Theorie und Methodik im Werk von Erving Goffman

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Freie Universität Berlin
Institut für Soziologie
Garystrasse 55, 14195 Berlin
Prof. Dr. Klaus M. Schmals
Seminar „Das Individuum im öffentlichen Austausch –
Alltagssoziologie mit Erving Goffman im SoSe 2006
jeweils Montag von 10.15 – 11.45 Uhr, Raum 203 B
3. Veranstaltung
Theorie und Methodik
im Werk von Erving Goffman
Vorbemerkungen
Soziologische Theorie und Methodik treten im Werk von Erving Goffman nicht
unmittelbar ins Blickfeld. Vielfach wird sogar behauptet, Goffman hätte kein
ausgeprägtes Interesse in diese Richtungen verfolgt. Möglicherweise ist es aber
so, dass in dieser Hinsicht nur ein geringes Interesse bestand Theorie und Methodik des eher unkonventionellen Werks von E. Goffman zu rekonstruieren.
Erst in jüngster Zeit – vgl. die Publikationen von R. Hettlage/K. Lenz oder H.
Willems – erscheinen systematische soziologische Arbeiten, die die theoretischen Quellen, die theoretisch-methodologischen Grundlagen und die Anschlussfähigkeit des Werks von Goffman untersuchen. Gehört haben wir bereits,
dass Erving Goffman an Arbeiten von E. Durkheim, G. Simmel, G. Bateson, A.
Strauss, H. Garfinkel oder R. Park anknüpfte. Gehört haben wir weiterhin von
zentralen Begriffen und Konzepten im Werk von Goffman. Gemeint sind Begriffe wie Rahmen, Interaktion, Rituale, Stigma, Rollendistanz oder Figurationen. Bezüge, Forschungskonzept und Anschlüsse im Werk von Goffman werden
nun in theoretisch-methodischer Hinsicht entfaltet.
Nicht zuletzt entwickelten sich parallel zu den Projekten und Publikationen von
E. Goffman in den USA soziologische Ansätze, in die sein Denken vernetzt war:
Da ist a) die Gemeindesoziologie der „Chicago-Schule“ in der Tradition von
Robert E. Park. R. E. Park und Schüler wie R.D. McKenzie oder E.W. Burgess
arbeiteten dabei zwischen 1918-1935 – neben dem Pragmatismus und dem
Utilitarismus - eine Vielzahl in Europa entwickelter – ökonomischer, kultureller
oder ökologischer - Ideen in ihre Überlegungen ein (vgl. R. Park u.a., 1925: The
City, Chicago). Insbesondere im Rahmen der lokaljournalistischen Arbeiten von
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Robert Park entstand die „Technik“ der Reportage (vgl. hierzu R. Lindner, 1990:
Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage,
Frankfurt/Main). b) Weiterhin entwickelte sich zwischen 1946 und 1960 der
„Symbolische Interaktionismus“ u.a. um H. Blumer, H. Mead, A. Schütz oder
P.L. Berger/Th. Luckmann herum. Im Rahmen dieses „interpretativen Ansatzes“
entstanden ebenfalls mehrere Gemeindestudien. Zu nennen ist hier u.a. „The
Street Corner Society“ von W.F. Whyte (1943). c) Ab den 1930er Jahren entstand in den USA aber auch die „struktur-funktionalistische Systemtheorie“ von
Talcott Parsons (vgl. ders., 1952: The Social System, London). Das prominenteste soziologische Theoriegebäude der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, das in vielerlei Hinsicht den Vorstellungen von E. Goffman gegenüber
stand. d) Und dann entstanden in den 50er Jahren noch die Ansätze der „Ethnomethodologie“ bzw. der „Alltagssoziologie“ (um Harold Garfinkel herum) und
der „Konversationsanalyse“ um Harvey Sacks herum). Soweit der theoretische
und methodologische „Rahmen“, in dem E. Goffman sich bewegte.
