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DFP-Literaturstudium
Belastungsinkonti
beim Mann
state of the art
Von 1992 bis 2002 gab es bei der radikalen Prostatektomie eine Zunahme von 587 Prozent. Die oft daraus resultierende Belastungsinkontinenz macht bereits zehn Prozent
aller Harninkontinenzformen beim Mann aus. Von Günter Primus*
Aktuelle Entwicklungen
Krankheitsbild
Ein spezifisches und bisher unterschätztes Problem bei Männern ist die
Belastungsinkontinenz nach kompletter Entfernung der Prostata wegen eines
Prostatakarzinoms. Durch die deutlich
verbesserte Diagnostik und die erhöhte
Bereitschaft der Männer, Vorsorgeuntersuchungen durchführen zu lassen,
kommt es zu einer deutlich erhöhten
Detektion von Prostatakarzinomen in
jüngeren Altersklassen und in frühen,
kurablen Tumorstadien.
Die Belastungsinkontinenz ist definiert als unwillkürlicher Harnabgang
unter körperlicher Belastung ohne
Harndrang bei ungenügendem Harnröhrenverschluss. Als Ursachen kommen Störungen des Harnröhrenverschlussmechanismus bei normaler
Harnblasenfunktion in Betracht. Dazu
gehören die geschwächte Beckenbodenmuskulatur und beim Mann in erster Linie Schließmuskelverletzungen
nach operativen Eingriffen an der
Prostata und nach Beckentraumen mit
Harnröhrenverletzungen.
Die radikale retropubische Prostatektomie ist derzeit die am häufigsten
angewandte operative Behandlungsform des lokoregionären Prostatakarzinoms. Die ausgezeichneten Ergebnisse
nach radikaler Prostatektomie mit der
Möglichkeit eines Langzeitüberlebens
ließen die Fragen nach der Lebensqualität immer mehr in den Vordergrund
rücken; neben der Potenz zählt
dazu in erster Linie die Erhaltung
der postoperativen Kontinenz.
Die Epidemiologie der Harninkontinenz beim Mann ist bis dato noch
nicht im selben Ausmaß untersucht wie bei der
Frau.
1
© CONTRAST
Der Typus der Harninkontinenz und
die Altersverteilung sind unter den Geschlechtern äußerst different. Oft sind
beim Mann andere urogenitale Symptome wie schwacher Harnstrahl,
Nachträufeln oder Impotenz vergesellschaftet. Durch die dramatische Zunahme der radikalen
Prostatektomie in den letzten
Jahren (1992 bis 2002: Zunahme um 587 Prozent)
hat
die
Belastungsinkontinenz
beim Mann eine
neue Dimension er-
DFP-Literaturstudium
nenz
reicht. Die Postprostatektomie-Harninkontinenz nach offener Prostatektomie wegen benigner Prostatahyperplasie zeigt eine Belastungsinkontinenzrate von 1,9 Prozent und eine Dranginkontinenz bei 0,5 Prozent der Patienten. Nach transurethraler Resektion
der Prostata erleiden 2,1
Prozent der
Patienten
eine
Belastungsinkontinenz
und ein Prozent berichtet über eine totale
Harninkontinenz. Die
Gründe für einen
Sphinkterschaden
nach transurethraler oder offener
Prostatektomie im
Zug einer benignen
Prostatahyperplasie
inkludieren
einen
direkten
Schaden des Sphinkterapparates bei Resektion distal des
Colliculus seminalis,
verursacht
durch
einen chirurgischen
Irrtum oder Verlust
der Bezugspunkte,
unerwartete Infiltration des Schließapparates durch ein
Karzinom mit Verlust der urethralen
DFP-Literaturstudium
Compliance und elektrokauterische
Verletzung des Sphinkters. Die Ursache
der Harninkontinenz nach einfacher
Prostatektomie ist eher eine Harnblasendysfunktion
als
eine
reine
Schließmuskelverletzung. Die Harninkontinenz nach radikaler Prostatektomie resultiert viel eher aufgrund eines
Sphinkterschadens. Obwohl erfahrene
chirurgische Zentren über niedrige
Harninkontinenzraten nach radikaler
Prostatektomie berichten, ist die generelle Prävalenz grundsätzlich unbekannt und dürfte viel höher liegen.
state of the art
Urodynamische Studien bezüglich
Harninkontinenz nach radikaler
Prostatektomie zeigen, dass eine
Schließmuskelverletzung eher die
primäre Ursache für Harnverlust darstellt als eine Blasendysfunktion. Ein
Sphinkterschaden ist in den meisten
Fällen die Ursache für eine Harninkontinenz nach radikaler Prostatektomie.
