Rahmen, Interaktion, Rollenspiel... im Werk von Erving Goffman

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Freie Universität Berlin
Institut für Soziologie
Garystrasse 55, 14195 Berlin
Prof. Dr. Klaus M. Schmals
Seminar „Das Individuum im öffentlichen Austausch –
Alltagssoziologie mit Erving Goffman im SoSe 2006
Jeweils Montag von 10.15 – 11.45 Uhr, Raum 203 B
4. Veranstaltung
Rahmen, Interaktion, Rollenspiel...
im Werk von Erving Goffman
Vorbemerkungen
Auf einige Quellen der Goffman’schen Rahmenanalyse habe ich mit Hinweisen
auf Alfred Schütz (Lebenswelt), Georg Simmel (Rahmen und Rahmung) oder
Gregory Bateson (Informationseinschluss, Informationsausschluss, Prämissen
der Wahrnehmung und Metakommunikation) aufmerksam gemacht.
Rahmenanalyse bedeutet für E. Goffman den Versuch der „Organisation der
Alltagserfahrung“ (ders., 1980: Rahmen-Analyse, Frankfurt/Main). Die Funktion eines Rahmens sieht Goffman in der „Konstitution und Strukturierung von
‚Welten’ in bestimmten Verhältnissen und durch bestimmte Verhältnisse zur
Umwelt“ (H. Willems, 1997: Rahmen und Habitus, Frankfurt/Main, S. 32). Ein
„Rahmen“ verweist auf einen gesellschaftlichen „Kontext“, auf „Sinnebenen
und Sinntatsachen“. Der „Rahmen“ einer „sozialen Interaktion“ – die wir heute
im Referat zur Arbeit von Goffman „Wir alle spielen Theater“ genau kennen
lernen werden – setzt die Sinnhaftigkeit einer „Rahmung“ und die Intersubjektivität sozialer Interaktionen in eine „eigenständige Beziehung“ (wie wir
dies in ähnlicher Form auch von E. Durkheim kennen).
Die Rahmenanalyse setzt im „hier und jetzt“ – beim Akteur – an. Entsprechende
Interaktionen untersucht Goffman sodann in ihrem Rahmen (in der „Syntax der
Rahmung“). Diese ist zwar nicht an das Subjekt gebunden, sie fungiert aber als
subjektive und subjektivierende Disposition. Der Akteur bzw. der (Inter)Agierende „Bedient sich des Rahmens einer Situation als Rahmung bzw. als
Verstehensanweisung. Dabei entfaltet sich der „Wirklichkeitsraum“ als „Möglichkeitsraum“ für den/die Interagierenden.
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1.
Selbst, Interaktion und Rollenspiel
Trete ich – aus bewussten oder unbewussten Gründen – in Kontakt zu einem
anderen Menschen oder zu einer sozialen Gruppe (also zu mehreren Menschen),
so tue ich dies in einer bestimmten Absicht. Diese Absichten können sehr
unterschiedlicher Natur sein. Ich möchte einen Menschen für mich gewinnen,
ich möchte mit einem Menschen ein Geschäft abschließen, ich möchte mit
einem Menschen spielen (in einem Spielsalon oder zuhause mit den Kindern
„Mensch ärgere Dich nicht“ spielen) oder ich feiere mit anderen Menschen, dass
„Hertha BSC“ nicht abgestiegen ist aus der Bundesliga). In all diese sozialen
Situationen oder Interaktionen trete ich mit unterschiedlichen Dispositionen ein.
Hierfür steht der Begriff des „Selbst“ der bei Goffman eine zentrale Rolle spielt.
