Rasche Glucosesenkung als Auslöser

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BEHANDLUNGSINDUZIERTE DIABETISCHE NEUROPATHIE
Rasche Glucosesenkung
als Auslöser
Foto: SPL Agentur Focus
Rätselhaft ist bislang noch der Mechanismus, durch den ein veränderter
Blutzuckerspiegel zu Nervenschäden und Dysfunktionen führen kann.
Da bei der behandlungsinduzierten diabetischen Polyneuropathie die dünnen
Nervenfasern betroffen sind, sollte die
Untersuchung mit
einem spitzen Gegenstand (respektive
mit einem warmen
oder kalten Gegenstand) erfolgen.
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m Spätkomplikationen des Diabetes mellitus zu
vermeiden, ist eine optimale Stoffwechseleinstellung obligat. Beim Typ-1-Diabetes kann durch eine intensivierte Blutzuckereinstellung das Risiko einer
diabetischen Neuropathie reduziert werden (1). Auch
beim Typ-2-Diabetes wird die optimierte Blutzuckerkontrolle zur Neuropathie-Prophylaxe empfohlen, obwohl hier die Evidenz weniger hart ist (2). Umso mehr
erstaunt es, dass es auch eine Form der diabetischen
Neuropathie gibt, die unter der Diabetesbehandlung
erst auftritt oder sich deutlich verschlimmern kann.
Diese behandlungsinduzierte diabetische Neuropathie (Treatment-induced Neuropathy in Diabetes,
TIND) gehört zu den seltenen und wenig bekannten
Formen der diabetischen Neuropathien. Ins Blickfeld
gerückt ist die Erkrankung durch eine kürzlich publizierte Studie, in der die Daten aller in einem Diabeteszentrum auf das Vorliegen einer diabetischen Neuropathie untersuchten Patienten (n = 910) ausgewer-
U
tet wurden. Hier wurde bei 10,9 Prozent eine TIND
festgestellt (3).
Auch wenn die Studie einige Schwächen aufweist
– beispielsweise wurden die Patienten nur an einem
spezialisierten Zentrum rekrutiert – so können doch
wichtige Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. So legen die Daten nahe, dass dieser Subtyp der
diabetischen Neuropathie nicht so selten ist, wie bislang angenommen wurde, und im klinischen Alltag
mehr Beachtung finden sollte – zumal es sich um eine vermeidbare Form der diabetischen Polyneuropathie handelt.
Erstmals beschrieben wurde die TIND 1933 von
Carvati in einem Fallbericht einer Diabetikerin mit
Taubheitsgefühl, Kribbelparästhesien und einschießenden Schmerzen vier Wochen nach Beginn einer
Insulintherapie (4). Da sich die Symptomatik nach
der Beendigung der Insulingabe besserte, und es
beim Wiederbeginn der Therapie zu einem erneuten
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Auftreten der Symptomatik kam, wurde zunächst eine entzündliche Reaktion vermutet und der Begriff
„Insulin-Neuritis“ eingeführt.
Wie erkennen?
Die TIND tritt bei einer raschen Verbesserung der
Blutzuckereinstellung, vor allem bei Diabetikern
unter Insulintherapie, gelegentlich jedoch auch bei
einer raschen Blutzuckeroptimierung unter oralen
Antidiabetika oder Diät auf (5).
Im Gegensatz zu den meisten anderen Formen der
diabetischen Neuropathie, insbesondere der häufigeren distal-symmetrischen diabetischen Polyneuropathie, beginnt die TIND meist subakut – in der Regel
innerhalb von wenigen Wochen nach Optimierung
der Blutzuckereinstellung (5–7). Leitsymptome sind
brennende und einschießende Schmerzen sowie in
manchen Fällen eine ausgeprägte orthostatische Hypotonie mit Synkopen.
Bei diesem Subtyp der diabetischen Neuropathie
handelt es sich typischerweise um eine Small-fiberNeuropathie, das heißt, die Schädigung der dünn
myelinisierten A-delta- oder der unmyelinisierten
C-Fasern führt zu Reiz- und Ausfallsymptomen, wie
Schmerzen oder gestörte Temperaturwahrnehmung
auf der Haut (5, 6, 8, 9). Neurographisch ergeben
sich oft Normalbefunde, da hiermit nur die schnell
leitenden A-beta-Fasern erfasst werden. In Hautbiopsien zeigt sich jedoch eine Reduktion der intraepidermalen Nervenfaserdichte als Zeichen der Schädigung
der kleinen Nervenfasern (5) (Fotos nächste Seite).
Häufig fallen in der klinisch-neurologischen Untersuchung neben einer gestörten Warm-/Kalt- und
Schmerzempfindung eine Allodynie oder Hyperalgesie auf. Das Verteilungsmuster ist dabei überwiegend längenabhängig mit vor allem distalen Beschwerden (5).
Durch die Beteiligung der autonomen Nervenfasern entstehen Symptome einer autonomen Neuropathie wie Synkopen oder Verdauungsprobleme (3, 8).
Pathomechanismus
Der Pathomechanismus der TIND ist noch weitgehend unklar. Im Tiermodell und in Nerven betroffener Patienten konnten vermehrt arteriovenöse Shunts
epineuraler Gefäße gefunden werden, welche über
eine verminderte Nährstoffversorgung der Nerven
oder durch eine Ischämie im Sinne eines Steal-Effektes zu einer Nervenschädigung führen könnten (10,
11). Diskutiert wird auch immer wieder eine Hypoglykämie als Ursache (3, 12).