Darauf weist auch die erfolgreiche Behandlung der Belastungsharninkontinenz
mit
einem
künstlichen
Schließmuskel hin.
3
radikaler Prostatektomie nehmen mit
der Zeit ab und erreichen einen Tiefpunkt nach etwa einem Jahr postoperativ. Um Komplikationen zu verringern,
wurden Modifikationen in der Operationstechnik der radikalen Prostatektomie entwickelt. Dazu zählen die Anwendung des perinealen Zugangsweges,
die laparoskopische Prostatektomie und
die Erhaltung und Schonung des neurovaskulären Bündels (Nerve sparing
technique). Ein essentieller Faktor für
den Erhalt des Kontinenzmechanismus
scheint die Innervation der Harnröhrenmuskulatur zu sein. Die autonome Innervation des Blasenauslasses und
des proximalen Harnröhrenanteiles hat
ihre Ursprünge im Plexus pelvicus. Die
somatomatorische und somatosensorische Innervation gelangt über Fasern
des N. pudendus zur Harnröhre und
zum M. sphincter urethrae externus.
Die Schonung des Blasenhalses führt
bei vielen Patienten zu einer rascheren
Rückkehr zur Harnkontinenz als bei
Blasenhalsresektion, obwohl die Kontinenzraten nach einem Jahr sich zwischen diesen beiden Techniken nicht
signifikant unterscheiden.
Um die Rate der verschiedenen
Schwereformen der BelastungsinkontiEs ist nicht klar, ob die pubourethranenz nach radikalen Prostatektomien
le Aufhängung essentiell für die Aufzu beurteilen, ist ein Follow-up von
rechterhaltung von Kontinenz ist.
mindestens sechs bis zwölf Monaten erTrotzdem haben einige Arbeitsgruppen
forderlich. Es werden Gesamtprävavorgeschlagen, diese Strukturen bei der
lenzraten von Postprostatektomie-Inradikalen Prostatektomie zu erhalten,
kontinenzen zwischen fünf Prozent und
um die Harnkontinenz nach der Operamehr als 60 Prozenz angegeben. Diese
tion zu verbessern.
große Streubreite erklärt sich durch
mannigfaltige Faktoren wie unterEin höheres Alter zum Zeitpunkt der
schiedliche Patientengruppen, Art der
Operation wird als signifikanter RisikoOperationstechnik, untersuchungsbefaktor mit einer höheren Rate an Postdingt (Operateur oder unabhängige
prostatektomie Harninkontinenz angeUntersucher) und in erster Linie dadurch, wie
Harninkontinenz defi- Kontinenzrate nach radikaler Prostatektomie
niert wurde.
Autor
Symptomorientierte
Inkontinenzraten werden von den betroffenen Männern generell
zwei- bis dreimal höher
angegeben als von Ärzten. Studien bekräftigen
diese Beobachtung, dass
Ärzte die Postprostatektomie Harninkontinenz
um etwa 75 Prozent unterschätzen. Belastungsinkontinenzraten nach
sehen. Catalona hat in seinen Arbeiten
gezeigt, dass sich das Risiko, nach radikaler Prostatektomie an Belastungsinkontinenz zu leiden, ab dem 40. Lebensjahr alle zehn Jahre verdoppelt. Ältere Männer (> 70 Jahre) brauchen
deutlich länger als jüngere, um Harnkontinenz zu erreichen.
Es gibt aber auch Berichte, die keinen Zusammenhang zwischen Alter
und Harninkontinenzraten gefunden
haben. Es wurden auch andere Faktoren gesehen, die mit einer höheren
Prävalenz einer Postprostatektomie Belastungsinkontinenz korrelieren, obwohl diese nicht konstant sind. Diese
wären eine vorangegangene TURP,
präoperativ bereits Symptome am unteren Harntrakt (LUTS), Gewicht (Adipositas) und fortgeschrittenes Tumorstadium.
