Goffman - Thesenpapier

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Erving Goffman: Rahmen-Analyse.
Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen
Semester:
Datum:
Seminar:
Dozentin:
Verfasser:
Spring 2009
10.02.2009
Interpersonale Kommunikation
Prof. Dr. Gertraud Koch
J. Eckert, P. Hecker, P. Herkelmann
1. Einleitung
Erving Goffman stellt den Versuch an Alltagserfahrungen zu organisieren. Hierbei
betrachtet er die Erfahrungen des Individuums und hat nicht den Anspruch, die
Erfahrungen einer Gesellschaft zu analysieren. Goffman versucht aufzuzeigen, wie unsere
durch Sozialisation erworbenen Erfahrungsschemata unsere Wahrnehmung beeinflussen
und uns helfen, neue Erfahrungen zu verwerten beziehungsweise als sinnvoll anzusehen.
Er geht in seiner Analyse davon aus, „dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien
für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen
Definitionen einer Situation aufstellen“ (S. 19); diese Elemente bezeichnet er als
„Rahmen“.
2. Biographie
•
* 1922 in Kanada
•
1939-1950 Studium der Chemie in Winnipeg
•
Arbeit beim National Film Board Of Canada
•
ab 1944 Studium der Soziologie an verschiedenen Universitäten
•
1958-1968 Visiting Assistant Professor in Berkeley, USA
•
1981 Wahl zum Präsidenten der American Sociological Association
•
† 1982 in Philadelphia (USA)
3. Thesen
1.
„Wenn der Einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis
erkennt, neigt er dazu – was immer er sonst tut –, seine Reaktion faktisch von einem
oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und
zwar von solchen, die man primäre nennen könnte.“ (S.31)
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In seinen Ausführungen beschreibt Erving Goffman Rahmen als Organisationsprinzip der
menschlichen Erfahrung und ihre Bedeutung für die soziale Interaktion. Hierbei spricht er
von der Organisation der Erfahrungen für das Individuum und nicht von der Organisation
der Gesellschaft.
Ein primärer Rahmen beruft sich nicht auf schon bestehende
Deutungsmuster sondern bildet selbst die erste Deutungsgrundlage der Erfahrung.
2.
„Ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, dass er einen sonst sinnlosen Aspekt
der Szene zu etwas Sinnvollem macht.“ (S.31)
Primäre Rahmen als Deutungsgrundlage schaffen eine erste Antwort auf die Grundfrage
„Was geht hier eigentlich vor?“. Ihre Anwendung schafft eine Lokalisierung,
Wahrnehmung, Identifikation und Benennung der Erfahrung und hat somit eine sinnstiftende Funktion.
Das Heben eines Daumens kann beispielsweise durch verschiedene primäre Rahmen
interpretiert werden: an Land ist das Daumenheben eine bestätigende Geste, unter
Wasser ist sie ein Zeichen zum Auftauchen.
3.
„Im täglichen Leben unserer Gesellschaft empfindet, ja macht man einen
einigermaßen klaren Unterschied zwischen zwei großen Klassen primärer Rahmen:
natürlichen und sozialen.“ (S. 31)
Natürliche Rahmen identifizieren Ereignisse, die als rein physikalisch gesehen werden und
ausschließlich auf natürliche Ursachen zurückzuführen sind. Sie werden weder durch
einen Handelnden noch durch einen Willen oder Absicht hervorgerufen und unterliegen
vollständiger Determination.
Soziale Rahmen hingegen dienen als Verständnishintergrund für zielgerichtete
Handlungen beziehungsweise orientiertes Tun von intelligenten Lebenswesen.
4.
„Die Vorstellung ist also die, dass zwar Naturereignisse ohne intelligenten Eingriff
erfolgen, intelligente Handlungen aber nicht erfolgreich sein können, wenn man
sich nicht auf die Naturordnung einlässt.“ (S. 33)
Das bedeutet, dass im sozialen Rahmen nur auf Grundlage des natürlichen Rahmens
agiert werden kann, dieser den sozialen jedoch nicht vollständig determiniert. Es handelt
sich um ein reduktives Verhältnis.
5.
„Alle sozialen Rahmen haben mit Regeln zu tun, aber auf verschiedene Weise.“
(S. 34)
In einem Dame-Spiel legen die Regeln das Ziel des Spiels und somit auch den Weg
dorthin fest. Das Verständnis der Regeln ist eine elementare Voraussetzung für die
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Partizipation. Nicht festgelegt wird, auf welche Art und Weise man einen Zug ausführt.
Im übertragenen Sinne legt die StVO hingegen fest, wie man ziehen beziehungsweise sich
verhalten darf, das Ziel wird jedoch nicht vorgegeben. Jeder darf also dorthin fahren,
wohin er möchte. Lediglich die Art und Weise wie man zum Ziel gelangt wird
vorgeschrieben.
6.
In jedem Augenblick seiner Tätigkeit wendet man im Allgemeinen mehrere Rahmen
an. (vgl. S. 35)
Alle sozialen Rahmen laufen grundsätzlich vor dem Hintergrund des natürlichen Rahmens
ab. Wenn mehrere soziale Rahmen gleichzeitig angewendet werden, steht häufig einer
der Rahmen im Vordergrund.
Beispiel: Bei einem Gespräch unter Studenten, das die Universität betrifft, werden
gleichzeitig mehrere Rahmen angewandt. Der „universitäre Rahmen“ steht womöglich im
Vordergrund, die soziale Interaktion wird jedoch durch eine Vielzahl weiterer Rahmen
beeinflusst.