A: Methodik
Die methodologische Ausrichtung des Werks von Goffman ist vielfältig. Sie
basiert wesentlich auf „Feldforschung“ (vgl. E. Goffman, 1996 (erstmals 1989):
Über Feldforschung. In: H. Knoblauch, Hg., Kommunikative Lebenswelten,
Konstanz, S. 261-269). Der Text basiert auf einem Vortrag von E. Goffman im
Jahr 1974 im Kreise von Feldforschern. Im Rahmen dieses Vortrags über „teilnehmende Beobachtung“ berichtete Goffman, was er im Rahmen seiner Untersuchungen gelernt hat. An erster Stelle stand für ihn das Problem der „Rationalisierung“ durch Versuche, Techniken zu entwickeln, das ausgewählte Feld zu
beobachten. Klassischerweise werden Bestimmungsfaktoren zu beobachtender
Felder durch „Techniken“ verändert. „Die Technik besteht meines Erachtens
darin, Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine
eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren
Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von
Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre
Arbeitssituation, ihre ethnische Stellung oder was auch immer reagieren“ (ders.,
a.a.0., S. 263). Und er fährt fort: Lassen sie ihren Körper auf das zu beobachtende Feld einstimmen, „und mit einem solchen ‚eingestimmten’ Körper und
dem Recht, ihnen räumlich nahe zu sein (...), sind Sie in der Lage, die
gestischen, visuellen oder körperlichen Reaktionen auf das festzuhalten, was um
sie herum vor sich geht“ (ebenda). Hiermit ist die Beobachtungsmethode von
Goffman gut charakterisiert.
Wollen wir – wie Goffman – nicht mit verzerrenden Techniken arbeiten, ist es
wichtig sich Gedanken darüber zu machen, wie ich ins Feld komme und wie ich
mich im Feld verhalte: Einerseits werden wir von unseren Probanden gefragt,
was wir wollen? Diese Frage zu beantworten, sollten wir uns frühzeitig eine
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plausible Antwort erarbeiten. Sind wir im Feld, sollten wir uns andererseits aller
(z.B. akademischer) “Ressourcen“ entledigen und „Selbstdisziplin“ an den Tag
legen, um so nah wie möglich an die Menschen, die eine soziale Situation
bestimmen heranzukommen. Die nun zusammengetragenen Informationen werden in Notizen (Memos) festgehalten. Objekte der Beobachtung können dabei
recht genau beschrieben werden. Bei Subjekten der Beobachtung ist dies weit
schwieriger. Zuerst notieren wir da, was uns die Probanden mitteilen (und zwar
mit allen „ah’s und äh’s“. In einem zweiten Schritt können wir natürlich
Merkmale der Situation erkunden, um eventuelle Differenzen zwischen subjektiver Einschätzung und objektiver Situation zu erarbeiten. Diese Merkmale
können sich speisen aus „öffentlichem Klatsch“, aus „Zeitungsnotizen“ oder aus
Ergebnissen anderer Studien.
Nun kommt der zweite Punkt. Was ist mit den erhobenen, erfahrenen oder gespürten Informationen nun anzustellen? Goffman interpretiert sie: „Jackie (Jacqueline Wiseman) nimmt es sehr ernst, was die Leute sagen. Ich lege beinahe
überhaupt keinen Wert darauf, was die Leute sagen, aber ich versuche, das, was
sie sagen, mit dem, was sie tun, in Verbindung zu bringen“ (ders., a.a.0., S.
268). Soweit einige Aspekte dessen, was Goffman unter Feldforschung, teilnehmender Beobachtung, Datenerhebung und Dateninterpretation verstand. Viele
dieser Positionen sind zu bestätigen durch das, was wir bisher über durchgeführte Feldstudien – wie die Shetland-, Hospital- und Casino-Studien
erfuhren. Goffman versuchte zu verhindern, die von ihm ausgewählten Felder
durch die Brille der Verantwortlichen, der Experten zu analysieren und zu
interpretieren. Goffman machte sich in der Regel seinem zu beobachtenden
Klientel so ähnlich wie möglich (er suchte im Feld „unter zu tauchen“).
Bringen wir das im Vortrag über „Feldstudien“ gesagte in Verbindung mit den
zu seiner Zeit entwickelten Methoden, so werden wir mit der „Grounded
Theory“ (A. Strauss, B. Glaser), mit dem „Symbolischen Interaktionismus“ (H.
Blumer, H. Mead, A. Schütz oder W.I. Thomas), der Ethnomethodologie (H.