Der männliche
Kontinenzmechanismus
Neuere anatomische Studien zeigen,
dass es das klassische Diaphragma urogenitale nicht gibt. In funktioneller
Hinsicht besteht heute lediglich Einigkeit darüber, dass die Ausschöpfung des
Plastizitätspotenzials des Musculus detrusor vesicae bis zum Erreichen der
Blasenkapazität eine wesentliche Voraussetzung für die Harnkontinenz darstellt. Hinsichtlich der Kontinenzfunktion in Ruhe als auch unter Belastungsbedingungen wird dem äußeren
Schließmuskel (Musculus sphincter urethrae) entscheidende Bedeutung zugesprochen. Dabei stellt sich allerdings
die Frage, wie ein angeblich rein quergestreifter, also willkürlich innervierter
Muskel eine Dauerkontinenz realisieren soll.
Patienten (n)
Kontinenzrate (%)
Zincke et.al.
3170
93
Catalona et al.
784
94
Leandri et al.
620
95
Steiner et al.
593
92
Weldon et al.
220
95
Frazier et al.
122
96
Gibbons et al.
207
92
Dimitrijevic et al.
70
94
Retropubische RPE
Perineale RPE
Tab. 1
Untersuchungen von
W. Dorschner, Univ.
Klinik für Urologie/
Leibzig, haben gezeigt,
dass um das Harnröhrenlumen direkt am
Blasenausgang ein deutlich zirkulärer glattmuskulärer Schließmuskel
existiert: M. sphincter
vesicae
(innerer
Schließmuskel). Dorschner konnte nachweisen, dass dies ein eigenständiger zirkulärer
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Muskel ist und nicht von Detrusor- und
Trigonummuskulatur gebildet wird. Der
glattmuskuläre M. sphincter vesicae
wird jedoch bei zahlreichen Operationen am Blasenauslass zerstört. Alle Patienten bleiben jedoch kontinent;
daher kann der M. sphincter vesicae
nicht für die Aufrechterhaltung der Ruhekontinenz verantwortlich sein. Eine
Kontraktion des M. sphincter vesicae
verschließt bei der Ejakulation die
Harnblase und trennt gewissermaßen
den Harn- vom Geschlechtstrakt ab
und verhindert somit eine retrograde
Ejakulation. Wie durch die histologischen Befunde bewiesen werden konnte, existiert der M. sphincter urethrae
unabhängig von der Beckenbodenmuskulatur.
state of the art
Weiters ließ sich erstmals sowohl
beim weiblichen als auch beim männlichen Geschlecht neben dem quergestreiften auch ein glattmuskulärer Teil
dieses Muskels nachweisen. Die Muskelfasern des quergestreiften Anteiles
des M. sphincter urethrae formen einen
dorsal nicht geschlossenen Ring um die
Harnröhre. Dadurch hat der Muskel in
der Transversalebene die Form eines
Hufeisens. Der quergestreifte Anteil
des M. sphincter urethrae kann als willkürlich innervierter Muskel eine Belastungsinkontinenz verhindern; der glattmuskuläre Anteil des M. sphincter urethrae besitzt die morphologischen Voraussetzungen, um eine Ruhe- beziehungsweise eine Dauerkontinenz zu
realisieren.
4
Der Levator ani umgreift die Harnröhre nicht. Der Levator ani und der urethrale Rhabdosphinkter differieren in
ihrem Muskelfasertypus. Der intramurale Musculus sphincter externus enthält
Muskelfasern vom Typ-I (slow- twitch
Fasern), die für die Aufrechterhaltung
der Kontinenz unter Ruhebedingungen
verantwortlich sind. Der Musculus levator ani besitzt außer Typ-I Fasern auch
Fasern vom Typ-II (fast-twitch Fasern),
die für rasche und kräftige Kontraktionen und damit für das Auffangen plötzlicher intraabdomineller Druckerhöhungen verantwortlich sind.
Bazeed konnte nachweisen, dass die
periurethrale Muskulatur des “Diaphragma urogenitale” (M. levator ani)
aus drei Fasertypen besteht, nämlich
Typ-I Fasern, welche für die Kontinenz
unter Ruhebedingungen verantwortlich sind, aus schnell ermüdenden TypII Fasern, welche die Kontinenz unter
Belastungsbedingungen garantieren
und aus Fasern vom Intermediär-Typ,
welche als ermüdungsresistente Typ-II
Fasern gelten.