7.
Obwohl wir die primären Rahmen meist mühelos und vollständig anwenden, sind
uns ihre Organisationseigenschaften im Allgemeinen nicht bewusst. (vgl. S. 31)
Da Ereignisse gewöhnlich die angewandten Rahmen bestätigen, wird man sich ihrer oft
nicht mehr bewusst. Irritationen führen jedoch zur Bewusstwerdung der Rahmen.
8.
„Es scheint, man kann kaum auf etwas blicken, ohne einen primären Rahmen ins
Spiel zu bringen.“ (S. 49).
Die sozialen Sichtweisen betreffen nicht nur die an einer Handlung Beteiligten, sondern
sehr stark auch rein beobachtende Zuschauer. Diese tragen ihre Bezugssysteme aktiv in
die unmittelbare Umwelt hinein und stellen sofort Vermutungen an, was vor einer
beobachteten Situation geschah beziehungsweise was folgen wird.
9.
„Der Begriff des primären Rahmens, so unbefriedigend er auch ist, ermöglicht doch
sofort die Betrachtung von fünf wohlunterschiedenen Punkten und deren
Bedeutung für unser Gesamtverständnis des Weltlaufs.“ (S. 38)
→ Komplex des Erstaunlichen
In unserer Gesellschaft wird angenommen, dass alle Ereignisse in das herkömmliche
Vorstellungssystems hineinpassen und mit seinen Mitteln bewältigt werden können;
deswegen sträuben sich die Menschen auch erheblich gegen eine Veränderung ihres
Systems von Rahmen. Man nimmt demzufolge das Unerklärte hin, nicht aber das
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Unerklärliche. Beim Unerklärten wird – im Gegensatz zum Unerklärlichen – die Möglichkeit
gesehen, dieses noch innerhalb des Rahmens zu bewältigen.
Beispiel: kluger Hans
→ Kosmologische Interessen
Die Kosmologie einer Gruppe ist das System ihrer Vorstellungen. Werden nun unter
anscheinend fast unmöglichen Bedingungen die Grenzen der Vorstellungen ausgereizt die Herrschaft über ein Objekt also entgegen den Erwartungen beibehalten - fördert dies
harmlose Unterhaltungen innerhalb einer Gruppe. In diesem Sinne kommt dem Zirkus eine
soziale Funktion zu, indem er den Besuchern die Möglichkeit gibt, sich über die Grenzen
ihrer grundlegenden Rahmen bewusst zu werden.
Beispiel: Darbietung von Jongleuren
→ Schnitzer
„Ein Schnitzer liegt vor wenn keine besondere Bemühung zur Aufrechterhaltung der
Herrschaft angesehen wird, diese aber trotzdem verloren geht.“ (S. 43)
Die vielfältigen öffentlichen und privaten Vorkehrungen haben die natürliche Welt
dermaßen unter Kontrolle gebracht, dass im Alltag praktisch keine Körperbeherrschung
mehr vonnöten ist. Folglich haben wir kaum mehr die Möglichkeit, Schnitzer zu erleben;
daher begeben wir uns in den Kontext des Spiels, in welchem wir an unsere körperlichen
Grenzen kommen und Schnitzer erleben können. Das Ziel ist es, bei riskanten Sportarten
wie Wellenreiten oder Schlittschuhlaufen die Kontrolle durch Körperbeherrschung zu
behalten und Schnitzer – die in diesem Zusammenhang akzeptiert werden – möglichst
vermeiden zu lernen.
Beispiel: Tasseninhalt wird durch Erdbeben verschüttet
→ Zufall
Für einen Zufall wird niemand verantwortlich gemacht. Es liegt so etwas wie ein natürlicher
Rahmen vor, außer dass die Bestandteile, auf die die Naturkräfte wirken, hier sozial
geleitete Handlungen sind.
Beispiel: Von eigener Salut-Kugel getöteter Soldat
→ Trennungsproblem
Die Toleranz eines bestimmten Verhaltens ist abhängig vom jeweiligen Rahmen, in dem es
stattfindet. Es scheint ein Trennungsproblem zwischen verschiedenen primären Rahmen
zu geben. Rahmen können sich darüber hinaus historisch verändern. Durch bestimmte
Rituale (z.B. Anlegen des Arztkittels) können Rahmen gezielt geschaffen werden.
Beispiel: Männliche Gynäkologen
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10.
Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen
Hauptbestandteil von deren Kultur. (S. 37)
4. Fazit & Bedeutung für die interpersonale Kommunikation
Goffman unterscheidet in seiner Analyse zwischen natürlichen und sozialen Rahmen. Es
ist von entscheidender Bedeutung, dass kein Ereignis vollständig „aus dem Rahmen fällt“.
Die verschiedenen Rahmen erfüllen vielfältige Funktionen. Indem sie Sinn stiften und
Komplexität reduzieren erleichtern sie den Alltag. Bei der interpersonalen Kommunikation
werden alle Facetten möglicher Rahmen – häufig unterbewusst – angewandt.
Goffmans „Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen“ liefert somit ein
wichtiges Erklärungsmodell im Kontext der Interaktionsforschung.
5. Quellen
Goffman, E. (2000). Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von
Alltagserfahrungen (5. [Aufl.] ed.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Weiterführende Literatur:
Goffman, E., & Knoblauch, H. (2005). Rede-Weisen Formen der Kommunikation in
sozialen Situationen. Konstanz: UVK-Verl.-Ges.
Goffman, E., & Lemert, C. C. (2002). The Goffman reader (Repr. ed.). Malden, Mass.:
Blackwell
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