Die ebenfalls recht seltene hypoglykämische Neuropathie betrifft jedoch vorwiegend motorische Fasern und unterscheidet sich damit klinisch von der
behandlungsinduzierten diabetischen Neuropathie
(13). Diskutiert wird auch ein pathogenetischer Zusammenhang mit der Neuropathie nach bariatrischer
Chirurgie, bei der Vitaminmangel, eine verschlechterte Nährstoffversorgung und entzündliche Komponenten als Ursache angenommen werden (3).
Eine Erklärung für die Schmerzhaftigkeit der
TIND könnten ektopische Nervenentladungen durch
Faserregeneration sein (14). In Suralisbiopsien von
Patienten mit TIND konnte entsprechend eine aktive
Faserdegeneration und -regeneration nachgewiesen
werden (6, 14, 15).
Wie verhindern?
Kontrollierte Studien zur Entstehung der TIND existieren nicht, jedoch konnte gezeigt werden, dass das
Risiko für ihre Entwicklung mit der Senkungsgeschwindigkeit des HbA1c assoziiert ist; danach besteht eine Korrelation zwischen dem Ausmaß der
HbA1c-Senkung pro Zeiteinheit und der Häufigkeit
der Neuropathie sowie dem Schweregrad des neuropathischen Schmerzes und der autonomen Dysfunktion (3).
So lag das Risiko für das Auftreten der TIND bei
einer HbA1c-Absenkung um drei Prozentpunkte innerhalb von drei Monaten bei circa 20 Prozent, bei
einer Absenkung um fünf Prozentpunkte bei über
90 Prozent (3). Dabei spielte es keine Rolle, mit welchem Medikament die Blutzuckersenkung vorgenommen wurde.
Gibbons et al. empfehlen daher, die Stoffwechseleinstellung bei Patienten mit TIND vorsichtig anzugehen und den HbA1c um maximal zwei Prozentpunkte innerhalb von drei Monaten zu senken (3).
Dies betrifft besonders Patienten mit hohem Ausgangs-HbA1c und Gewichtsverlust in der Vorgeschichte (3).
Was ist bei Verdacht zu tun?
●
●
Wichtig ist zunächst, an die TIND zu denken.
Es gibt bislang keine kontrollierten Studie, die
die Frage klären konnten, ob einer TIND mit einer
weniger strikten Blutzuckereinstellung und Zunahme
des HbA1c begegnet werden sollte (3).
● Da die TIND prinzipiell reversibel ist (16, 17)
und sich die Symptome nach mehreren Monaten
auch bei konstant niedrigem HbA1c oft bessern, liegt
es nahe, zunächst den Spontanverlauf abzuwarten
und den neuropathischen Schmerz und die autonomen Symptome symptomatisch zu therapieren (3, 5).
● Das Ansprechen auf speziell gegen neuropathische Schmerzen gerichtete Medikamente und
Opioide ist schlechter als bei der distal symmetrischen diabetischen Polyneuropathie (5).
● Studien zur Schmerztherapie speziell bei der
TIND gibt es nicht. Es empfiehlt sich, wie bei anderen schmerzhaften Neuropathien vorzugehen (9, 18).
In einem Fallbericht wurde ein guter Therapieerfolg
von Venlafaxin beschrieben (19).
Häufig tritt die TIND zusammen mit der diabetischen Kachexie, also einem ungewollten Gewichtsverlust bei Diabetikern mit oder ohne Insulintherapie
(20), und der diabetischen Anorexie, einem gewollten Gewichtsverlust, auf (3, 6). Dies spricht für die
Hypothese einer gestörten Nährstoffversorgung der
Nerven als Ursache der Neuropathie.
►
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Fotos: Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Würzburg
her vermutet und durch langsamere Blutzuckeroptimierung vermeidbar ist. Kontrollierte prospektive Studien sind nötig, um ein optimales Therapieregime zur Vermeidung und Behandlung dieser
sehr schmerzhaften Form der diabetischen Neuro▄
pathie zu entwickeln.
Präparat mit immunhistochemischer Anfärbung der
Hautnerven.
Oben: Normale Haut mit zahlreichen intraepidermalen Nervenfasern (Pfeile). Unten: Deutliche Reduktion der intraepidermalen
Nervenfasern (Pfeil) bei einem Patienten mit Diabetes mellitus.
Die Pfeilköpfe zeigen Anteile des subepidermalen Nervenplexus an.
DOI: 10.3238/PersNeuro.2015.08.17.07
Auch bei der diabetischen Retinopathie ist eine
Verschlechterung nach rascher Blutzuckeroptimierung beschrieben (21). Gibbons et al. konnten eine
erhöhte Inzidenz und eine Progression der diabetischen Retinopathie und Mikroalbuminurie bei Patienten mit TIND nachweisen (3, 5).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es
wichtig ist, die TIND bei der Betreuung von Patienten mit Diabetes mellitus zu beachten, da sie
nach neueren Studien häufiger vorkommt als bis-
26
Dr. med. Kathrin Doppler
Prof. Dr. med. Claudia Sommer
Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Würzburg
Interessenkonflikt: Frau Dr. Doppler erhielt Vortragshonorare von der
Firma Baxter. Frau Prof. Sommer erhielt Honorare für Beratertätigkeiten
von den Firmen Atellas, Baxter und Genzyme sowie Vortragshonorae von
den Firmen Baxter, Genzyme, Grifols, Kedrion und Pfizer.
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Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3315
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DIABETISCHE NEUROPATHIE
Rasche Glucosesenkung
als Auslöser
Rätselhaft ist bislang noch der Mechanismus, durch den ein veränderter
Glukosespiegel zu Nervenschäden und Dysfunktionen führen kann.
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