Nach radikaler Prostatektomie ist es
daher ohne weiteres möglich, den
Harnstrahl durch Kontraktion der Levatormuskulatur zu unterbrechen;
trotzdem besteht eine kontinuierliche
Schließapparatinkompetenz wegen der
urethralen Muskelinsuffizienz.
Harninkontinenzraten
Angaben über Harninkontinenz
nach radikaler Prostatektomie variieren
laut Literaturangaben sehr erheblich.
So berichtet das American College of
Surgeons (484 Institutionen, 2.122 Patienten) bei 58 Prozent über komplette
Kontinenz, bei 23 Prozent gelegentliche Harninkontinenz mit der Notwendigkeit, Vorlagen zu tragen und bei 3,6
Prozent komplette Harninkontinenz.
Bei Medicare Patienten wiederum
wurde die Untersuchung per Fragebogen, Telefon oder persönliches Interview durchgeführt. Ergebnis: In mehr
als 30 Prozent der Fälle wurden Vorlagen oder Penisklemmen verwendet;
mehr als 40 Prozent berichten über
tropfenweisen Harnverlust während
körperlicher Aktivität, 23 Prozent über
tägliches Einnässen, und sechs Prozent
hatten eine Inkontinenzoperation
wegen schwerster Harninkontinenz.
Walsh dagegen bemerkt, dass die
Möglichkeit einer belastenden Harninkontinenz nach radikaler Prostatektomie niedrig ist (zwei bis fünf Prozent)
und die Notwendigkeit für einen künstlichen Schließmuskel sehr selten besteht (0 bis 0,5 Prozent). Walsh gibt
eine komplette Kontinenzrate von ungefähr 88 bis 95 Prozent an. Es ist nicht
bekannt, ob sich in den Prozentzahlen
der kompletten Kontinenzrate auch sogenannte nichtbelastende Harninkontinenzen verbergen.
Inwieweit diese hohen Kontinenzraten tatsächlich zutreffen oder lediglich
Wunschdenken einiger Operateure darstellt, muss dringendst überprüft werden. Es besteht eine hochsignifikante
Diskrepanz zwischen den von Patienten
berichteten und den von Ärzten erhobenen Angaben der Harninkontinenz
nach radikaler Prostatektomie.
Stephan Madersbacher und Anton
Ponholzer (Donauspital SMZ Ost
Wien/Urologie) führten bei 432 Patienten mit einem mittleren Follow-up
von 3,8 Jahren eine Evaluierung der
Harninkontinenz nach radikaler
Prostatektomie unter Verwendung
eines achtseitigen anonymen Fragebogens durch. Die dabei verwendete Definition des Harnverlustes war “jeder
Harnverlust während der letzten vier
Wochen”. 45 Prozent berichteten über
Harnverlust. 55,5 Prozent verwendeten
keine Vorlagen; 44,5 Prozent verwenden ständig Vorlagen (19 Prozent eine
Vorlage/Tag, 15 Prozent zwei Vorlagen/Tag und 10,5 Prozent zwei 2 oder
mehr Vorlagen/Tag). Eine schwere belastende Drangsymptomatik (stündliches Urinieren) fand sich bei vier Prozent.
Entscheidend nach einer radikalen
Operation aufgrund eines Karzinoms
ist nicht, dass es zu unwillkürlichem
Harnverlust kommt, sondern die Quantität des Harnverlustes und wie sehr dadurch die Lebensqualität des Betroffenen beeinträchtigt ist.
Nur unter der Definition wie sie
Walsh und andere Autoren verwenden:
“Urinary continence, which was defined at wearing no pads”, ist es möglich,
diese scheinbar hohe Rate von Harnkontinenz zu erreichen (Tab. 1). Kritisch ist dabei anzumerken, dass unter
Zugrundelegung von etwa acht bis 20
Prozent von Patienten, die bereits vor
der Operation mit ihrer Harnkontinenz
Probleme hatten, doch nach der Operation die Kontinenzrate noch einmal
deutlich zulegte.
Die Angaben der Postprostatektomie
Harninkontinenz sind natürlich abhängig davon, wie rasch nach der Operation die Untersuchungen durchgeführt
werden, von der Erfahrung des operierenden Chirurgen und der Zentren, welche die Resultate berichten, von der
Definition der Kontinenz, der Methode
des Interviews und der Einbeziehung
subjektiver versus objektiver Ergebnisse.