Das „Selbst“ speist sich dabei aus mehreren Quellen. Aus dem Potential, das mir
eigen ist, dem Potential, das mir durch meine Sozialisation zugewachsen ist und
da ist das Potential, das ich durch die Berücksichtung meines Gegenüber – der
TeilnehmerInnen einer Interaktionssituation - erworben habe. „Für Goffman ist
‚das“ Selbst als erlebendes und handelndes Subjekt und als soziales Objekt (der
Wahrnehmung, Beobachtung, Zurechnung, Behandlung) von einer Vielzahl von
Rahmen bestimmt (...), die Realitäten teils mit und teils ohne Kontin-genzspielräume ‚vorschlagen’. Dies impliziert auf der Interaktionsebene, dass nur
und höchstens derjenige, der den situativ geltenden Rahmen angemessene psychische Dispositionen (Habitus) und andere Ausstattungen (Fassaden, Requisiten, Identitätsausrüstungen u.a.m.) mitbringt, soziale (Selbst-)Bestimmunschancen besitzt, d.h. als zeichentragendes und bezeichnetes Wesen eigen-mächtig ‚Zeichen setzen’ und mit erwünschten ‚Vorzeichen’ ent- und bestehen kann“
(...) (H. Willems, a.a.0., S. 115). Thematisiert werden hier Selbst- und Fremdbestimmung des Individuums in sozialen Interaktionen. Dabei geht es Goffman
also nicht um „Menschen und ihre Situationen“, sondern „eher um Situationen
und ihre Menschen“ (E. Goffman, 1971: Interaktionsrituale, S. 8).
In seiner Publikation „Interaktionsrituale“ beschreibt Goffman das Verhalten in
„direkter Kommunikation“ wie folgt: „Jeder Mensch lebt in einer Welt sozialer
Begegnungen, die ihn in direkten und indirekten Kontakt mit anderen Leuten
bringt. Bei jedem dieser Kontakte versucht er, eine bestimmte Strategie im Verhalten zu verfolgen, ein Muster verbaler und nichtverbaler Handlungen, die
seine Beurteilung der Situation und dadurch seine Einschätzung der Teilnehmer,
besonders seiner selbst ausdrückt. Unabhängig davon, ob jemand eine Verhaltensstrategie verfolgen will, wird ihm eines Tages bewusst werden, dass er in
Wirklichkeit immer schon einer solchen folgt“ (ders., 1971: a.a.0., Frankfurt/Main, S. 10).
Bei der Diskussion von „Selbst- und Fremdbestimmungspotentialen“ des Individuums in sozialen Interaktionssituation spielen – mit Herbert Mead (1863 –
2
1931) - die drei Facetten mit: da ist a) das I, das ist das Ich als Subjekt, das
spontan und kreativ ist bzw. sein kann; da ist b) das Me, das ist das „soziale
Selbst“, in dem sich eine Bezugsperson oder Bezugsgruppe in mir niederschlägt;
und da ist c) das „Selbst“, das „self“, als das, was als Identität bezeichnet wird
(vgl. A. Treibel, 1993: Das interpretative Programm. In: dies., Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Opladen, 2. Auflage, S. 112). Das „Selbst“
beschreibt das „Selbstverständnis“, das das Individuum in seiner Selbst- und
Fremderfahrung gewinnt. Dieses „Selbst“ wird häufig auch als „Intersubjektivität“ charakterisiert.
Diese Facetten bringt das Individuum in soziale Interaktionenssituation (eines
Spiels, einer Operation, einer Feier, eines Unfalls oder eines Konflikts in
Beziehungen) ein. Dieses Einbringen und Vortragen einer Verhaltensdisposition
nennen wir in der Soziologie Rolle. In unserem gesellschaftlichen Alltag (im
„theatrum mundi“ oder auf der „Bühne eines Platzes“, eines Cafe’s oder eines
Theaters spielen wir, tragen wir Rollen vor. Rolle ist ein zentraler Begriff der
Soziologie.
Wir sprechen von Rollendruck (in einer Arbeitsgesellschaft), von der Rollendistanz (hier traditionelle Männerrollen, dort traditionelle Frauenrollen),
Rollenauffassung (einer alleinerziehenden Mutter), Rollenerwartung (als „Frau
habe ich Kinder zu bekommen“ oder aufgrund einer bestimmten gesell-schaftlichen Position habe ich „die und jene“ Regeln einzuhalten), Rollenübernahme
(als Studierender habe ich zu Lernen), Rollenambiguität (Rollenunklarheit z.B.
bei einer Frau als Ernährerin in einer patriarchal ausgerichteten Familie). Rollen
können weiterhin relativ statisch sein (die Rolle des Kindes) und relativ dynamisch sein (die Rolle der Frau). Auch wird sehr häufig von Rollenkonflikten
unter Herrschaftsaspekten gesprochen (das Rollenverhältnis von LohnarbeiterInnen und UnternehmerInnen).
