Soziologie Wie präsentieren sich Menschen gegenüber anderen? Was sind soziale Rollen? „Eine soziale Rolle ist • ein konsistentes, manchmal interpretationsbedürftiges Bündel von Verhaltenserwartungen, • das auf speziellen Normen beruht und von einer Bezugsgruppe an den Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen wird. • In einer sozialen Rolle drücken sich die Ansprüche und Erwartungen der Gesellschaft an den Träger einer Position in verbindlicher Weise aus, so dass der Rolleninhaber sich ihnen nicht ohne Schaden entziehen kann. • Indem sie an verschiedene individuelle Inhaber gleicher Positionen die gleichen Ansprüche stellen, ermöglichen soziale Rollen gleichmäßige und regelmäßige Verhaltensmuster.“ (Leiße et al. 2006: 229) Erwing Goffman (1922-1982) Untersuchte Verhaltensmuster, Interaktionsrituale, Rollen und Rollendistanz sowie persönliche Selbstdarstellung im Alltag 1956: The presentation of self in everyday life (dt. Wir alle spielen Theater) Goffman beschreibt die soziale Realität als Theater. Menschen versuchen in Interaktionen ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln, sie haben ein Repertoire an Rollen, standardisierte Bühnenbilder und Requisiten. „Wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle übernimmt (z. B. Kellner), wird er feststellen, dass es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt.“ Soziale Rollen nach Goffman Erwartungen • Erwartungen von Bezugsgruppen an Positionen werden in der Regel ausgehandelt und interpretiert, • sind nicht isoliert, sondern in einem Rollensystem eingeordnet, • man spielt viele Rollen die miteinander verzahnt sind. Daraus können Rollenkonflikte entstehen. Rollendistanz: kann von einem Akteur ausgeübt werden • bewusste Ablehnung oder Distanzierung von rollenbedingten Anforderungen • kann nur derjenige zeigen, der seine Rolle genau kennt und über Autonomie verfügt Erwartungen an den Rolleninhaber Dahrendorf (1958) unterscheidet zwischen: Muss-Erwartungen als einen harten Kern der sozialen Rolle. Sie sind schriftlich formuliert (z.B. AGG). Ihre Nichtbefolgung führt zu negativen Sanktionen Soll-Erwartungen, die verbindlich aber nicht schriftlich fixiert sind (z.B. Kleidung bei einem Vorstellungsgespräch). Die Sanktionen können hier sowohl positiv (Lob) als auch negativ (sozialer Ausschluss) ausfallen. Kann-Erwartungen als freiwillige Leistungen des Rolleninhabers („das tut nur ein sehr engagierter Mitarbeiter“). Die Erfüllung wird belohnt, die Nichterfüllung aber nicht bestraft. Individuen und ihre Rollen: Rollensatz Rollenkonflikte Intrarollenkonflikt: Segmente einer Rolle (z.B. Kollegen, Vorgesetzter, Kunden in der Angestellenrolle) stellen an den Rolleninhaber widersprüchliche Erwartungen. Zum Beispiel verlangen alle so viel Aufmerksamkeit und Zeit, dass das Zeitbudget gesprengt und der Akteur überfordert wird. Lösungen: Anzahl der Segmente reduzieren, sich auf ein Segment konzentrieren, Erwartungen nicht erfüllen. Interrollenkonflikt: verschiedene Rollen widersprechen einander. Z.B. die Mutterrolle und die Rolle der Lehrerin von Marion Müller. Lösungen: Gemeinsamkeiten suchen, Kooperationen anstreben, Problemwahrnehmung verbessern, Rollen koordinieren, Erwartungen nicht erfüllen, Rollen aufgeben. Rollendistanz: Falls weder Aufrechterhaltung noch die Aufgabe der Rolle nicht möglich sind, kann sich ein Individuum von der Rolle distanzieren. Wege: Ironisierung, innere Distanzierung, Rollenflucht in die Phantasiewelten Klassifikation von Rollen Wie funktionieren Rollen? 1 Wie funktionieren Rollen? 2 1. Ein Individuum (Akteur 1) findet sich in eine Rolle des Polizisten versetzt. 