Die zunehmende Erfahrung mit der
Operation unter Beachtung der Anato-
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DFP-Literaturstudium
mie werden diese Resultate in Zukunft
noch deutlich verbessern können. Es ist
also darauf zu achten- wenn onkologisch vertretbar - unter Schonung der
Nervenbündel zu operieren und Koagulationen am apikalen Absetzungsrand
zu vermeiden, um Denervierungen
hintanzuhalten und Reinnervationen
zu ermöglichen sowie die Erhaltung
einer genügend langen funktionellen
Urethra. Inwieweit die Schonung der
pubourethralen Bänder und des Blasenhalses zur Verbesserung der Kontinenz
beitragen, ist derzeit noch unklar.
Während Definitionen und Raten
an Postprostatektomie Harninkontinenz stark variieren, zeigen doch die
meisten urodynamischen Analysen
nach radikaler Prostatektomie, dass die
meisten Harninkontinenzen durch
einen Sphinkterschaden verursacht
sind. Es ist wichtig, zwischen inkontinenten Patienten nach radikaler
Prostatektomie und solchen nach einer
Operation wegen einer benignen
Prostataerkrankung zu unterscheiden,
da letztere häufiger mit präoperativen
Blasenfunktionsstörungen behaftet ist.
Etwa 25 Prozent der Harninkontinenzen nach TURP sind durch eine
Schließmuskelinkompetenz verursacht.
60 bis 75 Prozent der Patienten leiden
an einer Detrusorüberaktivität, entweder allein oder in Kombination mit
einer Schließmuskelinkompetenz.
Im Vergleich zur transurethralen Resektion der Prostata ist die Harninkontinenz nach radikaler Prostatektomie
wegen eines Prostatakarzinoms deutlich
häufiger. In von Ärzten berichteten
Studien liegt die Inzidenz der totalen
Harninkontinenz zwischen null und
fünf Prozent; die Inzidenz der Belas-
tungsharninkontinenz beträgt zwischen
fünf und 15 Prozent. In Studien, die lediglich darauf basieren, was Patienten
selbst berichten, beträgt die Inzidenz der
Harninkontinenz 66 Prozent; die Verwendung von Vorlagen geben 33 Prozent an (Tab. 2). Patienten, welche sich
einer nervenschonenden radikalen
Prostatektomie unterzogen, scheinen
eine bessere Chance haben, Harnkontinenz zu erreichen, als diejenigen, die
nach dem Standard radikal prostatektomiert wurden. Bei der radikalen Prostatektomie ist sorgfältig darauf zu achten,
eine anatomische Dissektion am Apex
durchzuführen, um die Urethralänge zu
erhalten (> 2,5 cm). Die Erhaltung der
vorderen Aufhängung der Urethra inklusive der puboprostatischen Bänder
scheint sich vorteilhaft auszuwirken, um
schneller postoperativ die Kontinenz zu
erreichen.
Beckenbodentraining
Bei Belastungsinkontinenz als Operationsfolge steht als konservative Therapie
das
Beckenbodenund
Schließmuskeltraining zur Verfügung;
der positive Effekt wurde in mehreren
Untersuchungen nachgewiesen. Allerdings ist ein solches Training beim
Mann noch nicht standardisiert. Bei
den Männern, die sich einem intensiven Trainingsprogramm unter Aufsicht
eines Physiotherapeuten unterziehen,
zeigten sich deutliche Verbesserungen
der Kontinenz. Das typische Beckenbodentraining – das bei der Frau angewandt wird – ist beim Mann nicht angemessen. Otto empfiehlt die videoassistierte Urethrozystoskopie, bei welcher
dem Patienten die Lage und Funktion
des quergestreiften Urethralsphinkters
sehr anschaulich nahegebracht werden
Inkontinenzraten nach radikaler Prostatektomie
Autor
Zahl (n)
Inkontinenz
Erhebung durch Operateur
Leandri et al.
620
5%
ja
Fowler et al.
757
63 %
nein
Walsh et al
955
8%
ja
Hautmann et al.
418
10 %
ja
Hammerer et al.
320
9,7 %
ja
Bishof et al.
784
47 %
nein
Bates et al.