Unter einer „kulturellen Rolle“ versteht man die Übernahme der Gesamtheit der
Verhaltenserwartungen, die in einer Kulturgemeinschaft an einen herangetragen
werden. Unter einer „sozialen Rolle“ versteht man in einem bestimmten gesellschaftlichen Typus die Erwartungen, die man an den Inhaber einer sozialen
Position/eines sozialen Rangs (Schrankenwärter/Arzt) heran getragen werden.
Im Rollenbegriff kreuzen sich mehrere Inhalte: Da ist a) die Steuerung des
individuellen Verhaltens in einer sozialen Position durch die Erwartungen an die
damit verbundene Rolle; da ist b) die Wahrnehmung und Interpretation
entsprechender Erwartungen; weiterhin ist da c) die Umsetzung der Rollenerwartungen; dann ist da d) die Verinnerlichung von Rollenerwartungen; und da
ist nicht zuletzt und e) die Rollendefinition aufgrund von Position und Rang
sowie einer entsprechenden Charakterbildung bei dem/der RollenträgerIn.
3
In seiner Publikation „Wir alle spielen Theater“ (zuerst 1959/in deutscher
Übersetzung 1983 (7. Auflage), München) entfaltet Goffman das Rollenspiel als
„Spiel des Selbst“ und eines Ensembles, er vernetzt Persönlichkeit, Interaktion
und Gesellschaft, er untersucht die „Prägekräfte des (Hinter- und Vorder-)Raumes“, weiterhin analysiert er Funktion und Inhalte sog. „Sonderrollen“ und reflektiert Kommunikationsprozesse außerhalb institutionalisierter „Rollenwelten“
2.
Rahmen und Rahmung
Rahmen und Rahmung sind im Werk von E. Goffman als die zwei Seiten einer
Medaille, der Medaille der sozialen Interaktion zu verstehen. Auch Rollenspiele
sind eingebettet in einen Rahmen und in ihre Rahmung: Das Begriffspaar
„Rahmen und Rahmung“ oder „frame and framing“ steht bei Goffman für die
„Annahme und das Verständnis der Differenz von sozialem Sinn und sinnaktualisierender Praxis. Während Rahmen als Erzeugungsstrukturen definiert sind,
die sich durch relative Stabilität, Autonomie und Immunität gegenüber der faktischen (Inter-)Aktion auszeichnen, erscheint die Rahmung, die Umsetzung von
Sinn und der Sinn für Sinn, als kontingent, subjektiv anforderungsreich und
(weil) offen und anfällig“ (H. Willems, a.a.0., S. 46).
Für Goffman ist das „Selbst“ als lebendes und handelndes Subjekt und als soziales Objekt (der Wahrnehmung, Beobachtung, Zurechnung, Behandlung) durch
eine „Vielzahl von Rahmen“ bestimmt. Nicht zuletzt zeigt Goffman – im Anschluss an das Bateson’sche Rahmenkonzept – „dass und wie ‚Handlungen Signale ihrer Interpretierbarkeit mitführen. Worauf aber verweisen Handlungen als
Zeichen? (...). Sie weisen notwendigerweise auf einen Kontext hin, aus dem sie
verständlich werden (dem des Rahmens, A.d.V.). Dessen Zielrichtung und
Leistungsfähigkeit besteht hauptsächlich in der Identifizierung, Differenzierung
und Relationierung von Kontexten, Kontextualisierungen und Kontextebenen“
(...) (H. Willems, a.a.0., S. 33).
Nicht zuletzt entwirft Goffman eine „Rahmen-Typologie“. Dabei reflektiert er
„primäre Rahmen und Rahmungen“ oder „Täuschungs- und Selbsttäuschungsrahmen“. Den primären Rahmen entfaltet er zum Beispiel in seiner Arbeit „The
Presentation of Self in Everyday Life“ (Wir alle spielen Theater): „Dort
beschreibt Goffman das Dasein in Anwesentheit anderer als Identifikations-,
Signifikations- und Informationsspiel (...), das, beginnend mit dem ‚ersten Eindruck’ (der primären Rahmung), unter spezifische Selbst- und Fremdkontrollzwänge setzt“ (H. Willems, a.a.0., S. 53). Täuschungs- und Selbsttäuschungsanalysen unternimmt er in Relation von Täuschungs- und Kontextanalysen.
Berlin, den 18.5.2006
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Berlin, den 19.5.2006.
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