2. Er hat ein Wissen darüber, wie ein richtiger Polizist sich zu verhalten hat. 3. Der Akteur 1 abstrahiert von seiner Persönlichkeit und verhält sich entsprechend einem Schema (Rolle) „Polizist“. 4. Ein Akteur 2 abstrahiert von der Person, die er sieht. Es nimmt die Rolle in einer typischen Situation (z.B. Verkehrskontrolle) wahr. 5. Die Bewertung des Polizisten ist von den Vorerfahrungen des Akteurs 2 abhängig. 6. Der Akteur 2 findet sich in Rolle eines Bürgers (z.B. Hilfesuchend) wieder und muss sich dementsprechend verhalten. 7. Dieses Verhalten nimmt der Polizist als eine Rückmeldung wahr. 8. Ein Schauspiel (Skript) “Polizist und Bürger” wird inszeniert. Wie funktionieren Rollen? 3 1. Die gesellschaftlichen Erwartungen an das Rollenverhalten existieren unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Rolle durch einen speziellen Rolleninhaber. 2. Soziale Rollen erzwingen ein möglichst gleiches Verhalten der Rolleninhaber, unabhängig von deren Persönlichkeitseigenschaften 3. Ein Individuum kann die Rolle verlassen, muss aber meist mit Sanktionen (Missbilligung bis strafrechtliche Verfolgung) rechnen. 4. Zwischen Sender und Empfänger kann spontane Kommunikation zur Feinabstimmung der Rollengestaltung stattfinden. Ungleichheit der Rollen • Rollen sind mit entsprechenden hierarchisch geordneten Positionen (Aufgaben, Tätigkeiten und Beziehungen in einer Gesellschaft) verbunden. • verschiedene Rollen werden nicht als gleichrangig angesehen (z.B. Professor und Student) • Gesellschaftliche Bewertung der Rolle wird durch die Statussymbole (z.B. eigenes Büro, Dienstwagen, Delegation von Aufgaben) sichtbar. Andere Anreize: höheres Einkommen, Prestige, Ansehen • Je höher der Rang der Position, desto höher die Anforderungen an den Rollenspieler (z.B. besondere Fähigkeiten, längere Ausbildungszeit) • Rollentheorie geht davon aus, dass diese Ungleichheiten zur Ausbildung sozialer Schichten und gesellschaftliche Ungleichheit führen Wozu spielen Menschen Rollen? Individuen verzichten auf ihre Einmaligkeit zugunsten von Stereotypen. Warum machen sie das? • Die Komplexität sozialer Interaktionen wäre ohne standardisierte Verhaltensweisen nicht zu bewältigen. • In einer Interaktion sind wir häufig darauf angewiesen, nicht immer originell zu sein, sondern schnell und funktional einen sachlichen Ablauf zu erledigen. • Handeln, ohne lange nachzudenken wird möglich. • Aber auch die Gefahr, dass die Rolle den Menschen spielt, wächst. Kritik an Rollentheorie 1. Heute ist die Rollenübernahme nicht absolut. Es ist möglich “Charaktermasken” (z.B. Punker, Rocker, guter Schüler) zu tragen, zu kombinieren und abzulegen. Das sind eher Verhaltensweisen und Präferenzen als soziale Rollen. 2. Eindrucksmanipulation kann über die wahren Rollen täuschen: z.B. kann ein Individuum Gestik, Mimik oder auch materielle Symbole (Anzug, Auto) einer gewünschten Rolle (Big Boss) verwenden, um den Anschein zu erwecken, diese Rolle tatsächlich zu spielen. 3. Menschliche Individualität bleibt bei der Rollentheorie gänzlich unberücksichtigt. Übungsfragen zu soziale Rollen 1. Wie sind soziale Rollen definiert? 2. Mit welchem Bild beschreibt Goffman die Realität und welche Bedeutung hat dies? 3. Was versteht man unter Rollendistanz? 4. Welche Arten von Erwartungen werden an Rolleninhaber formuliert? 5. Was ist ein Rollensatz? 6. Welche Rollenkonflikte gibt es und wann treten sie auf? 7. Wie werden Rollen klassifiziert? 8. Was ist das Stanford Prison Experiment? 9. Was versteht man unter Ungleichheit von Rollen und welche Auswirkungen hat diese? 10. In welcher Beziehung stehen Rollen und Statussymbole? 11. Warum übernehmen Menschen Rollen? 12. Welche Kritik ist an der Rollentheorie vorgebracht worden?