87
69 %
nein
Weldon et al.
220
5%
ja
Bishof et al.
123
30 %
nein
Tab. 2
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kann. Die Kontraktion des externen
Harnröhrenmuskels erfordert nur soviel
Anstrengung wie ein Lidschlag. Es gibt
Evidenz dafür, dass die Kontinenz
schneller wiedererlangt werden kann,
wenn das Beckenbodentraining mit
Elektrostimulation oder Bio-Feedback
kombiniert wird. Zur Wirksamkeit der
Beckenbodengymnastik beim Mann liegen derzeit 13 randomisierte Studien vor,
wobei elf Studien einen eindeutigen Vorteil ergaben. Van Kampen etwa verglich
den Effekt von Beckenbodentraining
und initialer Elektrostimulation mit
einer Gruppe Placebo-Elektrotherapie
bei Patienten nach radikaler Prostatektomie. Dabei wurde eine Verbesserung
der Harninkontinenz nach drei Monaten in 88 Prozent in der Behandlungsgruppe und in 56 Prozent in der Kontrollgruppe, beziehungsweise 95 Prozent und 81 Prozent nach einem Jahr
erreicht. In der Behandlungsgruppe war
die Reduktion des Harnverlustes signifikant größer.
Zur medikamentösen Behandlung der
Belastungsinkontinenz nach radikaler
Prostatektomie sind derzeit Medikamente in Entwicklung. Der Serotonin- und
Noradrenalin-Reuptake-Hemmer Duloxetin zeigt bei der Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz vielversprechende Ergebnisse; er wird zur Stärkung des quergestreiften Schließmuskels
eingesetzt. Alpha-1A/1L-Agonisten
werden derzeit zur Stärkung des glattmuskulären Schließmuskelanteiles evaluiert. Es ist derzeit noch nicht absehbar,
inwieweit diese Medikamente bei der
männlichen Belastungsinkontinenz
wirksam sind.
Operative Therapie
Bulking agents
Auf der Suche nach minimal-invasiven Therapieformen wurden in der
Vergangenheit eine Reihe sogenannter
“bulking agents” verwendet. Es handelt
sich dabei um verschiedene Substanzen, die transurethral mit Hilfe spezieller Injektionsnadeln im Sphinkterbereich unter die Harnröhrenschleimhaut
injiziert werden, um den urethralen
Widerstand zu erhöhen. Wenngleich es
in vielen Fällen kurzfristig zu einer Besserung der Belastungsinkontinenz
kommt, haben sich diese doch langfristig wegen enttäuschender Langzeitergebnisse nicht durchgesetzt. Sie werden
5
DFP-Literaturstudium
serung. Die Reoperationsrate betrug 20
Prozent. Komplikationen fanden sich
in 18 Prozent der Fälle. Dabei handelte
es sich in erster Linie um Ballonrupturen sowie bei den ersten Patienten um
intraoperative Harnröhren- oder Blasenperforationen mit dem scharfen Trocar. Diese Schwierigkeiten der ersten
Phase sind auf eine learning curve
zurückzuführen. Der Eingriff kann
heute als grundsätzlich komplikationsarm und sicher eingestuft werden. Die
Ergebnisse wurden international nachvollzogen.
Pro-ACT-Verfahren
Schlingenplastik
Abb. 1
heute nur noch bei Patienten eingesetzt, bei denen aufgrund internistischer Begleiterkrankungen andere Verfahren nicht in Frage kommen.
state of the art
Der hydraulische Sphinkter
6
Seit 1972 wird weltweit der ScottSphinkter als künstlicher Schließmuskel bei der männlichen Belastungsinkontinenz angewandt. Dieser künstliche Schließmuskel (AMS 800) besteht
aus einer Manschette, einem Ballon
(Druckreservoir) und einer Pumpe.
Nach radikaler Prostatektomie wird die
Manschette um die bulbäre Harnröhre
gelegt, der Ballon im Unterbauch paravesikal und die Pumpe im Skrotum
platziert. Die Zufriedenheitsrate mit
diesem künstlichen Schließmuskelsystem ist sehr hoch, allerdings liegen die
Revisionsraten zwischen 20 und 30
Prozent. Mögliche Komplikationen:
falsche Handhabung durch Arzt oder
Patient; transurethrale Manipulationen, Harnröhrentrauma, Arrosion,
Atrophie der Harnröhre mit Wiederauftreten der Belastungsinkontinenz.