Garfinkel oder A. Cicourel) und der „Konversationsanalyse“ (H. Sacks)
konfrontiert. Dabei geht es a) in der „Grounded Theory“ um die „Generierung
von Hypothesen“ im Feld, um die Erhebung von Daten durch narrative oder biographische Interviews, um ihre Transkription, um die Auswertung des Materials
(Kodierung und Entwicklung eines „Kodierparadigmas“) und um die Entwicklung eines „theoretical sampling“ (vgl. A. Strauss, J. Corbin, 1996: Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim). Im Rahmen
des „Symbolischen Interaktionismus“ geht es um die Bestimmung von Interaktion und Interpretation in der „sozialen Wirklichkeit, um die Bestimmung
des „Individuums als generalisierter Anderer“, um die „Erfahrung der Strukturen
der Lebenswelt und um die „Auslegung der Welt“ (vgl. A. Treibel, 1994: Das
interpretative Paradigma – Symbolischer Interaktionismus und Phänomenologie.
In: Dies., Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Opladen, S.
107-128). Im Rahmen der „Ethnomethodologie“ des „Alltagswissen“ geht es um
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die Erkundung der Regeln des Alltagshandeln und Alltagsverhaltens. Im Zentrum stehen dabei die Strukturen des Alltagswissens, die Regeln der Interaktion
und die Konstruktionen „gesellschaftlicher Wirklichkeiten“ (vgl. Arbeitsgruppe
Bielefelder Soziologen, Hg., 1973: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Reinbek bei Hamburg, 2 Bände). Nicht zuletzt geht es
im Rahmen der „Konversationsanalyse“ um die Erkundung der „Sematik,
Syntax und Pragmatik“ von Sprechakten, Kommunikationsstrukturen und Diskursen. Dabei ist von besonderem Interesse, dass im Rahmen des „linguistic
turn“ der Ver-such unternommen wurde, auch „soziale Interaktion“ sprachwissenschaftlich zu analysieren und zu interpretieren.
B: Theorie
Es ist nicht einfach Erving Goffman in theoretischer Hinsicht gerecht zu werden.
Auf einige theoretische Quellen, die Goffman in seinen Arbeiten selbst nennt,
habe ich – mit Hettlage/Lenz – bereits verwiesen. Genannt werden E. Durkheim,
G. Simmel, R. Park, G. Bateson, H. Garfinkel, H. Blumer, A. Schütz oder H.
Sacks). Da Theorie und Methodologie nur analytisch trennbar sind, bestimmt die
Forschungsmethodologie die Theorie von E. Goffman ganz wesentlich. Und
nicht zuletzt gilt, dass Arbeiten, die sich auf die Suche nach dem „theoretischen
Rahmen von Goffman machen noch die Ausnahme bilden Diese Ausnahmen
bilden die oben zitierten Arbeiten von Robert Hettlage und Karl Lenz, 1991:
Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, Bern
und Stuttgart sowie die Arbeit von Herbert Willems, 1997: Rahmen und Habitus, Frankfurt/Main).
„Soziale Interaktion“ und „Rahmenanalyse“ bilden zentrale Begriffe seines
Werks. Sie entstanden in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im wesentlichen
an der „University von Pennsylvania“. Gerade vor dem Hintergrund der „Rahmenanalyse“ begann sich Goffman mit der „Lebensweltanalyse“ von Alfred
Schütz auseinander zu setzen (Schütz selbst befasste sich mit unterschiedlichen
sozialen Beziehungen (u.a. mit „face-to-face-Beziehungen“), mit Intersubjektivität, mit der Typisierung von Einstellungen oder mit Alltagsroutine). Goffman’s Vorstellung von „Rahmen“ wird aber auch durch Georg Simmel, hier
durch seine „Soziologie des Raumes“ bestimmt. Simmel schreibt dort „Der
Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale
Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die
beiden Funktionen, die eigentlich nur die zwei Seiten einer einzigen sind: Das
Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und in sich zusammenzuschließen;
der Rahmen verkündet, dass sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen
untertänige Welt befindet (...)“ (G. Simmel, 1983 (erstmals 1903): Soziologie
des Raumes, Frankfurt/Main, S. 226).
