte sie das Stück „bruch_stellen“, in dem feinfühlig aufgezeigt wird,
wie es zu Umbrüchen in Biografien von Menschen kommt und welche Auswirkungen sie
haben können. Sie führte Regie in der Zeitungstheater-Performance „Frieden schaffen“
anlässlich der Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht. Bei einer vom Innsbrucker
Friedensforum organisierten Podiumsdiskussion wurde die Performance in der
Kulturbackstube „Die Bäckerei“ gezeigt. In ihren Rückmeldungen erklärten die
ZuschauerInnen, dass die Aufführung eine aufklärerische Wirkung auf sie habe, weil
scheinbar Unsagbares auf ästhetische Weise einen Ausdruck finde und zur kritischen
Auseinandersetzung mit dem Thema auffordere. Im Mai 2013 gedachte die Theatergruppe mit
dem Stück „Feuer und Flamme“ der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten vor 80
Jahren. In der Buchhandlung Haymon, im Schulhof und im Foyer der
Geisteswissenschaftlichen Fakultät erlebte das Publikum beklemmende Momente.
Zeitungstheater-Aufführung „Nur Mut“, Mai 2010
Foto: Ursula Kronsteiner
Kontakte mit Kulturvereinen: Über den schulischen Tellerrand hinaus
Seit einigen Jahren besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen der Theatergruppe am
Abendgymnasium und spectACT, dem Verein für politisches und soziales Theater. Dadurch
konnten Großprojekte wie das Erinnerungstheaterstück „Alte Heimat/Schnitt/Neue Heimat“
in Angriff genommen werden, weil wir gemeinsam mit dem Verein für Subventionen bei
Land und Bund ansuchen und mit professionellen KünstlerInnen zusammenarbeiten konnten,
die uns in Sachen Beleuchtung, Bühnenbild und Kostümen ihr Knowhow zur Verfügung
stellten. Es kam zur Gründung der Theatergruppe nachtACTiv, deren Mitglieder aktuelle
Studierende und AbsolventInnen und Lehrende des Abendgymnasiums sowie SpielerInnen
sind, die in Projekten von spectACT mitgearbeitet haben.
Seit einiger Zeit haben wir auch enge Kontakte zur alternativen Musikszene in Tirol. Diese
Verbindung stellte ein ehemaliger Studierender, Emir Handžo, her, der sich in
verschiedensten Bands und Orchestern als Schlagzeuger einen Namen gemacht hat. Schon
2007 bei der Aufführung der „Kleinbürgerhochzeit“ war die Zusammenarbeit mit vier
Musikern, die als Mitglieder der „Hochzeitskapelle“ für ironisch-romantische Zwischentöne
und eine schräge Begleitmusik sorgten, für die Theatergruppe sehr bereichernd.
Die Musiker der Band INNtro unter der Leitung von Emir Handžo waren ein wichtiger
Bestandteil des Erinnerungstheaterstücks. Dajan Krillic, ebenfalls Absolvent unserer Schule,
spielt in dieser Gruppe. Auch bei der Gestaltung von interkulturellen Festen, MusikWorkshop und bei Maturafeiern können wir auf diese Kontakte zurückgreifen.
Für eine lebendige Schule
Für die Schulkultur ist es sehr bereichernd die Erfahrungen, Begabungen und die sozialen
Verbindungen der Studierenden zu fördern und zu nützen und auch die Zusammenarbeit zu
Vereinen wie spectACT, Orient-Okzident und dem Theater Verband Tirol zu pflegen. Für die
Entwicklung und Stärkung einer lebendigen, vielfältigen, bunten Schulgemeinschaft braucht
es besonders den Blick und die Impulse von außen, damit sie nicht in Stagnation verfällt,
sondern neue Blüten treibt.
Den Erfolg, den die Gruppe nachtACTiv mit ihren Produktionen, zuletzt mit dem Theater der
Erinnerung hatte, ist der beste Beweis dafür, dass Theaterarbeit nicht nur das kreative
Potential der Einzelnen fördert, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Schulkultur am
Abendgymnasium leistet.
30 Jahre nach ihrer Einführung ist die unverbindliche Übung Darstellendes Spiel von einem
anfänglich kräftigen Spielbein zu einem nunmehr unverzichtbaren Standbein der Schulkultur
am Abendgymnasium Innsbruck geworden.
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