Die Lebensdauer dieses Systems beträgt
etwa zehn Jahre.
Pro-ACT-Verfahren
Das Pro-ACT-Verfahren (Abb. 1)
wurde von Doz. Hübner in Korneuburg
entwickelt, vor vier Jahren erstmals angewendet und dort an mehr als 100 Patienten eingesetzt. Weltweit wurden bis
heute etwa 3.000 Patienten nach dieser
Methode operiert. Dabei werden zwei
kontrastmittelgefüllte Silikonballons
über einen perinealen Zugangsweg am
Blasenhals implantiert. Über eine etwa
1,5 cm lange quere Hautincision am Perineum werden mit Hilfe eines speziellen Implantationstrocars zwei Ballons
paraurethral am Blasenhals platziert.
Dies geschieht unter Durchleuchtungskontrolle. Die Ballons werden im Rahmen der Implantation mit 1-3 ml isotoner Kontrastmittellösung gefüllt. Ein
abschließendes Urethrogramm zeigt die
korrekte Lage der Ballons mit der gewünschten Obstruktion im Bereich der
proximalen Harnröhre. In der Folge
werden zwei Titaniumports subcutan
ins Skrotum verlagert, die in der Zukunft die Volumenadjustierung der Ballons durch perkutane Punktion mit
einer Subkutannadel erlauben.
Die Implantation des Systems dauert
15 bis 25 Minuten. Postoperativ wird
für zwölf Stunden ein Katheter belassen. Unmittelbar nach Entfernung dieses Katheters ist das primäre Ergebnis
festzustellen. In der Folge kann über die
skrotalen Ports der urethrale Widerstand adjustiert werden, bis einerseits
Kontinenz erzielt ist und andererseits
der Patient noch restharnfrei miktionieren kann. Bei 60 nachuntersuchten
Patienten der Urologie Korneuburg
fand sich nach einem medianen Follow
up von sechs Monaten eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität.
Nach durchschnittlich drei Adjustierungen waren 56 Prozent der Patienten
trocken, 25 Prozent deutlich gebessert,
bei 19 Prozent kam es zu keiner Verbes-
Die Schlingenplastik beim Mann
wurde bereits 1947 beschrieben. Beim
Invanceverfahren wird ein Prolenemesh
von perineal her implantiert. Das silikonbeschichtete Netz wird mit sechs
Knochenschrauben an die unteren
Schambeinäste fixiert. Während der
Implantation wird der retrograde Leak
Point Pressure als Repräsentat des urethralen Widerstandes gemessen, dementsprechend fest wird das Mesh angezogen.
In einer Serie von 21 Patienten gibt
Comiter eine Heilungsrate von 76 Prozent bei einem Beobachtungszeitraum
von fünf bis 21 Monaten an. An Komplikationen ist in erster Linie die passagere Retention zu nennen. Ergebnisse
größerer Serien hinsichtlich der Erfolgsrate und Komplikationsrate dieses Verfahrens fehlen noch. Der Abschluss der
derzeit laufenden paneuropäischen InVance-Studie wird darüber Aufschluss
geben. Es scheint jedenfalls eine interessante zusätzliche Therapieoption zu sein,
die den bisherigen Schlingenverfahren
überlegen ist. Sie kann auch bei bestrahl■
ten Patienten eingesetzt werden.
*) Univ. Doz. Dr. Günter Primus, Medizinische Universität
Graz/Universitätsklinik für Urologie; Auenbruggerplatz 7, 8036 Graz;
Tel. 0316/385/81 965; Fax-DW: 35 50;
E-mail: [email protected]
Lecture Board: Univ. Doz. Dr. Helmut Heidler, AKH Linz/Abteilung für Urologie; Univ. Doz. Dr. Wilhelm Hübner, Humanis Klinikum Korneuburg/Abteilung für Urologie; Univ. Prof. Dr. Helmut Madersbacher, Universitätsklinik Innsbruck/Neuro-Urologische Ambulanz
Herausgeber: Arbeitskreis für Blasenfunktionsstörungen der
Österreichischen Gesellschaft für Urologie
Diesen Artikel finden Sie auch im Web unter
www.arztakademie.at
15 /16 • 15. August 2004
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