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„Rahmenanalyse“ bedeutet für Goffman den Versuch der „Organisation der
Alltagserfahrung“. Goffman ging es darum „soziale Interaktion“ (Betrug, Täuschung, Geselligkeit, Rituale oder Theater (Rollenspiel)) in ihrer gesellschaftlichen Rahmung (Bedeutung) zu analysieren und zu interpretieren. Die
Funktion eines „Rahmens sieht Goffman in der „Konstitution und Strukturierung von ‚Welten’ in bestimmten Verhältnissen und durch bestimmte Verhältnisse zu Umwelten“ (H. Willems, 1997: Rahmen und Habitus, Frankfurt/Main, S. 32).
50 Jahre nach Simmels Überlegungen zu Rahmen und Rahmungen übernimmt
Goffman einige Positionen des Bateson’schen „Rahmenkonzepts“. Für Bateson
„funktionierte ein Rahmen a) exklusiv (er schloss bestimmte Informationen ein
oder aus; b) ein Rahmen ordnet die Informationen des Betrachters; c) der Rahmen signalisiert „Prämissen“ (zur Wahrnehmung des Inneren eines Rahmens
sollen wir eine andere Art des Denkens praktizieren, als z.B. gegenüber der
Tapete um das Gerahmte herum; d) ein Rahmen setzt so etwas wie eine
„Metakommunikation“ in Gang; e) das Gerahmte lässt sich nach „Semantik,
Syntax und Pragmatik“ analysieren und interpretieren.
Insgesamt verweist ein „Rahmen“ auf einen gesellschaftlichen „Kontext“, auf
„Sinntatsachen“ (Bewusstsein setzt dabei Sinn immer schon voraus). Ein Rahmen, z.B. die Rahmung einer „sozialen Interaktion“ setzt die Sinnhaftigkeit der
Rahmung und die Intersubjektivität sozialer Interaktionen in eine „eigenständige Beziehung“. Daraus resultiert für Goffman das soziologische Forschungsinteresse, „face-to-face Interaktion“ – ähnlich wie dies E. Durkheim
gegenüber „sozialen Tatsachen“ („Ding- und Zwangscharakter“) machte - als
einen eigenen Gegenstand der Soziologie herauszustellen: „Die Rahmen-Analyse setzt allerdings beim hier und jetzt situierten Akteur an, der (sich) die
Frage ‚Was geht hier eigentlich vor?’ stellt (...). Die Antwort auf diese Frage
besteht nach Goffman in der Verfügung über einen bestimmten Rahmentyp, eine
Syntax (...), die als solche zwar nicht an das Subjekt gebunden ist, aber als subjektive und subjektivierende Disposition (Habitus) fungiert (...). Der Handelnde
‚bedient’ sich m.a.W. des Rahmens als einer mehr oder weniger komplexen
generellen (Meta-)Verstehensanweisung. Sie konstituiert einen Wirklichkeitsraum als Möglichkeitsraum, der in der Situation gleichsam schrittweise abzuarbeiten ist“ (H. Willems, 1997: Rahmen und Habitus, Frankfurt/Main, S. 35).
Nun werden auch die Umrisse der soziologischen Theorie von Goffman deutlicher. Sie sind mit der Konstruktion des „Rahmens“ als „Sinnträger“ verbunden. Eingebunden in diese „Sinnhaftigkeit der Welt“ untersucht Goffman sodann Interaktionen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Ihm geht es also
auch um die „Mannigfaltigkeit“ der „Interaktionsgrammatiken“ als „Handlungsvoraussetzungen und Handlungsinhalten“.
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Gemeint sind damit „zentrierte und nicht-zentrierte“ Interaktionen“, auf ein Ziel
gerichtete oder nicht zielbezogene Interaktionen, unterschiedlich formalisierte
Interaktionen oder verschiedene Reichweiten von Interaktionen (vgl. das Interaktionszeremoniell der Geschlechter im Unterschied etwa zu den Interaktionsrahmen von Psychiatrieinsassen).
Neben diesen Ausdifferenzierungen von „gerahmten Interaktionen“ untersucht
Goffman sodann Teilaspekte sozialer Interaktionen. Gemeint ist das dabei entstehende Rollenspiel, Rollendistanz, „Ritualisierung, Täuschungen, Selbsttäuschungen, (Selbst-)Kontrollen oder, „Fehlergrammatiken“ in sozialen Interaktionen.
Soweit ein erster Blick auf Aktion/Reaktion, Interaktion und Rahmen in methodischer und theoretischer Hinsicht.
Berlin, den 11.5.2006
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